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VERBOTENE SEHNSUCHT von LAURIE CAMPBELL Ihre Zwillingsschwester Beth ist tot? Dann muss sie wohl Anne sein – seit dem gemeinsamen Unfall kann sie sich an nichts mehr erinnern. Immerhin ist Rafe da, um ihre Tränen zu trocknen. Nur warum fühlt sie sich zu ihm so hingezogen? Er war doch der Mann ihrer Schwester … JA HEISST FÜR IMMER von SUSAN MALLERY Katies Herz schlägt immer noch für ihre Jugendliebe Jack Darby. Doch obwohl sie in Jacks Augen die alte Zärtlichkeit liest, spürt sie, dass er ihr den Verrat von damals nicht verziehen hat. Kann sie ihn davon überzeugen, dass diesmal "Ja" auch "für immer" heißt? GESTRANDET IM GLÜCK von LAURA MARIE ALTOM Gestrandet in Bent Road: Libbys Auto ist kaputt, ihr Konto leer und ihr Baby wird in einem Monat zur Welt kommen. Was sie jetzt braucht, ist einen Engel – und der erscheint in Gestalt des breitschultrigen Heath Stone. Er hilft ihr gern, aber eins will er nicht: sich verlieben …
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Seitenzahl: 582
Veröffentlichungsjahr: 2021
Laurie Campbell, Susan Mallery, Laura Marie Altom
BIANCA JUBILÄUM BAND 4
IMPRESSUM
BIANCA JUBILÄUM erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Neuauflage in der Reihe BIANCA JUBILÄUM, Band 4 06/2021
© 2004 by Laurie Schnebly Campbell Originaltitel: „Wrong Twin, Right Man“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Detlef Murphy Deutsche Erstausgabe 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BIANCA, Band 1476
© 2000 by Susan Mallery, Inc. Originaltitel: „The Rancher Next Door“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Gina Curtis Deutsche Erstausgabe 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BIANCA, Band 1618
© 2014 by Laura Marie Altom Originaltitel: „The SEAL’s Baby“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Rainer Nolden Deutsche Erstausgabe 2015 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BIANCA EXTRA, Band 17
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 06/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751502115
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
„Ich will ein Baby“, sagte Beth zu ihrer Schwester. „So bald wie möglich.“
„Schreib es auf“, befahl Anne. Sie drehte die Getränkekarte des Speisewagens um und schob sie über den Tisch. „Wenn du dich mit Rafe aussprechen willst, musst du genau wissen, worin das Problem besteht.“
Er liebt mich nicht!
Aber sie brachte es nicht fertig, die Worte laut auszusprechen.
„Er will kein Baby“, sagte Beth stattdessen. Was auf dasselbe hinauslief. „Ich weiß, wir waren uns einig, dass wir warten wollten, bis das Beratungszentrum läuft, aber das dauert länger, als ich erwartet habe.“
„Schreib es auf“, wiederholte ihre Zwillingsschwester, und Beth gehorchte. „Wann habt ihr das letzte Mal darüber geredet?“
„Am Freitag. Am Abend, bevor ich losgefahren bin, um mich mit dir zu treffen.“ Am Abend vor Annes und ihrem alljährlichen „Schwesternurlaub“ hatte sie ihrem Ehemann vorgeworfen, dass er sich mehr um die Straßenkinder von Tucson kümmerte als darum, eigene Kinder zu bekommen.
Und er hatte es nicht bestritten.
„Was ist passiert?“, fragte Anne, und Beth tippte sich mit dem Bleistift gegen den Mund.
„Nichts. Ich hatte gehofft, dass er wütend reagieren und behaupten würde, dass ich mich irre. Aber er sagte einfach nur, die Beratungsstelle sei noch nicht so weit und wir hätten viel Zeit.“
„Na ja, da hat er nicht unrecht“, meinte ihre Schwester. „Du bist sechsundzwanzig. Und Rafe ist … achtundzwanzig? Aber okay, das ist euer Hauptproblem. Was gibt es noch?“
„Reicht das etwa nicht?“, entgegnete Beth, als der Kellner kam, um ihre Bestellung fürs Frühstück aufzunehmen. Sie wünschte, sie könnte ihn wegschicken und das Gespräch fortsetzen, ohne von Omelett mit Pilzen und Vollkorntoast abgelenkt zu werden. Aber sie hatten sich darauf gefreut, mal wieder im Speisewagen essen zu können, und deshalb den Zug von Los Angeles nach Tucson genommen.
Zurück zu dem Mann, der sie nicht wollte. Jedenfalls nicht annähernd so sehr, wie sie ihn wollte.
„Ich kann noch immer nicht glauben, dass du deinen Ehering zu Hause gelassen hast“, sagte Anne und starrte auf den irischen Claddagh-Ring, der ein Herz zwischen zwei Händen zeigte. Sie hatte ihn Beth geliehen, als sie ihre Schwester ein paar Tage zuvor beim Weinen ertappt hatte. „Und du hast es mir nicht mal erzählt! Bethie, du musst wirklich mehr über deine Gefühle sprechen.“
Da mochte Anne recht haben, aber sie konnte nicht erwarten, dass ihre Schwester ihre Probleme löste. Sich um Menschen zu kümmern war Beth’ Stärke, Anne war für alles andere zuständig.
Außerdem hatte sie gehofft, dass eine Woche ohne Rafe ihr helfen würde, innerlich zur Ruhe zu kommen.
„Ich dachte nur, ich könnte so tun, als hätten wir nie geheiratet, und herausfinden, wie es sich anfühlt“, murmelte Beth.
„Aber es fühlt sich traurig an, nicht wahr?“
Genau das war ihr Problem. Den Ehering im Schmuckkasten zu lassen war albern gewesen, und obwohl sie jetzt den Ring ihrer Schwester trug, kam ihr der Finger noch immer nackt vor.
„Ihr beide müsst euch endlich aussprechen“, fuhr Anne fort. „Vergiss das mit dem neuen Look, das ist nicht das, was du brauchst. Nicht, dass du nicht großartig aussiehst …“
„Das sagst du nur, weil ich so aussehe wie du.“
Ihre Schwester lächelte. Jetzt, mit Beth’ neuer Frisur sahen sie sich so ähnlich wie schon seit Jahren nicht mehr. „Rotblond wirkt mit kurzen Locken einfach besser, das ist alles. Aber wie gesagt, reinen Tisch zu machen ist die beste Methode, eure Krise zu überwinden. Vorausgesetzt, du willst verheiratet bleiben.“
„Das ist ja das Schlimme!“ Sie wollte ihn noch immer als ihren Ehemann, und eine ganze Woche Urlaub hatte nichts an ihrer tiefen Sehnsucht nach Rafe Montoya geändert. „Welche Frau will einen Mann, der sie nicht braucht?“
Anne zögerte und nahm einen Schluck Kaffee, bevor sie ihrer Schwester einen skeptischen Blick zuwarf. „Beth, ich weiß, dir ist es wichtig, dich um Menschen zu kümmern. Aber gebraucht zu werden ist nicht dasselbe wie geliebt zu werden.“
„Genau darum geht es doch in der Ehe!“
„Du brauchst eine Pro-und-Kontra-Liste“, verkündete Anne. „Gründe, verheiratet zu bleiben, und Gründe, dich scheiden zu lassen. Komm schon, schreib sie auf.“
„Aber …“ Was, wenn es mehr Gründe für eine Scheidung gab? „Ich will noch nicht aufgeben.“
„Das kommt in die Pro-Spalte“, befahl Anne und nippte wieder an ihrem Kaffee. „Was gefällt dir noch an ihm?“
Es ging nicht darum, was sie an ihm mochte, sondern darum, warum sie ihn liebte.
Und warum er ihre Liebe nie erwidern würde.
„Komm schon“, drängte ihre Schwester. „Ist er intelligent, attraktiv, reich, charmant, gut im Bett …“
„Anne!“ Sie saßen mitten in einem Speisewagen, um sie herum saßen andere Leute, und ihre Schwester fragte, wie Rafe im Bett war!
„Pünktlich, höflich, sportlich …“
„Alles“, unterbrach Beth sie hastig und versuchte, nicht an Rafes athletischen Körper zu denken. Wenigstens wenn er mit ihr schlief, konnte Rafe Montoya seinen Gefühlen freien Lauf lassen. „Nun ja, außer reich. Er zahlt noch immer die Kredite zurück, mit denen er sein Studium finanziert hat, und mit der Beratungsstelle wird er nicht viel verdienen.“
„Das kommt in die Kontra-Spalte, zusammen mit dem Baby, das er noch nicht will, und der Zahnpastatube, die er nie zuschraubt“, meinte Anne. „Aber da er uns vom Bahnhof abholt, ist es gut, dass er ein pünktlicher Mensch ist.“
Geplant war, dass Rafe sie heute Vormittag um halb zehn in Tucson erwarten würde, damit Beth und er Anne ihr neues Haus zeigen konnten, bevor sie sie zum Flughafen brachten. Wie Beth ihn kannte, hatte er längst im Bahnhof angerufen und sich nach ihrer Ankunftszeit erkundigt.
