Beyond the Stars - Mareen Knoth - E-Book
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Beyond the Stars E-Book

Mareen Knoth

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Beschreibung

Ein Rockstar zum Verlieben Als die Gesangstrainerin Natalie Winter das Angebot bekommt, einem der größten Rockstars der Welt aus einer Stimmkrise zu helfen, ist sie überwältigt von dieser beruflichen Chance. Kurzerhand packt sie ihre Koffer, um die nächsten Wochen bei ihm in Kanada zu verbringen. Doch Pascal Girard, der Leadsänger der Band Renard , verhält sich nicht so kooperativ wie sein Management versprochen hat. Natalie ist dennoch überzeugt, seine Stimme retten zu können – wenn er sie nur lassen würde. Dass Pascal auch noch unverschämt attraktiv ist, bringt Natalies Vorsatz, sich niemals mit einem Klienten einzulassen, gefährlich ins Wanken.

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Seitenzahl: 380

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© 2023 by Mareen Knoth

Originalausgabe

© 2023 by MIRA Taschenbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783745703962

www.harpercollins.de

Die im Buch vorkommenden Personen sowie die Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden oder verstorbenen Menschen wären rein zufällig.

Liebe Leserin, lieber Leser, die Geschichte enthält Themen, die potenziell triggern können. Deshalb findest du am Ende des Buches eine Triggerwarnung. Achtung: Die Auflistung der Themen enthält Spoiler für die Handlung. Wir wünschen dir viel Spaß mit Beyond the Stars, deine Mareen und dein MIRA Taschenbuchverlag

Für meine Mama – danke, dass ich immer meinen Träumen folgen durfte.

Loneliness has found a home in me My suitcase and guitar are my only family I’ve tried to need someone, like they needed me But I opened up my heart, but all I did was bleed.

Jon Bon Jovi, Richie Sambora, Desmond Child

Playlist

Nirvana – Come As You Are

Lara Fabian – Je Suis Malade

Bon Jovi – Something For The Pain

Amy Macdonald – Run

OneRepublic – Someday

Tiziano Ferro – Sere Nere

Ludovico Einaudi – Experience

Brad Paisley – Today

Taylor Swift – Anti-Hero

Aerosmith – Crazy

Modà – Sono Già Solo

Amy Macdonald – Poison Prince

AC/DC – Rock ’N’ Roll Train

Sia – Unstoppable

Queen – I Want It All

Metallica – Nothing Else Matters

In Paradise – Moments We Live For

Bryan Adams – Cuts Like A Knife

Sarah McLachlan – Angel

Lewis Capaldi – Someone You Loved

Bon Jovi – I’ll Be There For You

Special Highlight: Der Song zum Buch

Mareen Knoth – Beyond The Stars

Kapitel 1

Natalie

Natalie streifte sich den Sand von den Füßen, ehe sie die Treppe hinauflief und ihre sorgfältig zusammengerollte Yogamatte neben der Eingangstür abstellte. Die Sonne war gerade aufgegangen und tauchte die raue Küste Malibus in zartgelbes Licht. Am meisten würde sie die Nähe zum Strand und die spektakuläre Aussicht auf den wellenbewegten Pazifik vermissen, wenn sie das Haus ihrer ehemaligen Klientin, die in Kürze von ihrer Europatournee zurückkehrte, wieder verlassen musste. Sie hatte sich in den vergangenen Monaten daran gewöhnt, von den Rufen der Möwen geweckt und dem sanften Rauschen des Meeres in den Schlaf gewiegt zu werden, und konnte sich nicht vorstellen, zurück in die Stadt zu ziehen. Seufzend schloss sie die Tür auf und nahm sich vor, die Wohnungssuche nicht länger aufzuschieben.

Das Klingeln ihres Handys lenkte sie von ihren Überlegungen ab. Sie durchquerte das Wohnzimmer, setzte sich an den Schreibtisch und griff nach einem Stift. Ehe sie den Anruf entgegennahm, atmete sie entspannt in den Bauch und weitete ihren Hals, um ihrer Stimme den nötigen Raum zur vollen Entfaltung zu geben.

»Vocal Coaching Natalie Winter.«

»Ms. Winter, es freut mich, dass ich Sie persönlich erreiche. Ich rufe in einer äußerst delikaten Angelegenheit an, die absolute Diskretion erfordert. Kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?«

»Selbstverständlich.« Natalie wusste, dass Sängerinnen und Sänger, die ihre Hilfe als professionelle Stimmtrainerin in Anspruch nahmen, sehr darauf bedacht waren, Gerüchte über eine mögliche Stimmkrise zu vermeiden.

»Mein Name ist Henry Dubois. Ich bin der persönliche Assistent von Monsieur Girard«, näselte der Anrufer wichtigtuerisch. Der Name Girard sagte Natalie zunächst nichts. An der Sprachmelodie glaubte sie zu erkennen, dass Dubois aus Kanada stammte. Mit der kanadischen Musikszene war sie bisher wenig vertraut und machte sich eine gedankliche Notiz, sich bei nächster Gelegenheit damit zu beschäftigen.

»Sie kennen ihn vermutlich unter seinem Künstlernamen Renard«, fügte Dubois, der ihr Schweigen richtig gedeutet hatte, erklärend hinzu.

Bei der Erwähnung dieses Namens schnappte Natalie hörbar nach Luft. Renard, der Sänger der gleichnamigen Band, war ein Weltstar, der nicht nur in Kanada und den USA gefeiert wurde, sondern auch in Südamerika und Europa über Monate die Charts anführte. Der durchschlagende Erfolg seiner Asientournee hatte dazu geführt, dass die Tour mehrmals verlängert worden war, da alle Konzerte innerhalb einer Stunde ausverkauft gewesen waren.

In der Vergangenheit hatte Natalie bereits mit einigen kleineren Stars zusammengearbeitet, aber Renard spielte in einer ganz anderen Liga. Wenn es ihr gelang, ihn als Klienten zu gewinnen, würde sie sich vor Anfragen bald kaum noch retten können! Obwohl sie am liebsten laut gejubelt hätte, kämpfte sie den Impuls nieder. Noch war nichts entschieden. Freuen durfte sie sich erst, wenn sie einen unterschriebenen Vertrag in Händen hielt – so viel hatten sie die ersten Jahre ihrer Selbstständigkeit gelehrt.

»Die Sachlage ist folgende«, kam Dubois sogleich auf den Punkt, »die vielen Konzerte haben Monsieur Girard erschöpft. Seine Stimme wurde von mehreren Spezialisten untersucht. Er leidet an einer Überanstrengung der Stimmbänder, die ausreichend Zeit und Stimmruhe eigentlich hätten kurieren sollen. Seit dem Ende seiner letzten Tournee vor neun Monaten haben wir diverse Stimmexperten und Gesangstrainerinnen zurate gezogen, doch niemand konnte ihm helfen. Mittlerweile vermuten wir, dass eine mentale Blockade dafür verantwortlich ist, dass Monsieur Girard nicht mehr singen kann.«

»Kann er nicht mehr singen oder will er nicht?«, hakte Natalie nach.

