Wir verstehen nicht, was geschieht - Viktor Funk - E-Book

Wir verstehen nicht, was geschieht E-Book

Viktor Funk

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Beschreibung

Lew und Swetlana haben ein Leben gelebt, das im Nachhinein unmöglich erscheint. Eine Revolution, zwei Terrorregime – danach eine lange, erfüllte Beziehung. Ein junger Historiker aus Deutschland, Alexander List, sucht den bereits betagten Lew Mischenko in Moskau auf. Er will ihn interviewen und mehr über Menschen erfahren, die den Gulag überlebt haben, und über ihre Lieben, ihre Freundschaften, aber auch ihre Traumata. Der Roman »Wir verstehen nicht, was geschieht« folgt den Lebensspuren mehrerer realer Personen, im Zentrum steht der Physiker Lew Mischenko. Während seiner Haftzeit im Gulag schrieben er und seine Frau Swetlana einander Briefe. Diese will Mischenko dem Historiker List überlassen – unter der Bedingung, dass er mit ihm nach Petschora reist, hoch oben im russischen Norden, wo Mischenko neun Jahre im Lager verbrachte und wo ein Freund, Jakow Israelitsch, auf ihn wartet.

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Lew und Swetlana haben ein Leben gelebt, das im Nachhinein unmöglich erscheint. Eine Revolution, zwei Terrorregime – danach eine lange, erfüllte Beziehung. Ein junger Historiker aus Deutschland, Alexander List, sucht den bereits betagten Lew Mischenko in Moskau auf. Er will ihn interviewen und mehr über Menschen erfahren, die den Gulag überlebt haben, und über ihre Lieben, ihre Freundschaften, aber auch ihre Traumata. Der Roman »Wir verstehen nicht, was geschieht« folgt den Lebensspuren mehrerer realer Personen, im Zentrum steht der Physiker Lew Mischenko. Während seiner Haftzeit im Gulag schrieben er und seine Frau Swetlana einander Briefe. Diese will Lew dem Historiker Alexander überlassen – unter der Bedingung, dass er mit ihm nach Petschora reist, hoch oben im russischen Norden, wo Lew neun Jahre im Lager verbrachte und wo ein Freund, Jakow Israelitsch, auf ihn wartet.

Viktor Funk, geboren 1978 in der Sowjetunion (Kasachstan), kam als Elfjähriger 1990 nach Deutschland. Er ging in Wolfsburg zur Schule, studierte später in Hannover Geschichte, Politik und Soziologie. Seine Magisterarbeit in Geschichte beschäftigte sich mit dem Vergleich mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden. Viktor Funk arbeitet als Politikredakteur mit dem Schwerpunkt Russland bei der Frankfurter Rundschau. Sein erster Roman »Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich« erschien 2017. Er lebt in Frankfurt am Main.

Viktor Funk

Wir verstehennicht, wasgeschieht

Roman

Erste Auflage

Verbrecher Verlag Berlin 2022

www.verbrecherei.de

© Verbrecher Verlag 2022

Fotografie S. 157: © Viktor Funk

Lektorat: Alyssa Fenner und Doris Engelke

Satz: Christian Walter

Druck: CPI Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-95732-536-5

eISBN 978-3-95732-544-0

Printed in Germany

Der Verlag dankt Lena Beyer,

Marlene Münßinger, Johanna Seyfried,

Lukas Siebeneicker und Leni Teetz.

Inhalt

TAG 1

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TAG 4

TAG 5

TAG 6

TAG 7

TAG 8

TAG 9

Nachwort

Du bist das Wesentliche,ohne das alles Übrige,so wichtig es mir erscheinen mag,solange Du da bist, seinen Sinnund seine Bedeutung verliert.

André Gorz, Brief an D.

»Kommen Sie unbedingt noch einmal, Sie müssen jemanden kennenlernen«, hatte Aljona Gustowa gesagt.

