Black Witch - Erkenntnis - Laurie Forest - E-Book
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Black Witch - Erkenntnis E-Book

Laurie Forest

4,8

Beschreibung

Dunkle Mächte sind auf dem Vormarsch in diesem mitreißenden zweiten Buch der Black Witch Chroniken der von der Kritik hochgelobten Fantasy-Autorin Laurie Forest. Elloren Gardner und ihre Freunde wollten nur einige Missstände beseitigen, als sie eine Phoca retteten und eine Militärdrachin befreiten. Das Letzte, womit sie gerechnet hatten, war, dass sie in einen allumfassenden Untergrundwiderstand gegen die Eroberung durch die Gardnerier geraten würden. Während der Widerstand gegen die strengen Regeln des Hohen Rats der Magi kämpft, stürmen gardnerische Soldaten die Universität ... angeführt von keinem Geringeren als Lukas Grey, dem Kommandanten der nahe gelegenen Heeresbasis. Obwohl Elloren versucht, ihn auf Distanz zu halten, ist Lukas entschlossen, sie an sich zu binden. Er ist überzeugt, dass sie die Erbin der Macht der Schwarzen Hexe ist, ein Erbe, das über die Zukunft des gesamten Landes entscheiden wird. Während seine Magie nach ihr ruft, fällt es Elloren immer schwerer zu glauben, dass sie wirklich machtlos ist, wie es ihr Onkel immer behauptet hat.

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Mabero

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Unfassbar gut! Noch besser als der erste Teil. Man kann es nicht mehr aus der Hand legen und versinkt in der Geschichte. Wunderbare vielschichtige Charaktere mit denen man mitfühlen kann. Ich bin jetzt schon traurig noch etwas auf den nächsten Teil warten zu müssen.
00

Beliebtheit




 

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem TitelTHE BLACK WITCH 2 / THE IRON FLOWER by Laurie Forestbei Inkyard Press

1. Auflage: 2024Copyright © 2018 by Laurie ForestVeröffentlicht in Absprache mit Laurie Forest.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by foliant Verlag, Hegelstr.12, 74199 UntergruppenbachAlle Rechte vorbehalten, einschließlich des Rechts auf Vervielfältigung im Ganzen oder in Teilen jeglicher Form.

Dies ist ein Werk der Fiktion. Namen, Personen, Orte und Begebenheiten sind entwederder Phantasie der Autorin entsprungen oder werden fiktiv verwendet, und jedeÄhnlichkeit mit realen lebenden oder toten Personen, GeschäftseinrichtungenEreignissen oder Orten ist rein zufällig.

Umschlaggestaltung © HildenDesignIllustration: © HildenDesign, Veronika Wunderer

Übersetzung: Freya RallLektorat: Dr. Clarissa CzöppanSatz: Kreativstudio foliant

eBook AusgabeISBN 978-3-910522-52-7

www.foliantverlag.de

Für Walter – für alles.

Inhalt

Erster Teil

Prolog

1. Außenseiterin

2. Wieder vereint

3. Eisenblüten

4. Wildnis

5. Der Julball

6. Ein würdiger Schleifstein

7. Wasserpferd

8. Zauberstäbe

9. Gründertag

10. Gefangen

11. Amaz-Lykaner

12. Abwärtsspirale

13. Albtraum

14. Nachwehen

15. Dryaden

16. Weiße Schwingen

17. Gareth Keeler

18. Phocanthrop

19. Unsägliche

Zweiter Teil

Prolog: Das Jüngste Gericht

1. Celtanien

2. Der Wundarzt

3. Verdorbene Magie

4. Unterkunft

5. Nilantyr

Dritter Teil

1. Grenzlinie

2. Amazakaraan

3. Königin Alkaia

4. Alcippe

5. Weiße Vögel

6. Der Icaral

7. Tirag

8. Königinrat

9. Tagundnachtgleiche

10. Valasca und Alder

11. Feuer-Fae

12. Ein Himmel wie ein Bluterguss

Vierter Teil

1. Eisen

2. Einhundertzwei Phocas

3. Asyl

4. Wächter

5. Gestaltwandler

6. Machtverhältnisse

7. Rebellion

8. Bathe Hall

9. Entzweit

10. Chymie

11. Vergiftet

12. Ealaiontora

Fünfter Teil

Prolog

1. Flügel

2. Scheinzauber

3. Ariel

4. Schlachtruf

5. Grenzen

6. Vormund

7. Rache

8. Offenbarungen

9. Widerstand

Epilog

Laurie Forest

Danksagungen der Autorin

Danksagungen der Übersetzerin

Erster Teil

Prolog

Willkommen im Widerstand.

Vizekanzlerin Quillens Worte hallen in meinen Gedanken nach, während ich durch die von Fackeln erleuchteten Straßen der Universitätsstadt eile, den Kopf tief gesenkt gegen den beißenden Wind. Ich wickle mich fester in meinen Mantel. Die Fahndungsmeldungen machen mir keine Angst mehr. Stattdessen erfüllt mich ein neues Gefühl der Dringlichkeit und Zielstrebigkeit.

Ich muss Yvan finden.

Ich muss ihm erzählen, dass Professor Kristian und Vizekanzlerin Quillen meiner Freundin Tierney und ihrer Familie bei der Flucht in die Reiche des Ostens helfen werden. Es war Yvan, der mich in dieser Angelegenheit zu unserem Geschichtsprofessor geschickt hat, er muss also von Professor Kristians Verbindung zum Widerstand wissen.

Und ebenso wie Tierney hat auch Yvan offensichtlich Fae-Blut. Auch er muss aus den Reichen des Westens verschwinden.

Beim Gedanken daran, dass Yvan unwiderruflich fortgehen wird, überrollt mich eine Woge von Emotionen. Meine Schritte werden langsamer, Tränen brennen in meinen Augen. Haltsuchend stütze ich mich am Pfahl einer Fackel ab. Vom pechschwarzen Himmel fallen klumpige Schneeflocken herab, wie Nadelspitzen treibt der Wind sie gegen die ungeschützte Haut meines Gesichts und meiner Hände. Über mir spuckt die Fackel knisternde Funken in die eisige Luft.

Mir fällt das Atmen schwer, als ich unvermittelt die erdrückende Macht Gardneriens spüre, die alle in den Abgrund zu reißen droht, die mir lieb sind.

Schweigend geht ein Grüppchen elbischer Studierender an mir vorüber, ohne mich auch nur mit einem Blick zu streifen. Fest in ihre weißen Alfsigr-Umhänge gehüllt, gleiten sie wie Phantome durch den dünnen Schleier des Schneegestöbers. Ich blicke ihren Gestalten hinterher, bis sie verschwimmen und in dem diesigen Weiß nicht mehr auszumachen sind, während ich mich zwinge, tief durchzuatmen und die Tränen zurückzudrängen.

Schließlich setze auch ich meinen Weg durch die eisglatten Straßen fort, bis ich den gewundenen Pfad zum Hintereingang der Hauptküche erreiche. Bei meinem Eintreten umhüllt mich augenblicklich eine herrliche Wärme. Hoffnungsvoll blicke ich mich nach Yvan um, entdecke jedoch nur die Küchenmeisterin Fernyllia, die gerade klebrige Teigreste von einem der langen Tische schrubbt.

»Ah, Elloren.« Ein Lächeln erstrahlt auf Fernyllias rosig-weißem Gesicht. Ihrem weißen Dutt sind einige Haarsträhnen entwischt. »Was führt Sie zu so später Stunde hierher?«

Ihre Gemütsruhe steht in einem so starken Kontrast zu dem Tumult in meinem Inneren, dass es mich für einen Moment ganz aus dem Konzept bringt. »Ich bin auf der Suche nach Yvan.«

Fernyllia deutet mit ihrer Wurzelbürste zur Hintertür. »Ich hab ihn gebeten, ein paar Essensreste zu den Schweinen zu bringen. Da stehen noch einige weitere Kübel. Wenn wir beide uns auch ein paar schnappen, würden wir ihm einen zweiten Gang ersparen. Was meinen Sie?«

»Sicher«, erkläre ich mich bereitwillig einverstanden.

»Gehen Sie ruhig schon einmal vor. Ich komme gleich.«

Ich greife mir zwei der schweren Kübel – nach meiner monatelangen Arbeit in der Küche sind meine Armmuskeln dem Gewicht mühelos gewachsen. Mit der Schulter drücke ich die Hintertür auf und mache mich auf den Weg den Hügel hinauf zu den Ställen. Ein frostiger Wind wirbelt den glitzernden Schnee um mich herum auf.

Als ich in die Scheune trete, dringen gedämpfte Stimmen an mein Ohr. Vorsichtig bewege ich mich darauf zu und spähe durch die hölzernen Stiele von Harken, Heugabeln und Schaufeln, die hier aufgehängt sind. Beim Anblick zweier vertrauter Gesichter erstarre ich.

Yvan und Iris.

Yvans Miene ist genauso ernst wie ihre, eindringlich sehen sie einander an. Und sie stehen dicht beieinander – zu dicht.

»Bald werden sie jeden eisenprüfen«, sagt Iris mit bebender Stimme zu Yvan. »Das weißt du genau. Ich muss hier weg. Und zwar sofort.«

Völlige Verwirrung erfasst mich, als ich begreife, was ihre Worte bedeuten.

Iris Morgaine ist … eine Fae?

Es will mir nicht gelingen, eine einzige Gelegenheit zu erinnern, bei der Iris in der Küche Eisen berührt hätte, und mir wird klar, dass sie im Gegensatz zu Yvan den Töpfen oder dem Ofen niemals auch nur nahe kommt. Sie bereitet immer nur Gebäck und Brot zu.

Ausnahmslos.

Wenn sie eine Eisenprüfung so fürchtet … ist Iris womöglich eine Vollblut-Fae. Getarnt durch einen Scheinzauber, wie Tierney.

Jetzt beginnt Iris zu weinen und blickt flehentlich zu Yvan empor. Sanft nimmt er sie in seine starken Arme und spricht leise auf sie ein, hält sie fest umschlossen und beugt den Kopf über ihre Schulter, sodass sein zerzaustes braunes Haar auf ihre goldblonden Locken fällt.