»Wenn ich das wüsste …« Zum ersten Mal schwang echte Sorge in Dubois’ geschäftlichem Tonfall mit. »Meiner Einschätzung nach ist er momentan nicht in der Verfassung, den Anforderungen gerecht zu werden, die sein Beruf als Profisänger an ihn stellt. Diverse Proben mussten bereits abgesagt werden, weil seine Stimme den alltäglichen Belastungen nicht mehr standhält – dabei soll in drei Monaten das nächste Konzert stattfinden.« Dubois seufzte tief. »Ich bin mit meiner Weisheit am Ende. Monsieur Girard hat das Singen seit einigen Wochen komplett aufgegeben und verweigert jegliche Hilfe. Sein Management sitzt mir im Nacken, und wenn ich keine Lösung finde, wird Renard bald der Vergangenheit angehören.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass Ihr Chef nichts von diesem Anruf weiß?«

Schweigen erfüllte die Leitung, ehe Dubois mit neuer Entschlossenheit fortfuhr: »Ich werde mein Möglichstes tun, um Monsieur Girard dazu zu bringen, Sie zu empfangen – falls Sie bereit wären, die Mühen einer Reise nach Vancouver auf sich zu nehmen.«

Natalie konnte ihre Enttäuschung nur schwer verbergen. »Ich verstehe Ihre Situation und würde Ihnen gerne helfen. Allerdings ist die Bereitschaft des Klienten, sich mit seinem Problem auseinanderzusetzen, die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit.« Sie schloss für einen Moment die Augen. Dann setzte sie alles auf eine Karte. »Wenn ich mit Monsieur Girard arbeiten soll, muss er mich selbst darum bitten.«

Bevor Natalie es sich anders überlegen konnte, verabschiedete sie sich höflich und beendete das Gespräch. Dann legte sie das Handy auf ihrem Schreibtisch ab und verbarg ihr Gesicht in den Händen. War es richtig gewesen, auf ihren Überzeugungen zu bestehen, oder hatte sie sich gerade die Chance ihres Lebens entgehen lassen?

Kapitel 2

Pascal

»Pascal! Wo zum Teufel bist du?«, hallte Henrys verärgerte Stimme durch den weitläufigen Eingangsbereich der Villa hinauf in den ersten Stock. Pascal, dem es unter Aufbietung all seiner Willenskraft gelungen war, sich vom Sofa zu erheben und seine Suite zu verlassen, spähte vorsichtig über die Balustrade der Galerie hinunter ins Erdgeschoss. Wie hatte es bloß so weit kommen können, dass er sich in seinem eigenen Haus vor seinem Assistenten versteckte?

Er fuhr sich mit einer Hand durch sein strähniges Haar, das dringend mal wieder geschnitten werden musste. Früher war ihm sein Aussehen extrem wichtig gewesen: ein perfekt durchtrainierter Körper, kunstvoll gestylte Haare, maßgeschneiderte Kleidung und ein makelloser Teint. Von seinen blauen Augen abgesehen, die denen seiner Mutter ähnelten, hatte er sich alles in seinem Leben hart erarbeiten müssen. Allein seiner unerschöpflichen Energie und dem festen Vertrauen in seine Fähigkeiten hatte er es zu verdanken, dass er dem verwahrlosten Viertel am Rande von Montreal entkommen war. Schon als Teenager hatte er mit verschiedenen Bands bescheidene Erfolge erzielt, aber richtig durchgestartet war er erst, als er auf seine innere Stimme gehört und seine eigenen Lieder geschrieben hatte, die von seiner Wut, der Verzweiflung und Armut erzählten, in der er aufgewachsen war. Er war all dem Elend und Schmerz seiner Kindheit entkommen – zumindest hatte er das geglaubt. Doch nun war nichts mehr, wie es sein sollte. Er hatte seit Monaten keinen Song mehr geschrieben, geschweige denn eine komplette Probe durchgestanden. Außerdem hielt ihn eine unerträgliche Schwermut fest umklammert, die ihn zu ersticken drohte.

Erleichtert stellte Pascal fest, dass Henrys Rufe in der Zwischenzeit verstummt waren. Der Salon, auf den er hinunterblickte und der hauptsächlich dazu diente, Gäste zu empfangen, war geschmackvoll eingerichtet. Ein Strauß weißer Rosen stand auf dem zierlichen Beistelltisch neben den breiten Ledersesseln und verströmte einen angenehmen Duft.

Pascal wollte sich gerade abwenden, als die Tür zum Salon aufschwang und Henry eintrat. Er redete heftig gestikulierend auf jemanden ein. Bevor Pascal sich unbemerkt zurückziehen konnte, erschien Norman Wilson, sein langjähriger Manager, hinter Henry, und hob den Blick zur Galerie empor.

»Hier steckst du! Vielleicht können wir dann heute noch anfangen! Wir haben eine Menge zu besprechen. Die nächsten Konzerte sind ausverkauft, und wir müssen einen Zeitplan für das kommende Album erstellen. Ich kann nur hoffen, dass du deine Krise inzwischen überwunden hast, denn eine weitere Zeitverzögerung können wir uns nicht leisten!«

Pascal biss die Zähne zusammen und nahm die Wendeltreppe nach unten. Er blieb dicht vor seinem Manager stehen, worauf dieser scharf die Luft einzog und den Kopf abwandte.

»Du könntest mal wieder eine Dusche vertragen.«

»Wie wäre es, wenn wir beide schon einmal in den Meetingraum gehen und ich uns einen Kaffee bringen lasse, während Pascal die Gelegenheit nutzt, um mit Wasser in Kontakt zu kommen?«, schlug Henry vor und zog Norman aus dem Zimmer, wobei er Pascal einen eindringlichen Blick über die Schulter zuwarf.

In den letzten Monaten hatte Pascal seinem Assistenten einiges zugemutet. Während er apathisch im Bett lag, schirmte Henry ihn souverän vor seinem Manager, der Presse und seinen angeblichen Freunden, von denen sich keiner wirklich für ihn interessierte, ab. Er hatte reihenweise Stimmtrainer angeschleppt, zwischen ihm und seinen Bandkollegen vermittelt und nie die Fassung verloren, wenn Pascal einen seiner Wutanfälle bekam, bei denen er die halbe Einrichtung zertrümmerte. Ihm war bewusst, dass er sich Henry gegenüber unfair verhielt, aber er konnte nichts dagegen tun. Es kam ihm vor, als hätte eine dunkle Macht von ihm Besitz ergriffen, und obwohl er dagegen ankämpfte, tobte und verzweifelt um Hilfe schrie, schien niemand ihn zu hören. Alles, wonach er sich sehnte, war, seine Stimme zurückzubekommen. Die Musik war nicht nur ein Ventil für seine aufgestauten Gefühle, sondern seine Art, sich auszudrücken. Ohne diese Fähigkeit fühlte er sich schwach und unbedeutend. Er musste endlich das lähmende Taubheitsgefühl loswerden, das seinen Körper und Geist schwächte und ihm jeglichen Lebenswillen nahm.

Resigniert ging er in den Wellnessbereich hinunter und ließ sich mitsamt seiner Kleidung in den Pool fallen.

Als er kurz darauf den Meetingraum betrat, hielt Norman Henry gerade einen Vortrag über Vertragsrecht. Pascal hätte auswendig aufsagen können, welche Konsequenzen auf ihn zukamen, sollte er die angekündigten Konzerte absagen. Ihm bliebe keine andere Wahl, als sich seinen desolaten Zustand ärztlich bescheinigen zu lassen, wodurch er zwar allen vertraglichen Verpflichtungen entbunden wäre, zugleich jedoch beruflichen Selbstmord begangen hätte. Wenn öffentlich bekannt wurde, dass seine Stimme Schaden genommen hatte, konnte es Jahre dauern, bis das Vertrauen der Veranstalter und seiner Fans in ihn wiederhergestellt war. Er hatte hart an sich gearbeitet und war nicht bereit, seine Karriere aufs Spiel zu setzen.

