Bienenstich - Viktor Funk - E-Book

Bienenstich E-Book

Viktor Funk

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Beschreibung

Marie und der Ich-Erzähler sind ein Paar, beide nach Deutschland eingewandert, sie aus Rumänien, er aus Kasachstan. Ihre Vergangenheit verbindet sie, doch in der Gegenwart wählen sie zumeist unterschiedliche Strategien, um in Deutschland zurechtzukommen. Die Auseinandersetzung mit Marie wird für den Erzähler zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst. Er merkt, dass er überall unterschiedliche Rollen erfüllt. Weil diese von ihm erwartet wurden. Von Lehrern, von Kommilitonen, von Kollegen. Ja, auch von Marie. Je mehr der Erzähler sich selbst zu verstehen versucht, desto stärker verändert sich seine erinnerte Vergangenheit. Woran er als Kind geglaubt hat, verliert an Bedeutung. Die Welt, wie er sie gelernt hatte wahrzunehmen, schwindet. Viktor Funk behandelt in seinem Roman Identitätskrisen junger Menschen mit Migrationshintergrund. Mit seiner Beschreibung des Verlorenseins zwischen Assimilation, Heimatlosigkeit und den Überbleibseln der sowjetischen Kultur aus den Kinderjahren trifft der Autor das Gefühl einer ganzen Generation. Es handelt sich um eine leicht überarbeitete Neuausgabe des 2017 im Größenwahn Verlag unter dem Titel "Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich" erschienenen Romans.

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Seitenzahl: 262

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Marie und der Ich-Erzähler sind ein Paar, beide nach Deutschland eingewandert, sie aus Rumänien, er aus Kasachstan. Ihre Vergangenheit verbindet sie, doch in der Gegenwart wählen sie zumeist unterschiedliche Strategien, um in Deutschland zurechtzukommen. Die Auseinandersetzung mit Marie wird für den Erzähler zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst. Er merkt, dass er überall unterschiedliche Rollen erfüllt. Weil diese von ihm erwartet wurden. Von Lehrern, von Kommilitonen, von Kollegen. Ja, auch von Marie.

Je mehr der Erzähler sich selbst zu verstehen versucht, desto stärker verändert sich seine erinnerte Vergangenheit. Woran er als Kind geglaubt hat, verliert an Bedeutung. Die Welt, wie er sie gelernt hatte wahrzunehmen, schwindet. Viktor Funk behandelt in seinem Roman Identitätskrisen junger Menschen mit Migrationshintergrund. Mit seiner Beschreibung des Verlorenseins zwischen Assimilation, Heimatlosigkeit und den Überbleibseln der sowjetischen Kultur aus den Kinderjahren trifft der Autor das Gefühl einer ganzen Generation.

Viktor Funk, geboren 1978 in der Sowjetunion (Kasachstan), kam als Elfjähriger 1990 nach Deutschland. Er ging in Wolfsburg zur Schule, studierte später in Hannover Geschichte, Politik und Soziologie. Seine Magisterarbeit in Geschichte beschäftigte sich mit dem Vergleich mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden. Sein Roman »Wir verstehen nicht, was geschieht« erschien 2022 im Verbrecher Verlag. Viktor Funk war als Politikredakteur mit dem Schwerpunkt Russland bei der Frankfurter Rundschau tätig. Seit November 2022 arbeitet er für Table.Media. Er lebt in Frankfurt am Main.

Viktor Funk

Bienenstich

Roman

VERBRECHER VERLAG

»Bienenstich« ist die überarbeitete Neuausgabe des 2017 im Verlag Größenwahn unter dem Titel »Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich« erschienenen Romans.

Erste Auflage

Verbrecher Verlag GmbH 2023

www.verbrecherei.de

© Verbrecher Verlag 2023

Satz: Christian Walter

Druck: CPI Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-95732-565-5

eISBN 978-3-95732-575-4

Printed in Germany

Der Verlag dankt Mareen Eser und Jana Kramer.

Für Felix

INHALT

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

In Erinnerung

KAPITEL 1

Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich. Der Bürgermeister hatte meine Eltern, meine Schwester und mich ins Rathaus von Wolfsburg eingeladen. Zwei Dutzend Familien aus Kasachstan, Sibirien und Usbekistan saßen an runden Tischen, alte Frauen mit geblümten Kopftüchern, ihre Enkel mit Micky-Maus-Sweatshirts, die Väter mit neuen Lederjacken. Die Mütter ermahnten in vertrauter Sprache die Kinder zur Ruhe, bis unverständliche Worte alle verstummen ließen. Der Bürgermeister lächelte, breitete seine Arme aus, sagte »gut«, »Heimat«, »Arbeit« und viele andere Worte, die ich nicht verstand.

Seit wir Platz genommen hatten, starrte ich auf den Tisch und wurde ungeduldiger, je länger der Mann redete. Auf einem Teller lagen Kuchenstücke, acht glänzende, honigfarbene, mit geraspelten Mandeln bedeckte kleine Vierecke.

Ich hoffte, dass meine kleine Schwester nur eines essen würde. Und mit etwas Glück würde auch meine Mutter nur eines nehmen, mein Vater zwei. Ich wusste noch nicht, wie der Kuchen schmeckte, aber ich roch seinen Honigmandelvanilleduft, atmete ihn tief ein und hielt immer wieder die Luft an.