Nun wusste Alexander List, warum und warum so schnell er hatte aufbrechen müssen. Die Wissenschaftlerin von Memorial hatte recht behalten.

TAG 1

Am Montag, den 3. November, war Alexander nach Moskau geflogen. Er checkte in einem Hotel an der Metro-Station Park Kultury ein und fuhr am Nachmittag zu Lew Mischenko. Von der Station Prospekt Wernadskogo ging er im Regen die Straße entlang zu einem Hochhaus und wählte an der Sprechanlage die Nummer der Wohnung. Noch aus Deutschland hatte er Kontakt zu Lew Mischenko aufgenommen und ihn vor gut einer Stunde aus dem Hotel angerufen.

»Neunter Stock«, hörte er eine Männerstimme, die Tür sprang auf.

Im Fahrstuhl roch es nach schwerem Parfüm. Als die Fahrstuhltür sich öffnete, empfing ihn der Geruch gebratenen Fleisches. Fünf Wohnungen befanden sich auf der Etage, keine Namen an den Klingeln. Als er an einer Tür das Drehen des Schlosses hörte, trat er heran und wich gleich wieder zurück, weil ein Hund bellte. Seit er als Kind gebissen worden war, raste bei jedem Bellen sein Herz.

»Primus, aus«, sagte der Mann an der Tür. »Guten Abend, Sie müssen Alexander sein. Kommen Sie herein. Und du, Primus, hör auf, fort mit dir.«

Lew Mischenko war eineinhalb Köpfe kleiner als Alexander List und kahl. Seine Hand versank in Alexanders Hand, sein Hemd bauschte sich bei jeder Bewegung und verriet, dass der Körper darunter schmächtig war.

Alexander zog die Schuhe aus, betrat die Wohnung und wunderte sich einmal mehr, wie wenig er von diesem Land und seinen Menschen wusste. Alle Begegnungen mit ehemaligen Gulag-Häftlingen waren voller Überraschungen. Keine seiner Erwartungen hatte bisher zugetroffen.

Katja Iwanowa zum Beispiel. Sie lebte in einem Hochhaus im Norden Moskaus, an einem Birkenpark. Das Haus aus den letzten Tagen der Sowjetunion sah aus wie eine riesige Schachtel mit quadratischen Fenstern, gleich großen Wohnungen, gebaut für Menschen, die gleich erzogen worden waren, gleich viel verdienten und in denselben Geschäften einkauften. Und dann Iwanowa. Hinter ihrer Wohnungstür fand Alexander sich in einer Galerie wieder. Unzählige Bilder bedeckten alle Wände. Sie verwandelten die Wohnung in eine eigene Welt, gaben ihrer Bewohnerin nicht nur Individualität, sondern auch Freiheit, wie sie sie draußen, in diesem unermesslich weiten Land, ihr Leben lang nicht fand.

Beim ersten Treffen war Iwanowa wortkarg, hatte nur Tee und Kekse auf den Tisch gestellt. Beim zweiten Treffen war der Tisch so voll, dass Alexander keinen Platz für sein Diktiergerät fand. Es war an einem Augusttag gewesen, die Fenster standen offen, die Birken rauschten, Iwanowa erzählte so hastig, dass Alexander kaum Fragen stellen konnte. Und sie fluchte: »Ich habe für die Swolotschi gemalt«, sagte sie. »Das hat mich gerettet.« Er musste Swolotschi im Wörterbuch nachschlagen: Dreckshunde.