»Also, wie sieht es aus?«, wandte sich Norman an Pascal, kaum dass er am Tisch Platz genommen hatte.

»Wie soll es schon aussehen?«, erwiderte Pascal trotzig.

»Wie ist dein Plan? Hast du dir Hilfe gesucht?«

Bevor er den Mund öffnen konnte, sprang Henry für ihn ein.

»Pascal hat mit diversen Stimmtrainerinnen und Stimmtrainern gearbeitet, aber leider war bisher niemand in der Lage, ihn von seiner vorübergehenden Unpässlichkeit zu befreien.«

Pascal unterdrückte ein frustriertes Stöhnen, als er an all die sogenannten Experten dachte, denen er sich im Anschluss an seine Asientournee anvertraut hatte, anfangs noch voller Hoffnung, dass seine Stimme nur etwas Ruhe brauchte, um sich von den Strapazen zu erholen. Schließlich war eine mehrmonatige Tournee mit beinahe täglichen Auftritten eine extreme Herausforderung für den ganzen Körper, besonders jedoch für die empfindlichen Stimmbänder. Er hatte unzählige Kollegen an den Anforderungen eines solchen Lebens zerbrechen sehen. Entweder griffen sie zu Drogen und Alkohol oder sie genossen den Erfolg so lange, bis die Wirklichkeit sie einholte. Niemals hätte er gedacht, dass ihm das Gleiche passieren könnte.

»Und wie soll es nun weitergehen?« Normans entschlossene Miene machte deutlich, dass er mit seiner Geduld am Ende war.

»Wenn ich das wüsste, würde ich proben oder wäre im Studio!«, fuhr Pascal ihn an, dem dieses Gespräch mehr zusetzte, als er sich eingestehen wollte. Ihm fehlte nicht nur das Hochgefühl, wenn er sang, sondern auch das Proben mit seiner Band. Vor allem aber vermisste er den Austausch mit seinem besten Freund Rhys, den er seit Kindertagen kannte. Rhys hatte sich als Teenager zusammen mit Pascal das Gitarrespielen beigebracht, um ihn bei seinem Traum zu unterstützen, eines Tages ein berühmter Rockstar zu werden und so den ärmlichen Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen waren, zu entkommen. Er hatte nach der Schule ohne zu zögern seine Familie verlassen, um mit ihm nach Vancouver zu gehen. Rhys war stets der Erste, dem Pascal seine neuen Songs vorspielte, und der Einzige, von dem er sich etwas sagen ließ.

»Wir könnten …«, bemerkte Henry, aber Norman brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Ich sage dir jetzt, wie es laufen wird.«

»Seit wann hast du mir vorzuschreiben, was ich machen soll?«, zischte Pascal gefährlich leise.

»Das ist mein Job.«

»Du bestimmst nicht über mein Leben!« Er spürte, wie sich die Wut in seinem Inneren zu einem harten Klumpen zusammenballte.

Sein Manager, der Pascals legendäre Wutausbrüche gewohnt war, ging nicht auf seine Bemerkung ein, sondern wandte sich stattdessen an Henry, als wäre es unter seiner Würde, sich mit Pascal zu befassen, was dessen Zorn nur noch mehr anfachte.

»Er braucht einen Stimmcoach. Ohne Unterstützung kriegt er das nicht wieder hin. Ihr hattet neun Monate Zeit, und man muss ihn nur ansehen, um zu erkennen, dass es ihm nicht besser geht. Er sieht erbärmlich aus, absolut nicht zu vermarkten.«

Pascal war es gewohnt, dass Norman in ihm ein Produkt sah, das er erfolgreich verkaufen wollte. Anfangs hatte er sich noch daran gestört, doch mittlerweile berührte es ihn kaum noch. Vielmehr trieb es ihn jetzt zur Weißglut, dass Norman über ihn sprach, als wäre er nicht im Raum.

»Am besten besorgst du ihm gleich noch einen Therapeuten, der ihn wieder in die Spur bringt. In seiner Verfassung kann man ihn nicht einmal den Geiern von der Presse zumuten. Außerdem muss er dringend wieder in Form kommen – ich schicke dir eine Liste mit Personal Trainern zu, mit denen ich gute Erfahrungen gemacht habe. Und wir brauchen schnellstmöglich neue Songs! Wenn wir nicht innerhalb eines Jahres mit dem nächsten Album rauskommen, kann sich bald niemand mehr an Renard erinnern!«

Norman schob seine Unterlagen zusammen und ließ sie in seiner Aktentasche verschwinden.

»Ich gebe dir vier Wochen, das auf den Weg zu bringen. In exakt einem Monat will ich Ergebnisse sehen, sonst bin ich bedauerlicherweise gezwungen, unsere Zusammenarbeit zu beenden.«

Er stand auf, und Pascal dachte schon, er wolle den Raum verlassen, ohne sich zu verabschieden. Doch dann drehte Norman sich noch einmal um.

»Sieh es als letztes Entgegenkommen meinerseits an – der guten alten Zeiten wegen. Entweder du nutzt diese Chance, oder wir beide sind fertig miteinander.«

Pascal überlegte, ob er Norman an die vielen erfolgreichen Jahre ihrer Zusammenarbeit erinnern sollte, an die zahlreichen Auszeichnungen, die er gewonnen und mit denen Norman sich gebrüstet hatte, als wären sie allein sein Verdienst. Ein Blick in Normans ausdruckslose Miene raubte ihm jedoch alle Hoffnung. Die Musikbranche war hart. Erfolg war das Einzige, was zählte, das wusste niemand besser als er.

»Ich finde alleine hinaus«, verkündete Norman, worauf Henry, der aufgestanden war, um ihn zu begleiten, sich wieder auf seinen Stuhl fallen ließ.

»Was bildet der sich eigentlich ein, wer er ist?«, brauste Pascal auf, nachdem die Tür hinter Norman ins Schloss gefallen war.

»Er ist vielleicht nicht der umgänglichste Typ, aber er macht einen guten Job. Und auch wenn mich das jetzt meinen Job kosten könnte, muss ich ihm recht geben.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Pascal. Er spürte, wie eine Ader an seiner Schläfe zu pochen begann.

»Dass wir auf ihn hören sollten. Ein geregelter Tagesablauf könnte der erste Schritt sein, damit du wieder zu deiner alten Form zurückfindest.«

»Sag mir lieber, wo du einen Stimmtrainer auftreiben willst. Wir haben bereits alle namhaften Vocal Coaches kontaktiert, und was hat es gebracht? Nichts, rien, nada, niente!«

Henry zog sein Mobiltelefon aus der Tasche seiner Anzugjacke und schob es langsam über den Tisch zu Pascal hinüber.