Ein stechender Schmerz durchfährt mich, dicht gefolgt von dem ungebetenen, egoistischen Begehren, selbst die Frau in Yvans Armen zu sein – und dem plötzlichen, erbitterten Wunsch, nicht das absolute Ebenbild meiner verfluchten Großmutter zu sein. Vielleicht würde Yvan dann mich wollen.

Du hast kein Recht, so zu empfinden, wüte ich innerlich gegen mich selbst. Er gehört dir nicht.

Iris dreht den Kopf und drückt Yvan einen Kuss auf den Hals, schmiegt sich mit einem gedämpften Stöhnen an ihn.

Augenblicklich versteift Yvan sich, seine Augen weiten sich, und sichtlich überrascht öffnet er die Lippen. »Iris …« Während er ein Stück zurückweicht, explodiert in meinem Inneren eine frustrierte Sehnsucht nach ihm, so roh, dass es schmerzt.

Unvermittelt blickt Yvan mich an, als könnte er meinen Gefühlssturm spüren. Gnadenlos halten seine feurigen grünen Augen meinen Blick in loderndem Erkennen fest. Und ich weiß, ohne den kleinsten Hauch eines Zweifels, dass er auf unerklärliche Weise die ganze Intensität meiner Gefühle für ihn wahrnehmen kann.

Entsetzt und erniedrigt lasse ich die Kübel mit den Essensresten fallen und renne aus der Scheune, hinaus in die verschneite Nacht. Beinahe stoße ich eine überrumpelte Fernyllia um, als ich auf dem schneebedeckten Hügel auszurutschen drohe.

Mit tränenüberströmtem Gesicht stürme ich durch die Küche und den verlassenen Speisesaal hinaus in die Korridore, bis ich endlich einen leeren Hörsaal finde. Keuchend schlüpfe ich hinein, lasse mich auf einen der vielen Stühle in dem dunklen Raum fallen und sinke über dem Tisch zusammen. Ich berge den Kopf in meinen Armen und breche in lautes Schluchzen aus, so heftig, dass es in meinen Rippen reißt und mir den Atem raubt.

Ich habe zugelassen, dass ich mich in ihn verliebe. Und er wird mich niemals wollen.

Der Schmerz, den mir Yvans anhaltende Zurückweisung verursacht, ist wie eine donnernde Brandung der Qual, die mich in ihrer Macht völlig unvorbereitet trifft.

Versunken in meinem Elend werde ich mir Fernyllias stiller Gegenwart erst bewusst, als ich ihre schwielige Hand auf meiner Schulter spüre und sie aus dem Augenwinkel erblicke. Der Stuhl neben meinem kratzt über den Steinboden, bevor sie sich darauf niederlässt.

»Du empfindest etwas für ihn, nicht wahr, mein Kind?«, fragt Fernyllia mit gütiger Stimme.

Ich presse die Lider zusammen und nicke steif. Tröstend streicht sie mir über den Rücken und murmelt dabei leise etwas auf Uriskisch.

»Ich will keine Gardnerierin sein«, bringe ich schließlich heraus. Innerlich tobe ich vor Zorn, will nie wieder meine schwarze gardnerische Tracht tragen. Will die abscheuliche weiße Armbinde nicht, die eine stumme Unterstützung für Priestermagus Marcus Vogel ausdrücken soll. Will nichts zu tun haben mit der grausamen Tyrannei, mit der mein Volk so viele andere unterdrückt.

Will frei von alledem sein.

Will Yvan.

Fernyllia schweigt einen Augenblick. »Wir können uns nicht aussuchen, was wir sind«, sagt sie schließlich leise. »Aber wir können entscheiden, wer wir sind.«

Als ich zu ihr aufblicke, sieht sie mich eindringlich an. »Wusstest du, dass ich verheiratet war?«, fragt Fernyllia mit einem leicht wehmütigen Lächeln. »Vor dem Reichskrieg, meine ich.« Ein Schatten legt sich über ihre Züge, und die Falten um ihre Augen werden tiefer. »Dann kam dein Volk und hat all unsere Männer umgebracht. Als es vorüber war, haben sie uns Überlebende zusammengetrieben und lassen uns seitdem für die Gardnerier schuften.« Wieder verstummt Fernyllia für einen Moment. Dann flüstert sie: »Auch meinen Jungen haben sie getötet.«

Mir schnürt es die Kehle zu.

»Das Leben kann furchtbar ungerecht sein«, sagt sie mit erstickter Stimme.

Scham wallt in mir empor. Verglichen mit Fernyllias Leid wirkt mein eigenes nichtig. Sie hat so viel durchgemacht, trotzdem bleibt sie weiter stark, bemüht sich noch immer, anderen zu helfen. Und hier sitze ich und ertrinke in Selbstmitleid. Ernüchtert schlucke ich meine Tränen hinunter, straffe die Schultern und bemühe mich, meine Fassung zurückzugewinnen.

»So ist es recht, Elloren Gardner«, bestärkt mich Fernyllia mit stählernem, aber nicht unfreundlichem Blick. »Kopf hoch. Meine Enkelin Fern … Sie soll es einmal besser haben. Nicht als Dienerin für die Gardnerier, während man ihr eintrichtert, sie wäre den Dreck unter deren Stiefeln nicht wert. Ich will, dass sie frei ist, körperlich wie geistig – und Letzteres ist für uns alle die größte Herausforderung. Aber dein Geist gehört ihnen nicht, Elloren, habe ich recht?«

Geradeheraus begegne ich ihrem Blick und schüttle den Kopf.

»Gut«, erklärt sie zufrieden. »Sieh zu, dass es so bleibt. Es gibt viel zu tun. Es wird sich noch einiges ändern müssen, damit meine Fern ein gutes Leben führen kann.«

1. Kapitel

Außenseiterin

»Vogel hat die gardnerische Grenze dicht gemacht.«

Im weitläufigen Lagerraum der Hauptküche macht sich Schweigen breit, während wir Professor Kristians Worte auf uns wirken lassen. Er schaut in die Runde, sieht einen nach dem anderen unverwandt an, die Hände hat er vor sich auf dem Tisch gefaltet.

Tierney und ich werfen einander einen besorgten Blick zu. Um den Holztisch hat sich ein Teil unserer Widerstandstruppe versammelt, die erschöpften Gesichter von flackernden Lampen erhellt. Mir gegenüber sitzt Yvan, gleich neben Iris, und zwischen seinen Augenbrauen zeigt sich eine tiefe Falte der Anspannung. Es fällt mir schwer, meinen Blick von ihm abzuwenden. Hinter Yvan steht Fernyllia, an ein Regal mit Eingemachtem gelehnt, die rosafarbenen Augen fest auf Jules Kristian gerichtet, die Arme vor dem untersetzten Leib verschränkt. Bleddyn Arterra hält sich ein Stück weiter hinten im Halbdunkel. Im unsteten Lampenschein sieht ihr Gesicht dunkelgrün aus. Vizekanzlerin Lucretia Quillen sitzt aufrecht neben Jules, und ihre scharfen, blassgrün schimmernden Züge wirken kühl und gefasst.

Es sind nur wenige von uns hier – in großen Gruppen können wir nicht allzu oft zusammenkommen, ohne Verdacht zu erregen. Also liegt es nun in unserer Verantwortung, wichtige Neuigkeiten an die anderen kleinen Widerstandszellen in Verpatien weiterzugeben. So auch an meine Brüder und die Freunde, die uns bei der Rettung von Naga geholfen haben, der ungebrochenen Militärdrachin, mit der Yvan sich angefreundet hat.

»Die Magusgarde patrouilliert dort jetzt Tag und Nacht«, fährt Jules ernst fort. Er zögert einen Moment. »Und seit Neuestem setzen sie abgerichtete Hydreenen ein, um Fae aufzuspüren.«

»Hydreenen?«, wiederholt Tierney angsterfüllt. Ihr schmaler Körper neben mir ist gespannt wie eine Bogensehne, ihr Entsetzen nachvollziehbar – die riesigen wildschweinartigen Bestien sind furchtbar bösartig und können selbst über große Distanzen jede Fährte verfolgen.

»Außerdem kann Vogel auf die Hilfe der hier ansässigen Gardnerier zählen«, fügt Lucretia düster hinzu. »Er hat ein beachtliches Kopfgeld auf jegliche getarnten Fae ausgesetzt.« Die schwarze Seide ihrer gardnerischen Tunika schimmert im Lampenschein. Sie ist ebenso getarnt wie Tierney – und wie auch ich es normalerweise bin, wann immer ich nicht in der Küche arbeite: eine schwarze gardnerische Tunika über einem langen schwarzen Rock, um den Oberarm eine weiße Stoffbinde. Das weiße Band der Anhänger von Großmagus Marcus Vogel.

Zum Schutz des Widerstands ist es von äußerster Wichtigkeit, dass unsere Mitgardnerier glauben, wir stünden auf ihrer Seite. Trotzdem wird mir jedes Mal übel, wenn ich diese Armbinde anlegen muss.

Erst seit wenigen Tagen bin ich Teil des verpatischen Widerstands, aber ich weiß, dass er von Jules, Lucretia und Fernyllia angeführt wird. Es gibt auch einen celtischen Arm des Widerstands, der Sabotageakte gegen die Magusgarde und das Alfsigr-Militär ausführt, aber die verpatische Zelle koordiniert hauptsächlich die Evakuierung von Flüchtenden durch Verpatien, fort aus den Reichen des Westens.

Die Furcht vor dem gardnerischen und dem elbischen Militär ist groß, weshalb der verpatische Widerstand spärlich, unterbewaffnet und überfordert ist. Unser einziger potenzieller Vorteil ist eine ungebrochene Militärdrachin mit verheerenden Knochenfrakturen an Beinen und Flügeln.

Die Situation ist gelinde gesagt beängstigend.

Ich massiere mir die Schläfen im Versuch, gegen meine nagenden Kopfschmerzen anzukommen. Aus der Küche weht das Aroma von gehendem Hefeteig und getrockneten Kräutern herein, getragen von einem warmen Luftstrom, der nur wenig Trost spenden kann.

Schon den ganzen Tag über bin ich übellaunig.

