Black Witch - Rebellion - Laurie Forest - E-Book
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Black Witch - Rebellion E-Book

Laurie Forest

5,0

Beschreibung

Ihr weltveränderndes Geheimnis kann nicht mehr lange verborgen bleiben. Elloren Gardner verbirgt das mächtigste Geheimnis in ganz Aerda - sie ist die Schwarze Hexe der Prophezeiung und dazu bestimmt, zu triumphieren ... oder als ultimative Waffe der Zerstörung eingesetzt zu werden. Getrennt von allen, die sie liebt, isoliert und gejagt, muss Elloren sich an die letzte Person wenden, der sie vertrauen kann - Kommandant Lukas Grey. Da die Magiakräfte von Gardnerien kurz davorstehen, die Reiche des Westens zu erobern, hat Elloren keine andere Wahl, als sich mit Lukas zu verbünden und ihre Kräfte zu vereinen, um sich selbst vor den Fängen des gardnerischen Anführers Marcus Vogel zu schützen ... dem Besitzer des alles verzehrenden Schattenstabs. Mit nur wenigen Wochen Zeit, um sich zur Kriegerin ausbilden zu lassen, und ohne Kontrolle über ihre Magie, findet Elloren unerwartete Verbündete unter denen, die den Befehl haben, sie zu töten. Es ist an der Zeit, aufzustehen. Zurückzuschlagen. Und sich trotz des bisher verheerendsten Verlusts voranzukämpfen. Band 3 der New York Times und USA Today Bestsellerreihe

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Mabero

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Auch im dritteln Teil geht die Geschichte um Elloren und ihre Freunde fesseln weiter. Man bekommt Einblicke in viele verschiedene Charaktere und Elloren beginnt ihren Weg als schwarze Hexe zu bestreiten. Es gibt auch unvorhergesehene Ereignisse die einen aufwühlen. Alles in allem muss man sagen weiterlesen lohnt sich.
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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem TitelTHE BLACK WITCH 3 / THE SHADOW WAND by Laurie Forestbei Inkyard Press

1. Auflage: 2024Copyright © 2020 by Laurie ForestVeröffentlicht in Absprache mit Laurie Forest.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by foliant Verlag, Hegelstr.12, 74199 UntergruppenbachAlle Rechte vorbehalten, einschließlich des Rechts auf Vervielfältigung im Ganzen oder in Teilen jeglicher Form. Diese Ausgabe wird in Absprache mit Harlequin Enterprises ULC veröffentlicht.

Dies ist ein Werk der Fiktion. Namen, Personen, Orte und Begebenheiten sind entweder der Phantasie der Autorin entsprungen oder werden fiktiv verwendet, und jede Ähnlichkeit mit realen lebenden oder toten Personen, Geschäftseinrichtungen Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.

Umschlaggestaltung © HildenDesignIllustration: © HildenDesign, Veronika Wunderer

Übersetzung: Freya RallLektorat: Dr. Clarissa CzöppanSatz: Kreativstudio foliant

E-Book AusgabeISBN 978-3-910522-53-4

www.foliantverlag.de

 

Für Liz, die die Reise dieser Geschichte von Anfang an begleitet hat.

Für Mom und Diane – euer feuriger Geist lebt in diesen Seiten weiter.

Inhalt

Prophezeiungen

Prolog

Auftakt

1. Unsägliche

2. Hüter des Waldes

3. Ketzer

4. Flucht

5. Schatten

Erster Teil

1. Die Schwarze Hexe

2. Sucht nach Magie

3. Magus der Drachengarde

4. Fae der Drachengarde

5. Todes-Fae

6. Rebellion

7. Runenauge

Zweiter Teil

1. Kommandant Lukas Grey

2. Evelyn Grey

3. Vasen

4. Siegesball

5. Verbündete

6. Dunkelstab

7. Eisenblüten

8. Portal

9. Beute

10. Befehle

11. Allianz

Dritter Teil

1. Bedrohung

2. Nächste Anverwandte

3. Horde

4. Die Besiegelung

5. Arboretum

6. Besiegelungsnacht

7. Asche

8. Flucht

9. Krieg

10. Suchzauber

11. Runenzauberei

12. Schatten-Augen

Vierter Teil

1. Vonor

2. Wüstenversteck

3. Wüstenbäume

4. Militäraspirantin

Fünfter Teil

1. Zalyn’or

2. Verstoßen

3. Sturmwarnung

4. Infiltration

Sechster Teil

1. Flügelmahre

2. Schattenfeuer

3. Inferno

 

Laurie Forest

Danksagungen der Autorin

Danksagungen der Übersetzerin

 

Die gardnerische Prophezeiung

(Gedeutet aus dem Wurf der heiligen Eisenholz-Stäbchen durch die Priesterseher der Ersten Kinder)

*

Alsobald wird ein großer Geflügelter sich erheben und seinen schrecklichen Schatten über das Land werfen.

Und wie die Nacht den Tag bezwingt und der Tag die Nacht bezwingt, so wird eine neue Schwarze Hexe sich erheben und ihm entgegentreten, mit Mächten jenseits aller Vorstellungskraft.

Und so ihre Kräfte auf dem Schlachtfeld aufeinanderprallen, wird der Himmel seine Schleusen öffnen, die Berge werden erzittern und die Wasser sich blutrot färben.

Und ihr Schicksal soll die Zukunft der gesamten Aerda bestimmen.

 

Die Prophezeiung der Noi

(Von den Gesegneten Dienerinnen der Vo durch Tasseographie aus dem Sud des Schwarzen Ginkgos gelesen)

*

Ein Wyvernkind wird unter uns kommen durch die Große Göttin Vo, und es soll das Feuer, die Macht und die Rechtschaffenheit der Göttin in sich tragen.

Doch in Schatten gehüllt wird zugleich eine neue Schwarze Hexe ihr Haupt erheben, um Grauen und Verderbnis über die Aerda zu bringen.

Und so werden sie in der Schlacht aufeinandertreffen, und alle Farbe wird aus der Welt weichen.

Und sie wird verschlungen vom Schatten.

 

Die Prophezeiung der Amaz

(Weisgesagt nach den Gesetzen der Astragalomantik mit Würfeln aus dem Holz der Heiligen Rotulme durch die Seherinnen der Göttin)

*

Töchter der Göttin, horcht auf!

Eine große Macht der Finsternis erhebt sich aus der verfluchten Welt der Männer.

Und inmitten ihrer Schatten werden ein Wyvern und eine Schwarze Hexe erstehen und im Aufeinanderprallen ihrer Kräfte Zerstörung über die Welt bringen.

*

Zu den Waffen, Gesegnete Töchter!

Die Stunde ist gekommen, die Aerda zu retten!

Prolog

Fünfzehn Jahre zuvor …

 

Edwin Gardner versinkt auf den Seidenpolstern des Sessels in einem Nebel der Trauer.

Wie von fern sieht er seine Schwester Vyvian in ihrem reich dekorierten Salon aufgelöst auf und ab laufen und wünschte, er könnte das verfluchte magische Erbe seiner Familie hinter sich lassen und sich irgendwie davon reinwaschen.

Wünschte, die Nachricht, die Vyvian ihm soeben überbracht hat, wäre nicht so unfassbar grauenhaft.

So unglaublich es auch erscheinen mag inmitten dieses weltumstürzenden Tages, sitzt Vyvians Kleidung doch makellos wie immer. Ihr langes, schwarz glänzendes Haar ist zu kunstvollen Zöpfen geflochten, nicht eine Strähne hat sich verirrt. Ihre eng anliegende mitternachtsschwarze Seidentunika und der dazu passende Rock sind perfekt gebügelt, üppige Kiefernzweige schimmern auf dem teuren Damast. Von überall in diesem verflucht opulenten Raum starrt ihm der Luxus entgegen – polierte dunkle Eisenholzbäume sind in die Wände eingelassen und schieben ihre schwarzen Zweige an der Decke ineinander. Ein Teppich mit Eichenblatt-Muster zu seinen Füßen. Von farbenprächtigen Buntglas-Ranken gerahmte Panoramafenster geben den Blick auf Vyvians weitläufigen Garten voller blutroter Rosen frei.

Von allem nur das Beste, denkt Edwin mit einem Anflug von Bitterkeit in seinem Leid. All dieser Reichtum, angehäuft durch die grausige Herrschaft des Feuers seiner Mutter. Edwin schickt ein Stoßgebet gen Himmel, dass nachfolgenden Generationen das Übel ihrer schrecklichen, verderbten Magie erspart bleiben möge.

Vyvian marschiert noch immer hin und her, ohne die drei Kinder eines Blickes zu würdigen, die wie ein Häuflein Elend in der Ecke hocken, während es Edwin vor Kummer fast zerreißt.

Sein Bruder Vale sowie Vales Anverwundene Tessla sind tot.

Es schnürt Edwin die Kehle zusammen, sein Atem geht unregelmäßig und gepresst angesichts des Verlusts zweier Menschen, die für ihn zu den wichtigsten auf Aerda gehörten. Er möchte sich die Haare raufen und seine Pein in den Himmel schreien. Möchte toben und wüten gegen seine mächtige Schwester, gegen dieses entsetzliche Monster, das sich Gardnerien schimpft. Doch er darf jetzt nicht zusammenbrechen. Er hat drei Kinder zu beschützen. Die Kinder von Vale und Tessla.

Rafe, Trystan und Elloren.

 

»Mit den Gardneriern könnt ihr es nicht aufnehmen«, hat er Tessla noch vor wenigen Monaten gewarnt, als er ihr in tiefer Besorgnis in ihrem Heim in Valgard gegenüberstand. »Du ahnst nicht, zu welchen Gräueltaten meine Mutter imstande ist. Ihre Macht ist dem Schatten anheimgefallen, Tess. Sie ist besessen davon.«

»Wir müssen kämpfen«, konterte Tessla mit rauer, trotziger Stimme. »Die treiben die Fae zusammen wie Vieh, Edwin! Selbst die Kinder. Wir müssen ihnen helfen!«

»Es geht nicht.«

»Wir müssen. Verstehst du es denn nicht? Die Gardnerier tun gerade dasselbe, was die Celten und Urisken uns angetan haben! Die nehmen Kinder gefangen. Ganze Sippen. Weißt du, wie sich das anfühlt? Mitansehen zu müssen, wie die eigene Familie, das eigene Volk zusammengetrieben wird, um sie abzuschlachten? Das Schreien der Kinder zu hören?« Tesslas Wangen waren gerötet, ihre grünen Augen loderten.