„Vermutlich kommt er direkt von der Arbeit“, sagte Beth und zog einen Strich zwischen den beiden Spalten.
„Er arbeitet so früh?“
Für einen Mann, dessen Arbeitstag nicht selten um drei Uhr morgens begann, war es nie zu früh. Manchmal kam er erst zweiundsiebzig Stunden später nach Hause, wenn ein jugendliches Bandenmitglied jemanden brauchte, der für ihn die Kaution stellte, ihn vom Polizeirevier abholte oder ihm ein Dach über dem Kopf verschaffte.
„Vermutlich hat er die Nacht im Beratungszentrum verbracht“, erklärte Beth. „Ich meine, solange ich im Urlaub war, hatte er kaum einen Grund nach Hause zu kommen.“
Sie wünschte, sie hätte es nicht ausgesprochen. Es klang wie das Todesurteil für ihre Ehe.
„Manche Leute würden allein deshalb nach Hause kommen, um in einem richtigen Bett zu schlafen“, erwiderte Anne trocken.
Leute, die als Kind in einem richtigen Bett geschlafen hatten.
„Leute wie du und ich“, sagte Beth. „Aber du weißt ja, wie Rafe ist.“
Zur Bestätigung zog Anne die Augenbrauen hoch. Auf Beth’ und Rafes Verlobungsparty hatte sie ihre Schwester zur Seite genommen und sie gefragt, ob sie den Rest ihres Lebens wirklich mit „diesem Sankt Rafael der Straßenkinder“ verbringen wolle.
Diese Frage verfolgte Beth jetzt schon seit sechs Monaten.
„Ich weiß, wie Rafe ist“, meinte Anne und warf einen Blick auf die Uhr. „Wenn du sagst, er wird pünktlich sein, wird er pünktlich sein.“
„Du wirst deinen Rückflug kriegen“, versprach Beth und stellte belustigt fest, dass ihre Schwester schon von Urlaub auf Arbeit umgeschaltet hatte.
Denn Anne starrte noch immer auf das Zifferblatt.
Und zwar auf das von Beth’ Armbanduhr. Es war ihr Konfirmationsgeschenk und mit einer eingravierten Widmung versehen. Anne hatte sie sich am ersten Tag ihrer Reise ausgeliehen. Ihre eigene hatte sie zu Hause gelassen.
„Okay“, sagte Anne jetzt und sah mit einem entschuldigenden Lächeln auf. „Also werde ich bei Anbruch der Dunkelheit in Chicago sein. Aber hör zu, wenn du lieber mit Rafe allein sein möchtest, brauchst du mir euer Haus nicht zu zeigen. Ich kann es mir beim nächsten Besuch anschauen.“
„Nein, du musst es sehen!“, protestierte Beth. „Ich habe das Gästezimmer wie ein Büro eingerichtet, und wenn du das nächste Mal kommst, wirst du dich wie an deinem eigenen Schreibtisch fühlen.“
„Du hast dich damit abgefunden, dass deine Zwillingsschwester ein Workaholic ist, was? Aber du musst zugeben, in dieser Woche habe ich mich ganz gut gehalten.“
Wenn man davon absah, dass Anne zwei Mal am Tag in ihrer Firma angerufen hatte.
„Hast du“, bestätigte Beth. „Und wir haben sogar Zeit zum Shopping gefunden.“ Ihre Schwester hatte darauf bestanden, sie mit einem Outfit auszustatten, das zu ihrer neuen Erscheinung passte. Seit dem Besuch in San Diegos angesagtestem Frisiersalon sahen sie beide sich wieder so ähnlich wie zuletzt in der siebten Klasse.
„Das hat Spaß gemacht, nicht wahr? Der Kellner gerade, er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu fragen. Das habe ich genau gesehen.“
Anne liebte es, wenn man sie fragte, wie es war, ein eineiiger Zwilling zu sein, und Beth hatte das Reden immer gern ihrer Schwester überlassen. „Du kannst es ihm erzählen, wenn er den Kaffee bringt“, bot sie Anne an und sah wieder auf ihre Liste. „Ich wünschte, wir hätten noch ein paar Urlaubstage.“
Manchmal sagte ein mitfühlender Blick mehr als tausend Worte, und Beth sah Anne an, was sie dachte – dass ein paar zusätzliche Urlaubstage der Ehe der Montoyas auch nicht helfen würden. Aber Anne war zu taktvoll, um es auszusprechen.
„Hör zu“, begann sie stattdessen. „Du weißt, du kannst mich jederzeit besuchen. Es wäre wunderbar, wenn du dich mal ein wenig umsehen würdest.“
„Wo, im Büro?“ Das war nicht Beth’ Domäne, auch wenn die Firma ihnen beiden gehörte. „Ich würde gar nicht wissen, wo ich anfangen soll.“
„Du könntest es lernen. Nur für den Fall, dass du beschließt, dein Leben zu verändern.“
Was immer aus Rafe und ihr wurde, Beth konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit ihrer Schwester zu tauschen. Anne war dazu geboren, die Firma namens Dolls-Like-Me zu leiten, die Kindern mit Doppelgänger-Puppen Freude bereitete. Beth dagegen war glücklich, zu Hause zu bleiben und in ihrer Werkstatt die Puppen für Kinder mit Down-Syndrom herzustellen.
„So sehr will ich es nicht verändern, aber trotzdem danke“, erwiderte Beth.
„Na gut, dann mach dich an deine Liste. Du hast nur noch drei Stunden.“
Drei Stunden, um zu beschließen, ob sie verheiratet bleiben wollte oder nicht? „So schnell kann ich mich nicht entscheiden“, protestierte sie.
„Das musst du doch noch gar nicht“, entgegnete Anne, während sie ihren Kaffeebecher hob und dem Kellner zunickte. „Du listest lediglich auf, was dafür und was dagegen spricht.“
„Okay“, gab Beth nach. Als der Kellner an ihren Tisch trat, um ein wenig mit ihrer Schwester zu flirten, machte Beth sich an die Arbeit.
Aber auf der Rückseite der Getränkekarte war einfach nicht genug Platz, um all das zu notieren, was in den letzten zwei Jahren geschehen war. Sie hatte die Geschäftsführung Anne überlassen, die mit einem Abschluss in Betriebswirtschaft von Harvard zurückgekommen war. Und sie war bereit gewesen, früher als geplant eine Familie zu gründen.
Rafe nicht. Nicht im letzten Jahr. Nicht vor sechs Monaten. Nicht jetzt.
Seine ganze Leidenschaft galt Legalismo, der Kombination aus Beratungsstelle und Anwaltskanzlei, mit der er Jugendliche davor bewahren wollte, auf die schiefe Bahn zu geraten. Er setzte all seine Energie und Zeit dafür ein, Kindern zu helfen. Kindern, die einem Leben entfliehen wollten, das ihn selbst zu einem Kämpfer gegen Leid und Ungerechtigkeit gemacht hatte. Genau das hatte sie damals fasziniert, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war.
Bevor sie begriffen hatte, dass es einfacher war, einen Helden zu lieben, als mit einem zusammenzuleben.
„Ich sag dir was“, holte Anne sie aus ihren Gedanken, als der Kellner sich entfernte. „Du siehst aus, als könntest du eine Pause gebrauchen. Lass uns in den Aussichtswagen gehen.“
Gestern Abend hatten sie sich gleich nach der Abfahrt von Los Angeles in ihrem Abteil schlafen gelegt, aber jetzt wäre ein Blick von der oberen Etage eine nette Abwechslung. Jedenfalls für die letzten paar Stunden der Reise. Schließlich ging es beim „Schwesternurlaub“ darum, die gemeinsame Zeit zu genießen.
„Wohin wollen wir im nächsten Jahr?“, fragte Beth, als sie sich in die letzte Reihe des Aussichtswagens setzen. Vor den großen Fenstern glitt die endlose Wüste dahin. „Du darfst das Ziel aussuchen.“
„New York“, antwortete Anne sofort. „Du warst noch nie da, und es wird höchste Zeit. Und falls ich dann noch Kontakt mit Marc habe, wird er uns Karten für jede Show am Broadway besorgen, in die wir gehen wollen.“
Marc war der italienische Architekt, den Beth’ Schwester vor einigen Monaten kennengelernt hatte – der letzte in der Reihe attraktiver Männer, die Anne mit erstaunlicher Leichtigkeit anzog und wieder fallen ließ.
„Du meinst, er ist …“ Beth suchte nach dem richtigen Wort. „Ist er etwas Besonderes?“
„Er ist nicht der Mann fürs Leben“, erwiderte Anne. „Aber für ein paar Monate dürfte es mit ihm viel Spaß machen.“
Könnte sie sich doch zusammen mit Annes Ring auch deren unbeschwerte Zuversicht ausleihen und von einem Mann nur „Spaß“ und nichts anderes erwarten …
Aber so konnte man keine Familie gründen!
„Weißt du, was wir jetzt brauchen?“, fragte Anne. „Kaffee mit einem Schuss Brandy.“
Kaffee mit einem Schuss Brandy würde es ihr nicht erleichtern, nach Hause zu kommen. Aber wenn es auch Anne vor dem Ende ihres Urlaubs graute, wollte Beth keine Spielverderberin sein.