Im Morgengrauen bin ich hochgeschreckt, in kalten Schweiß gebadet und hoffnungslos in meine Decken verwickelt, während mein Geist wieder einmal einen grauenhaften Albtraum abschütteln musste. Denselben Albtraum, der mich seit Tagen verfolgt.

Desorientiert versuchte ich noch, Einzelheiten des furchteinflößenden Traums zu greifen, während sie sich schon auflösten wie Rauch im Wind.

Ein Schlachtfeld unter gerötetem Himmel, eine böswillige, vermummte Gestalt, die sich in meine Richtung bewegt, während ich hinter einem verkohlten toten Baum kauere, die Hand um einen hellen, gewundenen Zauberstab geklammert.

Jetzt, viele Stunden später, ist von dem Albtraum nur noch ein unterschwelliges Grauen übrig – und das vage Gefühl, dass etwas Schattenhaftes nach mir sucht.

»Gibt es schon Neuigkeiten von der verpatischen Ratswahl?«, fragt Bleddyn.

Fernyllia wirft ihr einen düsteren Blick zu. »Mittlerweile sind die Gardnerier weit in der Überzahl.«

»Urvater«, hauche ich betroffen, während Iris wütend schnaubt. In ihren grünbraunen Augen flammt Empörung auf.

Und Angst.

Tröstend legt Yvan ihr eine Hand auf den Arm, und ich muss einen Stich der Eifersucht abschütteln.

»Wir wussten alle, dass es so kommen würde.« Tierneys Worte klingen bitter, ihr Mund ist zornig verzerrt. »Der Verpatische Rat ist doch schon lange ein hoffnungsloser Fall.«

Doch das ist mehr als bloß ein hoffnungsloser Fall – es ist ein absolutes Desaster.

In Verpatien leben viele verschiedene ethnische Gruppen – hauptsächlich Verpatier, Gardnerier, Elbholle und Celten. Nun, da der regierende Rat vorherrschend gardnerisch ist, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis dieser Einfluss sich im Land bemerkbar machen und es schließlich überrollen wird.

Über uns blitzt es, und alle blicken hoch. Zwischen den Deckenbalken des Lagerraums hat sich eine dichte Wolke gebildet, durch die wie feine Äderchen weiße Blitze zucken. Alarmiert schaue ich Tierney an, die meinen Blick bestürzt erwidert. Ihre immer stärker werdende Asrai-Wassermagie ist außer Kontrolle geraten – wieder einmal.

Tierney schließt fest die Augen und nimmt einen tiefen, bebenden Atemzug. Langsam beginnt die Wolke sich aufzulösen, dann verschwindet sie ganz. Sowohl Jules als auch Lucretia mustern Tierney mit tief besorgten Mienen, doch sie meidet hartnäckig ihre Blicke.

»Die Gardnerier haben überall ihre Flaggen hängen.« Wie zur Unterstreichung lässt Bleddyn ihre Hand durch die Luft fahren. Dann fixiert sie mich und verzieht angewidert ihre grünen Lippen. »Ständig wedeln sie mit den ekelhaften Fetzen herum und benehmen sich, als wären sie die Herren der Aerda.«

Angesichts Bleddyns wutentbrannter Miene schrumpfe ich innerlich zusammen und werde mir meines gardnerischen schwarzen Haars und des sanften grünen Schimmers meiner Haut allzu bewusst. Hier in der trüben Beleuchtung des Lagerraums ist er noch deutlicher zu sehen.

»Es ist bloß eine Frage von Tagen, bis Verpatien nichts weiter als ein Anhängsel Gardneriens ist.« Iris‘ Stimme klingt schrill, als sie sich flehentlich an Jules wendet. »Wir können nicht noch länger hierbleiben, Jules.«

Mitfühlend nickt er. »Wir treffen Vorbereitungen, so viele Menschen wie möglich nach Osten zu bringen, aber wir müssen noch ein paar Monate warten, bis die Wüstenstürme sich gelegt haben und der Winter zu Ende gegangen ist. Im Augenblick ist es zu gefährlich.« Jules gibt sich Mühe, sie zu beruhigen, indem er genau darlegt, wann sich voraussichtlich eine weniger riskante Fluchtmöglichkeit bieten wird. So wenig ich Iris auch leiden kann, in diesem Moment fühle ich mit ihr.

Kurz trifft Yvans Blick den meinen, doch dann sieht er rasch wieder weg, und mich durchfährt ein Stich der Zurückweisung. Er begegnet mir spürbar kühl, seit wir Naga gerettet und dabei die gardnerische Militärbasis zerstört haben. Und nach meinem peinlichen Auftritt vor wenigen Tagen, als ich ihn und Iris in der Scheune gesehen und meine Gefühle für ihn so unmissverständlich zur Schau gestellt habe, ist er sogar noch kühler geworden.

Ich hole zittrig Luft und dränge die beschämende Erinnerung zurück, während Jules beginnt, Fernyllia aufzuzählen, was er für eine Gruppe Flüchtender an Lebensmittelvorräten braucht. Reflexhaft taste ich nach dem Schneeeichen-Amulett, das Lukas Grey mir geschickt hat. Ungeachtet meiner Bemühungen, ihn auf Abstand zu halten, scheint Lukas weiterhin entschlossen zu sein, sich mit mir zu verwinden, wenn ich mir seine Geschenke und Briefe so ansehe.

Ich lasse die Fingerspitzen über den in das Holz geprägten Baum gleiten, und in meinem Hinterkopf erwacht raschelnd das wohltuende Bild eines silbrig belaubten Baums zum Leben. Immer öfter ertappe ich mich dabei, wie es mich zu dem Anhänger hinzieht, wie ich nach dem Behagen verlange, das er mir schenkt – ganz ähnlich wie bei dem Zauberstab, den Sage mir gegeben hat.

Als ich das Amulett fester umfasse, durchschauert mich eine schimmernde Energie, die mir Wynters warnende Worte beim ersten Anlegen des Schmuckstücks ins Gedächtnis ruft. Wir konnten beide die subtile Macht darin spüren, eine Macht, die etwas tief in mir wachruft, das ich noch nicht benennen kann. Diesem Anhänger wohnt die Wärme einer flackernden Flamme inne, die tief verwurzelte Kraft eines alten Baums – und eine Versuchung, der zu widerstehen mir schwerfällt.

Seufzend lasse ich das Amulett los und blicke verstohlen wieder zu Yvan hinüber. Iris hat sich so dicht neben ihn geschoben, dass ihr Kinn beinahe auf seiner Schulter liegt. Abermals steigt eine Woge der Eifersucht in mir auf, und ich kämpfe darum, das bittere Gefühl zu unterdrücken, doch meine Erschöpfung ist so groß, dass es trotzdem durchsickert. Sehnsüchtiges Verlangen verknotet sich in meinem Inneren, während Iris sich noch näher zu ihm lehnt. Im Lampenschein glänzt ihr blondes Haar wie Honig, als es über seinen Arm streicht.

Habe ich mir alles nur eingebildet, Yvan? Wie du mich in jener Nacht beinahe geküsst hättest? Warum bist du zurückgewichen?

Als ich auf der Suche nach einer Antwort Yvans schöne, kantige Züge mustere, wendet Iris den Kopf zu mir. Missbilligend verengt sie die Augen, und ich reiße mich vom Anblick der beiden los, während mein Gesicht unangenehm heiß wird. Mit Mühe ringe ich um Fassung, doch als ich wieder aufschaue, starrt Iris mich noch immer wütend an. Dann legt sie demonstrativ sanft den Kopf auf Yvans Schulter und lässt träge eine Hand um seinen Oberarm gleiten.

Abwesend sieht Yvan zu Iris hinunter, ehe er tröstend seine Hand über ihre legt. Bei ihrem triumphierenden Lächeln muss ich schwer schlucken. Meine Kehle fühlt sich rau und trocken an, und meine Laune verfinstert sich noch weiter.

»Gibt es irgendetwas Neues bezüglich der Aufnahme der Geflüchteten?«, will Tierney von Lucretia wissen, als Jules und Fernyllia zum Ende kommen.

»Wir bemühen uns«, antwortet Lucretia. »Das politische Klima ist derzeit … schwierig. Die Amaz nehmen eine begrenzte Zahl Geflüchteter auf, aber nur Frauen – und in der unausgesprochenen Übereinkunft, dass die Vu Trin diese Frauen am Ende in den Osten bringen.« Angesichts Tierneys bestürzter Miene setzt sie eilig hinzu: »Aber das macht schon viel aus. Und es ist sehr mutig von den Amaz.« Dann wird Lucretias Mund hart. »Die Lykaner, die Celten und die Verpatier sind wenig geneigt, den Zorn der Gardnerier auf sich zu ziehen.«

»Und was machen wir jetzt?«, entgegnet Tierney fordernd.

»Wir arbeiten weiter daran, Flüchtende aus einem Reich fortzuschaffen, das ihnen feindlich gesinnt ist«, gibt Jules zurück. »Aus der Schusslinie der Gardnerier und Alfsigr.« Er lehnt sich zurück, nimmt seine Brille ab und fischt ein Taschentuch heraus, um sie zu putzen. »Möglicherweise können die hier stationierten Vu Trin uns helfen. Ihre Kommandantin Kam Vin hat Anteilnahme für die Notlage der Flüchtenden durchblicken lassen.«

Diese Eröffnung erstaunt mich, denn ich weiß noch, wie schroff und einschüchternd Kommandantin Vin bei meiner Stabprüfung war.

»Allerdings ist auch Kommandantin Vin darum bemüht, eine empfindliche Balance zu wahren«, fährt Jules fort. »Auf politischer Ebene ist das Verhältnis der Noi zu den Gardneriern ein verhalten gutes. Deshalb wollen sie nicht, dass die Vu Trin – ihr eigenes Militär – unbeabsichtigt einen Krieg provozieren.«

»Also kuschen die Noi vor den Gardneriern«, stößt Tierney angewidert hervor. »Genau wie alle anderen.«

Jules wirft ihr einen ermatteten Blick zu. »Das tun sie, Tierney. Unbestreitbar. Aber es scheint, als ahnte zumindest Kommandantin Vin, was die Stunde geschlagen hat. Sie weiß, dass es nicht auf Dauer gelingen wird, die Gardnerier abzuwiegeln, deshalb haben wir in ihr eine potenzielle Verbündete. Was gut ist, denn die Lage wird mit großer Wahrscheinlichkeit noch sehr viel schlimmer, als sie es im Moment ist.«

»Sie ist schon viel schlimmer«, erklärt Tierney mit Nachdruck.