Oder Konstantin Mironow, der in einer der letzten Gemeinschaftswohnungen, einer Kommunalka, in St. Petersburg lebte. In seinem Zimmer gab es nur zwei Hocker, ein Bett, einen kleinen Tisch und ein Bücherregal mit Klassikern, die eine Staubschicht bedeckte. Keine Bilder an den Wänden, kein Schrank. Wo Mironow seine Kleider aufbewahrte und die Dokumente, die bereits auf dem Tisch lagen, als Alexander zum Interview kam, das blieb sein Geheimnis. Und auf die Frage, ob er denn nichts weiter besäße, antwortete der Mann nur: »Wozu?«

»Sehr angenehm, Sie kennenzulernen«, sagte Lew Mischenko. »Trinken Sie Tee mit mir? Ich mache welchen.« Auf dem Gasherd stand ein Teekessel, Mischenko zündete die Gasflamme an. Dann öffnete er die Tür zum Balkon, der von der Küche abging. »Geh raus, Primus, geh mein Guter.«

Der Hund tapste an Alexander vorbei, hob die Nase und schnupperte. Seine Augen waren trüb, er stieß mit einer Vorderpfote an der Balkonleiste und trat hinaus.

»Er ist über sechzehn«, sagte Mischenko, »er schafft es nicht mehr runter. Und ich schaffe es manchmal auch nicht.«

Sie setzten sich an den Küchentisch. Der Tee in den Tassen dampfte. Lew Mischenko schnitt mit einem kleinen Messer Wurst und Käse ab, dann nahm er aus einer Schublade ein langes Brotmesser. »Das ist neunzig Jahre alt«, sagte er, »man darf es nicht abwaschen, sonst rostet es.« Er stellte die Teller mit dem Aufschnitt auf den Tisch und setzte sich.

»Entschuldigen Sie die Einfachheit. Swetlana ist vor Kurzem gestorben. Was ich für mich koche, das wollte ich Ihnen nicht zumuten.«

»Alles gut, ich bin ja nicht wegen des Essens hier«, sagte Alexander und ärgerte sich sofort über seine Worte.

»Nein, nein«, antwortete Mischenko, »nicht wegen des Essens, aber wenn Sie ihre Wareniki gekostet hätten, dann würden Sie uns auch wegen des Essens besuchen.« Er lächelte. »Sie hat die Zwiebeln für die Kartoffelfüllung ganz langsam schmoren lassen, die Zwiebeln lösten sich in der Butter fast auf, dann hat sie die in die Kartoffeln gegossen und sie gestampft.«

»Es tut mir leid, dass Ihre Frau verstorben ist.«

Aus den Gesprächen mit Aljona wusste Alexander nur sehr wenig über Lew Mischenko. Er trank den Tee und sah, dass Primus mit der Nase gegen die Balkontür stieß. Alexander öffnete die Glastür, der Hund tapste herein. Sein Fell glänzte vor Feuchtigkeit, er roch. Lew trocknete ihn ab, dann legte der Hund sich neben den Tisch, die Schnauze dem Gast zugewandt.

»Swetlana war eine außergewöhnliche Frau«, begann Lew. Er deutete zur Wand, wo drei Bilder hingen. Ein Schwarzweißes zeigte ihn und eine Frau, auf einem zweiten, das in der Sonne seine Farben verloren hatte, waren Lew, Swetlana und zwei Jugendliche zu sehen. Und auf dem dritten Bild, dessen Farben noch frisch wirkten, war eine junge Frau abgebildet.

»Wir haben uns fast 70 Jahre gekannt«, sagte Lew und nahm das schwarzweiße Bild in die Hand. »Sie fehlt mir sehr, meine Sweta. Aber ich bin auch glücklich. 70 Jahre! Das erscheint mir manchmal wie ein Geschenk, das mir immer und immer wieder gegeben wurde. Wer hätte gedacht, dass alles so kommt?«

Im Oktober 1941 war Lew am Rande Moskaus in die Hände der Nazis geraten. Er überlebte vier Jahre Nazi-Lager, wurde 1945 zu zehn Jahren Zwangsarbeit im eigenen Land verurteilt und nach Petschora verschoben, hoch oben im Norden. Nach Stalins Logik hätte er bis zum Tod kämpfen und sich – als junger, unerfahrener und schlecht bewaffneter Verteidiger Moskaus – nicht gefangen nehmen lassen dürfen.