In diesem Moment war sie so schön, dass es Edwin schwerfiel, sie anzusehen.

Er versuchte, sie zur Vernunft zu bewegen. »Denkt doch an eure Kinder.« Immer länger ließen Vale und Tessla die drei bei ihm, während sie sich diesem unbesiegbaren Bösen entgegenstellten. »Was sollen Rafe und Elloren und Trystan denn machen, wenn euch etwas zustößt?«

Tessla schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht tatenlos zusehen bei diesen Gräueltaten.«

»Ihr könnt nicht gewinnen, Tess!«

Sie und Vale spielten mit dem Feuer, das wusste Edwin nur zu gut. Sie nahmen es in Kauf, die entsetzliche Macht ihrer Mutter und des gardnerischen Militärs gegen sich aufzubringen, indem sie im Geheimen für den Widerstand arbeiteten. Sowohl Vale als auch Tessla waren Teil eines Untergrund-Netzwerks, das Fae-Kinder und -Familien durch den Ostpass des Grats schleuste – im Bunde mit Beck Keeler, Fain Quillen, Jules Kristian und weiteren.

Der allgegenwärtige Knoten in Edwins Brust zog sich noch fester zusammen.

Er fürchtete, es sei nur eine Frage der Zeit, bis man Vale und Tessla erwischen und hinrichten würde. Anschließend würde man sie natürlich als Kriegshelden darstellen und ihre Aktivitäten im Untergrund sorgsam vertuschen.

Um den Ruf der Schwarzen Hexe zu schützen.

 

Und nun sitzt er hier mit diesem brennenden Kummer in der Brust, weil genau das geschehen ist – vor drei Tagen hat man Vale und Tessla abgefangen, als sie eine Gruppe von Asrai-Kindern vor der Verschleppung auf die Pyrrischen Inseln bewahren wollten. Unverzüglich wurden sie auf die nächstgelegene Militärbasis geschleift und auf Befehl seiner Mutter hingerichtet. Die Wahrheit über ihre Umtriebe im Widerstand ist bis auf wenige Auserwählte vor aller Welt verborgen geblieben.

Und heute früh, wie ein verheerender Orkan auf den Fersen jener Katastrophe, die Botschaft, die wie ein Erdbeben durch die Reiche des Westens wie des Ostens geht.

Seine Mutter, die Schwarze Hexe, ist tot.

Gefallen von der Hand eines Icarals, der selbst ums Leben kam in dem Moment, als er sie mit einem Wyvern-Feuerstoß traf – ein angemessenes Ende für eine Herrschaft des Feuers, die den gesamten Kontinent zu versklaven drohte. Die riesige Waldgebiete vernichtet und die fruchtbaren Ebenen des Ostens und der südlichen Uriskenlande in verbrannte Einöden verwandelt hat.

Unter Edwins Rippen zieht sich eine dunkle Vorahnung zusammen und lässt ihm die Brust eng werden.

Die Gardnerier werden nach Rache dürsten. Und sie sind nicht länger schwach. Dank seiner Mutter ist Gardnerien auf das Zehnfache seiner ursprünglichen Größe angewachsen, und sein Volk wird auf lange Zeit die vorherrschende Macht in der Region sein – höchstens die Alfsigr, mit denen sie eine unbehagliche Allianz verbindet, könnten es mit ihnen aufnehmen.

Und sie werden auf der Suche nach ihrem nächsten Großen Magus sein.

Mit wachsender Unruhe schaut Edwin zu den Kindern hinüber.

Sein Neffe Rafe sitzt auf dem Blättermuster des Teppichs und beobachtet seinen Onkel und seine Tante aufmerksam. Mit seinen fünf Jahren zeigt Rafe die stoische Ruhe eines weit älteren Kindes und hat sich bereits zum Beschützer seiner jüngeren Geschwister aufgeschwungen. Seine Tränen fallen stumm, seine Arme halten den kleinen Trystan.

Trystan hat sich zu einem winzigen Bündel eingerollt und wimmert wehklagend: »Papa. Mama. Papa. Mama«, wieder und wieder.

Es zerreißt Edwin das Herz. Trystan ist ein zartes Kind, das schnell weint oder sich fürchtet. In den großen grünen Augen des dünnen Zweijährigen steht eine benebelte Angst.

Und dann ist da noch die dreijährige Elloren.

Sie hockt neben ihren Brüdern und klammert sich an die Steppdecke, die Tessla für sie genäht hat, als Elloren noch in ihrem Bauch war: ein liebevoll gestalteter Quilt, auf dem ein weit verzweigter Baum prangt. Zwischen den handgestickten Blättern in leuchtendem Grün tummeln sich ebenfalls gestickte Vögel und andere kleine Tiere. Elloren wimmert leise in die Falten der Decke.

Übermannt von seinen Gefühlen geht Edwin zu ihr, kniet sich hin und nimmt sie in den Arm. Auch sie streckt ihre Ärmchen aus und klammert sich an ihn und ihre Decke. Ihr Schluchzen schüttelt ihren gesamten Körper.

Edwin sieht zu seiner Schwester hinüber, und bei dem Ausdruck auf ihren Zügen läuft es ihm eiskalt den Rücken hinunter.

Verbittert starrt sie die Kinder an, als wären sie widerwärtiger Abschaum – ihr Hass auf Vale und Tessla steht ihr unverhohlen ins Gesicht geschrieben und erstreckt sich offenkundig auch auf diese unschuldigen kleinen Menschen. Unwillkürlich drückt er Elloren fester an sich, als er Vyvians grausame, unversöhnliche Miene in sich aufnimmt und erkennt, was er tun muss.

Die Kinder brauchen ihn, und er liebt sie.

»Die Kinder bleiben bei mir«, sagt er mit heiserer, aber fester Stimme und ist selbst überrascht, wie unerschütterlich er im Angesicht seiner furchteinflößenden Schwester ist.

Vyvians Züge werden noch finsterer und sie ballt mehrmals die Fäuste, während ihr scharfer Blick sich auf Edwin richtet. Sie wirkt ungewohnt aus der Bahn geworfen, und Edwin weiß, dass völlig falsche Gründe dahinterstehen.

»Also gut«, sagt sie, und ihre Lippen werden schmal, als sie einen letzten missgünstigen Blick auf die Kinder wirft, als wollte sie diese schreckliche Unannehmlichkeit einfach bloß schnell loswerden. Sie wendet sich zum Gehen, doch an der Tür hält sie inne und dreht sich langsam um. Als sie diesmal die Kinder fixiert, stellen sich Edwin die Nackenhaare auf, denn ihr hasserfüllter Gesichtsausdruck wandelt sich zu kühler Berechnung.

Sie sieht noch einmal Edwin an, und ihre nächsten Worte sind spitz und hart wie Nadeln. »Du musst sie stabprüfen lassen«, sagt sie mit Nachdruck. »Und zwar bald. Wenn sie auch nur einen Hauch von Macht haben, informierst du mich sofort. Mutter hätte darauf bestanden.« Ihr bricht die Stimme, in ihren Augen glitzern Tränen. Rasch blinzelt sie sie fort. »Möglicherweise ist das Erbe unserer Familie nicht mit Mutter gestorben.« Sie wedelt mit ihrer eleganten Hand in Richtung der Geschwister. »Ihre Eltern mögen Verräter gewesen sein, aber mit einer anständigen Erziehung könnten diese Kinder zu Helden unseres Volkes heranwachsen.«

Edwin sieht seine Schwester wortlos an, und in diesem Moment hasst er sie.

Ihre Eltern.

Nein, Vyvian, möchte er sie anschreien. Unser Bruder und seine Anverwundene!

Doch Edwin weiß, dass Vyvians Scheuklappen felsenfest sitzen. Ihre Sichtweise lässt keinerlei Grauzone zu. Für Vyvian ist die Welt klar in zwei Hälften eingeteilt: Es gibt die Unsäglichen und die Gardnerier. Und für eine dieser Seiten muss man sich entscheiden.

Nein.

Edwin weiß, was er zu tun hat. Nicht das, was Vyvian will. Aber auch nicht, was Vale und Tessla sich gewünscht hätten.

Verzeih mir, Vale. Verzeih mir, Tessla.

Er zieht Elloren an sich und spürt eine heiße Woge beschützender Liebe in sich aufwallen.

Falls irgendeins dieser Kinder die Macht seiner Mutter geerbt hat, wird er es vor den Gardneriern verstecken. Er wird die Kinder vor alledem beschützen.

Niemand soll sie kriegen.

Weder die Gardnerier noch der Widerstand.

Dieses Vermächtnis böser Magie endet hier.

 

Einige Monate später entschließt Edwin sich dazu, Rafe, Trystan und Elloren einer Stabprüfung zu unterziehen.

Er testet sie zu drei separaten Gelegenheiten. Jedes Mal fährt er weit aus Valgard hinaus und wandert mit den Kindern bis tief in den Wald, wo niemand Zeuge etwaiger magischer Offenbarungen werden kann.

Offenbarungen, von denen Edwin hofft und betet, dass es sie nicht geben wird.

Bislang wurden seine bangen Gebete größtenteils erhört.

Er hatte sich Sorgen gemacht, Rafe könnte die gewaltigen Kräfte seiner Großmutter geerbt haben. Er ist ein gutherziger Junge, besitzt aber eine überraschend starke Ausstrahlung. Mit seiner körperlichen Geschmeidigkeit verfügt Rafe über eine stählerne Selbstsicherheit, wie man sie bei Kindern in diesem zarten Alter nur selten erlebt. Doch in magischer Hinsicht ist er so gut wie machtlos, trägt nur eine leise Spur Erdmagie in sich.