„Ich hole uns welchen“, bot sie an und schaute dorthin, wo andere Passagiere auf einen freien Sitz warteten. „Ich bin gleich wieder da. Halt meinen Platz besetzt.“
„Dann lass mich wenigstens bezahlen“, sagte Anne. Sie gab Beth ihre kleine Handtasche und legte Beth’ auf den freien Sitz. „Ich bleibe hier. Es sei denn, ich finde zwei bessere.“
Das ist typisch für Anne, dachte Beth, als sie mit der leuchtend roten Handtasche ihrer Schwester den Gang entlang ging. Manchen Menschen wurde der Optimismus in die Wiege gelegt. Die Zuversicht, die man brauchte, um alles zu erreichen, was man wollte. Was sie für andere noch attraktiver machte, als sie ohnehin schon waren.
Und genau das bestätigte sich, als sie die Bar im nächsten Wagen betrat. An einem der Tische hob ein Mann mit einem Aktenkoffer den Kopf und begrüßte sie überschwänglich.
„Anne Farrell! Jake Roth aus Boston. Wie ist es dir ergangen?“
Seit der Highschool war sie immer wieder mit ihrer Schwester verwechselt worden, und es war ihr auch jetzt noch unangenehm. Sicher, es war schmeichelhaft, aber eben auch peinlich, wenn jemand nicht einsehen wollte, dass er den falschen Zwilling vor sich hatte.
Jake Roth stand bereits auf, um ihr die Hand zu geben, und sah so begeistert aus, dass es ihr schwerfiel, ihn zu enttäuschen. „Nun ja“, begann Beth. „Anne ist meine …“
„Toll, dich zu sehen!“, unterbrach er sie und schüttelte begeistert ihre Hand. „Mindy erkundigt sich dauernd nach dir. Ich muss ihr unbedingt erzählen, dass wir im selben Zug waren. Wohin fährst du?“
„Nach Tucson.“ Sie hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren, denn der Zug schien plötzlich stärker als sonst zu schwanken. „Aber …“
Unter ihr schien sich der Fußboden aufzubäumen, und Beth fühlte, wie sie zur Seite geworfen wurde. Jake hielt sie fest, bis er selbst taumelte.
Sie packte die Tischkante und fand dort Halt, bis etwas gegen den Mann neben ihr prallte und sie beide umwarf. Ein anderer Passagier schrie auf, dann ertönte ein metallisches Knirschen, das immer schriller wurde. „Anne, halten Sie sich fest, das ist ein Zusammenstoß!“
Bestimmt war es nur ein Felsbrocken, der auf den Schienen lag – aber noch während sie sich Mut zu machen versuchte, drang ein markdurchdringender Schrei an ihr Ohr. Sie erstarrte, fühlte, wie der Boden unter ihr nachgab, und sah, wie die Seitenwand des Waggons auf Jake stürzte.
Und auf sie.
Ob Beth lächeln wird? Vielleicht sollte ich die Blumen doch nicht hinter dem Rücken verstecken, wenn sie aus dem Zug steigt, dachte Rafe, während er die Tür der Beratungsstelle verschloss.
Auf dem Weg zur Arbeit hatte er einen prächtigen Strauß gekauft. Einen, wie Prominente ihn immer überreicht bekamen. Vermutlich würde Beth erröten, wenn er ihn ihr gab … aber sie sollte wissen, wie viel sie ihm bedeutete.
Seit ihrem unschönen Abschied vor einer Woche hatte sie kein einziges Mal aus Kalifornien angerufen. Er musste ihr beweisen, dass sie noch immer der wichtigste Mensch in seinem Leben war.
Also hatte er für heute Abend einen Tisch in einem schönen Restaurant reserviert und …
„He.“
Die Stimme des Jungen klang betont lässig, aber Rafe registrierte die Verzweiflung, die einen Jugendlichen dazu brachte, um diese Zeit vor einer Anwaltskanzlei zu warten. Doch egal wie früh oder spät es war, er war für jede Gelegenheit dankbar, mit Oscar Ortiz reden zu können. Denn der Junge erinnerte ihn nachdrücklich daran, wie er selbst mit fünfzehn gewesen war.
„Hallo“, erwiderte Rafe und bemerkte erst danach die Waffe in Oscars Hosenbund. Um den Jungen nicht zu verschrecken, tat er, als müsse er ein Gähnen unterdrücken. „Ich wollte mir gerade einen Kaffee holen. Kommst du mit?“
Solange sie auf der Straße waren, konnte er die eiserne Regel Keine Drogen, keine Waffen missachten, die in der Beratungsstelle galt. Als Oscar mit den Schultern zuckte, steuerte er auf dem rissigen Bürgersteig die nächste Bodega an.
Wenn er Oscar dazu bewegen konnte, bei den Lobos auszusteigen, wie er selbst seinerzeit den Bloods den Rücken gekehrt hatte …
„Wollen Sie immer noch mit Cholo sprechen?“, fragte der Junge, und Rafe warf einen Blick auf die Uhr. Es konnte eng werden, aber er durfte sich die Chance nicht entgehen lassen, die Beziehung zum Anführer der zweitgrößten Bande des Viertels zu festigen.
Offenbar war Oscar der Blick nicht entgangen, denn sofort zog er das Angebot zurück. „Anwälte sind immer beschäftigt.“
„Ja“, sagte Rafe. Es hatte keinen Sinn, dem Jungen etwas vorzumachen. Der Junge spürte, ob man ehrlich war. „Ich muss meine Frau abholen. Sie kommt mit dem Zug aus L. A.“
Oscar strich im Vorbeigehen über eine Bank, auf der in Kreide das Zeichen einer rivalisierenden Bande prangte. „Nicht mit dem, der verunglückt ist, oder?“
Ein Zugunglück? Nein, davon hätte er gehört.
„Es kam im Radio“, berichtete der Junge. „Ein Zusammenstoß draußen in der Wüste.“
Nein. Nicht Beth’ Zug. Zwischen hier und Los Angeles musste es etwa ein halbes Dutzend Züge geben. Mehr sogar.
Trotzdem fühlte er, wie sich in ihm etwas verkrampfte. Beth geht es gut, sagte er sich. Ich verliere niemanden, den ich liebe.
Nicht wieder.
Nie wieder.
„Sie kann nicht in dem Zug sein“, sagte er zu Oscar, der erneut mit den Schultern zuckte und auf den Streifenwagen an der Ecke starrte. „Nicht Beth.“ Nicht seine Frau. „Es geht ihr gut.“
Der Junge antwortete nicht, und Rafe spürte die Anspannung, die er nur zu gut kannte. Sie hatte ihn immer dann befallen, wenn er kurz davor war, angegriffen zu werden.
„Ein Irrtum, das ist alles“, sagte er. Die gab es dauernd. Wahrscheinlich versuchte irgendeine Radiostation Aufsehen zu erregen, indem sie von einem Zugunglück berichtete, das gar nicht stattgefunden hatte. „Er wird sich gleich aufklären.“ Ein kurzer Anruf würde genügen. Zum ersten Mal wünschte er, er hätte auf Beth gehört und ein Handy mitgenommen.
„Das Radio“, begann Oscar, aber Rafe ließ ihn nicht ausreden.
„Ich muss herausfinden, was passiert ist.“ Er entdeckte eine Telefonzelle. Sie war leer. Er rannte hinüber, riss die Tür auf und seufzte erleichtert, als er eine Leitung bekam. Hastig wühlte er in der Hosentasche nach Kleingeld.
Beth war okay.
Er musste einfach nur …
Verdammt! Zwei Fünfcentstücke und ein paar Scheine, was bedeutete, dass er erst einen davon in der Bodega wechseln musste und …
„Hier.“ Oscar legte eine Handvoll Münzen auf das Telefonbuch und wich zurück. Rafe überlegte hektisch, während er die Vierteldollar einwarf. Wo sollte er anrufen? Am Bahnhof? Richtig, dort würde man Bescheid wissen. Mit zitternder Hand wählte er die Nummer, unter der er sich im Morgengrauen nach der Ankunftszeit erkundigt hatte.
„Der Neun-uhr-dreißig aus Los Angeles“, rief Rafe, als am anderen Ende abgenommen wurde. „Meine Frau ist in dem Zug, und …“
„Sir“, wurde er unterbrochen. „Es hat eine … Verspätung gegeben … und wir können Ihnen nähere Auskünfte geben, wenn Sie herkommen …“
„Nein, ich will nur wissen, ob es ihr gut geht.“
Der Mann zögerte. „Sir, bitte kommen Sie zum Bahnhof und …“
Rafe knallte den Hörer auf die Gabel. So ging es nicht, aber bestimmt war alles in Ordnung. Beth war in Ordnung. Okay, zwischen ihnen gab es einige Probleme, aber die würde er lösen. Sie würde einsehen, dass sie beide noch viel Zeit hatten, um ein Baby zu bekommen. Er würde mit allem fertig werden, er musste nur wissen, was … wer …
Morton. Der Polizist, der ihm geholfen hatte, vor einigen Monaten, als die Kids einen Dämpfer brauchten. Morton würde herausfinden, was los war. Aber verdammt, er hatte die Nummer im Büro gelassen.