»Sie hat recht«, meldet sich Yvan zu Wort und wirft einen Blick in die Runde. »Ein paar der gardnerischen Militäraspiranten haben angefangen, Uriskinnen zu stutzen.«

Iris erbleicht, und Bleddyn stößt etwas hervor, das wie ein uriskisches Schimpfwort klingt.

»Es gab vier solcher Vorfälle in den letzten zwei Tagen«, fährt Yvan ernst fort. Besorgt sieht er zu Fernyllia und Bleddyn hinüber. »Also seid vorsichtig. Geht nirgends allein hin.«

»Was heißt ‚stutzen‘?«, platzt es verwirrt aus mir heraus.

Bleddyn bedenkt mich mit einem finsteren Blick. »Die Gardnerier schneiden uns die Ohrspitzen ab, als wären wir Tiere. Und scheren uns die Köpfe kahl. Das heißt ‚stutzen‘.«

Heiliger Urvater. Schock und Übelkeit steigen in mir auf.

»Ein gardnerischer Bauer hier in Verpatien ist von einigen uriskischen Arbeiterinnen angegriffen worden«, erklärt Yvan mir. Als er meinem Blick begegnet, wird sein Gesichtsausdruck für einen Moment weicher, als könnte er spüren, wie sehr mich das aufwühlt. »Die Gardnerier im Verpatischen Rat fordern Vergeltung, das provoziert die Bürger zur Lynchjustiz.«

»Ich habe von der Situation auf diesem Hof gehört«, sagt Fernyllia mit stahlharter Miene. »Dieser gardnerische Bauer hat seine Arbeiterinnen gnadenlos misshandelt. Hat sie regelmäßig beinahe tot geprügelt.« Sie hält inne, und ihr Gesichtsausdruck wird düster. »Und weit Niederträchtigeres.«

»Großmutter? Was ist denn?«

Alle Blicke schnellen zur kleinen Fern, die gerade hereingeschlüpft ist. In den Armen hält sie ihre Lieblingspuppe Mee’na – liebevoll genäht und bestickt von ihrer Großmutter Fernyllia. Mee’na hat rosig-weiße Haut, rosa Zöpfe und geschwungene Spitzohren, genau wie Fern.

Ich bete, dass sie kein Wort dieser grauenhaften Unterhaltung gehört hat, doch ihre verängstigt geweiteten Augen verraten mir, dass sie so einiges mitbekommen hat.

Fernyllia schnalzt mit der Zunge und geht zu ihrer Enkelin. Mit knackenden Gelenken begibt sie sich auf Ferns Augenhöhe, zieht das Kind in ihre Arme und murmelt sanft auf Uriskal auf sie ein.

Hinter Fern schlüpft schüchtern Olilly herein. Das amethystfarbene uriskische Küchenmädchen lächelt unsicher in die Runde.

»Und nun geh mit Olilly«, schließt Fernyllia ermunternd. »Bald komme ich und erzähle dir noch eine Geschichte, Shush’onin.«

Nach einer letzten Umarmung und einem Kuss von ihrer Großmutter verlässt Fern mit Olilly den Lagerraum. Leise fällt die Holztür hinter den beiden ins Schloss.

Einen Moment lang herrscht düsteres Schweigen.

»Halte Fern versteckt«, sagt Yvan schließlich zu Fernyllia, und aus seinem Blick spricht eine eindringliche Warnung. »Gut versteckt.«

Mich überrollt eine Woge des Entsetzens. Die Vorstellung, wie jemand die zarte Fern packt, ihr die rosa Zöpfe absäbelt und die Ohrspitzen abschneidet, ist so grauenhaft, dass mein Verstand sie kaum greifen kann. Noch vor wenigen Monaten hätte ich nicht geglaubt, dass auch nur die Androhung einer solchen Grausamkeit auf dieser Welt existieren könnte.

Heute weiß ich es besser. Und es macht mich krank.

»Eine letzte schreckliche Ankündigung.« Jules wendet sich Tierney und mir zu. »Das verpflichtende Verwindungsalter für Gardnerier ist auf sechzehn Jahre gesenkt worden. Sämtliche Gardnerier über sechzehn, die bis zum Ende des fünften Monats noch nicht verwunden sind, werden vom Hohen Rat der Magi zur Verwindung gezwungen.«

Ich blicke auf meine Hände hinunter. Brüchige Fingernägel, die blassgrüne Haut von Heilkräutern blau und dunkelgrün verfärbt – und Urvater sei Dank keine Verwindungslinien. Aber nicht mehr lange.

Erschauernd stelle ich mir vor, wie die schwarzen Spuren sich über meine Haut winden und mich auf ewig an jemanden binden, den ich kaum kenne. Seit einigen Wochen klingen die Briefe meiner Tante Vyvian drohend. Sie deutet an, dass sie womöglich an der teuren Behandlung meines kranken Onkels Edwin wird sparen müssen, sollte ich mich nicht bald mit Lukas Grey verwinden.

Beim Gedanken daran steigt Zorn in mir empor, gefolgt von einer wachsenden Verzweiflung. Mit wem soll ich mich verwinden, wenn nicht mit Lukas? Gut möglich, dass eine Verwindung unumgänglich ist, selbst wenn ich in Verpatien bleibe und mich weigere, nach Gardnerien zurückzukehren. Es gibt genug gardnerisches Militär hier, sodass meine Tante die neue Verwindungspflicht mühelos durchsetzen könnte.

Tierneys Gesicht ist zu einer angsterfüllten Maske erstarrt angesichts einer drohenden Verwindung – und der Eisenprüfung, die Vogel für den Beginn jeder Zeremonie angeordnet hat. Eine Prüfung, die nicht nur entlarven würde, wer Tierney in Wahrheit ist, sondern sie töten könnte.

»Wir stehen sowohl mit den Lykanern als auch mit den Vu Trin in Verhandlung, um dich und deine Familie sowie alle weiteren versteckten Fae von hier fortzubekommen«, versichert Lucretia ihr, während Jules eine Karte von Verpatien ausrollt, sie auf dem Tisch glatt streicht und sich darüber beugt, um die handschriftlichen Notizen zu begutachten.

Fluchtrouten. Für Uriskinnen, Smaragdalfar – Schlangenelben – und alle mit Fae-Blut, die gen Osten flüchten.

»Schick Rafe und die Lykaner-Zwillinge zu mir, Elloren«, bittet Jules mich, als er von der Karte aufschaut. »Wir brauchen Fährtenleser, um neue Strecken für die Flüchtenden auszukundschaften. Die meisten der nördlichen Routen hat das verpatische Militär dicht gemacht.«

Ich nicke, ermutigt durch den Beitrag, den meine Brüder und meine Freunde zum Widerstand leisten. Auch mein Bruder Trystan hat sich uns voller Elan angeschlossen und stellt jetzt heimlich Waffen für die Flüchtenden und ihre Führer her.

Jeder hier im Raum weiß über all das Bescheid.

Iris und Bleddyn allerdings haben keinen Schimmer, wer hinter der Zerstörung der nahe gelegenen gardnerischen Militärbasis und dem Diebstahl einer ungebrochenen Drachin steckt.

Und von allen Anwesenden wissen nur Tierney und Yvan von Marina, der Phoca, die sich in meiner Unterkunft versteckt hält.

»Wir werden auch deine und Tierneys Hilfe brauchen«, meldet sich Lucretia zu Wort. »Unter den Flüchtenden, die nach Verpatien hereindrängen, wütet die Rote Grippe – vor allem unter den Kindern.«

»Und statt auch nur einen Hauch Mitgefühl zu zeigen«, wirft Jules in angewidertem Tonfall ein, »nutzt der Verpatische Rat ihre Erkrankung als Vorwand, jedem zu Leibe zu rücken, der sich ohne Arbeitspapiere hier aufhält. Damit machen sie es den Flüchtenden unmöglich, Ärzte oder Apotheken aufzusuchen.«

Tierney und ich wechseln einen entschlossenen Blick, wir machen uns nichts vor über die Schwierigkeiten, vor die man uns mit dieser Aufgabe stellt. Norfure-Tinktur ist kompliziert und teuer in der Herstellung, und die Zutaten sind schwer zu beschaffen. Doch wir sind die Einzigen in unserer kleinen Widerstandszelle, die über die notwendigen Kenntnisse verfügen.

»Wir machen die Arznei«, verspricht Tierney mit rebellischer Stimme.

»Danke«, sagt Jules erleichtert, ehe er sich wieder mir zuwendet. »Und Elloren, lass Trystan wissen, dass wir jemanden gefunden haben, der ihn im Gebrauch von Kampfzaubern unterweisen kann. Sein Name ist Mavrik Glass. Er ist der Oberste Stabmeister auf der Basis der Vierten Division, ist aber zu uns übergelaufen. Bei der Ausbildung der gardnerischen Soldaten hält er sich zurück und hebt sich die besten Instruktionen für unsere Leute auf. Außerdem hat er bei einigen Zauberstäben der Magusgarde heimlich Fehler eingearbeitet.«

Mich erfasst Beklemmung. Das alles war sicher leicht zu vertuschen, solange Damion Bane das Sagen hatte, doch jetzt hat die Basis einen neuen Kommandanten. Und Lukas Grey macht niemand etwas vor.

»Sag ihm, er soll aufhören, die Ausbildung zu hintertreiben«, sage ich nachdrücklich. »Und keine fehlerhaften Zauberstäbe mehr herstellen.«

Überrascht schnellt Yvans Blick zu mir, und die anderen wirken sofort misstrauisch.

»Warum?«, will Jules wissen.