Dass Trystan einmal ein mächtiger Magus wird, ist unverkennbar. Schon mit seinen zwei Jahren kann das altkluge Kind Beschwörungen intonieren und auf Wassermagie zugreifen. Aber ein Großer Magus ist er nicht. Von den wahnsinnigen, überwältigenden Kräften seiner Großmutter kann nicht die Rede sein – seine Wassermagie zeigt sich in der Prüfung als Stufe Fünf, aber nicht darüber hinaus. Zudem ist er ein empfindsames, stilles Kind mit einer Abneigung gegen Gewalt.

Und dann ist da noch Elloren.

Als Edwin mit der sanften Elloren in die Wälder schreitet, ihre kleine Hand vertrauensvoll in seine geschmiegt, sendet er ein Stoßgebet gen Himmel.

Urvater, bitte lass dieses Kind frei von jeglicher Macht sein.

Sie ist so unbesorgt, wie sie neben ihm dahinhüpft. Fühlt sich so wohl hier im Wald. Wie alle Gardnerier ohne magische Kräfte.

Doch es beunruhigt Edwin schon seit einer ganzen Weile, wie sehr es Elloren zu Holz hinzieht – sie sammelt kleine Stöckchen, stopft sie in Schubladen, füllt sich die Taschen damit, versteckt sie unter dem Bett.

Edwin schaut kurz zu Elloren hinunter und schenkt ihr ein Lächeln, das mit tausendfacher Verstärkung zurückstrahlt.

Sie hat Vales scharfe Gesichtszüge, sinniert er. So kantig und streng für ein so freundliches, sonniges Gemüt. Doch dann verschiebt sich seine Perspektive.

Sie ist das absolute Ebenbild ihrer Großmutter.

Sofort schiebt er den beängstigenden Gedanken beiseite. Auch Vale war seiner mächtigen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten und ebenfalls begabt, aber kein Großer Magus. Und es mag ja sein, dass Elloren sich zu Holz hingezogen fühlt, aber auch Edwin kann kaum die Finger davon lassen. Tag für Tag verbringt er Stunden damit, die hölzernen Bauteile für seine Geigen zuzuschneiden, zu bearbeiten und zusammenzusetzen. Und er ist nur Magusstufe Eins.

Nein, Elloren wird sich als machtlos entpuppen, versichert er sich. Genau wie ich es bin.

Auf einer kleinen Lichtung bleibt Edwin stehen. Warme Sonnenstrahlen fallen durchs Blätterdach, Vögel zwitschern. Die kleine Elloren wirbelt kichernd herum wie ein herabtrudelnder Ahornsamen und hebt das lächelnde Gesicht in die Sonne. Als sie stehen bleibt, schaut sie wankend vor Schwindel zu ihrem Onkel und grinst ihn an.

»Hier, Elloren«, sagt Edwin und lässt die Hand in seine Manteltasche gleiten. Abermals regt sich seine Furcht. »Ich hab was für dich.« Er holt den Zauberstab hervor und reicht ihn seiner Nichte.

»Wofür ist der?«, fragt sie und nimmt ihn neugierig entgegen.

»Wir spielen ein Spiel«, erzählt Edwin ihr und platziert eine Kerze auf einem Baumstumpf. Dann geht er wieder zu ihr und deutet mit dem Finger auf den Zauberstab. »Und das ist ein magischer Stock, aber ich muss dir noch zeigen, wie man ihn benutzt.« Er geht auf ein Knie hinunter und bringt ihre kleine Hand in die richtige Haltung um das Griffstück des Zauberstabs. Seine eigenen Finger zittern vor Anspannung. »So hältst du den Stab, Elloren.«

Beunruhigt angesichts seines Zitterns schaut Elloren zu ihm auf, doch Edwin ringt sich ein weiteres Lächeln ab und sie erwidert es. Offenbar ermutigt bringt sie ihre Finger in die angezeigte Position.

»Genau so, Elloren«, sagt Edwin, nimmt seine Hände weg und steht auf. »Und jetzt sage ich gleich ein paar komische Wörter und möchte, dass du sie mir nachsprichst. Schaffst du das?«

Ellorens Lächeln wird zuversichtlicher und sie nickt eifrig.

Edwin zieht sich der Magen zusammen. Sie ist ein so folgsames Kind. Möchte es so gern allen recht machen.

Wäre so leicht in die Schlacht zu führen.

Edwin spricht ihr mehrmals den Kerzenzauber vor, Worte in der Ursprache – eine ihr fremde Sprache mit feinen Nuancen, die nicht leicht zu meistern sind.

»Meinst du, das kannst du behalten?«, fragt er seine Nichte.

Nickend hebt Elloren den Zauberstab und richtet ihn sicher und voll konzentrierter Entschlossenheit auf die Kerze. Ein letztes Mal noch wiederholt Edwin die Beschwörungsformel, um es dem Mädchen leichter zu machen.

»Na dann, los«, ermuntert er sie schließlich, während seine Kehle sich bang zusammenschnürt und sein Herz hämmert, erfüllt von atemloser Hoffnung und scharfkantiger Angst.

Elloren rezitiert den Zauberspruch, klar und deutlich. Ein leises Zittern geht durch ihren Arm und sie versteift sich.

Dann ruckt ihr Kopf nach hinten.

Ein gewaltiger Feuerstrahl birst aus der Spitze des Zauberstabs hervor und sprengt einen großen Baum hinter dem Stumpf mit der Kerze – und noch mehrere dahinter. Edwin stolpert rückwärts und Elloren schreit auf, als der Wald zu einem krachenden, brüllenden Flammenmonster explodiert.

Hastig reißt Edwin seiner Nichte den Zauberstab aus der Hand, schleudert ihn fort, packt das kleine Mädchen und rennt davon, stürmt durch den Wald, während die Bäume hinter ihnen im Feuer zergehen.

 

Das folgende Jahr über versucht Edwin alles, damit Elloren es vergisst.

Wenn sie schreiend aus feurigen Albträumen erwacht, behauptet er felsenfest, es wäre die Erinnerung an ein Unwetter. Ein heftiges, extremes Gewitter – ein flammendes Inferno, hervorgerufen durch ungewöhnlich schwere Blitzeinschläge.

Wieder und wieder und wieder beharrt er darauf.

Mit der Zeit beginnt sie es zu glauben. Und ihre wahre Erinnerung verblasst und wird verschüttet.

 

Doch der Wald weiß es.

Die Bäume verbreiten die Botschaft auf ihre schleichende Art, langsam wie Saft auf dem Weg durch ineinander verschlungene Wurzeln, von einem zum nächsten und wieder nächsten Baum. Und nach und nach, unerbittlich, wird die Nachricht gen Norden getragen. In den Großen Wald. Zu seinen dryadischen Hütern.

Zu III.

Die Schwarze Hexe ist zurückgekehrt.

Auftakt

1. Kapitel

Unsägliche

Thierren Stone

Gegenwart: vierter Monat

Nordwald, Gardnerien

 

Zügig trabt Thierrens Pferd mit seiner Eliteeinheit von Militärmagi einher. Sie alle sind zu Pferd und folgen ihrem jungen, selbstsicheren Kommandanten Sylus Bane tief in den Nordwald von Gardnerien.

Unzählige Blätter rascheln in der leichten Brise, und Thierren betrachtet den Wald um sie herum mit großer Ehrfurcht.

Bäume wie diese hat er nie zuvor gesehen. Ein uralter, unberührter Wald.

Vorzeitlich.

Stämme von so gewaltigem Umfang, dass es drei von ihm bräuchte, um sie mit den Armen zu umspannen. Saftige, dunkle Eisenbäume mit raschelnden Kronen aus tief smaragdgrünem Laub, deren Schatten an diesem bewölkten Tag noch düsterer wirken. Von Westen rollt ab und an Donnergrollen heran. Die Luft ist erfüllt vom erdigen Geruch der Bäume.

Und noch etwas liegt darin.

Ein prickelndes Unbehagen richtet Thierren die feinen Nackenhärchen auf.

Während die Schatten des Tages sich vertiefen, ist es, als würden die Bäume sich immer weiter über sie beugen. Und zwar nicht auf einladende Art.

Die Bäume wollen uns hier nicht.

Ungebeten steigt dieser Gedanke in ihm auf, und sofort schnaubt Thierren abfällig über seine Hirngespinste. Er wirft einen Seitenblick in den Wald, dann stößt er den Atem aus und schüttelt den Kopf. Geschmeidig bewegt sein Körper sich im Einklang mit dem seines Reittiers. Es gibt keinen Anlass, sich ausgerechnet vor Bäumen zu fürchten. Es gibt überhaupt keinen Anlass, sich zu fürchten. Thierren schaut auf seine brandneue Uniform hinunter, tadellos rein und mit fünf schimmernden Silberstreifen am Ärmel, die seine nahezu beispiellose Beherrschung von sowohl Wasser- als auch Windmagie anzeigen.

»Bereit für die Jagd auf ein paar Fae?«, fragt der gedrungene, zerzauste Branneth neben ihm mit einem freudig erregten Grinsen. »Ein paar spitzohrige Köpfe zum Platzen bringen?«

Leicht angewidert beäugt Thierren den ungehobelten jungen Mann, der ständig um sein Wohlwollen buhlt. Sie sind beide Magi der Stufe Fünf, doch dort enden die Gemeinsamkeiten. Branneth ist unverzeihlich vulgär und oftmals schlichtweg lasterhaft, genau wie der Rest seiner Verwandtschaft. Thierrens Familie hingegen gehört den Styvianern an – den Reinsten, Ergebensten, Religionstreuesten unter den Gardneriern.

Den wahren Gardneriern.

Thierren wirft Branneth einen Blick kaum verhohlenen Missfallens zu. Keine Silberkugel baumelt um Branneths Hals, stattdessen trägt er den silbernen Aerdball auf der Brust seiner Uniform – und nicht den weißen Vogel des Urvaters, auf dem die Frommsten unter den Gardneriern mittlerweile bestehen. Thierren spürt das Gewicht der Silberkette, die seinen eigenen Hals ziert – die einzig angemessene Weise, die Aerdkugel des Urvaters zu tragen: das Land in den Ketten der Herrschaft des Heiligen Magusreichs. Und auf Thierrens Uniform schimmert der gesegnete weiße Vogel.

Die Brise wird stärker und scheint einen klaren Befehl heranzutragen.

Verschwindet.