Rafe rannte zurück, getrieben von der Panik, die früher zu seinem Leben gehört hatte – wenn man nicht wusste, wer gerade hinter einem her war. Jetzt war die Straße leer – obwohl das nichts zu bedeuten hatte. Vor der Beratungsstelle wartete niemand. Das war gut, denn im Moment konnte er niemanden beschützen. Erst musste er Beth finden.
Da, das Telefon. Mortons Nummer. Jetzt brauchte der Cop nur noch abzunehmen. Und dann keine Nettigkeiten, nur seinen Namen und die Frage.
„Können Sie etwas über ein Zugunglück herausfinden?“
„Was, die Entgleisung?“ Der Polizist hörte sich nicht verwirrt, sondern neugierig an, was bedeutete, dass Oscars Radiomeldung vielleicht doch stimmte. Aber das musste nicht heißen, dass Beth etwas zugestoßen war. Beth ging es gut.
„Der aus Los Angeles“, fuhr Rafe atemlos fort. „Meine Frau ist an Bord.“
„Oh, Mann.“ Morton klang besorgt, aber das lag vermutlich an der schlechten Verbindung. Denn alles war in Ordnung. „Augenblick, ich frage nach – bleiben Sie dran.“
Beth geht es gut, sagte Rafe sich zum wiederholten Mal und packte den Hörer noch fester, während er zwischen seinem Schreibtisch und der Tür hin und her ging.
Beth war in Sicherheit.
Sie war auf dem Weg nach Hause.
Richtig. Richtig, obwohl Menschen nicht immer nach Hause kamen – Mom, Carlos, Nita, Gramps und Rose, zum Beispiel – aber das hier war anders. Schließlich war er nicht von Beth abhängig.
Also musste sie okay sein. Es dauerte nur eine Weile, bis Morton das bestätigte. Gleich würde er berichten, dass es nichts Schlimmes war, nur eine kleine Verzögerung …
„Rafe?“ Der Polizist klang unsicher, und Rafe hielt den Atem an. „Hören Sie, es tut mir leid, aber …“ Er zögerte. „Warten Sie, reist Ihre Frau mit ihrer …“
„Schwester, ja“, brachte Rafe heraus. Vielleicht lag eine Verwechslung vor, vielleicht war ihrer Schwester etwas passiert. Das wäre hart, aber Hauptsache, Beth war am Leben. „Anne. Sie sind Zwillinge.“
„Oh, verdammt“, murmelte Morton. „Die Schwester wird gerade ins Krankenhaus gebracht. Aber Beth … Es tut mir leid. Sie hat es nicht geschafft.“
Nein.
Nein, wiederholte Rafe stumm, während er wie in Zeitlupe auflegte. Das konnte nicht sein.
Es war unmöglich.
So etwas passiert dauernd.
Nein. Nicht dieses Mal.
Sie hat es nicht geschafft.
Nicht Beth. Nicht schon wieder.
Aber er erkannte das Gefühl – die Schwere ums Herz, den heißen Druck hinter den Augen …
Nein. Keine Tränen. Er musste sich bewegen, er musste etwas tun …
Nicht weinen.
Nein. Weinen war sinnlos. Er taumelte in den Vorraum.
Es tut so weh.
Nein, das konnte nicht sein. Beth konnte nicht fort sein, denn er musste so viel in Ordnung bringen. Sie war abgereist und hatte gedacht, dass er noch kein Baby wollte, weil er sie nicht liebte, aber er liebte sie doch …
Aber nicht genug.
Nie genug.
Rafe fühlte, wie ein Beben in ihm aufstieg, und schluckte mühsam. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Lehne der Plastikcouch, auf der die Ratsuchenden auf den diensthabenden Anwalt warteten. Er durfte die Tür nicht abschließen. Nicht, wenn jeden Moment jemand auftauchen konnte, aber …
Nein, das hier war nicht in Ordnung zu bringen.
Er konnte es nicht.
Er musste es in Ordnung bringen. Es war sein Beruf, Dinge in Ordnung zu bringen, und er konnte nicht weinend im Vorraum stehen und …
Aber die Tränen hörten nicht auf. Sosehr er auch den Atem anhielt, denn aus irgendeinem Grund, fiel ihm das Schlucken immer …
Nicht hier!
Rafe eilte ins Bad und verriegelte die Tür. Die Hitze, die ihm in den Hals und die Augen stieg, wurde immer unerträglicher. Es war, als würde er ersticken, und plötzlich hörte er sich schluchzen und schien nicht mehr aufhören zu können …
Nein. Nicht Beth.
Nicht dieses Mal.
Bitte!
Keine Antwort, sosehr er auch darum flehte, von ganzem Herzen, mit aller Hoffnung. Aber zugleich wusste er, dass es nicht genug war. Weinen half nicht, nichts half, und er musste sich zusammenreißen. Er musste weg von hier und die Kraft finden, die er sein ganzes Leben hindurch gesammelt hatte, damit er diesen Schmerz nie wieder fühlen musste.
Doch jetzt war der Schmerz zurück, schlimmer als beim letzten Mal, obwohl er inzwischen wusste, wie er sich dagegen wehren konnte. Er wusste, dass er die Arme auf den Rücken legen, so tief wie möglich durchatmen und langsam zählen musste. Fünf, zehn, fünfzehn …
Fünfundsiebzig, achtzig, fünfundachtzig.
Zweihundertzwanzig, zweihundertfünfundzwanzig, zweihundertdreißig.
Er musste zählen, so weit, wie er kam. Damit fing es an, das wusste er, aber die wahre Kraft lag anderswo. Um sie zu finden, musste er weg von hier. Er musste sich um jemanden kümmern. Um wen auch immer. Vielleicht waren im Vorraum Mandanten, aber er hatte niemanden hereinkommen hören. Als es ihm endlich gelang, die Schultern zu straffen und die Tür aufzureißen, war alles leer.
Okay. Er würde es trotzdem durchstehen.
Er wusste, was er tun musste.
Wenn hier niemand war, würde er es eben anderswo versuchen. Er hatte es schon mal geschafft. Er brauchte jemanden, der Hilfe benötigte, sich fürchtete, Schmerzen hatte …
Schmerzen. Richtig.
Anne.
Krankenhaus. Das hatte Morton gesagt, und inzwischen musste sie dort sein. Also …
Okay. Zum zweiten Mal an diesem Abend schloss er die Kanzlei ab und steuerte den Parkplatz hinter dem Gebäude an. Er musste sich bewegen, einfach nur zum Wagen gehen. Jemanden zu beschützen würde ihm helfen, stark zu bleiben. Und Beth’ Schwester brauchte jetzt seine Hilfe.
Weiter, befahl Rafe sich und taumelte wie blind zu seinem Wagen. Fahr los, dann überstehst du das hier.
Du schaffst es.
Anne. Du musst dich um sie kümmern.
„Anne? Hier ist jemand, der Sie besuchen möchte.“
Die beruhigende Stimme war vertraut, obwohl sie nicht sagen konnte, warum. Vielleicht hatte sie sie am Morgen gehört, oder in der Nacht oder …
Augenblick, war es Morgen?
Nun ja, irgendwo schien Licht zu sein, ja. Und auch das kam ihr vertraut vor, was nur bedeuten konnte, dass sie zu Hause in …
In …
In ihrem Bett, richtig, aber warum fühlte es sich nicht wie ihr Bett an? Ihr Bett sollte nicht wehtun, aber das hier war schmerzhaft. So, als hätte sie verkrampft geschlafen, mit auf den Rücken gedrehten Armen und neben etwas, das sie an der Seite zu verbrennen schien.
„Anne, möchten Sie heute mit Ihrem Schwager sprechen?“
Die Frage klang, als wäre sie an sie gerichtet, aber bedeutete das, dass sie Anne war? Auch den Namen kannte sie irgendwoher, sogar noch besser als die beschwörende Stimme und das Licht, das in ihre Augen sickerte …
„Er kommt jeden Tag her, um nach Ihnen zu sehen, und sagt, Sie sollen sich keine Sorgen machen …“
„Okay“, murmelte sie. Jedenfalls wollte sie es sagen, aber irgendwie hörte sich ihre Stimme nicht richtig an. Trotzdem musste die Frau sie verstanden haben, denn sie stieß einen freudigen Schrei aus.
„Sie sind wach! Das muss ich sofort Dr. Sibley erzählen. Sie brauchen keinen Besuch zu empfangen, wenn Sie noch nicht so weit sind, aber ich weiß, Ihr Schwager würde sich riesig freuen.“
„Okay“, wiederholte sie, und dieses Mal klang es deutlicher – auch wenn sie sich noch nicht aufsetzen konnte. „Was … was …“ Ihr fiel nicht ein, was sie fragen wollte. Klar war nur, dass irgendetwas sich nicht richtig anfühlte.