Lew hat auch Petschora überlebt. Nicht zuletzt vielleicht dank der Briefe, die er und seine Frau Swetlana sich zwischen 1946 und seiner vorzeitigen Befreiung 1954 geschrieben haben.

»Er hat einen Koffer voller Briefe aus der Haftzeit«, hatte Aljona gesagt. »Die meisten sind unzensiert. So etwas finden Sie nicht noch einmal.«

»Lew Glebowitsch«, sprach Alexander ihn mit Vor- und Vatersnamen an, »ich würde Sie gerne in den nächsten Tagen interviewen und unsere Gespräche aufzeichnen. Wäre es in Ordnung, wenn ich morgen schon um zehn Uhr komme? Ich kaufe ein und kann für uns kochen.«

Lew stand auf, ging aus der Küche und kam mit einem Notizbuch wieder. Die Farbe des Einbandes war verblichen, nur auf der Rückseite waren die Ecken noch bläulich.

»Das ist mehr als zwanzig Jahre alt. Ich habe hier vieles notiert, das Sie interessieren könnte. Das können Sie haben. Und bitte nennen Sie mich Lew, Alexander.«

Alexander nickte, während Lew ergänzte: »Zehn Uhr ist nicht so gut.« Er machte eine kurze Pause. »Ich möchte Sie um etwas bitten, natürlich nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht.«

»Ich bin nur Ihretwegen hier«, sagte Alexander.

»Ich möchte verreisen, aber ich brauche Hilfe. Ich bitte Sie, mich zu begleiten.«

»Wohin wollen Sie?«

»Nach Petschora. Der Zug fährt morgen um 21.50 Uhr vom Jaroslawler Bahnhof ab. Wir werden keine Schwierigkeiten haben, Fahrscheine zu bekommen. Wer fährt schon im Winter dahin?«

Alexander wusste nur ungefähr, wo Petschora liegt.

»Wann wollten Sie zurück nach Deutschland fliegen?«, fragte Lew.

»In eineinhalb Wochen.«

»Dann schaffen wir alles. Sie schaffen alles. Sie brauchen eine warme Jacke und gute Schuhe. Dort liegt bereits viel Schnee. In meinem ersten Winter dort bin ich fast erfroren. Ich kam da ohne Winterkleidung an, hatte nur einen Anzug. Ich kam ja direkt aus Deutschland. Dort war ich nach der Gefangenschaft einige Wochen frei gewesen. Und in Eisleben hat der Bürgermeister ehemaligen sowjetischen Gefangenen Kleidung besorgt. Als ich unsere Soldaten traf, endete meine Freiheit. Sie haben mich verhaftet, lange verhört und dann als Verräter verurteilt. Bei den Verhören dachte ich noch, es wird sich alles aufklären, und ich kann bald nach Moskau. Aber die haben mich reingelegt, als ich die Verhörprotokolle unterschreiben musste und … Ach, ich verzettel mich, ich erzähle alles später, in Ruhe.«

Lew schnitt ein dickes Stück Butter ab, legte es aufs Brot, eine Scheibe Wurst drauf und biss ab. Alexander hätte am liebsten gleich im Internet nach »Petschora« gesucht, dann hätte er gesehen, dass eine 32-stündige Zugfahrt vor ihnen liegt, fast 1800 Kilometer nach Norden. Er konnte sich nicht vorstellen, mit diesem müde und gebrechlich wirkenden Mann zu reisen. Aber er konnte seinen Wunsch nicht ablehnen. »Hören Sie ihm gut zu«, hatte Aljona gemahnt.

»Wann soll ich Sie morgen abholen?«

»Wenn Sie um sieben abends zu mir kommen, schaffen wir es rechtzeitig zum Bahnhof.«

»Nehmen Sie den Hund mit?«

»Nein. Er ist zu alt. Primus gehört hierher. Ein Nachbar wird sich um ihn kümmern.«

Beim Hinausgehen blieb Alexander im Flur vor einer Bücherwand stehen. Zwischen russischsprachigen Titeln entdeckte er deutsche und französische. Manche Bücher waren alt, sie schienen aus der Zeit vor der Revolution zu stammen.