Lautes Lachen riss mich aus meinem Spiel. Auch meine Eltern lachten.

»Mama, was hat er gesagt?«, fragte ich.

»Das weiß ich nicht. Ich habe es nicht verstanden«, antwortete meine Mutter.

»Und warum lacht ihr dann?«

»Alle lachen doch.«

Und alle rutschten ein Stück näher an die Tische, näher an die Kuchenteller. Ich sprang von meinem Stuhl auf und nahm gleich zwei Stücke, musste eines wieder zurücklegen – »Iss erst einmal das Erste auf« – und griff gleich wieder zu. Nie zuvor hatte ich so etwas geschmeckt. Er war um vieles süßer als die Butterkekse, die ich in Kasachstan so geliebt hatte, viel besser als das sowjetische Sahneeis, das mir unter der Sonne wegschmolz, wenn ich mit drei oder vier Eishörnchen für meine Familie nach Hause lief, besser als die Limonade und die Schokoladenbonbons, für die ich damals anstehen musste. Am Ende unseres Besuches beim Bürgermeister hatte ich vier Stück Bienenstich gegessen.

Ich war elf und Deutschland roch nach Mandeln und Vanille und hatte den besten Kuchen der Welt. Wir fuhren mit dem Bus nach Hause, ich blickte in den Februarabend hinaus, Laternenlichter spiegelten sich im nassen Asphalt.

Ich erinnerte mich an das Knistern des Schnees vor wenigen Tagen unter meinen Filzstiefeln in Kasachstan. Ich erinnerte mich an den zugefrorenen Balchaschsee, an meine Oma und meinen Opa, die Eltern meiner Mutter, und an meinen Hund Malysch. Wenn ich die Augen schloss, fühlten meine Hände sein Fell, sein Geruch stieg in meine Nase, der Duft von Staub und Kohle, weil er neben dem Kohleverschlag angekettet war. Einige Tage vor der Abreise band ich Malysch mein rotes Halstuch um und schenkte ihm mein Pionierabzeichen, das ich nicht mitnehmen durfte. Ich nagelte es an seine Hütte.

Als Kind wollte ich Lenin werden. Ich trug sein Bild in meiner Stiftschachtel und wartete, bis endlich auch ich ein Pionierhalstuch bekam. »Lenin hat nie gelogen«, hatte meine Russischlehrerin Ljudmila Nikolajewna gesagt. »Er hat nie schlechte Noten gehabt, sich nie geprügelt. Einmal fragten Schulkameraden ihn, wie viele Bedienstete er zu Hause hat. ›Zwei‹, antwortete Lenin, ›meine Hände‹.«

In Deutschland interessierte Lenin mich nicht mehr. Hier gab es Haribo-Teufel, gegrillte Hähnchen, Hamburger mit Röstzwiebeln und Überraschungseier. Deutschland war ein riesengroßes Kaufhaus mit Lego-Raumschiffen, Transformers-Robotern, He-Man-Figuren, Matchbox-Autos und Panini-Sammelalben. Ich stand oft vor einem Spielzeuggeschäft in der Wolfsburger Innenstadt und traute mich nicht hinein, ich sprach weder gut Deutsch, noch hatte meine Familie Geld für Spielzeug.

Aber für mein Ghostbusters-Sammelheft hatte ich schnell fast alle Bildersticker zusammen. Am Kiosk vor unserem Haus lagen die Stickerpäckchen gleich hinter der Kasse. Wenn die alte Kioskbesitzerin fragte, was ich wollte, zeigte ich auf die kirschroten Gummischnecken, für die die Frau sich umdrehen musste. Während sie zwei, drei Schritte zum Süßigkeitenregal ging, griff ich zu. Ich nahm nie mehr als zwei Packungen, damit sie nichts merkte.

Eines Tages kaufte ich wieder Süßigkeiten, und als ich meine Hand auf die Sticker legte, legte sich eine fremde Hand auf meinen Nacken. Ich wand mich, schrie einen Mann an – »Ty staryj byk«, du alter Bulle – schlug nach seiner Hand und entkam.

In Kasachstan hatte ich nicht so viel Glück gehabt. An einem Herbsttag war ich mit Freunden in eine alte Brotfabrik eingestiegen. Wir waren über die Backsteinmauer und durch ein zerschlagenes Fenster in das Gebäude geklettert. Die Sonne warf Schatten, in den Lichtstrahlen tanzten Staubwolken, Spatzen schwirrten unter dem Dach umher.

Wir spielten Fangen und mussten nur eine Regel einhalten: Wir durften den Boden nicht berühren. Wir liefen über Förderbänder, Gitterwege und Metallstege, schwangen uns an Gerüsten entlang, unser Lachen schallte durch die Halle. Ich rettete mich häufig nach ganz oben, wo der dicke Oleg und der ungelenkige Maxim nicht hinkamen. Aber ein Fremder.

Der Mann betrat die Halle, stand einige Sekunden da und ließ die anderen entkommen. Dann kletterte er Sprosse für Sprosse die Leiter zu mir hoch.