Thierren verspannt sich, unruhig huscht sein Blick hin und her. Eine schleichende Kälte legt sich prickelnd über seinen Nacken und kriecht an seinem Rückgrat hinunter, wie eine kurze Berührung dürrer Knochenfinger. Tastend.

Das Gefühl kommt von den Bäumen.

Ehe er diese Wahnvorstellungen wegerklären kann, wallt selbstgerechter Zorn in ihm auf. Erbittert starrt Thierren in den Wald. Die verfluchte Wildnis. Schwarz auf Weiß steht es im Buch der Urahnen, dass die Wildnis der Hort der Unsäglichen ist und Bäume dazu da sind, in totes Holz zum Gebrauch durch die Gardnerier verwandelt zu werden.

Holz für Zauberstäbe und Kirchen und Wohnstätten, um das Heilige Magusreich zu erhöhen.

Und deshalb muss die Wildnis ausgelöscht werden. Bezwungen und kontrolliert, wie es das Buch verlangt.

Wir reißen euch nieder, gelobt er voll frommer Inbrunst. Wir verbrennen euch, bis nur noch Asche übrig ist – von euch und all dem Bösen, das sich zwischen euch verbirgt.

Und das ist keine leere Drohung. Schon jetzt sind die gardnerischen Streitkräfte dabei, weite Flächen des Nordwalds niederzubrennen, um Platz zu schaffen für neue Bauernhöfe und zugleich versteckte Fae aus ihren Löchern zu treiben. Bösartige Fae, von denen die Gardnerier geglaubt hatten, sie seien im Reichskrieg ausgemerzt worden, doch ein paar Banden haben überlebt, indem sie sich in die abgelegenen Wälder im Norden zurückgezogen haben.

Bis die Magi Ernst gemacht haben mit ihren Anstrengungen, die Wildnis abzubrennen.

Monster sind sie, diese Fae – kriminelle, lasterhafte Bestien voll der Gewalt und Verderbtheit. Man hat Thierren geschult, welch ernste Bedrohung die Fae darstellen mit ihrem Einsatz der Wildnis zum Angriff auf unschuldige Magi, um sie von ihrem eigenen Grund und Boden zu vertreiben.

Heißer Mut rieselt durch Thierrens Adern.

So gefährlich diese Fae auch sein mögen: Es ist berauschend, sich bereitzuhalten, nötigenfalls sein eigenes Leben zu geben, um sein Volk vor dieser schrecklichen Bedrohung zu bewahren. Und Teil einer großen, gesegneten Geschichte zu werden. Der einzig wahren Geschichte.

Dem Willen des Urvaters.

»Ich hab gehört, da sind auch Frauen dabei«, gibt Branneth aus heiterem Himmel zum Besten. Anzüglich lässt er seine dichten Brauen tanzen und verengt seine grünen Augen zu einem lüsternen Funkeln. »Wenn du mich fragst, ziehen wir sie am besten alle aus und durchsuchen sie gründlich, bevor wir sie kaltmachen.« Abermals grinst er und bleckt dabei die verfärbten kräftigen Zähne, als wären Thierren und er dicke Freunde.

Thierren spürt ein Zucken an seinem Kiefer und wendet rasch den Blick ab, um sich auf die Soldaten vor sich zu fokussieren, die in ordentlichen Zweierreihen einherreiten.

Fae entkleiden, brodelt Thierren innerlich zutiefst beleidigt.

Was für eine verdorbene und … grundfalsche Vorstellung. So ruchlos wie das Entkleiden von Dämonen.

Noch einmal schaut Thierren zu Branneth hinüber, und diesmal macht er sich nicht die Mühe, seine Abscheu zu verbergen. Zumindest ansatzweise scheint der Schwachkopf sein Missfallen zu erkennen, denn sein Grinsen verblasst. Er schluckt, würgt Schleim hoch, spuckt aus und richtet schließlich den Blick auf die vor ihnen liegende Straße.

Was stimmt bloß nicht mit ihm?, fragt Thierren sich. Der einzig annehmbare Ort für Begierden wie diese ist unter Magi. Unter Anverwundenen.

Vor seinem inneren Auge taucht Elisens Antlitz auf, und Thierrens Unbehagen lässt nach.

Liebreizende, wundervolle Elisen.

Er schaut auf die Verwindungslinien auf seinen Händen und denkt an Elisens volle Lippen und ihre strahlend grünen Augen. Ihr üppiges eisenholzschwarzes Haar. Ihre weiche Haut, die im Mondschein smaragdgrün schimmert.

Einen einzigen kurzen, betörenden Kuss hat sie ihm gestattet. Vor zwei Wochen erst, in einem gesegneten unbeobachteten Moment hinter den dichten Hecken der Ländereien seiner Familie. Noch immer kann Thierren diese weichen Lippen spüren, die Konturen ihrer schlanken Taille unter seinen Händen, ihren an ihn geschmiegten Leib.

Schon bald wird er mehr von ihr spüren, sinniert er. Sie sind beide vor Kurzem achtzehn geworden, und in einer Woche soll ihre Verwindung besiegelt und vollzogen werden.

Sobald er diese Fae-Hatz hinter sich hat.

Dir ist Großes vorbestimmt, hat Magus Sylus Bane erst heute früh zu ihm gesagt.

Resigniert blickt Thierren zu Branneth hinüber und erinnert sich an die weisen Worte seiner Mutter.

Unsere Reinheit und Rechtschaffenheit erhalten die Gnade des Urvaters über das Magusreich. Die Nicht-Styvianer unter den Magi sind unsere Trittbrettfahrer – doch wenn erst das Jüngste Gericht kommt, werden auch sie sich an die Gesetze des Urvaters halten müssen wie wir, oder er wird sie von sich weisen und sie Unsägliche schimpfen.

Das Leben ist einfach. Gehorcht man den Regeln des Buchs, ist man gesegnet. Tut man es nicht, wird man verstoßen.

Verschwindet.

Eine verstörende Woge des Hasses geht von den Bäumen aus und schlägt über Thierren zusammen. Sogar einige der Pferde scheuen, als könnten auch sie die in der Luft liegende Feindseligkeit wittern. Abermals späht Thierren zu den Bäumen hinüber, während er sein Pferd zügelt, und sieht Branneth dasselbe tun. Ein Unwetter zieht herauf, die Schatten um sie herum verdunkeln sich noch weiter.

Branneth wirft ihm einen erschütterten Blick zu. »Wenn du mich fragst, sollten wir diesen ganzen Wald zügig plattmachen.« Er schluckt und schaut zu den Bäumen. Es liegt der beunruhigende Eindruck in der Luft, dass das Blätterdach dichter wird. Das Geäst sich enger ineinander verschlingt. Die Luft sich noch weiter auflädt.

Mit Böswilligkeit.

Wie eine erdrückende Schwüle wallt das Gefühl von den Bäumen herab, doch Thierren weigert sich, davor zu kuschen. Er kennt das Buch in- und auswendig, deshalb weiß er, wie diese Geschichte endet.

Mit eurer vollständigen Auslöschung, schleudert er den Bäumen in Gedanken entgegen. Ihn durchströmen Mut und Trost, gefolgt von einer wilden Sehnsucht danach, das Jüngste Gericht einzuläuten und für das Heilige Magusreich zu kämpfen.

Der Wind frischt auf, und die Bäume scheinen sich noch dichter über sie zu beugen. Unruhig tänzeln und wiehern die Pferde und müssen ein weiteres Mal gezügelt werden.

Verschwindet.

»Fühlst du das auch?«, fragt Branneth, und jetzt ist seine Stimme zu einem heiseren Flüstern gesenkt. Ein Hauch von Angst liegt auf seinen Zügen. »Ist fast, als wären wir umzingelt. Als …« Er verzieht das Gesicht, wie um sich selbst zu überzeugen, dass er wirres Zeug redet. »Als würden wir in eine Falle laufen.« Er lacht dunkel in sich hinein, doch da ist noch immer dieser Anflug von Furcht in seinen Augen, als er in die Schatten des Waldes späht und grimmig murmelnd hinterherschiebt: »Nur ein toter Fae ist ein guter Fae.« Beifall heischend wendet er sich Thierren zu. »Stimmt’s, Thierren?«

An der Spitze ihres Trupps hebt Kommandant Bane die Hand, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Thierren steigt der Geruch von brennendem Holz in die Nase.

Gemeinsam kommen sie zum Stehen, als sie das Ende der Straße erreichen und sich zwei gardnerischen Fußsoldaten gegenübersehen. Blinzelnd nimmt Thierren das abrupte Auslaufen der Schneise zur Kenntnis und ist erstaunt, wie weit im Norden sie schon sein müssen.

Unglaublich, denkt er, und bei der Erkenntnis legt sich ein Prickeln auf seine Haut. Das Ende der Nördlichen Waldschneise. Die äußerste Ausdehnung des Magusreichs. Dahinter meilenweit nichts als Wildnis.

Einer der Magi kommt mit ernster Miene auf sie zu, salutiert mit der Faust an der Brust vor Kommandant Bane und deutet dann mit dem Kinn auf die Wand aus Bäumen, die vor ihnen emporragt.

»Sie sind gleich da vorn«, erklärt er. »Wir haben ein ganzes Nest von Fae ausgehoben. Dryaden, allesamt.«

Baum-Fae.

Thierren späht in den vor ihnen liegenden Wald und spürt sein Herz schneller schlagen. All seine Sinne schärfen sich im Angesicht seiner ersten Begegnung mit Fae. Er holt tief Luft und sammelt sich, erfüllt von einem neu erwachten Gefühl, in geheiligtem Auftrag zu handeln, und begierig darauf, endlich den Unsäglichen entgegenzutreten, um das Magusreich zu verteidigen.

»Wir sitzen ab, Magi.« Mühelos gebieterisch schallt Kommandant Banes Stimme durch den Wald.

Alle steigen ab, machen die unruhigen Pferde an den Bäumen fest und überlassen sie der Fürsorge des Kavalleristen. Zu Fuß dringen sie in den Wald vor, angeführt von ihrem selbstsicheren Kommandanten, während der Rauchgeruch langsam stechend wird.