Ich sehe ihn geradeheraus an. »Weil Lukas es herausfinden wird.«

Er schüttelt den Kopf. »Damion ist ihm nie auf die Schliche gek…«

»Das mag sein«, falle ich ihm vehement ins Wort, »aber Lukas wird es.«

Abfällig verzieht Iris den Mund. Ihr Blick geht zu Jules. »Gibt sie hier jetzt die Befehle?«

Ich hebe abwehrend die Hände. »In dieser Sache müsst ihr mir vertrauen.«

»Dir vertrauen?«, zischt Iris scharf.

»Du hältst also immer noch Kontakt zu Lukas Grey?« Bleddyn durchbohrt mich mit ihrem Blick.

Unwillkürlich schlucke ich gegen den trockenen Kloß in meiner Kehle an. Unter meiner Tunika pulsiert verlockend Lukas‘ Amulett, und eine unangenehme Wärme gleitet mir am Hals hinunter. »Er ist … mir freundlich gesinnt. Was für uns von Vorteil sein könnte.«

In Yvans Blick lodert Abscheu auf, und ich könnte schwören, dass ich eine Woge der Hitze in der Luft zwischen uns spüre. Seine Lippen pressen sich zu einem harten, unversöhnlichen Strich zusammen, der mir einen körperlichen Stich versetzt.

Die Mienen von Jules und Lucretia hingegen sind auf einmal berechnend. Sie mustern mich kühl, als sähen sie mich plötzlich in einem anderen Licht.

Abrupt steht Iris auf und gestikuliert wütend in meine Richtung. »Sie sollte nicht hier sein!«, ruft sie aus. »Wir sollten überhaupt nicht mit Gardneriern zusammenarbeiten. Genauso wenig wie mit Alfsigr.«

Empört starre ich sie an, während Lucretia ihren Ausbruch ungerührt hinnimmt. Ich weiß, dass Iris auch mit unserer gardnerischen Vizekanzlerin nicht gern zusammenarbeitet, doch in dieser Hinsicht hat sie keine große Wahl. Lucretia ist eine unserer Anführerinnen.

Tierney wirft Iris einen vernichtenden Blick zu. »Ich verstehe, was dich bewegt, Iris. Wirklich. Aber mit dem, was du da forderst, würden wir meine gesamte gardnerische Familie in Gefahr bringen.«

Doch Iris ignoriert sie und wendet sich wutentbrannt mir zu. »Soll Lukas Grey uns demnächst wieder bedrohen kommen? Fern bedrohen?«

Ich erinnere mich, wie Lukas Fernyllias Enkelin terrorisiert hat, und einen Moment lang kann ich Iris nicht in die Augen sehen. Und Fernyllia. Vor allem Fernyllia nicht.

»Nein«, antworte ich beschämt mit brechender Stimme. »Natürlich nicht …«

»Und warum zieht sie sich so an wie wir?«, wendet Iris sich vorwurfsvoll an Jules.

Unbehaglich winde ich mich in meiner dunkelbraunen Tracht von zu Hause. Bei der Küchenarbeit trage ich seit einiger Zeit wieder meine eigenen schlichten Tuniken und Röcke und hebe mir Tante Vyvians raffinierte Gewänder für den Unterricht und Veranstaltungen auf.

»Iris, Elloren ist eine von uns«, sagt Jules bestimmt. »Du weißt, wie ich dazu stehe.«

Wütend funkelt Iris mich an. »Du bist keine von uns. Du wirst niemals eine von uns sein. Du ziehst bloß Aufmerksamkeit auf dich. Und das ist ein Risiko für uns.«

Yvan legt ihr eine Hand auf den Arm. »Sie steht auf unserer Seite, Iris.«

»Nein, Yvan. Da liegst du falsch.« Iris reißt sich von ihm los und durchbohrt mich mit einem Blick, als könnte sie bis auf den Grund meiner Seele schauen und die zerstörerische Macht meiner Großmutter erspähen, die dort verborgen liegt. »Ihr vergesst, wer sie ist«, beharrt Iris, und ihr düsterer Tonfall ist so unheilverkündend, dass mich ein kalter Schauer überläuft. »Ihr vergesst, aus welcher Familie sie stammt. Sie ist gefährlich.« Dann stürmt sie aus dem Lagerraum.

Bleddyn wirft mir einen feindseligen Blick zu und folgt ihr.

Hilflos schaue ich zu Yvan hinüber und stelle fest, dass er mich plötzlich mit tief besorgter Miene betrachtet, offen und voller Inbrunst. Und für einen kurzen Augenblick verblasst der Rest des Raums, als eine Andeutung dessen aufflackert, was er einmal für mich zu empfinden schien.

Dann ist der Moment vorbei und sein offener Gesichtsausdruck erlischt, die Mauer zwischen uns steht wieder unverrückbar. Mit einem letzten angespannten, gepeinigten Blick erhebt er sich und folgt Iris und Bleddyn nach draußen.

 

»Elloren, kann ich dich noch einen Moment sprechen?«, fragt Lucretia, als auch die anderen nach und nach den Lagerraum verlassen. Tierney wirft mir einen neugierigen Blick zu, dann schlägt sie vor, dass wir uns später im Labor des Apothecariums treffen. Ich nicke, und sie verabschiedet sich, ehe Lucretia leise die Tür schließt.

Die Vizekanzlerin dreht sich zu mir um und mustert mich durch ihre goldgerahmte Brille. »Ich weiß nicht, ob es dir bewusst ist, aber deine Verbindung zu Lukas Grey könnte sich für uns als wichtig erweisen«, erklärt sie.

Bei der Erwähnung seines Namens macht sich eine beunruhigende Anspannung in mir breit.

»Er tritt in der Magusgarde immer öfter als mäßigende Stimme in Erscheinung«, führt Lucretia aus. »Vielleicht ist er jemand, auf den wir Einfluss nehmen können.«

Überrascht blicke ich zu ihr auf. Diese neue Information bringt mich aus dem Gleichgewicht. Lucretia scheint meine Irritation zu bemerken und setzt rasch eine Warnung hinzu: »Er könnte ein Verbündeter sein, aber werde in seiner Gegenwart auf keinen Fall unachtsam, Elloren. Mit ihm ist nicht zu spaßen. Aber wir beobachten ihn genau, und er ist bereits mehrfach verwarnt worden, weil er sich geweigert hat, einige der strengeren von Vogels neuen religiösen Vorschriften durchzusetzen.«

»Wie kann er damit durchkommen, Vogel zu trotzen?«, frage ich.

»Macht. Vogel will Lukas Greys Macht auf seiner Seite haben. Also sieht er über seine Insubordination hinweg. Fürs Erste zumindest.«

Plötzlich werde ich argwöhnisch. Auf was für ein Anliegen arbeitet sie eigentlich gerade hin? Unbehaglich ziehe ich mich ein Stück von ihr zurück und mustere sie mit wachsam verengten Augen.

»Du hast unmissverständlich klargemacht, dass du dich nicht mit ihm verwinden willst«, sagt Lucretia bedeutungsschwanger. »Aber … vielleicht muss er das im Augenblick nicht wissen. Verstehst du, was ich meine?«

Ich denke darüber nach und deute ein Nicken an.

»Wenn Verpatien an die Gardnerier fällt«, fährt sie fort, »wird er für die Grenzen hier zuständig sein. Du musst für uns herausfinden, wem seine Treue gilt … und ob man ihn dazu bewegen könnte, mit den Gardneriern zu brechen.«

Erstaunt weite ich die Augen. »Glaubst du wirklich, das liegt im Bereich des Möglichen?«

»Ja«, antwortet sie mit einem verschwörerischen Glitzern in den Augen.

Mir kommt ein beunruhigender Gedanke, den ich nur zögerlich preisgebe. »Ich habe Lukas gegenüber einen merkwürdigen Zwang zur Ehrlichkeit«, gestehe ich schließlich. »Ich kann nicht erklären, woher das kommt, aber manchmal ist dieses Gefühl … überwältigend. Das solltet ihr wissen.«

Damit setzt sie sich einen Moment auseinander. »Ihr müsst beide eine starke Erde in euren Affinitätslinien haben«, überlegt sie.

»Ich habe gar nichts Starkes in meinen Affinitätslinien«, entgegne ich verbittert. »Ich bin eine Magia der Stufe Eins.«

Doch sie schüttelt den Kopf. »Bloß weil du keinen Zugriff auf deine Macht hast, bedeutet das nicht, dass deine Affinitätslinien schwach sind. Deine Stabstufe ist nur ein Maß deiner Fähigkeit, deine Magie einzusetzen. Daran ändert sich nie etwas. Aber das Ausmaß der Macht in deinen Affinitätslinien – das kann sich mit der Zeit steigern.«

Schon oft habe ich mich gefragt, wo meine magischen Affinitäten liegen mögen – die Arten von Elementarmagie, die alle Gardnerier wie Adern durchziehen und sich mit unserem Erwachsenwerden zu regen beginnen. Jede Magia und jeder Magus verfügt über ein ganz eigenes Verhältnis von Erd-, Wasser-, Luft-, Feuer- und Lichtadern – Adern, für die ich ein vages Gespür entwickle, seit ich das Schneeeichen-Amulett trage. Auch jetzt umfasse ich es und spüre Erregung aufwallen.

»Kannst du deine Affinitätslinien fühlen?«, frage ich zaghaft. Ich weiß, dass Lucretia eine Wassermagia der Stufe Vier ist, auch wenn sie als Frau keine Silberstreifen auf der gardnerischen Seidentracht trägt.

»Ständig«, antwortet sie. »Manchmal ist es wie ein Ozean der Macht, der in mir wogt. Manchmal fühlt es sich an wie kleine Wasserläufe, die über die Adern rinnen. Für meine anderen Affinitäten habe ich allerdings so gut wie kein Gespür.« Fragend schiebt sie die Augenbrauen zusammen. »Zieht es dich sehr zur Erde hin?«

Ich nicke. »Ich dürste nach dem Gefühl von Holz. Und … wenn ich es berühre, weiß ich, wie der Ursprungsbaum ausgesehen hat.«

Ich erinnere mich an das Bild des dunklen Baums, das mich durchschauert hat, als ich Lukas geküsst habe. »Wenn ich mit Lukas zusammen bin, kann ich spüren, dass er auch eine starke Erdader hat«, gebe ich zu. »Und … sie scheint meine anzuregen.«

»Was weißt du über unsere wahren Wurzeln als Gardnerierinnen?«, fragt Lucretia mich vorsichtig.