»Es gäbe da noch eine letzte Möglichkeit.«

Kapitel 3

Natalie

Gekonnt zerkleinerte Natalie die Zwiebel, wobei sie etwas mehr Kraft aufwandte, als nötig gewesen wäre. Seit Tagen wurde sie von einer inneren Unruhe geplagt, die sie beinahe in den Wahnsinn trieb. Sie hatte ihre Meditationszeit verdoppelt und sich die anstrengendsten Übungen für ihre morgendliche Yogapraxis ausgesucht, doch nichts half. In Gedanken ging sie immer wieder das Gespräch mit Henry Dubois durch. Wenn sie nur anders reagiert hätte! Wäre es so schlimm gewesen, auf Verdacht nach Kanada zu fahren? Hätte sie nicht einfach darüber hinwegsehen können, dass die Einwilligung eines Klienten entscheidend war für eine gute Zusammenarbeit? Frustriert legte Natalie das Messer zur Seite. Sie wusste eigentlich, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Man überfiel einen Sänger mit stimmlichen Problemen nicht unangemeldet in seinem Zuhause, auch wenn die Absicht noch so gut war.

Um sich abzulenken, tippte sie auf das rot-weiße YouTube-Symbol auf ihrem Tablet und wählte eine Playlist mit Songs von Renard aus. Seine größten Hits waren ihr vertraut gewesen, dennoch war sie bei genauerem Hinhören überrascht von der musikalischen Wandlungsfähigkeit des Sängers. Sein stimmlicher Umfang und das dynamische Spektrum waren beeindruckend, und obwohl er sich permanent Höchstleistungen abverlangte, schien er niemals die Kontrolle zu verlieren. Mal ließ er seine Stimme hart und dominant klingen, fast schon rau, dann wieder weich und einfühlsam. Dazu kamen Girards unwiderstehliche Bühnenpräsenz, sein lässiges Flirten mit dem Publikum und die phänomenale Ausstrahlung, die sogar Natalie als professionelle Sängerin und Stimmtrainerin in ihren Bann zog. Er war ein Ausnahmetalent, wie es nur wenige gab. Sie durfte gar nicht daran denken, dass sie die Chance, ihn zu coachen, leichtfertig abgelehnt hatte.

In den ersten Tagen hatte sie noch hoffnungsvoll auf das Display ihres Handys geblickt, was nach einer Woche mehr zu einem hypnotischen Starren geworden war, als könnte sie es auf diese Art dazu bringen, einen Anruf anzuzeigen.

Natalie betrachtete das Zwiebelmassaker vor sich auf dem Schneidebrett. Es wurde Zeit, dass sie darüber hinwegkam.

Das Klingeln ihres Handys ließ sie zusammenzucken. Auf dem Display erschien das lachende Gesicht ihrer besten Freundin. Natalie gab sich Mühe, ihre Enttäuschung herunterzuschlucken.

»Hey, Amy. Was gibt’s?«

»Das sollte ich lieber dich fragen. Hat dein Rockstar sich endlich bei dir gemeldet?« Mittlerweile bereute Natalie, Amy von Henrys Anruf erzählt zu haben. Sie hatte sich ungefähr ein Dutzend Mal anhören müssen, wie dumm sie gewesen war, diese unglaubliche Chance auszuschlagen. Amy hätte sie am liebsten persönlich nach Kanada geschleift – mit einem Koffer voller heißer Dessous. Immerhin begegnete man nicht alle Tage einem waschechten Superstar, den man nur ansehen musste, um weiche Knie zu bekommen.

»Nein, hat er nicht. Und er ist auch nicht mein Rockstar!«

»Hätte er aber werden können.« Natalie konnte sich das amüsierte Grinsen ihrer Freundin nur zu gut vorstellen.

»Wahrscheinlich hätte ich sowieso nichts ausrichten können. Er hat bereits mit den renommiertesten Stimmtrainern gearbeitet – ohne Erfolg! Wieso sollte ausgerechnet ich diejenige sein, die ihm dabei helfen kann, seine Stimmkrise zu überwinden?« Natalie bemerkte selbst, wie pessimistisch sie klang, und auch Amy entging ihre Niedergeschlagenheit nicht.

»Jetzt hör aber auf! Du machst einen verdammt guten Job! Du bist immer mit ganzem Herzen dabei, bleibst zuversichtlich, wenn es schwierig wird, und dein Ansatz, nicht nur die Stimme, sondern den kompletten Menschen zu behandeln, ist äußerst selten in deiner Branche. Anstatt Trübsal zu blasen, solltest du dir lieber vor Augen führen, was du in den letzten Jahren erreicht hast! Denk an all die Sängerinnen und Sänger, deren Karriere du gerettet hast und die dir bis an ihr Lebensende dankbar sein werden!«

»Du übertreibst!«

»Nein, tue ich nicht. Renard kann froh sein, wenn du dich bereit erklärst, mit ihm zu arbeiten.«

Natalie spürte Amys Zögern und ahnte, was nun kommen würde.

»Und was wird aus deiner eigenen Gesangskarriere? Du warst so erfolgreich, bis …«

»Ich will nicht darüber reden!«, fiel Natalie ihr ins Wort.

»Du lässt deine Angst gewinnen!« Sie spürte, wie sich ihr Brustkorb bei Amys Worten zusammenzog.

»Nein, ich habe lediglich etwas gefunden, worin ich besser bin.«

»Aber ist es das, was dein Herz will? Macht es dich glücklich? Erfüllt es dich?«

Natalie lachte. »Du klingst schon wie ich. Und was das Singen angeht, solltest du wissen, dass ich noch nicht so weit bin.«

»Es ist jetzt fünf Jahre her. Je länger du wartest, desto schwieriger wird es für dich, dort anzuknüpfen, wo du aufgehört hast.«

»Wer sagt denn, dass ich unbedingt wieder auf die Bühne muss? Mein Leben ist gut so, wie es ist. Ich bin zufrieden. Das ist mehr, als viele andere von sich behaupten können.«

Es schien, als wollte Amy noch etwas erwidern, doch dann wechselte sie abrupt das Thema:

»Hast du dich inzwischen um eine neue Wohnung gekümmert?«

Natalie verdrehte die Augen. Amy hatte eine besondere Begabung, ihren Finger zielsicher in die Wunde zu legen. Sie murmelte etwas von Zeitungsannoncen, Internet und Immobilien-Apps, aber Amy ließ sich nicht täuschen.

»Dachte ich’s mir doch! Stattdessen hast du wahrscheinlich stundenlang schmachtend vor Renards Videos gesessen und dir in den Hintern gebissen. Wer kann es dir verdenken? Ein Glück, dass du mich hast! Ich schicke dir die Nummer eines Freundes. Er hat mir gestern erzählt, dass seine Nachbarin zum nächsten Ersten auszieht. Es ist zwar kein Strandhaus, aber die Gegend ist okay. Melde dich bei ihm. Sofort!« Was Hartnäckigkeit anging, stand Amy Natalie in nichts nach. »Ich rufe dich heute Abend an, um zu hören, wie es gelaufen ist.« Bevor Natalie etwas erwidern konnte, hatte Amy bereits aufgelegt.

Natalie gab etwas Öl in die Pfanne, öffnete den Kühlschrank und inspizierte ihre Gemüsevorräte. Mit knurrendem Magen konnte sie sich unmöglich um eine neue Wohnung kümmern. Das musste sogar Amy einleuchten, schließlich bekam sie selbst immer furchtbar schlechte Laune, wenn sie hungrig war.