Thierren zieht seinen Zauberstab aus dem Futteral und hält ihn bereit. In Gedanken rezitiert er Wind- und Wasserbeschwörungen und verwebt die Magie in seinen Affinitätslinien.

Sie sind gefährlich, diese Baum-Fae. Einige von ihnen können auf mehrere Arten von Elementarmächten zurückgreifen und durch Stöcke und Zweige kanalisieren. Manchmal setzen sie bei ihren Angriffen sogar Waldtiere ein. Vor Kurzem erst hat Thierrens Trupp die Nachricht erreicht, dass Dryaden ein wenig südlich von hier eine Einheit von Magi angegriffen haben – mit Windhosen und Schwärmen von Greifvögeln, als Rache für die Rodungen in dem Landstrich.

Land, das dem Magusreich gehört.

Spielt keine Rolle. Finster starrt Thierren die dräuenden Bäume an, als seine Einheit tiefer in den Wald vorrückt. Bald beschwöre ich selbst einen gewaltigen Zyklon herauf, um euch und euren Fae-Lakaien den Garaus zu machen.

Dann fährt ihm der durchdringende Schrei eines Kindes in die Knochen und lässt seine Schritte stocken. Verwirrt sieht er sich unter den anderen Soldaten um, doch die scheinen den Laut zu ignorieren.

Aus der Bahn geworfen folgt Thierren weiter seiner Einheit, steigt über Wurzeln und spürt seine Stiefelabsätze in den weichen, moosigen Untergrund sinken.

Nun hört er ein Kind weinen.

Das Plärren eines Babys zerreißt die Luft.

Frauenstimmen reden leise und gequält in einer fremden Sprache flehentlich auf jemanden ein.

Diesmal ist der Stich der Verwirrung nicht so leicht zu überwinden. Thierren tritt zwischen den Bäumen hervor auf eine kleine Lichtung, hinter der ein noch dichteres Waldgebiet liegt. An den Rändern der Fläche schwelen mehrere Feuer, wo die Magussoldaten Bäume in Brand gesteckt haben.

Und dort sieht er sie.

Die Dryaden.

Eine Reihe spitzohriger, waldgrüner Baum-Fae steht Seite an Seite vor der Wand des unberührten Nordwalds.

Als wollten sie mit ihren Leibern einen Schutzwall bilden.

Doch … es ist der erbärmlichste, zerbrechlichste Schutzwall, den Thierren je gesehen hat.

Wilde Verunsicherung macht sich in ihm breit. Er kennt Bilder von Dryaden: entsetzliche Gestalten, behängt mit verrottenden Pflanzenresten. Wirrer Blick, spitze Zähne. Dämonisch und gefährlich.

Diese Fae haben mit jenen Bildern kaum etwas gemein.

Ja, ihre Haut ist tiefgrün und besitzt einen deutlich stärkeren Schimmer als die der Gardnerier. Ihr Haar ist schwarz, ihre grünen Augen sind groß, ihre Ohren laufen in scharfen Spitzen aus. Und ihre Kleidung scheint aus ineinander verwobenem Laub zu bestehen.

Doch da enden die Gemeinsamkeiten mit den monströsen Darstellungen auch schon.

Eine alte Frau mit schneeweißem Haar hält die Hände vor der Brust aneinandergepresst wie im Gebet. Sie ist auf die Knie gefallen und murmelt einen bittenden Strom unverständlicher Worte. Ein kleiner Junge klammert sich schluchzend an sie und versteckt das Gesicht in ihrem Gewand. Neben ihnen steht ein Mädchen von höchstens zehn Jahren und hält schwer atmend einen großen Stein in die Höhe. Ihr Gesicht ist zu einer hasserfüllten Fratze verzerrt, und scharfe, feindselige Silben bersten aus ihrem Mund hervor. Sie schleudert den Stein über die Wiese auf die lange Reihe von Magi, doch der Wurf ist schwach und der Stein plumpst weit vor den Soldaten zu Boden.

Frauen, Alte, Kinder, Jugendliche.

Und sie alle sind mit einem rußartigen Staub bedeckt, in dunklen Körnchen klebt er auf ihrer Haut und ihren Kleidern, als wäre er auf sie herabgeregnet. Ihr Atem geht schwer, ihre Leiber sind gekrümmt, als würde eine unsichtbare Last sie zu Boden drücken.

»Was ist mit ihnen?«, fragt Thierren niemand Bestimmten.

»Die wollten uns mit Wind angreifen.«

Thierren richtet den Blick auf den bärtigen Soldaten neben ihm.

Verbittert sieht der Mann ihn an. »Und der Kleine da.« Er zeigt auf einen Jungen, der höchstens zwölf Jahre alt sein kann. Mit nacktem Oberkörper und überzogen von dem schwarzen Staub schreit er den Soldaten etwas entgegen, das sehr nach wutentbrannten Flüchen klingt. »Hat zwei Magi bestimmt zwanzig Spannen weit geschleudert, mit einem Wasserstrahl aus einem Stock. Kerlin hat sich das Bein gebrochen, als er gegen einen Baum geprallt ist. Also haben wir sie mit Eisenspänen beworfen, das hat sie zur Raison gebracht. Hat ihnen die verfluchten Kräfte genommen.«

Als Thierren sich wieder der Reihe der Fae zuwendet, bricht in seinem Kopf Chaos aus.

Da ist ein Baby. Mit weichen Pausbäckchen. Überzogen von Eisenspänen schreit es sich die Seele aus dem Leib. Eine liebreizende junge Frau hält es in den Armen, während das Baby in purem Entsetzen auf die Magi starrt und sich mit winzigen Händchen fieberhaft das Eisen vom Gesicht zu kratzen versucht. Verzweifelt bemüht sich die Frau, das Kind zu beruhigen. Tränen laufen ihr über die Wangen, als sie behutsam seine Finger von seiner Haut zu lösen und gleichzeitig das Eisen wegzuwischen versucht.

»Und haben Sie die aufgegriffenen Kelpies gebändigt?«, fragt Kommandant Bane den Leutnant neben ihm. Mit gelangweilter Miene blättert der Kommandant einige Unterlagen durch und ignoriert die flehenden, drohenden, weinenden Fae vollkommen.

»Wir haben sie vergiftet, Magus. Haben sämtliche Wasserstraßen mit Eisenspießen präpariert.«

Kommandant Bane nickt anerkennend, dann rollt er seine Papiere ein und stopft sie in seine Schultertasche. Nun mustert er die Reihe der Fae und wirkt resigniert und zufrieden zugleich.

»Reinblütige Baum-Fae«, sinniert er beinahe bewundernd, während die Kinder schluchzen und die alte Frau ihr unablässiges Bitten fortsetzt. Er sieht noch einmal den Leutnant an. »Gute Arbeit, dass Sie die aufgestöbert haben.«

Wie festgenagelt hängt Thierrens Blick an den Kindern, und ihm kommt die Galle hoch. Diejenigen, die alt genug sind, um sprechen zu können, tun es offenkundig auf Dryadin, doch wenn er die Augen schließt, ist der Klang ihres Weinens nicht von dem gardnerischer Kinder zu unterscheiden.

Auch ihre äußere Erscheinung ähnelt den Gardneriern so sehr.

Thierren zieht sich der Magen zusammen, und ein plötzlicher Schwindelanfall bringt ihn ins Wanken. Er hebt den Blick und sieht etwas Weißes im Geäst über den Dryaden aufblitzen.

Weiße Vögel. Durchscheinend wie Nebel. Und sie beobachten alles.

Die Bäume verströmen eine erdrückende Woge puren Hasses, die Thierrens Schwindel noch verschlimmert. Er spürt einen scharfen Ruck an seinen Affinitätslinien, als wollten die Bäume sich seiner Magie bemächtigen. Die Macht aus seinem Innersten herausreißen. Mit Mühe errichtet er einen inneren Schutzschild, wirbelt Luft auf, bis sie seine Linien wie ein dichter Wall umgibt. Schicht um Schicht verstärkt er ihn, doch noch immer nimmt er die gnadenlosen Attacken der Bäume wahr wie Äste, die gegen den Schild peitschen. Ihn zu durchstoßen versuchen.

Ihm schwirrt der Kopf, und das Baby schreit und schreit und schreit.

Thierren denkt zurück an die Ausbildung seiner Einheit. Wie er nur mit halbem Ohr Dingen gelauscht hat, die ihm damals als vollkommen offensichtlich erschienen. Mahnungen an törichte, rührselige Magi.

Möglicherweise werden sie euch die Illusion vermitteln, sie wären menschlich. Das sind die Methoden, mit denen das Große Dunkel unseren Geist in die Irre zu führen sucht. Ihr müsst das durchschauen. Und den Gesegneten Willen des Buchs befolgen.

Aber niemals hat Thierren damit gerechnet, auf ein Baby zu treffen. Oder auf diese bezaubernde junge Frau. Und er spürt tief in seiner Seele, dass er hier keine Illusion vor sich sieht.

Die Frau wiegt das Baby in ihren Armen, und ihre Bewegungen sind wie das Schwanken eines Asts im Wind, voll fließender Anmut. Sehnsüchtig schlägt Thierrens Magie in ihre Richtung aus, und abrupt schaut die junge Frau auf und sieht ihm geradewegs in die Augen.

Thierren wird vom Schock übermannt, als ihre Blicke sich treffen. Ihre Augen sind grün wie Sommerlaub, und es schimmern Tränen darin. Ihre dunkelgrünen Lippen öffnen sich, und ihr Elend durchfährt Thierren und trifft ihn mitten ins Herz.

Von der Seite her ertönen Worte der Gemeinsprache mit starkem Akzent. »Magi. Halt.«

Thierrens Kopf fährt zu der weißhaarigen alten Frau herum. Jetzt hat sie bittend die Arme ausgestreckt, in ihren Augen steht eine wilde Dringlichkeit. Sie gestikuliert zu dem Wald in ihrem Rücken, als wollte sie eine überlebenswichtige Warnung vermitteln.

»Lasst unseren Wald in Frieden«, sagt die Alte mit düsterer Gewichtigkeit. »Wenn die Bäume sterben, sterben auch wir. Und ihr. Dann sterben wir alle.«

Ihre Dringlichkeit trifft Thierren mitten ins Herz, und ihn überkommt das verstörende Gefühl, dass er eine unumstößliche Wahrheit hört. In ihm erwacht ein brennender Drang, das alles hier aufzuhalten, und wirft ihn völlig aus der Bahn.