»Es sind Bücher aus Swetlanas Familie, von ihren Eltern. Als meine Eltern verhaftet wurden, wurde unser Haus durchsucht, die haben alle Bücher mitgenommen.«

»Wann war das?«

»Genau weiß ich es nicht, ich war da noch klein. Ich kann mich nur an Weniges von dem Tag erinnern, schwarze Stiefel zum Beispiel. Ich sitze auf dem Boden, starre auf schwarze Stiefel, jemand hebt mich hoch … und mehr weiß ich nicht. Es war schon nach der Revolution, 1920 oder 21.«

»Wer hat Ihre Eltern verhaftet?«

»Die Roten. Zuerst erschossen sie meine Mutter, dann meinen Vater. Meine Eltern waren Lehrer. Und was sie lehrten, das passte den neuen Machthabern offensichtlich nicht. Wir lebten damals in Beresow, hinter dem Ural, waren aus Moskau dorthin gezogen, weil die Menschen hier nach der Revolution hungerten, auf dem Land konnten wir uns selbst versorgen. Und wissen Sie, der Tod meiner Eltern vermischt sich in meiner Erinnerung mit Essensgerüchen. Ich sehe einzelne Bilder und rieche Kraut und Pirogen, als wir am 40. Tag nach ihrem Tod ihrer gedacht haben. Meine Tante und meine Großmutter haben mich großgezogen.«

»Es tut mir leid, dass Sie ihre Eltern so früh verloren haben«, sagte Alexander. Er stand noch immer im Flur und wusste nicht, ob er das Gespräch abbrechen oder sein Diktiergerät rausholen sollte.

»Es waren schwierige Zeiten. Aber andere Menschen haben mich ebenso geliebt wie meine Eltern. Meine Tante, Swetlanas Mutter, ich war wie ein Sohn für sie.«

Alexander wollte gerade eine Frage stellen, als Lew einen Hocker heranrückte und sich setzte. »Schreiben Sie mir für alle Fälle Ihre Telefonnummer auf«, bat er.

»Ich bin um sieben morgen Abend bei Ihnen«, sagte Alexander, während er seine Nummer notierte.

Danach stand er im Treppenhaus und wartete auf den Fahrstuhl.

Lew saß noch immer auf dem Hocker, die Tür stand offen, Primus lag auf der Türschwelle, die Augen geschlossen. »Wissen Sie, ich habe in meinem Leben sehr viel Glück gehabt. Mehr als sich ein Mensch vorstellen kann«, sagte Lew. »Manchmal verstehe ich selbst nicht, was alles passiert ist. Ich hätte so oft sterben können.«

Im Fahrstuhl mischten sich in Alexanders Kopf die Fragen an Lew mit Überlegungen, was er für die Reise noch vorbereiten müsste. Wann genau wurden Lews Eltern erschossen? Warum? Wie hat er die deutsche Gefangenschaft im Krieg überlebt? Und wie die Lagerhaft im Norden? Warum durfte er nach seiner Entlassung in Moskau leben? Dann drängten sich ihm ganz praktische Fragen auf: Wo kriege ich eine warme Jacke her, Schuhe? Wo kommen wir in Petschora unter? Warum müssen wir überhaupt dorthin? Die Briefe sind doch bestimmt hier, in Moskau.

Im Hotel stornierte Alexander seine Reservierung für die übrigen Nächte, prüfte im Internet, wie lange sie unterwegs sein würden und wie das Wetter in Petschora war. Minus 20 Grad, Schneefall. Er schickte eine E-Mail an das Hotel Zentralnaja mit der Bitte, ein Doppelzimmer zu reservieren, und eine E-Mail an das Heimatmuseum von Petschora.