Nachdem die Zwiebeln eine goldgelbe Farbe angenommen hatten, gab sie Knoblauch, Zucchini und Paprika hinzu. Sie war gerade dabei, einzelne Basilikumblätter abzuzupfen, als ihr Handy erneut klingelte. Ohne einen Blick auf das Display zu werfen, nahm sie den Anruf entgegen.

»Du bist wirklich die größte Nervensäge, die man sich vorstellen kann! Nein, ich habe mich noch nicht bei deinem Freund gemeldet. Und nein, Renard hat in den fünf Minuten, die seit unserem letzten Gespräch vergangen sind, nicht angerufen, und selbst wenn er es täte, weiß ich nicht, ob ich mich darauf einlassen würde!«

»Das ist aber schade«, ließ eine klangvolle Männerstimme sie wissen, die Natalies Puls in die Höhe schnellen ließ. Sie hätte diese Stimme unter Tausenden erkannt, denn seit Dubois’ Anruf hatte sie sich jedes Interview mit diesem Mann angesehen, das jemals im Netz hochgeladen worden war.

»Monsieur Girard«, stieß sie atemlos hervor, »es tut mir leid, ich habe Sie für jemand anderen gehalten.« Sie holte tief Luft in der Hoffnung, auf diese Weise ihr rasendes Herz zu beruhigen. »Was kann ich für Sie tun?«

»Die Frage ist eher, was ich tun kann, um Ihnen bei der Entscheidungsfindung zu helfen. Was würde Sie dazu bringen, Ihre Meinung zu ändern?«

Natalie schloss für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln. »Haben Sie sich mit meiner Methode vertraut gemacht? Im Vergleich zu vielen meiner Kollegen arbeite ich eher unkonventionell.«

»Henry, mein Assistent, hat so etwas erwähnt: Nur wenn Körper, Geist und Seele in Einklang sind, kann die Stimme zu ihrer vollen Entfaltung gelangen. Klingt ziemlich esoterisch, wenn Sie mich fragen.«

Obwohl sie an Kritik gewöhnt war, verletzte der herablassende Tonfall, in dem er eine ihrer tiefsten Überzeugungen zitiert hatte, ihre Gefühle. Auch wenn er sie nicht sehen konnte, straffte sie die Schultern und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, denn nun galt es, überzeugend zu sein.

»Wenn eine Stimme großen Belastungen ausgesetzt ist, braucht es ein perfektes Gleichgewicht von bewusster Stimmführung, körperlicher Fitness, mentaler Stärke und ausgewogener Ernährung. In jungen Jahren wird das oft vernachlässigt, was sich im Laufe einer anspruchsvollen Karriere rächen kann. Meine Aufgabe ist es, zu schauen, welcher Bereich aus dem Gleichgewicht geraten ist, und diesen wieder in die Balance zu bringen.«

In der Leitung blieb es so lange still, dass Natalie sich fragte, ob Girard unbemerkt aufgelegt hatte.

»Und was tun Sie, wenn sich alle diese Bereiche im Ungleichgewicht befinden?« Verletzlichkeit schwang in seiner Stimme mit. Sie konnte sich vorstellen, welchem Druck er ausgesetzt war und wie schwer es ihm fiel, seine Schwächen einzugestehen.

»Dann bringen wir einen nach dem anderen wieder in Ordnung«, erwiderte sie sanft.

»In drei Monaten?« Natalie zögerte. Aus der Ferne war es unmöglich, eine solche Prognose zu stellen.

»Wenn Sie mich engagieren, werde ich mein Bestes geben, um Ihnen zu helfen, aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Es hängt maßgeblich von Ihrer Bereitschaft ab, sich auf mich und meine Methoden einzulassen.«

Girard seufzte tief. »Packen Sie Ihre Sachen und kommen Sie nach Kanada! Alles Weitere wird mein Assistent mit Ihnen klären.«

Ehe Natalie etwas erwidern konnte, hatte er das Gespräch bereits beendet. In Zeitlupe ließ sie das Handy aus ihren zittrigen Fingern gleiten. Die Sache mit der Wohnungssuche hatte sich wohl fürs Erste erledigt. Blieb nur die Frage, ob sie sich nicht soeben ein zehnfach größeres Problem aufgehalst hatte.

Kapitel 4

Natalie

Innerhalb von zwei Tagen hatte Natalie ihre wenigen Sachen in Kisten gepackt und bei Amy im Keller untergestellt. Da sie noch viel zu erledigen hatte, wollte sie sich direkt verabschieden, doch ihre Freundin bestand darauf, sie am nächsten Morgen zum Busbahnhof zu bringen.

»Denk daran, auch mal Spaß zu haben und nicht nur den ganzen Tag zu arbeiten!«, riet Amy ihr und zog Natalie in eine feste Umarmung.

»Spaß werde ich haben, wenn Girard wieder auf der Bühne steht und mit seiner Wahnsinnsstimme das Stadion zum Kochen bringt.« Sie gab Amy einen Kuss auf die Wange, ehe sie sich umdrehte und auf die Bustür zuging.

»Wenn das jemand schafft, dann du!«, rief Amy ihr nach, ohne sich darum zu kümmern, dass die anderen Fahrgäste sich neugierig zu ihr umdrehten. »Sei nur nicht so pedantisch! Und vor allem tu nichts, was ich nicht auch tun würde!« Ein letztes Winken, dann war Amy in der Menge verschwunden.

Nach zwei Zwischenstopps in San Francisco und Portland kam Natalie müde und aufgeregt zugleich in Vancouver an. Sie war froh, direkt ein Taxi zu erwischen, denn der Regen, der sie begleitete, seit sie die kanadische Grenze überquert hatten, prasselte unermüdlich vom Himmel herab. Die Fahrt würde eine knappe halbe Stunde dauern, erklärte ihr der Taxifahrer, nachdem er ihr Gepäck im Kofferraum verstaut hatte. Als sie die Lions Gate Bridge überquerten, konnte Natalie einen ersten Blick auf den Fjord Burrard erhaschen, der die City von North und West Vancouver trennte. In der Ferne hoben sich die majestätischen Umrisse der North Shore Mountains vom grauen Himmel ab. Je weiter sie sich vom Zentrum entfernten, desto nobler wurde die Gegend. Das muntere Geplapper des Fahrers konnte Natalie nicht davon ablenken, dass sie in Kürze einem der berühmtesten Rockstars der Welt gegenüberstehen würde. Mit jedem Meter, der sie ihrem Ziel näher brachte, verstärkte sich das nervöse Flattern in ihrem Magen.

Das Taxi brauchte bestimmt fünf Minuten, bis es vom imposanten Eingangstor über die breite Zufahrtsstraße, die von hohen Bäumen und blühenden Büschen flankiert wurde, die Villa erreichte. Soweit Natalie es beurteilen konnte, war das Anwesen riesig und zudem gut gesichert. Erst nachdem sie ihren Ausweis in die Kamera gehalten und erklärt hatte, dass Monsieur Girard sie erwartete, war ihnen geöffnet worden.

Auch dem Fahrer klappte der Mund auf, als er auf dem mit Natursteinen gepflasterten Vorplatz hielt. Mit zittrigen Knien stieg Natalie aus und schaute staunend an der Fassade der luxuriösen Villa nach oben. Die Wolkendecke war aufgerissen, worauf der Regen nachgelassen und zarten Sonnenstrahlen Platz gemacht hatte, die sich in der beeindruckenden Glasfront spiegelten.