»Steig runter«, hörte ich seine Stimme und spürte seinen warmen Atem in meinem Gesicht. Ich malte mir aus, wie er mich in einen Teppich wickeln, in einen Wagen legen und in die Steppe bringen würde. Ich weinte. Unten führte der Mann mich am Hemdkragen über den Hof vom alten zum neuen Fabrikgebäude. In der Wachstube am Eingang musste ich mich in eine Ecke setzen. Ich rief um Hilfe und heulte. Die Arbeiter lachten, am Nachmittag ließen sie mich gehen.

Bis heute verstehe ich nicht, warum ich dem Direktor der Brotfabrik unsere richtige Telefonnummer gegeben hatte. Am Abend klingelte das Telefon. Ich lag im Bett. Vater nahm ab, hörte zu, legte auf und sprach mit Mutter. Sie riefen mich zu sich. Beide lachten. »Was hast du für Freunde, die weglaufen«, sagten sie. »Wenn du da noch einmal hingehst, nehme ich dich nicht mehr mit zum Angeln«, sagte Vater. »Ab ins Bett.«

In Deutschland klingelte die Türklingel nach dem Vorfall am Kiosk. Ich öffnete und lief weg. Der Mann, der mich festgehalten hatte, stand da mit meinem Sportbeutel in der Hand. Er sprach mit meinen Eltern und ging wieder, es war der Ehemann der Kioskbesitzerin. Diesmal lachten meine Eltern nicht. Ich musste mein Ghostbusters-Album holen. Auf dem Küchentisch lag eine Nagelschere. Vor den Augen meiner Eltern zerschnitt ich jede Seite, meine Finger schmerzten. Den Schuhkarton mit den Schnipseln musste ich in meinem Zimmer auf den Schreibtisch stellen. Später diente er als Bücherstütze im Regal und blieb da, bis ich die elterliche Wohnung verließ und nach Hannover ging, wo Mark studierte.

Mark war der erste Deutsche, der am Tisch meiner Familie gegessen hat. Es gab Zander, den ich gefangen hatte, dazu Buchweizen und eine Karotten-Zwiebel-Sahne-Soße. Mark bat um Nachschlag, aber er wollte nicht den Zander, den meine Mutter mit einer dünnen Mehlkruste knusprig gebraten hatte, sondern Buchweizen. Er hatte die braun-weißen Körner noch nie gegessen. Gretschka war in Kasachstan ein Alltagsgericht so wie Kartoffelsalat in Deutschland. In meiner Kindheit aß ich sie gezuckert mit Milch oder zu Leberfrikadellen.

Mark und ich hatten uns in einem Schwimmverein kennengelernt. Auch er angelte gern, und nachdem wir viele Karpfen, Hechte und Barsche zusammen gefangen hatten, sprachen wir nicht nur über Fische, sondern auch über Familie und Freundinnen. Vor Mark musste ich nicht darauf achten, wie ich mich verhielt, er korrigierte mich nicht, wenn ich der statt das Messer sagte. Wenn es regnete, saß ich unter seinem großen Angelschirm, und wenn mir ein Köder fehlte, hielt mir Mark seinen Angelkoffer hin.

Wir harrten selten an einer Stelle aus. Wir suchten die Fische, schlichen am Ufer umher oder wateten durchs Wasser. Genauso wie am fernen Balchaschsee in Kasachstan ging es auch an der Aller oder an den Kiesgruben in Velpke allein darum, Fische zu finden und sie mit unserem Köder zu überlisten. An der Schunter, einem kleinen Fluss westlich von Wolfsburg, haben wir uns eines Abends ins Wasser gestellt und mit Rotwürmern auf Rotaugen, Stichlinge und Barsche geangelt.

»Ich glaube, lange halte ich es hier nicht aus«, sagte Mark.

»Warum? Hier beißen sie doch.«

»Ja, aber ein Stiefel ist undicht.«

Wir lachten und kletterten wieder die Böschung hoch. Oben war Draht gespannt, dahinter stand ein halbes Dutzend Kühe. Mark begann zu muhen, laut und schnell, »Muuuh! Muuuh!« Ich lachte, und wir gingen am Zaun entlang, bis Mark losschrie und auf der Stelle zu springen begann. Seine Angel war zwischen die Zaundrähte gekommen, die unter Strom standen. Mark schrie und tanzte, ich lag im Gras und lachte. Als es ihm gelang, die Angel aus dem Zaun zu ziehen, ließ er sich auch fallen und lachte.

Mit Mark am Wasser fand ich ein Stück Heimat. Mit Mark am Wasser durfte ich »ich« sein.

Als ich mit 19 Jahren meine Wehrdienstverweigerung formulierte, holte die Vergangenheit meine Familie wieder ein. In der Sowjetunion gab es keinen Zivildienst. Vater hatte Mitte der 70er Jahre seinen Einberufungsbescheid erhalten. Gleichzeitig bekam seine Familie die Ausreiseerlaubnis nach Deutschland.