»Der Schatten naht«, warnt die Alte mit dunkler Stimme, aus der eine gnadenlose Klarheit spricht.

»Auf die Knie«, befiehlt Kommandant Bane den Fae beinahe unbekümmert, und Thierrens Blick schnellt zu seinem Vorgesetzten. Wie kann ihn das alles so kalt lassen? In Kommandant Banes Augen steht ein boshafter Glanz. Als würde es ihn geradezu erregen.

Thierren überkommt eine Woge des Ekels. Abermals schaut er zu der jungen Fae, und ihre Blicke treffen sich aufs Neue. Als wären sie beide ahnungslose Spielfiguren in einem Albtraum. Plötzlich will Thierren nichts auf der Welt mehr, als sich diese Frau und das Baby zu schnappen und schleunigst von hier fortzubringen.

Die junge Frau ruft Thierren in ihrem Fae-Dialekt an, ihre Stimme ist melodisch und zugleich voller Kummer. Schon öffnet Thierren den Mund zu einer Antwort, da schallt Kommandant Banes Stimme über die Lichtung.

»‚Auf Befehl der Regierung Gardneriens’«, liest er von einer Schriftrolle ab, »‚sind Sie hiermit angewiesen, sich zu ergeben und Ihre Besatzung unseres Hoheitsgebiets zu beenden.’« Kommandant Bane seufzt, als wäre das Ganze viel zu leicht, rollt das Schriftstück wieder zusammen und schiebt es in eine Tasche seiner Tunika. Dann tritt er vor, zieht seinen Zauberstab und richtet ihn locker auf die Fae. »Ich sagte: Auf die Knie.«

Trotzig weicht die Reihe der Fae einen Schritt zurück und hebt die Arme, wie um die Barriere zwischen den Magi und dem dichten Wald zu verstärken. Der Hass in den Mienen vieler dieser Fae verhärtet sich noch. Die Augen des Jungen sind zu wutentbrannten Schlitzen verengt und er schreit den Gardneriern einen Schwall wütendes Dryadin entgegen, die bebenden Lippen der jungen Frau sind zu einer Maske des Unglücks verzogen. Hilflos drückt sie das Baby an ihre Brust.

Thierren durchfährt pures Entsetzen, dann wallt erneut das verzweifelte Bedürfnis in ihm auf, die Frau und das Kind zu retten. Wieder schimmern weiße Vögel in den Zweigen über den Fae auf. Eine ganze Reihe der ätherischen Kreaturen, ein Spiegelbild der Silhouetten auf den Uniformen einiger der gardnerischen Soldaten. Auf seiner Uniform.

Thierren blinzelt und fragt sich, ob er vollkommen den Verstand verloren hat.

»Auf die Knie«, faucht Kommandant Bane. »Auf der Stelle.«

Halt, will Thierren dem Kommandanten zurufen, während seine Welt in sich zusammenfällt. Erkennen Sie es denn nicht? Das ist ein Irrtum, wir müssen aufhören. Es ist nicht so, wie wir dachten. Das sind keine grässlichen Krieger, die hier vor uns stehen.

Das sind Familien.

Die alte Frau ignoriert Kommandant Banes drohendes Auftreten, seinen erhobenen Zauberstab. Sie drückt sich von den Knien hoch und tritt wankend vor, schiebt Kommandant Bane in einer Geste des Aufhaltens die Hände entgegen.

Mit schlangenhafter Geschwindigkeit reißt Kommandant Bane den Zauberstab hoch und schleudert den Arm nach vorn. Ein Eisspeer schießt aus der Spitze hervor und fährt mitten in die Brust der Alten.

Ihr scharfer Aufschrei verwandelt sich in ein Gurgeln, und sie fällt rücklings zu Boden. Schwer prallt sie auf und aus ihrer Wunde strömt Blut.

Chaos bricht aus. Schreiende Fae mühen sich, trotz der Eisenspäne zu ihr zu eilen. Die entsetzten Kinder kreischen.

Unbeeindruckt besieht sich Kommandant Bane die Szene. »Auf Befehl der Regierung Gardneriens«, wiederholt er, »sind Sie hiermit angewiesen, sich zu ergeben und Ihre Besatzung unseres Hoheitsgebiets zu beenden.«

»Wir werden uns niemals ergeben!«, schreit der Junge mit starkem Akzent in der Gemeinsprache und richtet seine dürre Gestalt zu voller Größe auf. Mit ihm erhebt sich die Macht des Waldes, wie eine finstere, unentrinnbare Flut. Thierren spürt es tief in seinen Knochen.

Tief in seinen Affinitätslinien.

Der Junge ballt die Fäuste. »Hier und jetzt sind wir geschwächt, aber unsere Hüter sind es nicht. Sie werden erfahren, was ihr uns antut. Die Bäume werden es ihnen sagen. Und dann kommen sie euch holen, mit der ganzen Macht des Waldes!«

Kommandant Banes Augen weiten sich, und entzückte Erheiterung tritt auf seine Züge. Er sieht sich unter den ihn umgebenden Magi um, wie um seine ungläubige, spöttische Freude zu teilen. Dann verhöhnt er den Jungen: »Ach, die Bäume kommen uns also holen, ja? Auf ihren kleinen Baum-Beinchen?«

Thierren blickt auf und sieht, wie sich die Kronen der Bäume um sie herum einwärts neigen. Zu rascheln beginnen. Das unnachgiebige Eindringen auf seine Affinitätslinien nimmt noch zu.

»Wir stehen Seite an Seite mit den Bäumen!«, ruft der Junge in unbezähmbarer Wildheit.

Kommandant Bane stößt einen abfälligen Laut aus und verdreht die Augen. Er wendet sich an den bärtigen Magus neben ihm. »Heiliger Urvater, bringen wir sie zum Schweigen.« Dann richtet er sich militärisch straff auf. »Magi!«, befiehlt er und sieht nach links und rechts, spricht die ganze Reihe der Soldaten an. »Zauberstäbe bereithalten!«

Die junge Frau kniet schluchzend bei der Alten, das Baby in ihren Armen schreit sich die Seele aus dem Leib. Sie blickt auf und hält Thierren mit ihrem kummervollen Blick gefangen.

Das Grauen in Thierren kocht hoch, und plötzlich kann er es nicht länger unterdrücken. Er stürzt nach vorn auf die Lichtung und fährt zu den aufgestellten Soldaten herum. »Halt!«, ruft er mit abwehrend erhobener Hand.

Kommandant Bane lässt seinen Zauberstab eine Winzigkeit sinken und beäugt Thierren ungläubig. »Haben Sie den Verstand verloren?«

Ja, denkt Thierren im Chaos völliger Verstörung. »Da sind Kinder!«, ruft er der Linie der Magi zu. »Wir müssen aufhören!«

»Das sind Fae!«, blafft Kommandant Bane. »Zurücktreten, Magus Stone. Sofort!«

Thierren sieht über die Schulter zu der jungen Frau. Die Fae sind verstummt, nur die Kinder schluchzen und schreien noch immer. Alle Augen sind auf Thierren gerichtet. Er fängt den Blick der Frau auf. Und plötzlich ergreift ihn eine so allumfassende Verbundenheit mit ihr, dass sich jeglicher Selbsterhaltungstrieb in Luft auflöst.

Thierren wendet sich wieder Kommandant Bane zu. »Wir müssen aufhören«, wiederholt er mit wachsendem Nachdruck. »Wir machen einen Fehler.«

»Heiliger Urvater, Thierren, gehen Sie zur Seite!«, brüllt Kommandant Bane.

Thierren rührt sich nicht vom Fleck. »Nein.« Unerschütterlich deutet er auf die Fae. »Das sind keine Krieger. Da sind Kinder.«

Kommandant Bane kratzt sich im Nacken, ehe er den Kopf schüttelt, als hätte er derlei Torheiten schon öfter gesehen, aber niemals von Thierren erwartet.

»Thierren, Sie wissen, wozu wir hier sind«, erinnert er ihn im Ton ruhiger Vernunft. Wie ein Vater, der ein aufsässiges Kind zurechtweist. »Und Sie wissen, warum.« Er deutet auf die Fae, ohne sie anzusehen. »Diese Heidenbrut hat gardnerische Bauern und Soldaten angegriffen, die nichts weiter versucht haben, als unser Land für unsere Äcker zu roden. Dieses ‚Kind‘ da –« Er zeigt auf den wütenden Jungen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, »— wollte einen von uns umbringen.« Er durchbohrt Thierren mit einem lodernden Blick. »Wollen Sie etwa Ihr gesamtes Leben hinwerfen … für einen Haufen ungläubiger Fae?«

Übermannt von seinem eigenen rechtschaffenen Zorn hebt Thierren den Arm und richtet seinen Zauberstab geradewegs auf Kommandant Banes Brust. »Wir müssen damit aufhören. Sofort.«

Flink wie eine Natter lässt Kommandant Bane seinen Zauberstab zucken, und schwarze Ranken schießen daraus hervor, umschlingen Thierrens Stab und entreißen ihn seinen Fingern. Noch ehe Thierren reagieren kann, zuckt Kommandant Banes Zauberstab erneut und die Ranken winden sich um Thierrens gesamten Leib, fesseln seine Arme an seine Flanken und drücken ihm die Luft aus den Lungen. Abermals winkt Kommandant Bane mit dem Zauberstab, und die Ranken um Thierrens Knöchel ziehen sich zusammen und reißen ihn von den Füßen. Schmerzhaft prallt er auf den feuchten Boden und kämpft gegen seine Fesseln an.

»Bereitmachen!«, befiehlt Sylus Bane der Reihe der Magi.

Die Soldaten heben ihre Zauberstäbe.

»Nein!«, schreit Thierren und verliert völlig die Beherrschung. Verliert den Verstand. Der Wald verdüstert sich.