Aus der zweiflügeligen Eingangstür trat ein junger Mann heraus, den Natalie auf Mitte zwanzig schätzte. Er trug einen hellgrauen Anzug, der exakt den gleichen Farbton aufwies wie seine Haare. Bevor Natalie sich Gedanken darüber machen konnte, ob der graue Schopf eine Folge von Stress oder eine Modeerscheinung war, wurde ihr bereits eine feingliedrige Hand entgegengestreckt.

»Sie hätten mir Bescheid geben können, dann hätte ich einen Wagen zum Flughafen geschickt«, informierte er sie anstelle einer Begrüßung.

»Ich bin mit dem Bus gekommen«, entgegnete Natalie und ließ ihren Blick über die gepflegten Rasenflächen schweifen.

Der Mann, bei dem es sich der Stimme nach um Girards Assistenten Henry Dubois handeln musste, starrte sie ungläubig an. »Den ganzen Weg von Los Angeles?«

»Während der Fahrt hatte ich ausreichend Zeit, mir ein Konzept zu überlegen, wie wir Monsieur Girards Stimme am schnellsten wieder in Form bringen. Außerdem versuche ich, aufgrund der momentanen Klimasituation das Fliegen zu vermeiden.« Natalie amüsierte sich innerlich über Henrys konsternierten Gesichtsausdruck und ging einige Schritte auf die Villa zu. »Wenn Sie nun bitte so freundlich wären, mir mein Zimmer zu zeigen? Und falls Monsieur Girards Zeitplan es erlaubt, würde ich gerne noch heute auf die vertraglichen Details eingehen, um sicherzustellen, dass er mit den Einzelheiten vertraut ist, und das weitere Vorgehen besprechen.«

Natalie hatte sich fest vorgenommen, unter allen Umständen professionelle Distanz zu wahren, wovon Amy wenig begeistert gewesen war. Ihre Abschiedsworte hallten noch immer in Natalies Ohren wider:

Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.

Der Gedanke an ihre vergnügungssüchtige Freundin, die das Leben in vollen Zügen genoss und sich keinen Flirt entgehen ließ, brachte Natalie zum Schmunzeln. Aber sie war hier, um zu arbeiten, nicht um sich zu amüsieren. Pascal Girard mochte unverschämt gut aussehen und sich für einen unwiderstehlichen Frauenschwarm halten, dennoch war sie entschlossen, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren.

Henry führte sie durch modern eingerichtete Räume, die bei Natalie einen seltsam unpersönlichen Eindruck hinterließen, als wären sie von einem teuren Innenarchitekten ausgestattet, aber seitdem kaum benutzt worden.

»Die Gästezimmer befinden sich im Ostflügel«, ließ Henry sie wissen. Sie folgten einem lichtdurchfluteten Korridor, von dem eine Reihe weiß gebeizter Türen abging. Henry öffnete die letzte auf der rechten Seite und ließ Natalie den Vortritt.

»Ich habe das Zimmer mit der schönsten Aussicht für Sie herrichten lassen. Hoffentlich ist alles zu Ihrer Zufriedenheit. Sollten Sie noch etwas brauchen, zögern Sie nicht, mich anzurufen. Ich werde in der Zwischenzeit Monsieur Girard über Ihre Ankunft informieren.«

Natalie wartete, bis Henry den Raum verlassen hatte, ehe sie sich erschöpft von der langen Reise auf das breite Bett setzte. Die bodentiefen Fenster boten einen weiten Blick in den Garten. Neben einer Palmengruppe entdeckte sie einen Pool, dessen türkisfarben schimmerndes Wasser einen starken Kontrast zum grau bewölkten Himmel bildete. An der Wand zu ihrer Linken stand ein massiver Schreibtisch mit mehreren Schubladen. Rechts vom Bett befanden sich ein dreitüriger Kleiderschrank und ein bequem wirkender Sessel. Das zarte Grün der Tapeten wirkte beruhigend. Natalie fühlte sich auf Anhieb wohl. Anstatt sich frisch zu machen und ihre Notizen ein weiteres Mal durchzugehen, streckte sie sich auf der weichen Matratze aus und schloss für einen Moment die Augen. Sie versuchte, ihre Aufregung in den Griff zu bekommen, indem sie visualisierte, wie sie bei der ersten Begegnung mit Pascal Girard einen professionellen und zugleich sympathischen ersten Eindruck hinterließ. Aber allein der Gedanke, mit ihm in einem Raum zu sein, trieb ihren Puls in ungeahnte Höhen. Es waren nicht nur sein attraktives Aussehen oder seine Wahnsinnsstimme, sondern vor allem sein Auftreten, diese unwiderstehliche Mischung aus Selbstsicherheit und leidenschaftlichem Temperament, die ihr Herz schneller schlagen ließen. Natalie war sich bewusst, dass dieser Auftrag, wenn sie es richtig anstellte, ihr Leben für immer verändern konnte.

»Ich habe mir erlaubt, eine chronologische Abfolge der Mitschnitte von Monsieur Girards Auftritten zu erstellen«, teilte Henry Natalie mit, nachdem er sie eine knappe Stunde später in ihrem Zimmer abgeholt und zum Meetingraum geführt hatte.

»Vielen Dank«, erwiderte sie und nahm den USB-Stick entgegen, den er ihr über den Tisch reichte. »Aber bevor wir uns um den stimmlichen Aspekt meiner Arbeit kümmern, möchte ich gerne die Rahmenbedingungen mit Monsieur Girard persönlich klären – falls es keine Umstände macht.« Natalie schenkte Henry ihr freundlichstes Lächeln, worauf dieser nach seinem Handy griff.

Doch noch bevor er das Display entsperrt hatte, flog die Tür auf, und Natalie stockte der Atem. Ein großer breitschultriger Mann platzte einer Naturgewalt gleich in den Raum und füllte ihn sofort mit seiner einnehmenden Präsenz.

»Ms. Winter, ich freue mich, dass Sie den weiten Weg nach Kanada auf sich genommen haben, um mit mir zu arbeiten«, begrüßte Girard sie und streckte ihr seine Hand entgegen.

Natalie, die wie vom Donner gerührt auf ihrem Stuhl saß, brauchte eine Sekunde, um sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. Ihr Herz brach erneut jeden Geschwindigkeitsrekord, als Girards schlanke Finger sich um ihre schlossen. Wie in Zeitlupe blickte sie an ihm empor. Über seine muskulöse Brust, den kräftigen Hals zu seiner markanten Kinnpartie, die ein leichter Bartschatten zierte. Sein dunkles Haar, das einen rötlichen Schimmer aufwies, war eine Spur zu lang. Sie gab sich alle Mühe, die vollen Lippen, die ein Kribbeln in ihr auslösten, zu ignorieren, was ihr bei seinen tiefblauen Augen, in denen ein interessierter Ausdruck lag, nicht gelang. Es war, als würde sie in einen Sog gezogen, der sie an sich reißen und alles um sie herum vergessen lassen könnte, wenn sie es nur zuließe. Obwohl Girard eine unbändige Energie ausstrahlte, spürte Natalie instinktiv, dass er eine harte Zeit hinter sich hatte. Doch bedauerlicherweise wirkten das Verlorene und die latente innere Qual, die sich bei genauerem Hinsehen in seinem Blick widerspiegelten, noch anziehender auf sie. Um ihre aufgewühlten Sinne zu besänftigen, versuchte sie, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, was ihr in Girards Gegenwart erstaunlich schwerfiel. Sie musste sich zusammenreißen! Er war ein Klient, und ein sehr wichtiger noch dazu. Auf keinen Fall durfte sie sich von schwärmerischen Gefühlen ablenken lassen.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte sie und hoffte, dass ihm das leichte Zittern ihrer Stimme nicht aufgefallen war. Sie nutzte die kostbaren Sekunden, die Girard brauchte, um ihr gegenüber Platz zu nehmen, um sich auf das Ziel dieses Gesprächs zu fokussieren. »Ich würde gerne einige Punkte des Vertrags mit Ihnen durchgehen, um sicherzustellen, dass Sie mit meinen Bedingungen einverstanden sind.«

»Mein Assistent hat mich über die einzelnen Klauseln in Kenntnis gesetzt, aber ich gehe davon aus, dass sie individuell auf die Bedürfnisse Ihrer Klienten angepasst werden.«

Da Natalie nicht sofort reagierte, griff er nach dem Vertrag, der vor Henry auf dem Tisch lag.