Als Russlanddeutsche lebten sie in der Verbannung im Norden Kasachstans. Wie Hunderttausende anderer Familien hatte Stalin sie 1941 aus dem Westen der Sowjetunion nach Sibirien und nach Kasachstan deportieren lassen. Moskau hatte Angst gehabt, die deutschen Kolonialisten aus der Zarenzeit würden sich der heranrückenden Wehrmacht anschließen. Also mussten sie ihre Höfe zurücklassen, in Viehwaggons steigen und im dünn besiedelten Osten Kohle- und Erzminen erschließen oder Holzfabriken aufbauen. Nach Stalins Tod 1953 durften sie nicht in die alten Gebiete zurück. Im Westen waren sie ein Risiko, im fernen Osten eine wichtige, billige Arbeitskraft. Und auf ihren Höfen in Alexanderfeld bei Odessa oder in Worms an der Wolga lebten inzwischen Ukrainer und Russen, die vor den Nazis geflohen waren.

Seit Mitte der 60er Jahre hatte die Familie meines Vaters Ausreiseanträge nach Deutschland gestellt, jedes Jahr einen. Und jedes Jahr waren die Anträge abgelehnt worden. Beim zehnten Mal halfen sie mit Geld nach und durften Kasachstan verlassen.

Die Gleichzeitigkeit der Bescheide für meinen Vater zum Armeedienst und seine Eltern für die Ausreise war vielleicht ein Zufall, vielleicht auch nicht. Als Familie konnten sie nicht mehr ausreisen. Vater wäre bestraft worden, hätte er sich dem Armeedienst zu entziehen versucht. Und hätten seine Eltern gewartet, wäre die Ausreiseerlaubnis erloschen.

Im Mai 1976 verließen meine Großeltern die Sowjetunion, ohne zu wissen, ob sie ihren Sohn je wiedersehen würden. Gleichzeitig musste Vater den Armeezug besteigen. Er stand allein unter vielen anderen Einberufenen und ihren Familien am Gleis eines kleinen Bahnhofs und hoffte, meine Mutter noch einmal zu sehen. Er hatte sich zwar schon am Abend zuvor von ihr verabschiedet, aber der Wunsch war sehr stark und wühlte ihn auf. »Ich spürte, dass es wichtig ist, dass es etwas bedeutet«, erzählte er mir in einer unserer vielen Diskussionen über den Zivildienst. Meine Eltern hatten sich ein halbes Jahr zuvor auf einer Russlanddeutschen-Hochzeit kennengelernt.

Mutter kam und gab ihm einen Brief. »Ich habe mich erschrocken«, erzählte Vater, »ich dachte, sie will damit ein Ende setzen, aber sie hat mir den Brief gegeben und gesagt, sie werde auf mich warten. Ich wollte ihr noch unbedingt Blumen kaufen, aber es gab keine. Eine Frau, die aus einem anderen Zug gestiegen war, hielt einen Strauß Tulpen. Ich habe ihr Geld angeboten, aber sie wollte nichts. Sie gab mir eine Tulpe, und ich schenkte sie deiner Mutter.« Er hat ihr noch eine vergoldete Uhr geschenkt und den Zug mit drei Rubel in der Tasche bestiegen.

Die Waggons rollten vier Tage und drei Nächte nach Westen. In Leningrad kletterten die Rekruten in Militärlastwagen, die nach Norden fuhren. Die Dörfer wurden seltener, die Wälder dichter, die Wege holpriger. Der Einsatzort war die Grenze zu Finnland – Karelien.

Das Militärlager bestand aus mehreren Zelten mit Doppelstockbetten, in der Mitte jedes Zeltes stand ein Ofen. Wenn der Heizer nachts einschlief, froren alle. »Manche machten sich in die Hosen. Das wärmt aber nur kurz«, erzählte mein Vater. »Im Winter mussten wir morgens die Fußlappen von den Stiefeln losreißen, an denen sie festgefroren waren. Wir schlugen sie und wärmten sie unter der Decke auf.«

Zu essen gab es, aber es gab nie genug. »Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals satt war. Aber ich konnte angeln. Zuerst hatte ich keinen Köder, es dauerte, bis ich den ersten Barsch mit einem Käfer gefangen hatte. Dann habe ich ihm ein Auge rausgenommen und das als neuen Köder verwendet. Der Koch lachte über die einäugigen Fische.«

Eines Morgens brach mein Vater beim Anstehen zum Frühstück zusammen. Der Dienstarzt ließ ihn in das nächste Dorf fahren, von dort aus ging es mehrere Stunden lang nach Kirowsk. In der Stadt gab es eine Klinik und Fachärzte. Noch am selben Tag haben sie ihm den Bauch geöffnet und ein aufgeplatztes Geschwür entfernt.

»Ich wollte so sehr trinken, als ich nach der Operation aufwachte. Aber sie gaben mir nichts. Eine Schwester tupfte mir nur die Lippen ab und warnte, dass ich ja nicht an dem Wattebausch saugen soll. Drei Tage durfte ich nichts essen und nichts trinken. Die Rippen taten weh, weil die Ärzte sie bei der Operation auseinandergedrückt hatten. Schmerzmittel wollten sie mir aber auch nicht geben. Ein Arzt sagte: ›Jede Tablette, die hilft, schadet auch.‹ Ich solle abwarten«, erzählte Vater.