TAG 2

Lew hatte nur einen Rucksack gepackt. Es war still in der Wohnung, als Alexander ihn abholte. Der Hund sei schon beim Nachbarn, erklärte Lew und bat, im Flur zu warten. Dann ging er durch jedes der vier Zimmer. Er murmelte dabei. Als Lew in die Küche ging, hielt er mehrere Briefumschläge in der Hand. Aus der Küche kam er ohne sie.

Seine Wohnung wirkte wie ein Museum und Lew wie ein Museumswärter, der seinen Kontrollgang absolviert, bevor er abschließt. »Zu unserer Wohnung hatten mal 17 Menschen Schlüssel. Sie waren über die ganze Sowjetunion verstreut. Bei uns zu Hause war es nie ruhig. Alle Freunde durften kommen, wann sie wollten, und wenn wir mal nicht da waren, dann konnten sie trotzdem rein«, erzählte Lew. »Das Lager in Petschora hat mir viele Freunde geschenkt.«

»Geschenkt?«, fragte Alexander.

»Oh ja.«

Lew löschte das Licht in der Wohnung.

Im Treppenhaus summte eine Neonröhre. Sie warteten schweigend auf den Fahrstuhl, der im Schacht krächzte. Unten hielt Alexander die Haustür offen, als Lew mit langsameren Schritten nachfolgte. Der Taxifahrer spuckte Sonnenblumenkernschalen auf den nassen Asphalt, er nahm Alexander den Koffer ab und öffnete Lew die Wagentür.

In Moskau war Alexander meistens mit der Metro unterwegs oder zu Fuß. Er konnte sich nicht satt sehen an der Gigantomanie des geplatzten Traumes von einer besseren Welt. Jetzt wechselten seine Blicke von einem Prachtbau zum nächsten, die Straßen waren eine Rennstrecke, und er war froh, nicht selbst fahren zu müssen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch Lew hinausblickte.

»Die Stadt war mal voller Glockengeläut. Hier im Zentrum gab es keine Gasse ohne eine Kirche. Meine Großmutter schleppte mich zum Beten, so oft sie konnte und solange es noch viele Kirchen gab. Nach der Revolution weinte sie viel zu Hause vor den Ikonen. Und draußen wurde eine Kirche nach der anderen zerstört«, erzählte Lew. »Ich war nie gläubig, aber das Glockenspiel ist mir eine schöne Erinnerung.«

Der Platz vor dem Jaroslawler Bahnhof war frei, sauber und ruhig. Vor wenigen Jahren, als Alexander mit seinen Interviews begonnen hatte, war der Platz voller kleiner Buden und Verkaufszelte gewesen. Händler boten Blumen an, Händlerinnen standen an jeder Ecke und handelten im Winter mit Zitronen und im Sommer mit Melonen. Alexander kam immer abends nach den Interviews hierher oder ging zum Leningrader oder zum Kasaner Bahnhof. Nach Tagen voller Gespräche, schwerer Erinnerungen, Flüche und Tränen, tauchte er hier ein in Geschrei, Autohupen und unverständliches Rauschen. Er aß Tschebureki oder Brot aus Steinöfen, trank süßen Tee bei Usbeken und kaufte schwarz gebrannte CDs oder DVDs. Obdachlose wärmten sich auf den Abluftschächten der Metro, Prostituierte warteten auf Kunden, Kinder schnüffelten an Tüten mit Klebstoff und bettelten um ein paar Rubel.

Jetzt war der Vorplatz leer. Das Chaos von damals war riesigen Werbetafeln gewichen, auf denen sich Autos westlicher Konzerne und Losungen vom »großen Russland« abwechselten.

»Ich war schon lange nicht mehr hier«, sagte Lew. »Es ist schön, wie sich die Stadt verändert. Sie ist sauber.«

Sie betraten die Bahnhofshalle, am Schalter fragte eine Frau durch die elektronische Sprechanlage hinter einem Fenster, wohin es gehen solle.