»Legt an!«

»Halt! Nein!«, wütet Thierren und wird überrollt von den Wogen puren Zorns, die unablässig von den Bäumen über ihn hinwegdonnern. »Da sind Kinder!«

»Feuer!«

Die Fae schreien auf, als sie die gebündelte Magusmacht aus den Zauberstäben trifft. Der Wald ist in Rage. Und in das markerschütternde Kreischen des Jungen, der jungen Frau und des Fae-Babys mischt sich Thierrens eigenes Brüllen.

2. Kapitel

Hüter des Waldes

Vyvian Damon

Vierter Monat

Sitz des Hohen Rats der Magi

Valgard, Gardnerien

 

Krachender Donner ertönt von oben, und Magia Vyvian Damon schaut in die Buntglaskuppel über ihr empor. Das schwere Unwetter, das sich draußen zusammenbraut, schleudert Blitze und Sturmböen gegen das imposante Ratsgebäude. Stahlgraue Wolken ziehen sich über der Kuppel zusammen.

Vyvian sitzt mit allen zwölf Mitgliedern des Hohen Rats der Magi um eine ovale Eisenholztafel versammelt, deren kunstvoll eingearbeitete Intarsien einen riesigen Baum darstellen, um den ein Wirbel weißer Vögel in die Lüfte steigt. Ihre Hand ruht auf einer glatten, dunklen Wurzel am unteren Ende des Tischs, und sie spürt berauschende Erwartung in sich aufwallen.

Die hohen Flügeltüren des Ratssaals öffnen sich knarrend, und Vyvians Herz schlägt schneller. Hitze erblüht in ihrem Inneren, als Großmagus Marcus Vogel hereinmarschiert, gefolgt von zwei Ratsgesandten. Die Mitglieder des Rats erheben sich.

Der junge Hohepriester ist der absolute Inbegriff frommer Eleganz, die fesselnden Augen in seinem scharf geschnittenen Gesicht glühen wie grünes Feuer. Die Präsenz von Vogels beherrschter Macht erfüllt den gesamten Saal und vibriert durch Vyvians Affinitätslinien, und für einen Augenblick erlöschen flackernd alle Farben im Raum zu Grau- und Schwarztönen.

Vyvian blinzelt, um die merkwürdige Täuschung loszuwerden, und der desorientierende Farbwechsel verschwindet ebenso schnell, wie er aufgetreten ist.

Vogel lässt sich am Kopf des Tisches nieder, an dem der eingelassene Baum sich zu einer mächtigen Krone entfaltet. Seine zwei markigen Gesandten positionieren sich zu beiden Seiten hinter ihm, wo sie in unnatürlicher Reglosigkeit verharren, und Vyvian und der Rest des Rats setzen sich wieder. Über Vogels stiller Gestalt hängt ein riesiger umgedrehter Eisenbaum. Mit Ketten an den Stützstreben der gläsernen Kuppel befestigt, dient er als gewaltiger Kronleuchter. Das tiefschwarze Holz ist fein abgeschliffen und auf Hochglanz poliert, und überall in den Astgabeln und auf den Zweigen sind Maguslichter angebracht, die das gewittrige Zwielicht im Saal mit ihrem schimmernden Glanz überhauchen.

Die gespannte Erwartung in der Runde verdichtet sich, und Ratsmagus Snowden taucht seine Schreibfeder in ein kristallenes Tintenfass, um sie anschließend über dem Pergament schweben zu lassen. Sein Blick geht zurück zu Vogel, bereit, die Anträge und Verfügungen der Sitzung in dichten, ordentlichen Zeilen festzuhalten.

Vyvian schaut auf ihren eigenen sauberen Stapel von Unterlagen hinab. In jeder einzelnen Kopfzeile prangt das M des Hohen Rats der Magi. Das Licht der Laternen flackert über die sorgfältig zusammengetragenen Listen der jüngst auf gardnerischem Grund und Boden entdeckten Eindringlinge – getarnte Fae, Halbblüter, uriskische Geflüchtete von den Fae-Inseln und scharenweise weitere Unsägliche, die das Heilige Magusreich zu korrumpieren suchten. Glücklicherweise alle von der Magusgarde gefasst und auf die Pyrrischen Inseln verbannt.

Ein großer Teil dieser Läuterung des Magusreichs ist unter Vyvians persönlicher Aufsicht erfolgt.

Unauffällig atmet sie durch und bestärkt sich in ihrer Zuversicht, dass ihre Berichte ihre unermüdlichen Bemühungen lückenlos dokumentieren und Großmagus Vogel sehr zufrieden mit ihr sein wird.

Und doch wird sie das mittlerweile allgegenwärtige Unbehagen nicht los, das sich unter ihrer Haut festgesetzt hat und sie noch stärker drängt, sich des strahlenden Fixsterns Vogel als würdig zu erweisen. Um ihre jüngst geschwächte Position im Hohen Rat zu behalten, muss Vyvian sich als absolut loyal und glaubensfest präsentieren – sich absetzen von den schändlichen Verrätern in ihrer eigenen Familie: ihrem fehlgeleiteten Bruder, ihren Neffen und nun sogar ihrer unerwartet aufsässigen Nichte, die sich Urvater weiß wohin davongemacht hat.

Nicht einmal Ellorens Anverwundener Lukas Grey scheint zu wissen, wo das elende Mädchen steckt.

Der Hauch des Unbehagens in Vyvians Mitte zieht sich zusammen zu heißem Zorn. Ich spüre dich auf, Elloren. Und wenn ich dich habe, dann …

»Lasst uns beginnen, Magi«, sagt Vogel. Sein eisgrüner Blick ist stechend wie der eines Falken, seine langen Finger ruhen auf dem dunkelgrauen Zauberstab, den er vor sich auf den Tisch gelegt hat.

Der Klang seiner seidigen Stimme erfüllt Vyvian mit Verzückung, ihre Wut wird bedeutungslos vor der instinktiven Wahrnehmung, wie seine Macht sich im gesamten Ratssaal entfaltet.

Vogel schweigt einen langen Moment, in seinem inbrünstigen Blick schimmert ein dunkles Omen. »In den Noi-Landen wurde ein männlicher Icaral entdeckt.«

Die Worte treffen den Saal wie ein Donnerschlag. Schockierte, empörte Ausrufe schallen durcheinander, und auch Vyvian kann sich dem allgemeinen Entsetzen nicht entziehen. Vogel jedoch verharrt totenstill, bis der Aufruhr sich schließlich legt und sich eine quälende Spannung aufbaut, in der alle Blicke zum Großmagus gehen.

»Wo?«, entschlüpft es Vyvian atemlos, als ihre strategische Zurückhaltung übermannt wird von ihrer Verblüffung angesichts der Enthüllung, dass Sage Gaffneys dämonisches Kind nicht der einzige noch lebende männliche Icaral ist.

Vogel richtet seinen bohrenden Blick auf Vyvian, und sie spürt ihn bis ins Mark. Die Luft summt förmlich unter Vogels Magie, ihre schwach ausgeprägten Erdadern lechzen danach.

»Unsere Spione haben den Icaral auf der Oonlon-Basis der Vu Trin lokalisiert.« Geschmeidig dringen Vogels Worte in Vyvians Innerstes. »Der Dämon ist ein Celte … und der Sohn des Icarals, der unsere geliebte Carnissa Gardner getötet hat.« Abermals erhebt sich entrüstetes Geschrei, zugleich wird Vogels Blick auf Vyvian schärfer. »Der Name, mit dem er sich getarnt hat, lautet Yvan Guriel.«

Harter Schock durchfährt Vyvian, während im Saal wütendes Gemurmel ausbricht.

Yvan Guriel. Der Celte, mit dem Elloren im Bett war.

Er ist ein Icaral.

»Der Icaral der Prophezeiung«, bringt sie heiser hervor und kann kaum atmen. Kann sich kaum bewegen. Ihr ist, als würde sich der Boden unter ihren Füßen auftun. Es ist also doch nicht Sage Gaffneys Baby, das den dunklen Pol der Prophezeiung verkörpert, sondern der verfluchte Sohn von Valentin Guryev – dem Icaral-Dämon, der Mutter getötet hat.

Nicht Yvan Guriel.

Yvan Guryev.

Zutiefst erschüttert hat Vyvian Mühe, Vogels stechendem Blick standzuhalten. Wachsam verengt er die Augen, während Angst ihr den Magen zusammenschnürt und sich ein verzweifelter Entschluss herausschält: Niemand darf je erfahren, dass Elloren mit Valentin Guryevs dämonischem Spross das Bett geteilt hat.

»Er muss auf der Stelle niedergestreckt werden«, verlangt Magus Greer brüsk von Vogel.

Der richtet seine messerscharfe Aufmerksamkeit auf die zwei Magi der Stufe Fünf an der Eisenholz-Flügeltür. »Holen Sie Mavrik Glass herein«, befiehlt er.

Die Wachen öffnen die Tür, und ein hochgewachsener, äußerst ansehnlicher junger Magus der Stufe Fünf kommt mit wehendem dunklem Mantel in den Saal marschiert. Er hat ein elegant geschnittenes Gesicht, seine Bewegungen sind fließend und seine Finger umschließen das Griffstück des Mahagoni-Zauberstabs an seinem Gürtel. Auf der anderen Seite trägt er drei weitere Zauberstäbe aus verschiedenen Hölzern, zusätzlich noch zwei am Oberarm.

»Stabmeister Glass«, begrüßt Vogel ihn, und ein gerissenes Lächeln umspielt seine Lippen. »Zeigen Sie dem Hohen Rat, was wir von den Vu Trin beschlagnahmt haben.«

Magus Glass grinst Vogel wissend an, greift in die Tasche seiner Tunika und legt sechs onyxfarbene Steinplättchen auf den runden Tisch. Alle sind mit den gleichen saphirblau glühenden Noi-Runen versehen.

Überrascht zieht Vyvian den Atem ein. »Sind das Noi-Portalsteine?«, fragt sie Vogel.

»So ist es«, bestätigt er.

Im Saal macht sich raschelnd Unruhe breit, Ausdruck erschrockenen Unverständnisses, das auch Vyvian erfüllt. Nach dem Buch der Urahnen ist der Gebrauch heidnischer Zauberei schlichtweg verboten.