Tagelang konnte er auch kein Wasser lassen. »Eine alte Pflegerin hat mir dann geholfen. Mir standen die Tränen in den Augen, als sie verstand, was los war. Sie ging weg und kam mit einem warmen Lappen und einem Blecheimer voll Wasser. Sie legte mir den Lappen auf den Unterbauch, setzte sich neben das Bett, schöpfte Wasser mit einem Becher und ließ es in den Eimer tröpfeln. Keine Ahnung, wie lange es gedauert hat, aber irgendwann legte ich los. Die Urinflasche war voll, die Frau hielt sie die ganze Zeit fest, ›lass laufen, mein Sohn, lass laufen‹, hat sie gesagt, ›sonst kommen die mit einem Katheter, aber das ist zu gefährlich, du bist ja noch jung‹.«

Nach der Operation musste Vater zurück, konnte aber nicht mehr an den Übungen teilnehmen. Er verbrachte viel Zeit im Zelt, schrieb Briefe. Dutzende Frauen von Leningrad bis Wladiwostok bekamen sie zu lesen, unterzeichnet von anderen Soldaten, die selbst nicht in der Lage waren, Liebesbriefe zu verfassen. Die Kameraden wandelten seine Schreiben ins Ukrainische um, setzten kirgisische Liebesschwüre darunter oder Abschiedsgrüße auf Kasachisch. So verdiente sich mein Vater etwas nebenbei, Zigaretten oder Geld.

Nach zwei Monaten schickte ihn der Dienstarzt in ein Militärkrankenhaus in Leningrad. »›Ist sowieso nichts mehr mit dir anzufangen‹, hat er gesagt.« Sechs Wochen lang untersuchten sie ihn in der Klinik an der Newa, bevor sie ihm eine schlechte Prognose gaben. Danach schrieb er Mutter: »Anfang Februar haben sie mich am Magen operiert. Ich weiß nicht, wann ich rauskomme. Such dir einen anderen, einen Gesunden.« Ihre Antwort sei kurz gewesen: Er solle es ihr überlassen zu entscheiden, ob sie einen anderen wolle oder nicht.

Als ich in Deutschland die Freiheit hatte, zwischen Armee und Zivildienst zu wählen, verstand mich mein Vater nicht.

»Willst du Alte durch die Gegend schieben? In der Armee kannst du wenigstens einen Führerschein machen oder eine Ausbildung anfangen …«

»Und auf wen soll ich schießen? Auf Murat? Auf Stepan aus meiner alten Klasse? Ihr wolltet, dass ich frei lebe, also lass mich auch selbst entscheiden«, sagte ich.

Ich bekam eine Zivildienststelle in Hannover. Mark studierte dort BWL. Ich pflegte den querschnittsgelähmten Biologen Joachim. Zwischen den Nachtschichtwochen hatte ich mehrere Tage frei. Mark und ich angelten auf Döbel und Barsche in der Leine, auf Hechte in den Ricklinger Teichen und fingen Karpfen im Kanal.

Bei Joachim hatte ich wenig zu tun, in seiner Wohnung gab es für die Zivis ein Zimmer, in dem ich während meiner Schicht wartete, bis er mich rief. Die längste Zeit, die wir zusammen verbrachten, war morgens, etwa zwei Stunden, wenn ich ihm beim Abführen half, ihn duschte, ihn anzog und ihm Frühstücksbrote schmierte. Er konnte nur den Kopf, seine Arme und die Finger bewegen. Er steuerte damit seinen Rollstuhl, bediente seinen Computer und blätterte die Bücher selbstständig um. Am Abend ging er mit Bekannten ins Kino oder in die Oper. Ich wartete, bis er zurückkam und las Bücher, die ich aus dem Regal meiner Eltern genommen hatte. Den »Stillen Don« von Scholochow legte ich nach einigen Seiten wieder weg. Ich wusste nicht mehr, wie ich manche Wörter aussprechen, welche Silbe ich betonen musste. Einfacher ging es mit der russischen Übersetzung des amerikanischen Autors O. Henry. Vater hatte seine tragikomischen Erzählungen über das Leben im New York des 19. Jahrhunderts immer wieder gelesen, er lachte dabei und Mutter lachte darüber, dass Vater sich immer wieder über dieselben Geschichten amüsierte. Jedes Mal, wenn ich die orangefarbene sowjetische O.-Henry-Ausgabe aufschlug, erinnerte ich mich an die Witze meiner Eltern in Balchasch, daran, wie mein Vater das Buch aus dem Regal zieht, wie meine Mutter ihn fragt, ob er noch nicht alle Geschichten auswendig kenne und wie wir alle lachen.

Nach meinem Zivildienst blieb ich in Hannover. Ich hatte einen Studienplatz und einen Job nach einem Praktikum in einer Werbeagentur. Zehn Jahre nach der Ankunft in Deutschland und zwei Jahre nach dem Ende der Beziehung mit Karina hatte ich endlich das Gefühl, mein Leben geordnet und im Griff zu haben.