»Nehmen wir zum Beispiel Paragraf zwölf: Der Klient verpflichtet sich, seinem Körper und seiner Stimme ausreichend Ruhe zu gönnen, indem er eine achtstündige Bettruhe und einen mindestens zwanzig Minuten andauernden Mittagsschlaf einhält.« Er lachte leise. »Ich habe seit meinem dritten Lebensjahr keinen Mittagsschlaf mehr gehalten und habe auch nicht vor, diese Gewohnheit wieder einzuführen.«

»Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass ein kurzer Powernap am Mittag die Leistungsfähigkeit in der zweiten Tageshälfte um bis zu achtzig Prozent steigert«, warf Natalie ein. »Und Sie sind ein Mann mit einem extrem anspruchsvollen Beruf, der Ihrer Stimme, Ihrem Geist und Ihrem Körper viel abverlangt. Daher möchte ich sichergehen, dass wir Schlafmangel als Ursache für Ihre momentanen stimmlichen Schwierigkeiten ausschließen können.«

Girard hob eine Augenbraue, wobei ein leichtes Lächeln seine Mundwinkel umspielte. »Und wie wollen Sie kontrollieren, ob ich mich daran halte? Bringen Sie mich abends ins Bett und wecken mich am nächsten Morgen wieder auf?«

Natalie zwang sich, ihre gelassene Miene beizubehalten, auch wenn seine provokante Art sie reizte, sich auf sein Spiel einzulassen.

»Ich appelliere lieber an Ihren gesunden Menschenverstand.«

Girard schüttelte bedauernd den Kopf, ehe er weiterlas:

»Der Klient ernährt sich für die Dauer des Vertragsverhältnisses ausgewogen und verzichtet auf alle Arten von Genussmitteln.«

»Damit meine ich Alkohol, Zigaretten, Drogen …«, zählte Natalie auf, um jedwedem Missverständnis vorzubeugen.

»Sie können unmöglich von mir verlangen, dass ich meinen Tagesablauf komplett über den Haufen werfe. Ich bin es gewohnt, mir am Ende eines harten Tages einen Drink zu gönnen, und bin nicht bereit, darauf zu verzichten.« Seufzend fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. »Wir sollten uns auf das Wesentliche konzentrieren. Uns bleiben drei Monate, um meine Stimme wieder so weit fit zu bekommen, dass ich die geplante Konzertreihe durchstehe. Ich weiß nicht, ob Sie darüber informiert sind, dass mein Manager mich rauswirft, wenn ich nicht in Kürze Erfolge vorweisen kann.«

»Ms. Winter versteht sicher …«, versuchte Henry, die Wogen zu glätten, wurde jedoch sofort von Girard unterbrochen.

»Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass ich wieder proben kann, und nicht meine Trinkgewohnheiten zu reglementieren.«

»Monsieur Girard, wie Sie eben selbst betont haben, bleibt uns nur wenig Zeit, und die möchte ich nicht darauf verwenden, herauszufinden, auf welche Art von Alkohol ihre Stimme reagiert und welches Maß akzeptabel ist.«

»Dennoch habe ich nicht vor …«

»Das sind meine Bedingungen – und sie sind nicht verhandelbar!«, fiel Natalie ihm ins Wort. »Wenn Sie wollen, dass ich mit Ihnen arbeite, muss ich darauf bestehen, dass Sie sich auf mich und meine Methoden einlassen, auch wenn sie Ihnen im ersten Moment unkonventionell erscheinen mögen.«

Sie begegnete Girards finsterem Gesichtsausdruck mit einem zuversichtlichen und, wie sie hoffte, vertrauenerweckenden Lächeln, doch er schien sich nicht davon beeinflussen zu lassen, sondern warf den Vertrag, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen, vor sich auf den Tisch. Die Luft war zum Zerreißen gespannt. Natalie suchte ihre Unterlagen zusammen und erhob sich so würdevoll, wie es ihr in der aufgeladenen Atmosphäre möglich war.

»Ich würde vorschlagen, dass Sie mein Konzept in Ruhe überdenken und mich anschließend wissen lassen, ob Sie zu einer Zusammenarbeit bereit sind. Falls Sie Fragen haben, finden Sie mich in meinem Zimmer.«

Kapitel 5

Natalie

Unruhig tigerte Natalie vor der breiten Fensterfront ihres Zimmers auf und ab und ging in Gedanken immer wieder das Gespräch mit Girard durch. War sie zu forsch gewesen? Hätte sie trotz seiner wenig entgegenkommenden Art mehr auf ihn eingehen müssen? Und noch viel wichtiger: War ihm aufgefallen, wie sehr sie die Begegnung mit ihm aufgewühlt hatte? Vermutlich war er daran gewöhnt, dass sein bloßes Erscheinen genügte, um sein Gegenüber durcheinanderzubringen. Dennoch sollte er von seiner potenziellen Stimmtrainerin erwarten können, dass sie sich professionell verhielt und vor allem, dass sie ihre Gefühle im Griff hatte. Bestimmt hatte sie ihn mit ihrer Unnachgiebigkeit gegen sich aufgebracht.

Um nicht völlig den Verstand zu verlieren, zwang sie sich, zum wiederholten Male ihre Notizen mit den verschiedenen Stimmübungen, den Stichpunkten zur Einführung ins mentale Training und die Liste möglicher Glaubenssätze, die Girard von Nutzen sein könnten, durchzugehen.

Gegen acht brachte Henry ihr ein Tablett mit Essen vorbei. Natalie blickte ihn erwartungsvoll an, doch er beschränkte sich auf ein freundliches Lächeln und erwähnte mit keinem Wort, wie die Unterhaltung mit seinem Boss ausgegangen war.

Eine Weile stocherte Natalie lustlos in dem appetitlich angerichteten Nudelsalat herum, ehe sie einsah, dass sie viel zu aufgeregt war, um etwas hinunterzubringen. Als ihr Handy klingelte, nahm sie den Anruf erleichtert entgegen. Wie üblich hielt Amy sich nicht mit einer Begrüßung auf.

»Wie läuft’s im hohen Norden? Hast du Renard schon kennengelernt? Wie ist er so? Du musst mir alles erzählen!«, sprudelte sie neugierig los.

»Er ist …«, sie geriet ins Stocken, da ihr keine passende Beschreibung einfiel, die ihrem ersten Eindruck von Girard auch nur annähernd gerecht werden würde.