»Jules hat mir erzählt, dass Gardnerier gemischter Herkunft sind«, antworte ich unverfroren. »Wir sind ganz und gar keine ‚Reinblüter‘, ganz gleich, was unsere Priester uns weismachen wollen. In Wahrheit sind wir zum Teil Dryaden und zum Teil Celten.«

Zustimmend nickt sie, und angesichts meiner enthusiastischen Blasphemie zuckt ihr Mundwinkel. »Wie auch die Greys entstammt deine Familie einer besonders starken Dryadenlinie. Eine starke Erdaffinität ist ein eindeutiges Zeichen dafür. Und mächtige Dryaden können einander nicht belügen.«

»Tja, das stellt uns vor ein ernsthaftes Problem, meinst du nicht?«

Lucretia wird nachdenklich. »Vielleicht kannst du dich auf das konzentrieren, was du an Lukas Grey anziehend findest. Das könnte zum einen diesen Zwang zur Ehrlichkeit abmildern und ihn zum anderen noch mehr zu dir hinziehen.«

Die unausgesprochene Andeutung ist unmissverständlich, und ich erröte bei der Erinnerung an Lukas‘ verführerische Küsse, an die berauschende Anziehungskraft seiner Magie, die mich dabei durchströmt. Augenblicklich erfüllt mich Scham. Wie könnte ich Lukas verführen, während ich so starke Gefühle für Yvan hege?

Aber Yvan kannst du nicht haben, rufe ich mir schroff in Erinnerung. Der Anblick, wie er Iris umarmt hat, steht mir noch schmerzhaft klar vor Augen. Also halt dich an Lukas, suche seine Nähe. Zum Schutze aller.

»Also gut«, sage ich zu Lucretia und nestle an dem Schneeeichen-Amulett herum. Sofort pulsiert eine fein verästelte Woge der Hitze durch mein Inneres. »Ich halte die Verbindung zu Lukas Grey aufrecht.«

2. Kapitel

Wieder vereint

Die dünne Schneedecke wirft den Sonnenschein mit einer so gleißenden Helligkeit zurück, dass es mir in den Augen schmerzt.

Im Getümmel von Verpax blicke ich die Straße hinunter, vorbei am lärmenden Pferde- und Fußgängerverkehr, über den Getreidespeicher der Mühle hinweg und noch weiter. Mein Atem steigt als weißer Dunst in die Luft, und der lange Gebirgszug des schneebedeckten Südlichen Grats zerteilt die Wolken wie eine schartige Klinge.

Ein Gefühl fatalistischer Resignation schlägt über mir zusammen. Die politische Lage ist so trostlos, doch inmitten dessen erhebt sich weiterhin der herzzerreißend schöne Grat. Er ist so majestätisch, dass es beinahe wehtut, ihn anzusehen.

Ich stelle meine schwere Kiste voller Apotheken-Ampullen in den knirschenden Schnee und lehne mich an einen Baum, um die Kette strahlender Gipfel zu betrachten. Der feste Baum in meinem Rücken spendet mir Ruhe, tief einatmend lege ich eine Hand auf die raue, knotige Rinde. Ein Bild der Noilaan-Ulme im glanzblättrigen Sommergewand durchsetzt meine Gedanken. Mit der anderen Hand greife ich unbewusst nach dem Schneeeichen-Amulett.

Überrascht weite ich die Augen, als ein berauschender Schwall von Energie sich durch mein Inneres windet und bis in meine Zehen verzweigt. Hochkonzentriert hole ich noch einmal tief Luft und spüre ein Geflecht von sprießenden Erdadern in mir. Doch es gesellt sich eine neue Empfindung dazu – eine köstliche, prickelnde Hitze, die sich um diese Adern windet.

Feuer.

In dem Baum in meinem Rücken regt sich etwas, wie ein leises Kräuseln auf einem See, und aufglimmende Angst in dem Gewächs erfüllt mich mit einem plötzlichen Unbehagen. Ich löse mich von dem Stamm und drehe mich um, mustere den Baum argwöhnisch. Das Amulett lasse ich los.

Was war das?

Ein paar Männer rufen sich freundschaftlich etwas zu, und der Klang ihrer Stimmen zieht meine Aufmerksamkeit zurück auf die Straße. Zwei blonde verpatische Müllerlehrlinge hieven Säcke voller Getreide auf einen breiten Wagen, ihr Atem steht in Schwaden in der Luft. Beide tragen weiße Vogel-Armbinden, und ich runzle die Stirn. Seit die Gardnerier den Verpatischen Rat unter ihre Kontrolle gebracht haben, tragen auch immer mehr Nicht-Gardnerier offen ihre Unterstützung für Vogel zur Schau, um die zunehmend repressive gardnerische Mehrheit zu beschwichtigen. Niemand will zur Zielscheibe werden.

Ein Stück weiter unterhält sich gut gelaunt eine größere Gruppe gardnerischer Soldaten, sie tragen ebenfalls alle Armbinden. Wie die Tuniken der Soldaten ist auch der Wagen, der gerade beladen wird, pechschwarz und mit dem Zeichen der silbernen Aerdkugel versehen. Ein rascher Blick auf die Geschäfte an der Straße zeigt mir, dass nun an sämtlichen Ladenfronten die gardnerische Flagge hängt, ob die Inhaber Gardnerier sind oder nicht.

Mit düster werdender Miene beobachte ich die Soldaten. Marcus Vogels umfassende Restrukturierung unserer Magusgarde ist mittlerweile abgeschlossen, und die Soldaten der Vierten Division sind in großer Zahl zurückgekehrt, um unter Lukas Greys Kommando ihre in der Nähe gelegene Basis wiederaufzubauen. In der Folge sind auch auf den Straßen von Verpax deutlich mehr Soldaten zu sehen, denn die Stadt ist der nächstgelegene Handelsknotenpunkt.

Auf mich wirken die gardnerischen Soldaten wie Invasoren, wie sie die Straßen säumen in ihren schnittigen, sauber gebügelten Uniformen, mit glänzenden Schwertern, die teuren Zauberstäbe weithin sichtbar am Gürtel. Und überall um sie herum flattern die bedrückenden Fahndungsmeldungen im eisigen Winterwind, eine ständige Mahnung, dass meine Freunde und ich noch immer gesucht werden für den Schlag, den wir den gardnerischen Streitkräften versetzt haben.

Finster starre ich die Soldaten an und kaue nervös auf meiner Unterlippe.

Ich erinnere mich an die Geschichten, die Yvan mir erzählt hat. Wie die gardnerischen Soldaten im Reichskrieg ihre Drachen auf die Celten gehetzt haben. Wie sie ganze Dörfer ausgelöscht und bis auf die Grundmauern niedergebrannt haben. Und während ich die jungen Männer mit ihrem schwarzen Haar und den kantigen Gesichtern betrachte, ihre selbstgefälligen Mienen sehe, zweifle ich keine Sekunde daran, dass sie alles tun werden, was man ihnen befiehlt.

Ohne es in irgendeiner Weise zu hinterfragen.

Mein düsterer Tagtraum wird abrupt durchbrochen, als ich unerwartet warme Lippen über meinen Hals streifen spüre. Schockiert springe ich zur Seite und fahre herum, mit rasendem Herzen und voller Empörung.

Ich atme scharf ein, als ich erkenne, wer da hinter mir steht.

Lukas Grey.

In all seiner schwarzhaarigen, grünäugigen Kommandantenpracht.

Meine Erinnerungen werden ihm nie gerecht.

Lächelnd steht er da, verboten gut aussehend, das eine Ende seines dunklen Umhangs verwegen über die Schulter geworfen. Seine Uniform zieren die fünf Silberstreifen eines Magus der Stufe Fünf und die breite Blende eines Divisionskommandanten. Sein Zauberstab liegt locker in der Scheide an seinem Gürtel, und auf seiner Brust prangt das Drachenabzeichen der Vierten Division.

»Schleich dich nicht so an«, keuche ich, aus der Bahn geworfen von Lukas‘ unvermittelter Präsenz und der Art, wie er mich anlächelt.

Lukas lacht, lehnt sich gegen den Baum und lässt einen anzüglichen Blick über meinen Leib gleiten. Ich blicke selbst an mir hinunter und bin mir meiner celtisch anmutenden Arbeitskleidung plötzlich unangenehm bewusst.

»Interessante Aufmachung«, kommentiert er grinsend. »Wird allerdings nicht funktionieren.« Er beugt sich zu mir vor. »Du siehst immer noch aus wie deine Großmutter.«

Beinahe magnetisch meldet sich mein Zwang zur Ehrlichkeit ihm gegenüber, und verbittert entschlüpft es mir: »Das ist nicht der Grund, warum ich mich so anziehe. Ich fühle mich nicht wohl damit, Kleider aus den Händen uriskischer Sklavinnen zu tragen.«

»Es besteht durchaus die Möglichkeit, sich seine Kleider von verpatischen Schneiderinnen anfertigen zu lassen«, entgegnet er gelassen, in seinen Augen das vertraute, nie ganz erlöschende raubtierhafte Leuchten. »Ansehnliche Kleider.«

Mein verräterisches Herz reagiert mit einem schnelleren Rhythmus auf seinen charmanten Tonfall, auf seine Nähe. Ich wende den Blick ab, versuche verzweifelt, mir in seiner Gegenwart wenigstens annähernd klare Gedanken zu bewahren.

Du weißt nicht, auf wessen Seite er steht, Elloren. Sei vorsichtig.

Lukas hebt die Hand und schiebt einen Finger unter die Kette meines Schneeeichen-Amuletts. Ich schlucke nervös, als er es behutsam unter meiner Tunika hervorzieht.

»Du trägst es«, raunt er mit erfreutem Gesichtsausdruck und lässt die Finger über die Kettenglieder gleiten. Unter seiner Berührung erwacht eine prickelnde Wärme in mir. Reflexartig hebe ich die Hand, um das Amulett zu umfassen, und die gestaltlose Hitze vereinigt sich zu schlanken Linien aus Feuer tief in meinem Inneren.