Karina hatte ich mit 18 kennengelernt. Einen Sommer lang begeisterte sie sich fürs Angeln und fotografierte meine Fänge. Wenn wir nachts im Zelt waren, hoffte ich, dass kein Fisch biss. Und wenn einer biss, kroch ich heraus, landete den Fisch, wusch meine Hände im Sommernachtswasser und kroch zu Karina zurück, wo unser Spiel weiterging. Das Leben war perfekt. Deutschland war perfekt.

Nach einem Jahr fand Karina erst das Angeln und dann mich langweilig. Wenn ich allein am See war, schmerzte die Stille; jeder Atemzug brannte in meiner Brust.

Zu Weihnachten in unserem zweiten Jahr hatte Karina vorgeschlagen, dass wir uns keine Geschenke für mehr als 20 Mark machen. Über so etwas spricht man nicht, dachte ich. Nie hatten mein Vater und meine Mutter ein Geschenk danach ausgesucht, wie viel es kostete.

Am Weihnachtstisch ihrer Eltern saß Karina regungslos da, als sie mein Goldmedaillon ausgepackt hatte. Karinas Mutter stand auf, ging in die Küche und rief sie zu sich. »Frauen«, sagte ihr Vater.

Ich schnappte Gesprächsfetzen auf. »Hatte dir gesagt«, »Unsinn«, »lustig«, »mach es«, »wie lange noch.« Es vergingen einige Minuten, die Kruste auf der Crème brûlée erkaltete. Als die beiden wiederkamen, sagte Karina: »Danke, es bedeutet mir viel.«

Es war nicht das erste Weihnachten ohne Schnee in Deutschland. Ein warmer Südwestwind trug leichten Nieselregen, als ich mich von Karina verabschiedete. »Sehen wir uns morgen?«, fragte ich.

»Ich ruf dich an«, sagte sie.

Drei Wochen schwieg sie. Drei Wochen lang saß ich jeden Abend in unserer Küche, hatte die Tür geschlossen und rang mit mir, nicht zum Telefon zu greifen und sie anzurufen. Ich schämte mich, weil ich weinte; ich hasste mich dafür, dass ich es nicht aushielt, und hasste sie dafür, dass sie nicht mit mir sprach. Die Stille war unerträglich. Sie war so quälend wie die Stille in den ersten Monaten in Deutschland, wenn dich niemand versteht und du niemanden verstehst. »Ich kein Deutsch«, hatte ich damals allen gesagt, die mich ansprachen. Nun verstand ich Karina nicht.

Ende Januar radelte ich zu ihr, vorbei an den frostigen Wiesen, durch Ein-Familien-Haussiedlungen aus den 70er Jahren, in denen alles geordnet, ruhig und friedlich schien. Ich klingelte an der schweren Tür, Karina öffnete. Sie trug eine Sporthose, ihr Haar war zerzaust, und sie suchte nach den richtigen Worten, um mich zu begrüßen.

»Ich wollte dich anrufen, aber dann wollte ich direkt mit dir reden«, sagte ich. »Sind wir noch zusammen?«

Sie bat mich hinein, ging in ihr Zimmer, kam umgezogen wieder und sagte, wir sollten spazieren gehen.

»Entschuldige, dass ich mich nicht gemeldet hab«, sagte sie.

»Wohin gehen wir?«

»Lass uns auf die Bank dort setzen.«

Sie holte einen Brief heraus. Er trug ein Datum aus dem November! Etwas fraß sich durch mein Gedärm, quetschte meinen Magen zusammen, trat wild gegen mein Herz, drückte mir die Luftröhre zu, schnitt mir von innen den Brustkorb auf, ließ meine Finger zittern und meine Hände und Füße frieren. Seit sie ihn geschrieben hatte, haben wir Sex gehabt, haben über den Urlaub im Sommer gesprochen und uns zu Pärchenabenden mit Freunden verabredet.

November! Das ist das Einzige, was ich von dem drei Seiten langen Brief behalten habe. Wahrscheinlich hatte sie etwas von »schöner Zeit« und »schönen Erinnerungen« geschrieben. Wahrscheinlich hatte sie das sogar ehrlich gemeint. Aber seit sie ihn geschrieben hatte, war sie nicht mehr ehrlich gewesen. Ich stand auf. Ich ging. Wortlos.

Ich wünschte, so hätte ich reagiert. Wahr ist, dass ich sitzen blieb, dass mir die Kraft fehlte zu gehen.

Karina ging. »Ist besser so«, sagte sie.

Ich fror. Ich schob mein Rad nach Hause, hielt immer wieder an, stand und versuchte zu begreifen, warum … An einer Kreuzung hielt ein Autofahrer an und fragte, ob alles in Ordnung sei, ich nickte. Für die fünf Kilometer nach Hause habe ich mehr als zwei Stunden gebraucht.

Ich fieberte drei Tage lang, dachte kaum an Karina und glaubte, dass ich das Ende der Beziehung gut verarbeitete. Doch gegen die Schmerzen, die dem Fieber folgten, gab es keine Medikamente. Morgens konnte ich die Augen nicht öffnen, weil ich die Bilder von Karina nicht loslassen wollte. Ich lag da, lauschte den Geräuschen in der Wohnung, hörte die Stimmen meiner Eltern, das Klappern von Tellern und Besteck, das Gurgeln des Wasserkochers, das Klicken des Toasters und das Knacken des Türschlosses. Abends konnte ich die Augen nicht schließen, ich fürchtete, wieder nur Bilder von Karina zu sehen.