„Sie sind im Krankenhaus, Anne. Sie sind seit acht Tagen hier, und wir fingen schon an, uns Sorgen zu machen, aber jetzt werden Sie wieder gesund.“
Im Krankenhaus? Hatten sie ihr die Mandeln entfernt? Sie erinnerte sich an das Krankenhaus. Ihre Schwester hatte im Bett neben ihrem gelegen. Und sie lachten über etwas! Aber das war lange her. Acht Tage?
Nein, länger.
„Ich werde ihn jetzt zu Ihnen schicken“, verkündete die Frau und half ihr auf, soweit es ein Schlauch an ihrem Arm zuließ. „Lassen Sie sich Zeit und machen Sie es sich so bequem wie möglich. Ihr Schwager erwartet nicht, dass Sie sich mit ihm unterhalten. Aber falls Dr. Sibley gerade beschäftigt ist, kann Ihr Besuch Ihnen Gesellschaft leisten, bis der Doktor Zeit für Sie hat.“
„Okay.“ Es fiel ihr immer leichter, dieses eine Wort auszusprechen, und die Schwester schien sich darüber zu freuen. Es war doch eine Schwester, oder? Wer im Krankenhaus ein weißes Kleid trug, musste eine Schwester sein. Und auch die Art, wie sie rückwärts aus dem Zimmer ging, ohne den Blick vom Bett zu nehmen, kam Beth auf tröstende Weise vertraut vor.
Doch den Mann, der danach hereinkam, kannte sie nicht. Er war kein Arzt, denn was er trug, passte eher zu einem Rechtsanwalt – ein konservatives weißes Hemd und einen grauen Anzug, wobei die Krawatte und der Kragen allerdings gelockert waren.
Und er sah ungeheuer erleichtert aus.
„Anne“, begrüßte er sie, während er nach ihren Händen griff und sie überraschend sanft drückte. Vielleicht tat er das wegen des Metallgerüsts, das ihren Arm stützte und nach der Mandeloperation nicht da gewesen war – jedenfalls nahm sie das an. „Du wirst wieder gesund. Dr. Sibley hat gesagt, du musst noch ein paar Tage hier bleiben, dann bekommst du sechs Wochen lang Physiotherapie, und danach bist du wie neu.“
Er schien sich zu freuen, also musste es eine gute Nachricht sein. „Gut“, brachte sie heraus. Aber das erklärte nicht, wer dieser Mann war. „Sind Sie … der Arzt?“
Er zuckte zusammen und zog langsam einen Stuhl ans Bett.
„Ich bin Rafe Montoya“, sagte er und schwieg, als würde er darauf warten, dass der Name etwas in ihr auslöste. „Der Ehemann deiner Schwester.“
Ihre Schwester war verheiratet? Daran erinnerte sie sich auch nicht, aber wenn ihre Schwester einen Ehemann hatte, musste ihre Kindheit schon lange vorbei sein. „Wo ist sie?“
Der Gesichtsausdruck des Mannes veränderte sich nicht, aber sie sah den Schmerz in seinen Augen aufblitzen, bevor er sich setzte und sie ruhig ansah. „Sie ist nicht hier. Du bist ziemlich schwer verletzt worden.“
„Das habe ich mir gedacht“, gab sie zu und rückte von dem ab, was an ihrer Seite drückte. „Ich fühle mich nicht besonders.“
Er nickte und griff über sie hinweg, um etwas zur Seite zu schieben. „Du und Beth … ihr habt in einem Zug gesessen, der verunglückt ist.“
„Beth?“ Der Name war irgendwie vertraut, und daran, wie er ihn aussprach, erkannte sie, dass er zu jemandem gehörte, den er liebte. „Meine Schwester?“
„Ja. Anne, es tut mir leid.“ So hatte auch die Schwester sie genannt, was bedeutete, dass sie Anne sein musste. Und die Kombination beider Namen schien in ihr widerzuhallen, als würden Anne und Beth irgendwie zusammengehören. „Mir war nicht klar, dass du … Dein Kopf ist ganz leer, was?“
So ziemlich, aber sie wollte nicht, dass dieser Mann sich um sie sorgte. Zumal er sich um seine Frau kümmern musste … obwohl es dieser Beth inzwischen gut gehen musste, denn sonst wäre ihr Ehemann nicht hier.
„Nein“, widersprach sie. „Ich erinnere mich daran, dass man uns die Mandeln herausgenommen hat.“ Aus irgendeinem Grund war das am deutlichsten – vielleicht lag es daran, dass dieses Krankenhaus so ähnlich wie das andere roch. Aber nach und nach tauchten auch andere Bilder auf. Wie sie mit einem Hund spielten, einander Zöpfe flochten, Schneeflocken ausschnitten … „Aber das ist lange her.“
„Ja, das ist es wohl.“ Er betrachtete sie einen Moment, als würde der Anblick ihres Gesichts in ihm eine eigenartige Mischung aus Nostalgie und Bedauern auslösen, dann lächelte er entschuldigend. „Vielleicht solltest du dich erst einmal erholen. Es gibt viele Leute, die an dich denken.“
„Wirklich?“ Außer ihrer Schwester fiel ihr niemand ein, der das tun sollte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es für sie nur ihre Schwester gab. Keine Eltern, keine Großeltern. Niemand bis auf ihre Schwester.
Und diesen Besucher. Rafe.
Der Ehemann ihrer Schwester.
„Ja. Zum Beispiel Jake Roth – der Typ, der dich aus dem Zug gezogen hat.“ Rafe schien zu hoffen, dass seine Worte ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen würden, aber nichts passierte. „Er und seine Frau haben angerufen. Und alle in Chicago.“
Chicago. Das hatte sie schon mal gehört, und ihr kam das Bild einer Skyline in den Sinn. Vielleicht von einem Kalender. Oder einer Postkarte. „Ist das hier?“
„Nein, im Moment bist du in Tucson.“ Er schloss kurz die Augen. „Hier haben Beth und ich … leben wir.“ Seine Stimme zitterte, und sie ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen war. „Du und Beth wart im Urlaub, und …“
„Ist sie okay?“
Er zögerte, und noch bevor er antwortete, stieg in ihr ein mulmiges Gefühl auf.
„Beth ist … sie ist fort.“
Fort? Wie jemand, der …
Sie musste zusammengezuckt sein und so etwas wie ein Wimmern von sich gegeben haben, denn er griff wieder nach ihren Händen. „Anne, es tut mir leid“, platzte er heraus und sprach hastig weiter, als könnten die richtigen Worte den Schock abmildern. „Jeder sagte, dass es schnell gegangen sein muss, vor dem Feuer. Sie hat es gar nicht bewusst wahrgenommen.“
Aber das bedeutete …
„Beth … meine Schwester? Sie ist tot?“
Er nickte. Nur ein Mal, ohne aufzusehen.
„Oh nein.“ Das konnte nicht sein. „Nein, das ist sie nicht.“ Gerade eben hatten sie noch in ihren Krankenhausbetten gespielt und … „Nicht meine Schwester!“
Aber seine Miene veränderte sich nicht, und sie spürte einen schmerzhaften Stich, der alles andere überlagerte. Ihr anderes Ich, ihre zweite Hälfte, die Schwester, mit der sie ihr Leben geteilt hatte, war … fort?
Nein, sie durfte ihre Schwester nicht verlieren.
„Ich kann nicht …“, begann sie und brach ab. Tränen würden den Schmerz nur schlimmer machen, und das würde sie jetzt nicht ertragen. „Oh, Rafe …“
„Es tut mir leid“, wiederholte er mit versagender Stimme, und plötzlich ging ihr auf, dass er nicht weniger litt als sie. Dieser Schmerz, diese stechende, tiefe Verzweiflung, wütete nicht nur in ihr … aber wie konnte jemand einen so gewaltigen Verlust verkraften?
Sie wollte nicht daran denken. Wenn sie das nächste Mal aufwachte, würde ihre Schwester bestimmt wieder im Nachbarbett liegen. Sie musste nur einschlafen, dann würde alles wieder gut sein.
Doch irgendwie wusste sie, dass es das nicht sein würde. Vielleicht lag es an der Qual in seinem Gesicht, aber …
Oh nein. Nicht nur hatte sie ihre Schwester verloren, dieser Mann hatte seine Frau verloren.
„Bist du okay?“, platzte sie heraus.
Die Frage schien ihn zu erstaunen, denn er ließ ihre Hände los und richtete sich auf seinem Stuhl auf.
„Ich hatte ein wenig Zeit, mich daran zu gewöhnen“, antwortete er mit viel zu fester Stimme, und sie wusste, dass er keineswegs okay war, es jedoch nicht zugeben würde. „Beth würde wollen, dass ich mich um dich kümmere.“
Das erklärte, warum er seit acht Tagen herkam.
„Mit der Versicherung habe ich bereits gesprochen“, fuhr Rafe fort. „Und alles andere … Ich will dir helfen.“ Und dann, als wüsste er, dass sie im Moment nichts so sehr brauchte wie Schlaf, stand er auf und schob die Hände in die Taschen. „Das ist mein Ernst, Anne. Was immer du brauchst, ich bin für dich da.“
Er legte eine Hand auf ihre Schulter und wandte sich ab, um den Stuhl zurückzustellen. Sie wusste, warum es ihm so wichtig war … was bedeutete, dass sie sich daran erinnerte, was für ein Mensch ihre Schwester gewesen war.