»Petschora, zwei Personen«, sagte Alexander.

»Bitte im Doppelabteil«, ergänzte Lew und holte sein Portemonnaie heraus. Die Frau druckte die Tickets aus.

Sie hatten noch Zeit. In einem kleinen Café bestellten sie Tee.

»Warum interessieren Sie sich für den Gulag?«, fragte Lew.

»Ich interessiere mich für Sie, für Menschen, die ein Lager überlebt haben. Das Lagersystem ist einigermaßen gut erforscht, aber was es aus Menschen macht …« Er stockte. Er suchte nach den richtigen Worten, die Lew nicht wie ein Versuchskaninchen erscheinen ließen. »Ich will wissen, woher Sie die Kraft nahmen, im Lageralltag nicht zu verzweifeln und danach Wissenschaftler zu werden, woher Sie die Kraft nahmen, danach weiter …«

»Zu leben?«

»Ja. Und es zu genießen. Auf den Bildern in Ihrer Wohnung lachen Sie. Ihre Frau lacht. Und Sie haben Kinder, es waren doch Ihre auf den Bildern?«

»Serjoscha, Nastja und unsere Enkelin, Marina.« Lew trank seinen Tee. Sein Blick schien in die Ferne zu wandern, und Alexander glaubte, auf seinem Gesicht ein Lächeln zu sehen.

»Wissen Sie, darüber habe ich bisher nicht nachgedacht. Swetlana war die Philosophin von uns beiden. Und jetzt höre ich ihre Stimme. Sie freut sich über Ihre Fragen, sie würde ganz sicher Tee aufsetzen und den Tisch decken, weil solche Fragen immer einen langen Abend versprechen, und Swetlana liebte lange Abende, Gespräche, Debatten und das Philosophieren. Ich höre ihre Stimme, aber ich verstehe die Worte nicht.«

Am Gleis warteten nur wenige Passagiere. Aus kleinen Schornsteinen auf den Waggons stieg Rauch auf. Alexander stand da in neuen Winterschuhen und einer neuen, wattierten Jacke. Lew hatte einen alten Mantel an, der so dünn war, dass seine Schulterblätter zu erkennen waren. Der Mantel war halb zugeknöpft. Der Rucksack stand vor seinen Füßen. Die Waggontür öffnete sich, eine Zugbegleiterin stempelte ihre Tickets ab, sie stiegen ein. Ein Teppich zog sich durch den Flur, es gab zwei Toiletten.

Eine weitere Zugbegleiterin führte sie zu ihrem Abteil. »Ihre Betten sind bereits bezogen. Wir haben eine große Auswahl an Tees, Kaffee, Keksen, Chips und Snacks. Zwei Waggons weiter befindet sich unser Restaurant, es hat von 17 bis 24 und 6 bis 10 Uhr geöffnet. Wenn Sie dort zu Mittag essen wollen, sagen Sie es mir bitte, ich spreche dann mit dem Personal. Ich heiße Maria und freue mich, dass Sie in unserem ›privaten‹ Zug reisen. Mein Abteil ist am Eingang. Sie können mich jederzeit ansprechen, wenn Sie etwas wünschen.«

Lew sagte, so sei er noch nie gereist. »Das letzte Mal bin ich mit Swetlana vor fünf Jahren mit dem Zug nach Prag gefahren. Einen Tag und eine Nacht dauerte das, aber wir hatten nur Sitzplätze.«

Damals hatten sie zum letzten Mal einen Freund besucht, einen Tschechen, den Lew in der deutschen Gefangenschaft kennengelernt hatte.