Das Ende der Beziehung, acht Jahre nach meiner Ankunft in Deutschland, ließ mich spüren, wie wenig ich Teil dieses Deutschlands war. Sprach ich mit meinen Eltern, war ich in der einen, der verlassenen Welt; sprach ich mit Mark, war ich in der anderen, der neuen Welt. Meine Eltern begriffen so wenig wie ich, warum die Beziehung plötzlich geendet hatte; Mark wunderte sich, warum ich alles so ernst nahm.

Je mehr ich versuchte, Karina zu verstehen, desto wütender wurde ich, weil ich keine Antworten auf meine Fragen fand. Karina war nicht mehr nur meine Ex-Freundin. In meinem Zorn war sie eine Stellvertreterin all jener, die mir das Leben in Deutschland so schwer machten, die Freundschaften und Beziehungen nach festen Terminen pflegten, denen Geburtstagskarten wichtiger waren als spontane Besuche, die gegen Gorleben protestierten, aber mit der Erkältung danach zu Privatärzten gingen. Jahrelang hatte ich versucht, eine Ordnung zu finden in Deutschland, nach der ich leben konnte. Als Karina ging, nahm sie mir meine Ordnung. Sie legte all die Gefühle frei, die ich unterdrückt hatte: Angst, Unsicherheit, Orientierungslosigkeit. Ich war 19 und fing an zu hassen.

Ich hasste meine Mitschüler. Jeden Montag prahlten sie damit, wie viel Geld sie am Wochenende versoffen und wie viele Frauen sie angemacht hatten. Aber sie wurden leise, sobald sie die untere Etage des Schulgebäudes betraten, wo die Hauptschüler das Sagen hatten, Hauptschüler wie Sergej, mit dem ich in der sechsten Klasse Deutschförderunterricht besucht hatte. Sergej war klein und das täuschte über seine Stärke hinweg. Als Dennis, ein hochgewachsener Gymnasiast im Jahrgang über mir, Sergej beleidigte und ihm zurief, er solle erst einmal Deutsch lernen, brach Sergej ihm die Nase.

Das Schulzentrum lag in Westhagen, in diesem Stadtviertel lebten in den 90er Jahren viele Italiener, Russlanddeutsche und Polen. Die meisten meiner Mitschüler wohnten in Einfamilienhäusern am Rand der Stadt und kamen nur zur Schule nach Westhagen. 51 Schritte mussten sie vom Eingang des Schulzentrums bis zum Treppentrakt gehen, der sie in die obere Etage zum Gymnasium führte. Sie gingen schnell.

Ich hasste meinen Jobberater. In der elften Klasse musste jeder Schüler aufs Arbeitsamt. Ich dachte, dort würde man mir helfen zu erfahren, wie ich zu meinem Traumjob komme. Ich wollte in die Werbung, aber mein Berater wollte mich davon abhalten. Er sprach von Versicherungskaufmann, Bürokaufmann, einer Ausbildung bei einer Sparkasse, er sagte: »Die Werbebranche ist ganz unsicher. Die Bezahlung ist schlecht, das ist nichts für dich.« Einen Monat später fragte er mich, ob ich es wirklich ernst meine, als ich meinen Wunsch wiederholte.

»Ich habe dir doch gesagt, das ist alles ganz unsicher.«

»Ich will’s versuchen. Können Sie mir sagen, was ich studieren soll oder welche Firmen in Wolfsburg zum Werbekaufmann ausbilden?«

Er konnte es nicht, und ich ging nicht mehr zu ihm.

Ich zwang mich, angeln zu gehen. Jede Stunde, die ich am Wasser verbrachte, tat weh. Aber mein Zorn und mein Hass schwanden, meine Freude am Angeln kam zurück.

Eines Abends fing ich am Allersee einen jungen Hecht, löste den Haken aus seinem Maul, ließ ihn wieder schwimmen und setzte mich auf einen Steg. Ich schaute den Wellen zu. Hier hatte Karina mir das erste Mal zugeflüstert, dass sie mich liebte, hier hatte ich mich im Duft ihres Körpers verloren, hier war ich glücklich gewesen. Mein Blick ruhte auf dem Wasser, ein leises Rauschen drang zu mir durch, die Erinnerungen wärmten mich.

Mein Zusammenbruch nach der Beziehung hatte etwas Gutes. Ich begriff endlich, dass meine Vorstellungen von Beziehungen und Familie nicht zum neuen Leben passten. Meine Eltern hatten mit 22 geheiratet, sie waren 23, als ich geboren wurde. Vier Jahre lang lebten sie bei den Eltern meiner Mutter, zu dritt schliefen wir in einem Bett und teilten uns zu fünft ein kleines Haus mit drei Zimmern.