„Jemand muss für diejenigen da sein, die sie geliebt hat“, flüsterte sie. Denn obwohl Rafe sich um sie kümmern würde, wusste sie, dass sie auch für ihn da sein musste. „Das ist das, was Beth wollen würde.“
Das ist das, was Beth wollen würde.
Der Satz ging Rafe während der nächsten Tage nicht aus dem Kopf und ließ ihn hoffen, dass er wieder gutmachen konnte, was er bei seiner Frau versäumt hatte. Könnte er sich um Anne kümmern, bis sie wieder auf den Beinen war, würde er sich damit trösten, dass er Beth’ Wunsch erfüllt hatte.
Wenigstens einen ihrer Wünsche.
„Fühlst du dich besser?“, fragte er Anne an jedem Nachmittag der folgenden Woche, und ihre Antworten wurden von Mal zu Mal klarer und ausführlicher. „Die Schwester meint, du kannst übermorgen entlassen werden“, verkündete er ihr schließlich.
„Ich kann es nicht abwarten“, erwiderte sie und setzte sich viel müheloser auf als noch vor ein paar Tagen. „Ich will zurück … ins richtige Leben.“
Aber sie sah unsicher aus, und er vermutete, dass es in ihrer Erinnerung noch einige Lücken gab.
„Du darfst dich nicht überfordern“, ermahnte Rafe sie. Er hatte bereits in ihrer Firma angerufen und ihre Mitarbeiter vorgewarnt, dass Anne Zeit zur Erholung brauchte. Die Beileidsbekundungen hatte er mit der Zurückhaltung entgegengenommen, die er in den vergangenen zwei Wochen perfektioniert hatte. „Es wird eine Weile dauern, bis du dich an alles erinnerst. Der Arzt hat gesagt, dass das normal ist.“
„Ich weiß, aber ich hasse es, nichts zu wissen! Gestern hat mir jemand namens Marc diesen seltsamen Brief geschickt. Er schreibt, dass er seiner Ehe eine zweite Chance geben will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mit einem verheirateten Mann ausgegangen bin.“
Rafe hatte keine Ahnung, mit wem diese Frau ausging, aber sie war so aufgebracht, dass er sie hastig zu beruhigen versuchte. „Vielleicht hat der Typ dir nicht erzählt, dass er verheiratet ist.“
Anne lächelte reumütig. „Vielleicht bin ich ja nur eine schlechte Menschenkennerin.“
Nein, das passte nicht zu dem, was er über sie wusste. „Beth hat immer gesagt, dass niemand auf der Welt so klug ist wie du.“
Er sah, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Aber anders als er schien sie diese Schwäche bei sich zu akzeptieren.
„Ich vermisse sie so“, flüsterte sie. „Ich weiß nicht mehr, worüber wir gesprochen haben. Nicht mal ihre Telefonnummer kenne ich noch. Aber ich erinnere mich daran, wie es war, eine andere Hälfte zu haben. Ich kann nicht glauben, dass sie fort ist!“
Jemanden zu verlieren, den man schon vor seiner Geburt gekannt hatte, musste noch traumatischer sein, als das Gedächtnis zu verlieren. Angeblich heilte die Zeit alle Wunden, auch wenn das auf ihn selbst nicht zutraf.
Aber ich bin okay, sagte Rafe sich rasch.
Er wusste genau, wie er das hier durchstehen konnte.
„Wäre ich doch nur bei ihr geblieben“, fuhr sie leise fort. „Wenn wir zusammen gewesen wären, als der Zug entgleiste …“
„Du machst dir doch nicht etwa Vorwürfe, oder?“, unterbrach er sie. Genau das hatte er getan, als Gramps starb. Und als Carlos erschossen wurde. Aber sie war nicht für ein Zugunglück verantwortlich. „Es war ein Unfall, Anne.“
„Ich … ich wünschte nur, ich hätte etwas anders gemacht. Ich weiß nicht, was“, sagte sie schluchzend. „Aber meine Schwester sterben zu lassen, nicht mich … das ist nicht richtig. Es ist einfach nicht richtig!“
Ihr Verlust war schwerer als sein eigener. Er litt zwar, aber wenigstens wusste er, wie er damit umgehen sollte. „Es tut mir leid.“ Er beugte sich vor und nahm ihre Hände in seine. „Wirklich.“
Als sie ihren Tränen freien Lauf ließ, ertappte er sich dabei, sie fast zu beneiden – was verrückt war, denn diese Frau hatte nichts, womit sie sich ablenken konnte. Niemanden, den sie beschützen konnte. Doch nach ein paar Minuten straffte sie sich, fuhr sich über die Augen und sah Beth so ähnlich, dass ihm schwer ums Herz wurde.
„Ich sollte dich nicht …“, begann sie. „Du machst das Gleiche durch.“
Nicht ganz, denn Anne hatte ihre Schwester nie im Stich gelassen. Sie wachte nicht auf und tastete nach Beth, um sich sofort daran zu erinnern, wie kalt und distanziert ihr letzter Abschied gewesen war.
„Ja“, murmelte Rafe. „Aber wenigstens erinnere ich mich daran, wo ich lebe.“
Sie warf ihm einen verwirrten Blick zu, und danach kam das trockene Lächeln, das er bei Beth tausend Mal gesehen hatte. Ihm stockte der Atem – bis ihm klar wurde, dass eineiige Zwillinge sich auch im Minenspiel glichen. Die Ähnlichkeit war frappierend, und eine Sekunde lang fragte er sich, ob es eine Verwechslung gegeben hatte.
Aber ein alter Freund hatte Anne an der Unglücksstelle identifiziert, und bei Beth waren ihre Handtasche und ihr Ring gefunden worden. Außerdem trug diese Frau das Haar anders, und der Ring an ihrem Finger war nicht Beth’ … was bedeutete, dass er sich unsinnigen Fantasien hingab.
„Irgendwie erinnere ich mich daran, wo ich lebe“, sagte Anne. „Und ich weiß, wenn ich es sehe, wird mir alles wieder einfallen. Ich muss nur nach Hause. Morgen kommt die Sozialarbeiterin, um mit mir darüber zu sprechen.“
Seine Anrufe in Chicago hatten Beth’ Einschätzung ihrer Schwester bestätigt. Anne war eine Karrierefrau, deren Beruf ihr keine Zeit für enge Freundschaften ließ.
Sie hatte keine Freunde, die sie aufnehmen würden, während sie sich der sechswöchigen Physiotherapie unterzog. Jeder, der sich nach ihr erkundigte, klang gehetzt und niemand hatte angeboten, sich um sie zu kümmern.
Wie Beth es ohne Zögern getan hätte.
„Hör mal“, begann er. „Bevor du mit der Sozialarbeiterin sprichst, möchte ich dir etwas sagen. Denn während du die Physiotherapie bekommst, wirst du irgendwo unterkommen müssen.“
„Ich habe ein Apartment in Chicago“, erwiderte sie und zeigte auf die kleine rote Handtasche auf dem Nachttisch. „Ich suche dauernd nach Hinweisen. Ich wohne in …“
„Ja, aber du brauchst einen Ort, an dem jemand sich um dich kümmert.“ Vielleicht nicht rund um die Uhr, aber wenigstens sollte jemand bereitstehen, solange sie noch nicht völlig gesund war. „Ich finde, du solltest in unserem Gästezimmer wohnen. Ich kann überallhin fahren, oder du nimmst Beth’ Wagen, sobald du dich fit genug fühlst. Und wenn du bei etwas Hilfe brauchst, kannst du mich rufen.“
„Ich …“
„Und wenn ich arbeite, habe ich das Handy dabei.“ Das Handy, das er nie mitgenommen hatte, obwohl es Beth so wichtig gewesen war. „Du kannst mich jederzeit anrufen.“
Anne musterte ihn ernst. „Du hast dir viele Gedanken gemacht.“
Weil er nur so wieder gutmachen konnte, was er bei Beth versäumt hatte. Nur so konnte er stark bleiben. Indem er jemanden beschützte, der ihn brauchte – und Anne brauchte ihn.
„Es wäre das Beste für dich.“
„Vielleicht wäre es das Beste für uns beide“, erwiderte sie zu seiner Verwunderung. Anne brauchte sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was für ihn am besten war.
Aber die Hauptsache war, dass sie sich von ihm betreuen ließ.
„Na gut. Danke“, sagte sie leise. „Während der nächsten sechs Wochen werde ich bei dir wohnen, Rafe.“
Rafe war ein so aufmerksamer Gastgeber, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Er ließ Anne im Gästezimmer allein, das Beth so eingerichtet hatte, dass ihre Schwester sich dort wohlfühlen würde. Es war nicht so gemütlich, wie sie erwartet hatte, verriet jedoch, wie gut Beth ihren Geschmack gekannt hatte.
Während sie die verwirrende Menge von Faxen auf dem Schreibtisch sortierte, wurde ihr bewusst, was ihre Reaktion auf dieses Zimmer bedeutete – dass der Unfall sie innerlich verändert hatte.