Meine Augen werden groß. »Was genau ist das für ein Amulett, Lukas?« Die feurige Empfindung schimmert in mir wie ein kribbelnder Rausch. »Wenn ich es berühre … scheint es irgendetwas in mir zu erwecken. Dinge, die ich nie zuvor gespürt habe.«

»Das Holz der Schneeeiche verstärkt Magie«, sagt Lukas mit einem trägen, lässigen Lächeln. »Darum habe ich dir das Amulett geschenkt. Es erweckt Affinitätslinien zum Leben.«

Eine plötzliche Woge der Hitze lässt mich erschauernd nach Luft schnappen, und Lukas‘ Lächeln wird breiter. »Deine Affinitäten erwachen, Elloren. Was spürst du?«

Ich schlucke und wende den Blick nach innen, umfasse das Amulett fester. »Spuren von Erde … wie kleine Äste, die sich verzweigen. Überall in mir. Das fühle ich schon seit einigen Tagen. Und heute dann, eben gerade … etwas, das sich nach Feuer anfühlt.«

Sanft nimmt Lukas meine Stabhand und drückt seine Handfläche gegen meine. Die verästelten Adern in mir lodern auf wie eine Fackel.

»Und jetzt?«, fragt Lukas.

»Jetzt ist es mehr«, hauche ich erstaunt. »Mehr Feuer.«

Lukas lächelt. »Fühlt sich das gut an?«

Unwillkürlich nicke ich, während seine geschmeidige Wärme sich um meine Linien schmiegt. »Du bist wie das Amulett«, begreife ich verblüfft.

»So ist es«, antwortet er mit verlockend dunklem Blick. »Ich glaube, diese Wirkung haben wir gegenseitig aufeinander.«

Mit hämmerndem Herzen ziehe ich meine Hand von seiner zurück und lasse das Amulett los. Es fällt mir schwer, meine Balance zurückzugewinnen. »Also … muss ich starke Erd- und Feueradern haben.«

»Ja, definitiv. Mit der Zeit spürst du vielleicht noch weitere Adern.«

Neugierig blicke ich zu ihm auf. »Welche hast du?«

Seine Lippen verziehen sich zu einem anzüglichen Lächeln. »Ich glaube, das weißt du.«

Eine warme Röte steigt mir in die Wangen. Ja, das weiß ich. Von unseren Küssen. »Fast ausschließlich Erde und Feuer.«

Lukas nickt.

»Wie ich.«

»Ja. Genau wie du.«

Meine Gedanken wirbeln durcheinander, als mir klar wird, warum er mir ein solches Rätsel und zugleich so vollkommen vertraut ist.

Unsere Affinitätslinien liegen in perfekter Übereinstimmung – das Verhältnis unserer Elementaradern ist exakt dasselbe.

Plötzlich ist die Möglichkeit, er könnte nicht hinter Vogel stehen, fast ebenso verunsichernd wie die gegenteilige.

Abermals reißen mich Männerstimmen aus meinen turbulenten Gedanken und ziehen meinen Blick zur gegenüberliegenden Straßenseite. Das Fuhrwerk der Soldaten rollt an und eröffnet die Sicht auf eine beschmierte Wand zwischen zwei Ladenfenstern. Ich zucke innerlich zurück vor dem, was ich da sehen muss, und das Elend der Welt bricht wieder über mich herein. In fetten schwarzen Lettern steht ein Satz aus unserer Heiligen Schrift an die Wand geschrieben.

 

Es werde das Jüngste Gericht.

 

Die Schmiererei erfüllt mich mit Scham. Seit einigen Tagen tauchen immer mehr dieser abscheulichen Parolen an den Häuserwänden auf.

»Macht dir das alles gar nichts aus?«, frage ich Lukas, ohne darüber nachzudenken, und gestikuliere dabei wütend und beunruhigt zu dem Spruch hin.

Mit verengten Augen betrachtet Lukas den Schriftzug, dann wendet er sich mit ernster Miene wieder mir zu. »Doch, das tut es«, entgegnet er, wie um mein Bild von ihm zu erschüttern. »Ich halte nichts von dem religiösen Wahn, der unser Volk in seinem Klammergriff zu halten scheint, falls du das fragen wolltest, Elloren.«

»Das ist gut, Lukas«, antworte ich und begegne seinem Blick geradeheraus. »Ich glaube nicht, dass ich dich ertragen könnte, wäre es anders.«

Plötzlich wird mir etwas klar: Wenn er mich genauso wenig belügen kann wie ich ihn, dann gibt es einen simplen Weg zu erfahren, wo er steht.

»Was hältst du von Vogel?«, frage ich herausfordernd.

In Lukas‘ Augen tritt ein wachsamer Ausdruck. »Elloren, ich bin in der Armee. Ratsmitglieder und Großmagi kommen und gehen. Wir wählen nicht die Regierung, wir verteidigen das Magusreich.«

Einen aufgeladenen Moment lang starren wir einander an, bis die Luft zwischen uns zu knistern scheint.

Eine klare Pattsituation.

Missmutig begreife ich, dass wir einander zwar nicht belügen können, doch unsere Geheimnisse können wir trotzdem für uns behalten.

Lukas hebt eine Augenbraue, als könnte er meinen Verdruss spüren, und mustert mich eingehend. »Hast du einen schlechten Tag?«

Ich werfe ihm einen frustrierten Blick zu, und seine Mundwinkel umspielt ein Hauch von Belustigung. »Ich könnte ihn besser machen.« Sein subtiles Schmunzeln wird zu einem betörenden Lächeln.

Heiliger Urvater.

Nein, nein, nein, warne ich mich. Der Mann bedeutet Ärger. Lass dich nicht so von ihm um den Finger wickeln.

Demonstrativ runzle ich die Stirn und lasse den Blick zu der neuen Kommandantenblende an seiner Uniform huschen. »Wie lässt sich der Feldzug zum Erreichen der Weltherrschaft bislang so an?«

Lukas lacht auf und blickt zur dicht bevölkerten Straße. »Einen kleinen Vorteil hat der Widerstand sich verschafft, wie es scheint. Unsere Streitkräfte haben ihn nicht nur die halbe Basis der Vierten Division zerstören, sondern zudem noch einen ungebrochenen Militärdrachen entwischen lassen. Offenbar hat es niemand für nötig gehalten, Wachen aufzustellen.« Mit einem raubtierhaften Funkeln in den Augen lächelt er mich an. »Aber das spielt keine Rolle. Wir können so desorganisiert und schludrig sein, wie wir wollen, am Ende werden wir trotzdem siegen. Und die Jagd nach einem verschwundenen Drachen dürfte doch ein amüsanter Zeitvertreib sein, meinst du nicht?«

Unter seinem schlauen, wissenden Blick überläuft mich ein Schauer des Unbehagens. »Also ist das alles für dich bloß ein Spiel?«

Lukas verengt die Augen. »Du bist ganz schön zynisch geworden, was?«

»Bin ich. Und deine verdrehte Sicht auf die Welt bringt mich zur Weißglut.«

In einer einzigen geschickten Bewegung zieht Lukas mich in seine Arme.

»Hast du mich vermisst?« Warm streicht sein Atem über meine Wange. »Ich dich jedenfalls sehr.«

Sein Geruch … wie ein tiefer Wald. Und ich habe ein neu erwachtes Gespür für die Macht, die dicht unter seiner Haut pulsiert. Meine Affinitätslinien regen sich. Ihm nah zu sein, fühlt sich verlockend gut an, wie wenn ich Holz berühre.

»Was?« Lukas‘ Lippen streifen mein Ohr. »Kein Kuss für den heimkehrenden Krieger?«

Meine Erdadern recken sich nach seinen, heiß pulsierend. »Du bist eine Aerdplage«, will ich abwiegeln und versuche mich gegen den Sog unserer übereinstimmenden Affinitätslinien zu stemmen, doch der Satz endet in einem Keuchen, als Lukas seinen Mund an meinem Hals hinabgleiten lässt. Seine Hände fahren unter meinen Mantel und umfassen meine Taille.

»Wer hat denn so eine kleine Aufrührerin aus dir gemacht?« Seidig dringt seine Stimme an mein Ohr, und ich spüre seine Lippen auf meiner Haut.

»Warum umwirbst du mich, Lukas?«, entgegne ich schwach, um der Frage auszuweichen, während es mich erbeben lässt, wie seine Magie nach der meinen greift.

Er lacht an meinem Hals. »Weil du schön bist. Und mich unwiderstehlich anziehst. Wie deine Affinitäten sich mit meinen decken … das ist mehr als nur verlockend.«

Seine Pianistenfinger schieben sich in mein Haar und seine Wärme gleitet geradewegs in mich hinein, entflammt meine erwachenden Feueradern. Ich weiß, ich sollte über alledem stehen, sollte mich nicht so leicht in seinen Bann ziehen lassen. Doch aus meinem Hinterkopf meldet sich eine dunkle Erinnerung, die Öl ins Feuer der Versuchung gießt und mich geradezu einlädt, wagemutig zu sein.

Du musst deine Verbindung zu Lukas aufrechterhalten. Zur Sicherheit aller. Und um ihn auf unsere Seite zu ziehen.

Also lasse ich meine Lippen weich werden, als Lukas sich vorbeugt, um mich zu küssen. Wie Zucker schmelze ich seiner Hitze entgegen. Ich schließe die Augen und lasse mich in seinen verführerischen Kuss fallen. Seine dunklen Verästelungen streicheln meine, glatte Blätter entfalten sich zart.

Er unterbricht den Kuss und streicht neckend mit den Lippen bis dicht an mein Ohr. »Du hast versprochen, dass du Ende dieser Woche mit mir zum Julball gehst.«

»Also gut«, lenke ich viel zu bereitwillig ein. Ich recke mich nach ihm, folge meinem törichten Begehren nach mehr, will das geschmeidige Sprießen dieses Baums spüren. Und sein Feuer.

Lukas jedoch lässt mich los und weicht mit selbstgefälliger Miene zurück. »Ich hole dich zur sechsten Stunde ab.«

Panik steigt in mir auf und zerreißt den Nebel der Sinnlichkeit. Marina. Lukas darf auf keinen Fall auch nur in die Nähe des Nordturms kommen, solange sie dort versteckt ist.