In meinen frühesten Erinnerungen ist immer Sommer, ein heißer Wind weht und Mutter trägt bunte Kleider. Deutschland lernte ich bei Regen kennen, hier war ich das erste Mal im Sommer erkältet, Mutter fand keine Arbeit und Vater hatte keine Zeit zum Angeln. Auf den schwarz-weißen Bildern meiner Kindheit lache ich, ich stehe mit Pfeil und Bogen in der Steppe, Vater mit einer verbrannten Hose nach dem Löschen des Feuers in einem Birkenhain, Mutter schläft am Strand, meine Schwester hüpft auf dem Sofa, um ihren Mund Schokolade. Die Farbfotos meiner Jugend sehe ich mir ungern an. Als wäre in ihnen all die Unsicherheit festgehalten worden, spüre ich sie, sobald ich die Bilder anschaue.

Im März 1990 gab mir meine Großmutter fünf Mark und schickte mich zum Bäcker. »Sag einfach, ›ich möchte bitte ein Stangenbrot‹«, trug sie mir auf. Ich ging aus dem Haus, den Hügel runter, durch den Fußgängertunnel und am Kiosk vorbei. Ich wiederholte leise vor mich hin den Satz »Ich möchte bitte ein Stangenbrot«, stand vor der Bäckerei und wartete, bis kein anderer Kunde mehr drin war. Dann trat ich ein und brachte kein Wort raus. Ich stammelte etwas vor mich hin, dann zeigte ich auf das Stangenbrot und legte das Geld hin. Zu Hause lobte mich meine Großmutter, ich schwieg.

Das Leben war einmal leicht gewesen und frei von der Frage, ob ich mich richtig verhalte. In Deutschland waren Fragen und Zweifel meine ständigen Begleiter. Spreche ich die fremden, kalten Wörter richtig aus? Habe ich die Erwartungen Fremder an mich erfüllt? Mein Verstand sagte mir, dass das Glück wenig mit dem Land meiner Kindheit und die Wut wenig mit dem Land meiner Jugend zu tun hatten. Aber was nutzt dir der Verstand, wenn du den hart getrockneten Schafskäse der Kasachen vermisst, die Stutenmilch Kumys nirgends kaufen kannst, und niemand dich um deine Jeansjacke aus Westdeutschland beneidet.

Ich war 20 Jahre alt, hatte soeben mein Abitur bestanden, doch meine Werte waren die eines Kindes, das in einer Provinz der Sowjetunion aufgewachsen ist. Als mir das auf dem Steg am Allersee durch den Kopf ging, musste ich über mich selbst lachen. Ich fühlte mich wie ein Gefangener, der endlich verstanden hat, dass Widerstand sinnlos ist – erleichtert und machtlos zugleich.

Ich suchte Freiheit in Anpassung. In der Öffentlichkeit sprach ich nur noch Deutsch. Im Sommer vor dem Umzug nach Hannover jobbte ich in einem Getränkemarkt und gab alles Geld für Kleidung von Replay, Chiemsee und Levi’s aus. Und nachdem ich nach Hannover gezogen war, brach der Kontakt zu Sergej und den anderen Jungs in Wolfsburg-Westhagen ab. In Hannover gab es nur einen einzigen Menschen, der von meiner Herkunft wusste, Mark. Für alle, die ich im Zivildienst und dann im Studium kennenlernte, war ich ein Deutscher. Aber frei fühlte ich mich immer noch nicht.

Ich ging mit Mark aus. Wir waren montags im Palo Palo, mittwochs im Zino, donnerstags in der Baggi, freitags wieder im Palo Palo, samstags im Zaza. Wenn ich in einem Club stand, sah ich junge Männer, die mit zusammengeknüllten 20-Euro-Scheinen ihr Bier zahlten, rauchten und lachten. Wenn Mark tanzte, wirkte die Tanzfläche größer, und wenn er flirtete, lächelten die Frauen heller. Wenn Mark trank, genoss er seinen Rausch; ich hatte immer Angst, die Kontrolle zu verlieren. Betäubt von Bässen, verwirrt durch unzählige Parfüms, spürte ich, dass ich eine Grenze zwischen mir und Mark, zwischen mir und den anderen, nicht überwinden konnte. Meine Mitschüler, meine Kommilitonen und Mark waren erzogen worden, ihr Glück vom Leben einzufordern; ich war in Deutschland dazu erzogen worden, nicht aufzufallen und niemanden zu stören.

»Wie viele willst du noch abschleppen?«, fragte ich Mark eines Tages.

»Was is’n mit dir?«

»Ich hab die Clubs satt.«

»Wenn es dir nicht passt, musst du ja nicht mitkommen.«

Ich floh zum Wasser, schwamm fast täglich, hörte das Rauschen der Luftblasen unter Wasser und nach einigen Bahnen vergaß ich die Welt um mich herum. Manchmal tauchte ich die Bahnen durch; mein Wille, immer einige Sekunden länger unter Wasser zu bleiben, kämpfte mit meinem Körper, der nach Luft rang.

Meinen allerersten Tauchgang hatte ich in der Badewanne unserer Wohnung in Kasachstan. Ich besuchte seit einigen Wochen einen Schwimm-Club und bettelte um eine Schwimmbrille. Mein Vater fertigte für die Datscha eines Bekannten ein Türschloss an, die Ehefrau des Bekannten bat eine befreundete Stewardess, eine Brille von einer Reise mitzubringen. Sie besorgte in fernen Metropolen alles, was in der Provinz fehlte, und verdiente sich so etwas dazu.