Dr. Sibley hatte ihr versichert, dass das kein Grund zur Sorge war. Bei den meisten Menschen hinterließ ein derartiges Trauma Spuren, aber nur in seltenen Fällen hielten sie für immer an.
Also würde sie sich bestimmt bald wieder an alles erinnern, was zu ihrem alten Leben gehörte.
Rafe schien ihre Unruhe zu spüren. „Anne, alles in Ordnung? Kann ich dir etwas bringen?“, rief er vom Flur aus.
„Alles okay“, erwiderte sie. „Komm doch herein … Ich habe mir nur gerade alle diese Faxe angesehen.“
Er runzelte die Stirn, als er sie am Schreibtisch sitzen sah, sagte jedoch nichts dazu. „Ich werde Kaffee machen, falls du welchen möchtest.“
Kaffee klang gut, aber sie wollte sich nicht bedienen lassen. Schließlich hatte er sie schon aus dem Krankenhaus abgeholt und war auf dem Weg nach Hause bei der Praxis vorbeigefahren, damit sie Cindy, ihre Krankengymnastin, kennenlernen konnte.
„Das kann ich doch tun“, sagte Anne an und wollte aufstehen, aber er hielt sie mit einer Handbewegung zurück.
„Morgen bist du auf dich allein gestellt, schon vergessen? Also schon dich.“
Sie hatte darauf bestanden, dass er wie gewohnt in die Beratungsstelle ging, auch wenn das bedeutete, dass sie zum ersten Behandlungstermin ein Taxi nehmen musste. Nach kurzer Diskussion gab Rafe schließlich nach. Er war am Vormittag mit einer schwangeren Jugendlichen verabredet. Der Mann lebte buchstäblich für die Straßenkinder, die er betreute. Dass sie das wusste, konnte nur daran liegen, dass Beth sich irgendwann einmal darüber beschwert haben musste.
Dennoch bewunderte Anne ihn dafür, mit welcher Leidenschaft er sich um seine Schützlinge kümmerte.
Zumal die Nachrichten auf dem Schreibtisch erkennen ließen, dass auch sie selbst sich sehr in ihrem Beruf engagierte. Daher war es umso beunruhigender, dass keines der Faxe für sie einen Sinn ergab.
„Lass dir Zeit, okay?“, bat er sie.
Das war ein guter Rat, aber es fiel ihr schwer, den Stapel Faxe vor ihr zu ignorieren. Sie griff danach und verzog das Gesicht, als sie an all die Entscheidungen dachte, die von ihr erwartet wurden. „Ich werde in Chicago gebraucht … Ich will meine Mitarbeiter nicht …“
„Anne“, unterbrach er sie und ging zu ihr, um ihr die Nachrichten aus der Hand zu nehmen und sie in eine Schublade zu stopfen. „Hör auf. Die können froh sein, dass du noch lebst, also lass sie ruhig noch ein wenig warten.“
Er hatte recht. Sie war am Leben. Das allein zählte.
Alles andere ließ sich aufschieben.
„Danke“, murmelte sie, bevor ihr Blick auf die Schublade fiel, die er offen gelassen hatte. In ihr lag ein Gebinde aus Zweigen und getrockneten Blumen, deren Farben – Türkisblau und Koralle – zu denen des Gästezimmers passten. Sie hatte ihn vermisst. „Oh, der Wüstenkranz! Ich habe mich schon gefragt, was daraus …“
Aber das ergab keinen Sinn, und Rafes ungläubiger Ausdruck bestätigte es.
„Beth muss dir viel über das Haus erzählt haben“, sagte er nach einem Moment.
Ja, das war logisch. Jedenfalls logischer als das Gefühl, dass Beth und sie irgendwie die Rollen getauscht hatten.
„Ja, vermutlich weiß ich deshalb, wohin alles gehört.“ Und deshalb fühlte sie sich hier auch so zu Hause. Es war das gleiche Gefühl wie das, das sie empfunden hatte, als Rafe ihr ein paar von Beth’ Sachen brachte, damit sie sie auf der Fahrt vom Krankenhaus tragen konnte. Ihr Reisegepäck lag noch irgendwo im Wrack des Zugs. „Wir müssen uns oft unterhalten haben. Es ist, als … na ja, als ob sie noch bei mir wäre.“
Er betrachtete sie neugierig, aber in den dunklen Augen nahm sie nicht den Hauch eines Zweifels wahr. „So?“
„Ich weiß, es klingt seltsam, aber …“
„Nein“, unterbrach er sie sanft. „Nicht bei Zwillingsschwestern. Und ihr beide habt euch ziemlich nahe gestanden. Und jede Woche telefoniert.“
So musste es gewesen sein, denn sonst könnte sie nicht wissen, dass Beth im Aktenschrank Bleistifte aufbewahrte. Aber wieso wusste sie, wo die Stifte lagen, wie man die Nachttischlampe einschaltete und wie die besten Freunde ihrer Schwester hießen, wenn sie sich zugleich kaum an Einzelheiten ihres eigenen Lebens in Chicago erinnerte?
„Ich weiß, mein Gedächtnis wird irgendwann zurückkehren, aber im Moment erinnere ich mich nur an ein paar Erlebnisse aus unserer Kindheit.“
„Lass dir Zeit“, wiederholte er und setzte sich ans Fußende des Betts. „Kann ich bis dahin etwas für dich tun?“
Sie hatte nicht zur Beerdigung gehen können. „Wenn es dir nichts ausmacht … ich würde Beth gern ein paar Blumen bringen.“
Rafe zögerte, und sie sah, wie seine Halsmuskeln sich anspannten.
„Schon gut“, sagte sie schnell. Der Mann musste nicht daran erinnert werden, was er verloren hatte. „Ich kann es selbst tun.“
„Nein.“ Er stand auf und straffte die Schultern. „Du musst dich von ihr verabschieden.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „Lass mich nur …“
„Rafe, nicht jetzt!“ Er glaubte doch wohl nicht, dass sie von ihm erwartete, alles stehen und liegen zu lassen, um sie sofort zum Friedhof zu begleiten. „Wenn du Zeit dafür hast.“
„Wie wäre es mit morgen?“
Ihre Schwester war seit zwei Wochen tot, und eigentlich gab es keine Eile. Aber vielleicht würde ein Besuch am Grab ihr helfen, die Trauer zu bewältigen, den Verlust zu akzeptieren und ihr altes Leben wieder aufzunehmen.
„Wenn es für dich okay ist“, sagte sie leise.
„Das ist es.“ Er ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. „Ich bin seit der Beerdigung nicht mehr dort gewesen.“
„Du musst mich nicht …“, begann sie und brach ab.
„Doch, ich muss. Was hältst du davon, wenn ich dich nach deiner Behandlung bei Cindy abhole und wir auf dem Weg Blumen besorgen?“
Plötzlich klang der Mann mehr wie ein Anwalt, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass seine entschlossene Art nur eine Fassade war.
„Ich will dir nichts zumuten, das du …“
„Anne, komm schon.“ Selbst seine Körperhaltung hatte sich verändert. Sie wirkte fast trotzig. „Ich werde damit fertig.“
„Na ja, es ist nur …“
„Ich werde damit fertig!“
„Weil du ein harter Typ bist“, sagte sie.
„Hat Beth das gesagt?“, fragte er verblüfft.
Das musste sie wohl. Aber auch so war Rafe Montoya anzusehen, dass er bereit war, sich jeder Herausforderung zu stellen – und zwar allein.
„Du brauchst niemanden, der auf dich aufpasst“, stellte Anne fest.
Zu ihrer Überraschung huschte so etwas wie Bedauern über sein Gesicht. „Nein“, murmelte er und starrte auf den Teppich. „Es hat sie immer wütend gemacht.“
Das hörte sich nach einem Eheproblem an, in das eine Schwägerin sich nicht einmischen sollte. „Es tut mir leid“, sagte sie rasch und schloss die Schublade.
„Lass mich wissen, wann du einen Kaffee möchtest“, erwiderte er nur.
„Danke.“ Das Angebot war verlockend, aber sie wollte ihm nicht noch mehr zur Last fallen. „Ich sollte mich an die Arbeit machen.“
Sein Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Dennoch war sie überrascht, wie attraktiv dieser Mann sein konnte. „Schon verstanden. Der Job steht an erster Stelle.“
Er hat recht, dachte sie ein wenig atemlos. Was war mit ihr los? Sie stand hier, in den Sachen ihrer Schwester, und lebte in deren Haus … aber nachzuempfinden, was Beth an Rafe Montoya so anziehend gefunden hatte, ging nun wirklich zu weit.
„Erzähl mir, wie du und Beth euch kennengelernt habt“, bat sie. „Ich meine, wie ihr euch ineinander verliebt habt.“
Rafe zögerte einen Moment, doch dann schob er die Hände in die Taschen und lehnte sich gegen den Türrahmen. Es schien, als würde er nach den richtigen Worten zu suchen.