»Nein, hol mich nicht ab …« Ich suche nach einer plausiblen Begründung, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken. Es hat keinen Zweck. So sehr ich es auch versuche, zu meinem großen Frust ist es mir unmöglich, ihn zu belügen.

Lukas hebt eine Augenbraue und grinst. »Also gut, dann treffen wir uns auf dem Ball. Halt Ausschau nach mir.«

Nun ziehe ich eine Augenbraue hoch. »Du bist ziemlich schwer zu übersehen.«

Er lacht. »Ebenso wie du, Elloren. Ebenso wie du.«

»Vielleicht trage ich ja diese Tunika«, warne ich ihn in plötzlich aufloderndem Trotz.

Lukas lässt seinen Blick an mir hinabwandern. »Mir ist absolut gleichgültig, was du trägst«, entgegnet er anzüglich. Dann dreht er sich um und schreitet davon.

Heiliger Urvater im Himmel.

Wie im Namen von allem, was heilig ist, soll ich in seiner Gegenwart einen kühlen Kopf bewahren?

3. Kapitel

Eisenblüten

»Elloren. Du hast doch nicht vor, zum Julball zu gehen, oder?«

Beiläufig ruft Aspirantenvorsteherin Gesine Bane die Frage vom vorderen Ende des Labors herüber, doch ich höre die unterschwellige Drohung darin.

»Eigentlich nicht«, antworte ich ausweichend und in leisem Bedauern von meinem Platz in der letzten Reihe aus. Ich weiß, dass alles, was ich hier sage, mit großer Wahrscheinlichkeit an Gesines Cousine Fallon Bane weitergegeben wird, und die würde fuchsteufelswild werden beim Gedanken, ich könnte irgendetwas mit Lukas unternehmen.

»Hmmm«, sagt Gesine jetzt und blickt von dem Stapel Versuchsprotokolle auf, die sie gerade korrigiert. Gespielt mitleidig schürzt sie die Lippen. »Sieht so aus, als hätte Lukas Grey das Interesse an dir verloren. Wie schade.« In ihre Augen tritt ein böswilliges Glitzern. »Wie ich höre, hat er dich nicht ein einziges Mal besucht.«

»Ja«, erzähle ich ihr, während dunkle Belustigung in mir aufflackert. »Sein Fehlen ist mir schmerzhaft bewusst.«

Die Vorstellung, wie Gesine Bane mich mit Lukas Grey auf dem Julball eintreffen sieht, fegt auch den letzten Rest Unschlüssigkeit über mein Erscheinen dort beiseite. Doch mein kleiner Funken Triumph erlischt rasch, als mein Blick auf die riesige gardnerische Flagge fällt, die hinter Gesines Schreibtisch hängt.

Weitere Flaggen sind an die Tuniken und Taschen meiner gardnerischen Kommilitoninnen geheftet, und alle hier tragen eine weiße Vogel-Armbinde. Ebenso wie Tierney wünschte ich, ich könnte mir die eigene widerwärtige Binde abreißen, mit Pyyrchlorsäure übergießen und mit dem Schlagfeuerzeug in einen wirbelnden blauen Feuerball aufgehen lassen.

Als wären die Vogel-Armbinden nicht schlimm genug, ist jede freie Wandfläche an der Universität mit Plakaten für den Julball zugepflastert, die reich mit Eisenblüten verziert sind. Dieses Jahr findet der Ball an unserem heiligen Eisenblütenfest statt und wird offen als Gelegenheit beworben, in glühendem Patriotismus zu schwelgen und sich an der überwältigenden Vormachtstellung zu weiden, die wir nun in den Reichen des Westens innehaben.

Die ganze Veranstaltung erfüllt mich mit Abscheu.

Irritiert richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf unseren heutigen Versuch – die Destillation von Eisenblütenessenz. Das Konzentrat hat eine unglaubliche Fülle von Anwendungsmöglichkeiten, aber Tierney und ich können die Arbeit mit Eisenblüten nicht ausstehen. Sie sind anspruchsvoll und kompliziert in der Handhabung, und ohne Stabmagie ist es beinahe unmöglich, ihren Extrakt zu destillieren.

Was bedeutet, dass Tierney und ich um Stunden länger mit diesem Versuch werden ringen müssen als der Rest unserer selbstgefälligen Kommilitoninnen.

Als ich mich im Labor umsehe, muss ich erkennen, dass die Auffangkolben der anderen bereits mit einer dunkel azurnen Flüssigkeit gefüllt sind, und Gesine macht bereits die Runde, um zu sehen, wie alle vorankommen. An jedem Labortisch richtet sie den Zauberstab auf das Versuchsprodukt, woraufhin das Destillat sich kurz pflaumenblau verfärbt, wenn der Versuch korrekt durchgeführt wurde.

»Wir müssen uns beeilen«, stößt Tierney angespannt hervor und mustert die blassblaue Flüssigkeit in unserem Rundkolben. »Sie wird gleich hier sein.«

Meine Frustration steht der ihren in nichts nach. Wenn wir Fallons abscheulicher Cousine nichts Besseres vorweisen können, wird sie das zum Anlass nehmen, uns Vertiefungsaufgaben aufzudrücken, die uns zusätzlich zurückwerfen und unsere Chancen auf ein Bestehen des Kurses noch weiter schmälern würden.

Eines Kurses, auf den ich angewiesen bin.

»Die stoßen die Reaktion im Destillat mit Magie an«, flüstert Tierney barsch.

»Ich weiß«, antworte ich ebenso unzufrieden. »Feuer- und Wassermagie …«

»Augenblick.« Tierneys Augen weiten sich, als hätte sie eine Idee. Ihr Blick huscht zu meinem Schneeeichen-Amulett. Verstohlen späht sie zu Gesine hinüber, die nur noch wenige Tische entfernt ist. »Leg eine Hand an den Auffangkolben«, wispert sie, »und die andere auf den Anhänger. Wenn der wirklich Magie in deine Linien lockt, wie du gesagt hast, kann ich vielleicht mit meiner Wassermagie deine Affinitäten anzapfen.«

Ich zögere. Es ist eine kühne Idee, birgt aber das Risiko, ihre Fähigkeiten zu entlarven. »Bist du dir sicher, Tierney?«

Sie runzelt die Stirn, als wäre sie verärgert, dass ich an ihr zweifle. »Ich kann meine Macht beherrschen.«

Widerstrebend gebe ich nach und strecke eine Hand nach dem Rundkolben aus, während ich mit der anderen mein Amulett umfasse und mich unauffällig vergewissere, dass Gesine nicht herschaut.

Tierney legt ihre schlanken Hände über meine. »Und jetzt konzentriere dich auf deine Affinitätslinien.«

Ich hole tief Luft und schließe die Finger fester um den Schneeeichen-Anhänger. Schon fließt die kühle Empfindung von Tierneys rauschendem Wasser durch meine Hand. Meine verästelten Erdadern reagieren und erwachen erschauernd zum Leben, gleich darauf spüre ich den Funkenschlag meiner Feueradern. Immer machtvoller fließt Tierneys Wasser durch meine Stabhand, bis ich plötzlich einen scharfen Zug an meinen Linien wahrnehme. Das Geäst in meinem Inneren verflicht sich und reckt sich nach dem Kolben, dicht gefolgt von einer kräftigen Woge meines Feuers.

Im Zentrum des Kolbens flammt blaues Feuer auf, die Flüssigkeit kocht rapide hoch, und Dampf schießt aus dem Kolbenhals. Sofort reißen wir die Hände von dem jetzt kochend heißen Auffangkolben los, und ich sehe, dass unser Destillat nicht länger blassblau ist.

Es erstrahlt in einem tiefen, von innen heraus leuchtenden Saphirton.

Schockiert sehen Tierney und ich einander an, als plötzlich Gesine Bane vor uns steht.

»Was habt ihr zwei diesmal zustande gebracht?«, fragt sie abfällig. Gesine streckt die Hand aus, murmelt eine Beschwörung und tippt mit dem Zauberstab an unseren Auffangkolben.

Das Destillat behält stur seine Farbe bei.

Stirnrunzelnd tippt Gesine erneut mit ihrem Zauberstab an das Glas und raunt eine andere Formel. Diesmal leuchtet kurz eine strahlend violette Aura um das Destillat herum auf, doch die Flüssigkeit selbst verändert sich noch immer keinen Deut.

Sprachlos starren Tierney und ich auf den Rundkolben.

»Meine Magie prallt daran ab«, stellt Gesine vorwurfsvoll fest. Auf ihrer Stirn erscheint eine Falte der Verärgerung. Sie wirft uns einen wütenden Blick zu, als hätten wir uns dazu verschworen, ihr Ärger zu machen, doch dann wird ihre Miene berechnend. »Gratuliere«, erklärt sie spitz. »Diesen Versuch habt ihr so spektakulär vermasselt wie noch niemand zuvor. Führt bitte bis Ende nächster Woche sämtliche Vertiefungsversuche in diesem Abschnitt durch.«

Damit macht sie auf dem Absatz kehrt und marschiert davon.

»Was haben wir gemacht?«, frage ich Tierney. Unsere Eisenblütenessenz taucht uns beide in einen intensiven blauen Lichtschein.

»Ich weiß es nicht«, antwortet sie mit einem erstaunten Kopfschütteln. Mit großen Augen wendet sie sich mir zu. »Aber ich konnte deine Magie spüren, Elloren«, flüstert sie. »Es war beinahe, als könnte ich sie anfassen. Du hast Feuer. Viel Feuer.«

Ich werfe ihr einen warnenden Blick zu, und gemeinsam machen wir uns daran, den Versuch von vorn zu beginnen.

Tierney bringt gerade den Destillationssumpf zum Kochen, als unsere Kommilitoninnen nach und nach das Labor verlassen. Die gertenschlanke Ekaterina Salls und ihre Versuchspartnerin trödeln noch, spähen zu Tierney herüber und flüstern verschwörerisch miteinander. Die jungen Frauen verbindet eine langjährige Abneigung gegen Tierney.

»Ich hab gehört, Leander kommt mit seiner neuen Anverwundenen zum Ball«, trumpft Ekaterina mit einem bösartigen Glitzern in den Augen auf.