Ein amüsiertes Kichern drang an ihr Ohr. »So unglaublich, ja?«

»Ach, Amy«, seufzte sie, »ich habe mich gefühlt wie eines seiner Groupies! Er kam in den Raum, und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.« Sie schluckte. »Seine unmittelbare Nähe hat mich vollkommen umgehauen! Wie kann es sein, dass er mich derart aus der Fassung bringt, obwohl ich mich so gut vorbereitet habe?«

Amy lachte. »Wir reden von Renard!«

»Aber sollte ich als seine Stimmtrainerin nicht über mehr Disziplin und Willensstärke verfügen?«

»Bloß nicht! Du besitzt mehr von beidem, als gut für dich ist. Entspann dich! Es war euer erstes Treffen. Gib der Sache eine Chance, und sei nicht so streng mit dir!« Wie immer fand Amy die passenden Worte, um sie zu beruhigen. »Wie ist das Haus? Wohnt er in einer richtigen Villa? Oder ist es mehr wie ein Palast?« Natalie, die froh war über den Themenwechsel, zögerte einen Moment, ehe sie ihre Bedenken über Bord warf.

»Es ist ein richtiger Prestigeschuppen, nichts als kostspielige Designermöbel, die alle perfekt aufeinander abgestimmt sind. Allein die Eingangshalle ist groß genug, dass man darin ein Konzert veranstalten könnte. Auch der Meetingraum bietet locker Platz für dreißig Leute und ist mit der neusten Technik ausgestattet. Es gibt mehrere Salons, die sich zum Teil über zwei Stockwerke erstrecken. Auf mich wirkt das Ganze ziemlich protzig, aber ich kenne bisher auch nur einen Teil des Erdgeschosses und mein Zimmer im Ostflügel. Bestimmt ist Girards Wohnbereich persönlicher eingerichtet.«

»Wenn du es geschickt anstellst, stehen die Chancen gut, dass er dir im Laufe der nächsten Wochen sein Schlafzimmer zeigt.«

Obwohl Amy es nicht sehen konnte, verdrehte Natalie die Augen. »Das glaube ich kaum. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, sitze ich morgen wieder im Bus zurück nach Hause.«

»Lass mich raten! Du hast ihm deine Bedingungen aufgezählt.«

»Sie sind Teil des Vertrags und die Grundlage …«

»… für eine erfolgreiche Zusammenarbeit.« Amy stöhnte. »Ich weiß, dass du es gut meinst, Nuts, aber wenn man dich nicht kennt, wirkst du manchmal etwas verbissen, was deine Prinzipien angeht. Kein Wunder, dass er nicht begeistert war.«

Natalie holte Luft, um sich zu rechtfertigen, hielt dann aber inne, da sie ahnte, dass Amy womöglich recht haben könnte. Nicht ohne Grund trug sie, seit sie ein Kind war, den Spitznamen Nuts. Schon ihr Vater hatte immer behauptet, sie sei stur und unnachgiebig, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ähnlich wie die Schale einer Nuss, die auch nicht so schnell nachgab, wenn jemand sie zu knacken versuchte.

»Wie sieht dein Plan aus?«, riss Amys Stimme sie aus ihren Erinnerungen.

»Ich werde alles Nötige tun, um diesen Auftrag an Land zu ziehen.«

»Wirklich alles?« Offenbar konnte Amy es einfach nicht lassen, sie aufzuziehen.

»Du weißt, wie ich das meine.«

»Na klar, schließlich kenne ich dich schon mein ganzes Leben.« Sie konnte Amys liebevolles Lächeln direkt vor sich sehen. »Pass auf dich auf und lass dich nicht vom bösen, furchteinflößenden Fuchs alias Renard ärgern!«

Wummernde Bassbeats ließen die Wände von Natalies Zimmer erbeben. Verwirrt schlug sie die Augen auf. Es dauerte einen Moment, bis ihr wieder einfiel, wo sie sich befand. Sie war in Kanada, bei Renard. Allein der Gedanke war unbegreiflich. Ein Blick auf ihr Handy verriet ihr, dass es mitten in der Nacht war. Widerwillig schlüpfte sie in eine lange Hose und einen leichten Pulli und machte sich auf die Suche nach der Quelle des Lärms.

Sie folgte dem Korridor und durchquerte mehrere Salons, bis sie sich in der Eingangshalle wiederfand. Von dort führte eine geschwungene Treppe hinauf in den ersten Stock. Es widerstrebte ihr, ungebeten in die Privatsphäre ihres potenziellen Auftraggebers einzudringen, aber bei diesem unzumutbaren Geräuschpegel würde sie niemals wieder einschlafen können.

Vor einer weißen Doppeltür blieb sie stehen und klopfte höflich an. Die Mühe hätte sie sich sparen können, denn wer auch immer sich in diesem Raum befand, war vermutlich mittlerweile taub. Sie legte ihre Hand auf die Klinke und drückte sie entschlossen nach unten.

Kapitel 6

Pascal

»Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte Rhys und schaute Pascal dabei zu, wie er sich einen weiteren Whiskey genehmigte.

»Ich habe dich nicht hergebeten, damit du mir Vorhaltungen machst, sondern weil ich mit dir einen entspannten Abend verbringen will«, ließ Pascal seinen besten Freund und langjährigen Gitarristen wissen. »Außerdem musste ich mir heute schon genug anhören! Du kannst dir nicht vorstellen, was ich angeblich alles tun muss, um wieder auf die Spur zu kommen.«

Der Gedanke an die pedantische Amerikanerin fachte seine Wut erneut an. Er nahm einen großen Schluck und seufzte erleichtert, als er spürte, wie der Alkohol seine Wirkung allmählich entfaltete und seine Sinne angenehm umnebelte.

»Was spricht dagegen, es zumindest zu versuchen? Wenn es deiner Stimme in ein paar Wochen nicht besser geht, kannst du sie immer noch rauswerfen. So wie ich das sehe, hast du nichts zu verlieren und dafür umso mehr zu gewinnen! Vergiss nicht, dass die Jungs auf dich zählen – ebenso wie ich.«

Pascal spürte Rhys’ Blick auf sich ruhen. Er ahnte, dass sein Freund recht hatte. Es ging nicht nur um ihn allein, sondern um die Zukunft der gesamten Band. Dennoch war er nicht bereit, nachzugeben und sich auf Natalies Forderungen einzulassen, die ihm maßlos übertrieben schienen. Vermutlich war es ihr nur darum gegangen, gleich zu Beginn die Machtverhältnisse zu klären.

»Und bis dahin soll ich mir vorschreiben lassen, wann ich ins Bett gehe, und auf diesen Genuss hier verzichten?«

Er schwenkte provozierend sein Glas vor Rhys’ Nase herum, wobei sich ein Teil der goldbraunen Flüssigkeit auf den niedrigen Couchtisch ergoss. Rhys machte Anstalten, ihm den Drink abzunehmen, doch Pascal zog seinen Arm zurück.

»Das erinnert mich an den Abend, als ich den Schnapsvorrat meines Alten geplündert habe und du versucht hast, mich davon abzuhalten. Weißt du noch?« Da Rhys nichts erwiderte, fuhr Pascal fort: »Damals wäre es schlau gewesen, auf dich zu hören. Das hätte mir jede Menge Prügel erspart.«