„Denn du hast sie geliebt“, kam sie ihm zur Hilfe. „Beth hat mir damals vermutlich alles erzählt, ich erinnere mich nur nicht mehr.“
Seine verschlossene Miene entspannte sich etwas. „Es war hier in Tucson“, begann er. „Du warst nach Harvard gegangen, und Beth studierte an der Universität von Arizona.“
„Das war nach dem Tod unseres Dads, richtig?“ Sie hatte genügend verstreute Puzzleteile zusammengefügt, um zu wissen, dass ihre Mutter gestorben war, als sie beide noch jung waren, und ihre Großmutter sie ohne viel Hilfe ihres Dads aufgezogen hatte. „Also waren nur noch Beth und ich übrig.“
„Richtig. Eines Tages tauchte sie mit einem Haufen Mädchen aus ihrer studentischen Verbindung in diesem Heim für obdachlose Kinder auf, um für ein Wochenende ehrenamtlich zu helfen. Meine Schicht war gerade zu Ende – ich war im letzten Studienjahr und machte dort ein Praktikum. Und als ich sie dabei beobachtete, wie sie den Kids vorlas, traf es mich wie ein Blitz.“
„Liebe auf den ersten Blick“, sagte Anne. Das war es, was sie brauchte. Sie musste etwas von Beth erfahren, von jemandem, der sie geliebt hatte. Und schon jetzt setzte die Geschichte in ihr bruchstückhafte Erinnerungen frei. „Sie war noch nie jemandem wie dir begegnet.“
Rafe lächelte wehmütig. „Das ist wahr … Ich wollte sie nicht verschrecken. Also machte ich weiter Überstunden, in der Hoffnung, sie wieder zu sehen. Und sie kam mit Puppen für die Kinder. Du erinnerst dich an die Puppen, richtig?“
„Kein Mensch macht Puppen, die aussehen, als hätten sie das Down-Syndrom“, wiederholte Anne die Worte ihrer Schwester. „Dabei sollte jeder so eine Puppe haben.“
„Natürlich erinnerst du dich“, sagte er entschuldigend. „Ohne dein Marketing hätte sie niemals ein Geschäft daraus machen können. Jedenfalls, so sind wir uns begegnet.“
„Und habt euch verliebt.“
„Und haben uns verliebt, ja.“ Er zögerte kurz, dann straffte er die Schultern, und in seinem Gesicht spiegelte sich der Schmerz, bevor er sich beherrschte. „Danke, dass du gefragt hast. Das darf ich nicht vergessen“, sagte er ruhig, aber seine Stimme klang nicht ganz so fest wie sonst.
Er hatte Beth geliebt.
Das durfte er nicht vergessen.
Er musste sich an alles klammern, was er finden konnte, wenn er den Besuch auf dem Friedhof durchstehen wollte.
„Du brauchst mich nicht zu fahren“, hatte Anne früh am Morgen zu ihm gesagt. „Ich kann mir ein Taxi zur Praxis bestellen.“
Aber Rafe wusste, dass Beth mehr von ihm erwartet hätte. Und er musste sich um jemanden kümmern.
Er hatte seine Frau vernachlässigt, hatte sie glauben lassen, dass die Straßenkinder ihm mehr bedeuteten als sie, und er hatte sie in den Urlaub fahren lassen, ohne sich Zeit für die längst überfällige Aussprache zu nehmen …
„Nein, ich fahre dich“, hatte er zu Anne gesagt, und jetzt waren sie schon fast am Friedhof von Fairlawn.
Zwischen ihnen lagen ein Strauß gelber Rosen und ein Kranz aus Wildblumen.
„Ich weiß das hier wirklich zu schätzen“, sagte sie. „Ich weiß, dass du viel Arbeit nachzuholen hast.“
Das stimmte, aber dieser Besuch war wichtiger. Denn Anne brauchte ihn.
„Kein Problem“, versicherte Rafe und hielt auf dem Parkplatz. „Die Beerdigung war vor zwölf Tagen, und ich hätte längst herkommen sollen.“
Zu seiner Überraschung legte sie ihm eine Hand auf den Arm. „Nicht, wenn es dich zerreißt. Das würde Beth nicht wollen.“
Nein, das würde sie nicht. Nicht Beth.
Wenn dieser Besuch ihn innerlich zerriss, dann hatte er es verdient, nachdem er sie hatte abreisen lassen, obwohl zwischen ihnen so vieles ungeklärt war.
Außerdem konnte er damit umgehen. Solange er sich um Anne kümmern konnte, bestand keine Gefahr, dass er zusammenbrach.
Trotzdem kostete es ihn seine ganze Willenskraft, Anne über den weiten Rasen an Beth’ Grab zu führen. Und sie schien zu ahnen, dass er nicht so stark war, wie er sich gab, denn sie schwieg ebenfalls.
Wortlos legte er seine Rosen an den Grabstein und zog sich zurück, um sie für eine Weile mit ihrer Erinnerung an Beth allein zu lassen. Nach ein paar Minuten drehte sie sich zu ihm um, ohne sich der Tränen an ihren Wangen zu schämen.
„Rafe, auch du hast ein Recht, traurig zu sein“, sagte sie sanft.
„Ich weiß.“ Aber Weinen kam für ihn nicht Frage. Er schluckte. „Es ist okay.“
„Ich meine …“ Sie betrachtete den Kranz in ihren Händen, als wäre es zu intim, ihm in die Augen zu schauen. „Ich weiß, du fühlst dich verpflichtet, dich um mich zu kümmern, aber wenn du eine Schulter brauchst, an der du dich ausweinen kannst … Ich kann auch für dich da sein.“
„Nicht nötig“, erwiderte er hastig. Dieser Besuch war für Anne, nicht für ihn, aber es war nett von ihr, es ihm anzubieten. „Danke.“
Sie wandte sich wieder um und legte den Kranz neben seinen Strauß, richtete sich auf und stand reglos da.
Rafe hoffte, dass sie sich Zeit lassen würde. Denn er musste sich wieder unter Kontrolle bekommen. Er musste die Kraft finden, auf die er sich jahrelang verlassen hatte. Die Kraft, die es ihm ermöglichte, jedem zu helfen, der Schutz brauchte.
Aber nicht Rafe Montoya.
Er brauchte keine Schulter zum Ausweinen.
Hatte nie eine gebraucht, würde es auch nie.
Also reiß dich zusammen.
Es half, sich an den Tag der Beerdigung zu erinnern. An all diejenigen, die sich am Grab versammelt hatten. Beth’ Freunde aus dem Quilt-Laden. Das ganze Personal von Legalismo. Einige Mandanten von früher. Die Nachbarn von gegenüber, die Harts, Roger und Linda und Marci und Jim …
„Danke, dass du mich hergebracht hast“, sagte Anne, und jäh kehrte er in die Gegenwart zurück. Sie stand neben ihm und wirkte gefasst. „Ich musste mich verabschieden.“
„Ich freue mich, dass es dir geholfen hat“, erwiderte er, als sie zum Wagen gingen. Zurück in das wahre Leben mit all seinen Problemen und Anforderungen. Plötzlich fiel ihm der Typ ein, der am Morgen in die Beratungsstelle gekommen war, weil er Angst hatte, dass seine Freundin ihr gemeinsames Baby mit nach Mexiko nehmen würde. „Kommst du allein zurecht, wenn ich heute Abend zur Arbeit gehe?“
Sie warf ihm einen überraschten Blick zu. „Natürlich.“
Beth hatte es immer gehasst, wenn er Überstunden machte. „Bist du sicher? Ich will dich nicht allein lassen, wenn du …“
„Eine Schulter zum Weinen brauchst?“
Daran hatte er nicht gedacht, aber natürlich würde er für sie da sein, wenn sie weinen musste. „Ja.“ Er holte die Wagenschlüssel heraus. „Was immer ich tun kann.“
Sie wartete, bis er die Beifahrertür geöffnet hatte. „Was wir hier tun, ist ziemlich einseitig, meinst du nicht?“
Nur weil er nicht an ihrer Schulter weinte? Er hob die Hände, um ihr beim Einsteigen zu helfen. „Hör zu, Anne. Ich kümmere mich um Menschen. Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert.“
Ohne seine Hand zu nehmen, setzte sie sich in den Wagen. Dabei bewegte sie sich so geschmeidig, dass er einen Anflug von Bewunderung für die Physiotherapeutin empfand. „Nie?“, fragte sie.
„Nun ja, nicht, seit ich ein Kind war.“ Nicht, seit seine Mutter ihn im Stich gelassen hatte. Nicht, seit er wusste, dass er an allem schuld war.
Anne tastete nach dem Sicherheitsgurt und verzog das Gesicht, als sie den Arm nach hinten streckte. „Erzähl mir von deiner Kindheit.“
„Später vielleicht“, sagte er mit gespielter Unbeschwertheit, bevor er die Tür schloss und zur Fahrerseite ging.
Doch kaum war er eingestiegen, drehte Anne sich zu ihm. „Na gut“, sagte sie, und in ihrer Stimme lag die Entschlossenheit, die er von Beth kannte. „Dann werde ich dich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal danach fragen.“
Es dauerte einige Tage, bis der Zeitpunkt kam, aber Anne hatte nicht vor, sich mit Rafes Verschlossenheit abzufinden. Denn sie hatte den Verdacht, dass auf seinen Schultern mehr Trauer lastete, als ein einzelner Mensch allein tragen sollte.