Magus Greer weicht vor den Steinen zurück, Abscheu tritt auf sein bärtiges Gesicht. »Noi-Zauberei ist verderbte Magie.«

»Wir dürfen nicht riskieren, diese Magie mit der unseren zu verquicken«, schließt sich ihm der ältliche Magus Snowden an. Der weißhaarige Mann wirkt beinahe fassungslos vor Entrüstung.

»Keine Verquickung«, pflichtet Vogel ihnen bei. Seine Finger schließen sich fester um den grauen Zauberstab vor ihm, sein Blick geht durch die gesamte Runde. »Assimilation.«

Vogel berührt die Steine mit dem Zauberstab, einen nach dem anderen, und erstaunt blinzelnd sinkt Vyvian gegen ihre Stuhllehne, während das blaue Glühen einer jeden runden Rune in den Stab gesogen wird. Zurück bleiben nichts als dunkle Abdrücke, die sich gleich darauf mit sich windenden Schatten füllen, bis sich schließlich graue Rauchfäden von den transformierten Schriftzeichen emporkräuseln.

»Macht haben sie, die Heiden«, sinniert Vogel, während ein zarter Wirbel aus Schatten von seinem Zauberstab aufsteigt. »Portalkünste und überlegene Runenzauberei, durch die sie viel zu lange schon im Vorteil sind. Diese Macht gehört in Magushände. Wir sind die Einzigen, die Magie wirken dürfen, um den Willen des Urvaters zu erfüllen. Also sollten wir es sein, die sie beherrschen. Und zwar alle Magie.«

Vogel hebt den Kopf und fokussiert den Eisenbaum-Kronleuchter, da erscheint hinter einem Ast raschelndes Gefieder. Ein eben noch verborgener Vogel schwingt sich herab und landet auf der Schulter des Großmagus.

Genau wie der Rest des Rats zuckt Vyvian in einer Mischung aus Ehrfurcht und Widerwillen zurück.

Der Vogel sieht aus wie eine Krähe, doch die gesamte obere Hälfte seines Schädels ist mit einer grotesken Vielzahl von Augen übersät, größtenteils von einem changierenden Grau, als wohnte ihnen ein heraufziehender Sturm inne.

Doch das Auge auf der Stirn des Tiers …

Es hat exakt dasselbe eisige Grün wie die Augen des Hohepriesters.

»Welche Zauberei ist hier am Werk?«, haucht Magus Gaffney in offenkundigem Entsetzen. Rauchende Schattenrunen prangen überall auf den Flanken, der Brust, dem Rückgrat der Krähe.

In einer beängstigend synchronen Bewegung wenden der Großmagus und das Tier die Köpfe zu Magus Gaffney. Vyvian läuft ein kalter Schauer über den Rücken.

»Ein Runenauge«, erklärt Vogel, und Vyvian begreift, dass er nicht nur durch seine eigenen zwei Augen, sondern auch durch das grüne mitten auf dem Kopf der Krähe sieht.

»Warum hat dieses … Ding so viele Augen?«, stößt Magus Greer hervor und kann den Blick nicht von dem Tier abwenden.

Vogel und die Krähe wenden sich ihm wie ein einziger Organismus zu, und Vyvian fröstelt erneut.

»Eine Nebenwirkung der Magie, die ich dafür verwendet habe«, antwortet der Hohepriester.

Aus dem Rat erhebt sich aufgewühltes Gemurmel.

»Gibt es noch mehr von diesen entarteten Vögeln?«, verlangt Magus Greer zu wissen.

»Nur den einen«, entgegnet der Großmagus kühl und hebt das Kinn. Die Krähe fliegt auf und landet auf der Schulter von Mavrik Glass. Den jungen Magus scheint das Monstrum nicht zu beeindrucken, sein gerissenes Lächeln ist breit. »Vorerst«, setzt Vogel mit einem pointierten Blick in die Ratsrunde hinzu, wie um die darin verborgenen Möglichkeiten deutlich zu machen.

»Ein runischer Spion«, wispert Magus Snowden ehrfürchtig, und nun liegt noch zusätzliche Anerkennung in seinem Blick auf den Hohepriester.

»Ein militärischer Vorteil«, schaltet sich Priestermagus Alfex bewundernd ein, »mit dem uns der Urvater gesegnet hat.«

Vyvian mustert die albtraumhafte Krähe und Vogels grauen Zauberstab. Einen Moment lang übermannt sie das Gefühl, dass sie hier mit gefährlicher Magie spielen, die sie besser hätten ruhen lassen. Magie aus grauer Vorzeit, verdorben und falsch.

Magie, die sich nicht beherrschen lässt.

Doch dann meldet sich ein neuer, stärkerer Gedanke.

Was, wenn diese Magie in die Hände der Heiden fiele?

Nein, sagt sie sich mit Nachdruck und schiebt die reflexhafte Furcht vor dieser Schattenmagie von sich. Vogel hat recht. Natürlich hat er das. Die Gardnerier müssen sämtliche Magie auf dem Kontinent kontrollieren. Denn sie sind das einzige Volk, das vom Urvater im Himmel geleitet wird.

»Soll ich ihnen noch mehr zeigen, Eure Exzellenz?«, erkundigt sich Mavrik Glass.

Mit einer subtilen Neigung seines Kopfes gibt Vogel seine Zustimmung.

Glass’ wissendes Lächeln verwandelt sich in ein berechnendes Grinsen. Er holt einen neuen Stein hervor und hält ihn in die Höhe, damit der Hohe Rat ihn begutachten kann. Dieses dunkel glänzende Steinplättchen trägt eine andere Schattenrune, deren kompliziert gewundene Linien sich gegeneinander drehen wie Zahnräder aus dichtem Rauch.

Glass ballt die Faust um den Stein und zieht den Mahagoni-Zauberstab aus dem Futteral an seinem Gürtel. Dann schließt er die Augen, senkt den Kopf und legt die Spitze seines Zauberstabs an seine Schulter. Seine Miene zeugt von äußerster Konzentration.

Vyvian schnappt nach Luft, als die Gestalt des jungen Mannes verschwimmt, ehe sie zu dunklem Nebel vergeht. Sein Körper wird formlos, ehe er wieder an Kontur gewinnt und als muskulöse Noi-Frau mit schwarzen Locken, kantigen Gesichtszügen und der schwarzen Uniform der Vu Trin vor ihnen steht. Der albtraumhafte Vogel hockt noch immer auf ihrer Schulter.

Auch die anderen Ratsmitglieder keuchen auf.

»Ein Scheinzauber«, murmelt Magus Flood. Er klingt ehrfürchtig angesichts dieser von Vogel beschafften Ressourcen. Scheinzauber waren bislang allein den Fae vorbehalten, ebenso wie Portalmagie immer das Feld der Vu-Trin-Streitkräfte der Noi war.

In Glass’ vorgetäuscht Noi-dunklen Augen liegt ein schlaues Glitzern. »Die Portalsteine sind beinahe vollständig aufgeladen«, teilt er dem Großmagus mit seiner tiefen Stimme mit, die einen irritierenden Kontrast zu seinem weiblichen Äußeren darstellt. Triumphierend grinst er in die Runde. »Noch heute Abend werde ich den Reichen des Ostens einen Besuch abstatten.«

»Der Icaral ist noch nicht im Vollbesitz seiner Kräfte«, erklärt Vogel, während Glass mit dem Zauberstab an seine Schulter tippt und wieder seine gardnerische Gestalt annimmt. »Magus Glass wird mit dem Runenauge durch das Portal reisen«, verkündet der Großmagus. »Er wird die dämonische Kreatur aufspüren. Und niederstrecken.«

Vyvian durchströmt Erleichterung und verdrängt jegliche Angst vor Vogels neuen Runenkräften mit dem glühenden Bild einer in Ordnung gebrachten Welt.

Ja, ihre Nichte war in ein sittenwidriges Verhältnis mit einem Icaral-Dämon verstrickt. Dem Icaral-Dämon.

Aber Yvan Guryev wird binnen weniger Tage tot sein, tröstet sie sich und zwingt sich, gleichmäßig zu atmen. Die Große Prophezeiung wird unter der Gewalt der Gardnerier zerschellen, und Mutters Tod wird gerächt sein.

Die Macht Gardneriens ist soeben unaufhaltsam geworden, wird Vyvian klar, und sie bekommt eine Gänsehaut. Mit Portalmagie, geflügelten Spionen und Scheinzaubern wird das Jüngste Gericht nicht aufzuhalten sein.

Jetzt nicken die Ratsmitglieder einander zu und unterhalten sich gedämpft in selbstsicherem Tonfall. Offenbar haben sie sich ebenso schnell auf Vogels unglaubliche Machtdemonstration eingestellt wie Vyvian, denn in ihren Augen glänzt frische Entschlossenheit.

Auf ein scharfes Klopfen hin wenden sich alle Köpfe zur Tür.

Vogel nickt der Krähe zu, und die Kreatur schließt alle Augen bis auf die ursprünglichen zwei. Die Schattenrunen in ihrem Gefieder verschwinden. Vyvian überkommt eine weitere Woge der Ehrfurcht angesichts dieser mühelosen Camouflage, dann wird die Flügeltür geöffnet.

Ein dünner Eilbote des Militärs tritt ein. Er wirkt nervös, steht steif da und schluckt, als er Vogel ansieht. Hinter ihm schließen die Wachen die Tür.

Stille senkt sich über den Saal.

»Großmagus, ich bringe Nachricht aus dem Norden«, beginnt der Soldat mit unsicherer Stimme.

»Und die lautet?«, fragt Vogel langsam und beherrscht.

»Die Einheit von Kommandant Sylus Bane … hat in der Wildnis wieder eine Bande von Fae aufgestöbert, Eure Exzellenz.« Der Bote legt angespannt die Stirn in Falten. »Achtzehn Stück diesmal. Dryaden.«

Vyvian zuckt innerlich vor dem Wort zurück, während erneut ein beunruhigtes Raunen durch den Saal geht.

»Dryaden?«, ruft Magus Snowden aus.

»Die Baum-Fae?«, staunt Priestermagus Alfex mit geweiteten Augen. »Das ist unmöglich.«

»Die sollten tot sein«, stößt Magus Greer hervor. »Tot, allesamt. Wie kann es sein, dass wir immer wieder welche von denen aufgreifen?«