»Er hat mich bewacht, das war in Leipzig.«

»Sie waren mit Ihrem Bewacher befreundet?«

»Ja«, antwortete Lew, »Sie wundern sich? Ich erzähle gleich davon. Lassen Sie uns erst was essen.« Er holte einen Laib Brot, Wurst, gekochte Eier und eine Thermoskanne aus seinem Rucksack. »Ich wusste nicht, dass es hier ein Restaurant gibt.«

Ein Stoß ging durch den Zug. Die orangen Lichter hinter dem Fenster bewegten sich, erst langsam, dann schneller. In der Ferne leuchteten unzählige Fenster der Hochhäuser. In dieser Stadt lebten acht, zwölf, vierzehn oder noch mehr Millionen Menschen. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte es keine Volkszählung mehr gegeben. Lew blickte aus dem Fenster, bis keine Häuser mehr zu sehen waren.

Der Zug fuhr in die Nacht hinein. Seine Räder schlugen rhythmisch an den Verbindungen der Schienen an. Lew lehnte sich zurück.

»Sein Name war Eduard, Eduard Hladik. Ich habe ihn in Leipzig kennengelernt. Ich war dort im Werk HASAG als Zwangsarbeiter. Eduard sprach mich an. Zuerst dachte ich, dass er mich anwerben wollte, weil ich Deutsch konnte und die Nazis Übersetzer suchten«, erzählte Lew. »Heute spreche ich natürlich nicht mehr so gut. Aber damals war das anders, Deutsch hatte mich meine Tante gelehrt, die Schwester meiner Mutter. Die Nazis haben mehrfach versucht, mich anzuwerben. Und weil Eduard freundlich war, dachte ich, dass auch er mich überreden will, für die Nazis zu arbeiten.«

Lew aß. Das Diktiergerät stand angeschaltet auf dem kleinen Tisch zwischen ihren Betten.

»Eduard war Tscheche. Er hat mich bei meiner Ankunft im Lager durch die Registrierung geführt und sollte mich dann in die Baracke mit sowjetischen Gefangenen bringen. Dort war es voll, sehr voll. Er führte mich zu einer anderen Baracke. Die war eigentlich für Franzosen bestimmt. Ich habe später bemerkt, dass andere Gefangene lächelten, wenn sie Eduard sahen. Manchen von ihnen steckte er Zigaretten zu. Und er schmuggelte auch deutsche Zeitungen rein, die wir eigentlich nicht lesen durften. Nach einiger Zeit habe ich ihn gefragt, warum er Bewacher geworden war. Er sagte, sein Vater sei Deutscher, und er, Eduard, sei gegen seinen Willen eingezogen worden, als die Tschechoslowakei besetzt worden war. Und dann flüsterte er mir zu: ›Ich hasse Nazis.‹«

Es war kurz vor Mitternacht, noch 30 Stunden bis Petschora. Alexander fühlte sich müde, zugleich spürte er eine Aufregung, die ihn nicht losließ. Er konnte Lews Erzählung nicht richtig folgen, dessen Leben bestand für Alexander bislang aus Puzzlestücken, die er noch nicht zusammenfügen konnte.

Die Menschen erinnerten sich in den Interviews zunächst an einzelne Ereignisse aus ihrer Haft. Tatjana Lasarenko hatte als erstes von den Kriminellen in den Lagern erzählt. Diese seien brutal gewesen, die Lagerleitung habe sie gegen die politischen Gefangenen aufgehetzt, trotzdem hätten sie ihr leidgetan. Sie waren ungebildet und ohne Träume. Lasarenko selbst war 18 Jahre alt, als sie 1951 zusammen mit vier Freunden verhaftet wurde. Sie hatten Karikaturen von Stalin gemalt. Jeder von ihnen bekam 15 Jahre Lager. Lasarenko und zwei andere aus der Gruppe kamen gleich nach Stalins Tod 1953 frei. Der Älteste von ihnen wurde im Lager umgebracht. Ein anderer starb im Lager an einer Krankheit. Doch bevor sie vom Verlust ihrer Jugend und ihrer Freunde erzählen konnte, waren ihr die Kriminellen eingefallen. »Ich kannte solche Leute ja nicht. Die waren interessant. Ich begriff, dass ich diese Welt nie kennengelernt hätte. Ich war fasziniert.«