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"Bis die Angst verblasst" ist eine bewegende Geschichte, die sich um die Geschwister Maren und Thorben sowie ihre Mutter Lizbeth dreht. Maren und Thorben, zwei Kinder aus einer bedürftigen Familie, werden ihrer überforderten Mutter entrissen und in eine Pflegefamilie gebracht. Die Geschichte folgt den Kindern durch diese dramatische Veränderung, zeigt ihre Anpassung an die neue Umgebung und ihre Entwicklung in der Pflegefamilie. Gleichzeitig kämpft Lizbeth in einem Suchtzentrum mit ihren eigenen Dämonen und arbeitet an ihrer persönlichen Heilung. Die Erzählung verwebt Themen von Verlust, Trauma, Hoffnung und Heilung. Durch die Augen der Kinder erlebt der Leser ihre Ängste, ihre Anpassungsfähigkeit und ihre Sehnsucht nach ihrer Mutter. Lizbeths Weg spiegelt die Herausforderungen wider, mit denen sich Menschen konfrontiert sehen, wenn sie versuchen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. "Bis die Angst verblasst" ist eine tiefgreifende Erkundung der menschlichen Resilienz und des unerschütterlichen Bandes zwischen Mutter und Kindern.
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Seitenzahl: 346
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Das Ergebnis ist ein Werk, das nicht nur ein persönliches Porträt zeichnet, sondern auch als Spiegel für die Leserschaft dient. Es verdeutlicht, wie sehr unsere eigenen Geschichten und die unserer Liebsten miteinander verwoben sind und wie aus dem Austausch und dem Verstehen dieser Verbindungen Heilung entstehen kann.
Erst nach endlosen Unterhaltungen mit meiner Mutter gelang es mir, ihre Gefühle, Ängste und Sorgen authentisch in diesem Buch einzufangen. Jahre vergingen, bis ich die Reife und Tiefe erlangte, die notwendig waren, um diese Seiten zu füllen.
Diese tiefen Gespräche offenbarten nicht nur die verborgenen Schichten ihrer Persönlichkeit, sondern auch die universelle Verflechtung menschlicher Emotionen, die uns alle verbindet.
NACH EINER WAHREN BEGEBENHEIT
ZWISCHEN LIEBE UND VERLUST
DER WEG ZUR VERÄNDERUNG
IM SCHATTEN DER UNSICHERHEIT
SCHATTEN DER VERGANGENHEIT
ZWISCHEN HOFFNUNG UND VERZWEIFLUNG
DER WEG ZURÜCK NACH HAUSE
EIN NEU ANFANG IN SICHT
NEUE HEIMAT, ALTE ENTTÄUSCHUNGEN
EIN NEUER ANFANG
VERLORENE UNSCHULD
LIZBETHS VERZWEIFELTER KAMPF UM NORMALITÄT
DER STILLE SCHMELZ
EIN KAMPF UM SCHUTZ UND WÜRDE
GEWALT, UNSCHULD UND GESCHWISTEBLIEBE
LIZBETH MUTIGER KAMPF FÜR IHRE KINDER
EIN DÜSTERES KAPITEL ENDET
VERSTRICKUNGEN DER VERGANGENHEIT
EIN ERSCHÜTTERDER WEG ZUR HEILUNG
MAREN WIRD OPFER BRUTALER ERZIEHUNG
KAMPF UM GESUNDHEIT UND VERTRAUEN
HOFFNUNG NACH DEM STURM
LIZBETHS ENTSCHLOSSENHEIT INMITTEN VON HERAUSFORDERUNGEN
OFFENBARUNGEN UND KONSEQUENZEN
VERTRAUEN UND VERRAT
MARENS SCHWERER KAMPF GEGEN KRANKHEIT UND
EINE UNERWARTETE REISE FÜR MAREN UND THORBEN
ZWISCHEN ALPTRÄUMEN UND HOFFNUNG
DER SCHWIERIGE WEG ZUR GENESUNG
LIZBETH KAMPF UM DIE RÜCKKEHR ZU DEN KINDERN
DIE LAST DER VERGANGENHEIT
DER WEG ZUR SELBSTHEILUNG
ZWISCHEN ZWEI WELTEN
LIZBETHS SUCHE NACH STABILITÄT UND LIEBE
DAS WAGNIS DER RÜCKKEHR
ZWISCHEN HOFFNUNG UND REALITÄT
AUF SICH ALLEIN GESTELLT
LIZBETHS KAMPF UM EINEN NEU ANFANG
FREUNDSCHAFTEN UND HERAUSFORDERUNGEN
GEMEINSAM DURCH STÜRMISCHE ZEITEN
EIN ZUHAUSE FÜR JEDEN
LIZBETH ZWISCHEN SCHATTEN UND LICHT
DAS RINGEN UM NORMALITÄT
DIE SCHMERZLICHE ERKENNTNIS
ZWISCHEN LIEBE UND VERTRAUENSBRUCH
LIZBETHS REISE ZU SICH SELBST
MAREN'S WEG ZUR AKZEPTANZ
DER WEG INS LICHT
MARENS WEG ZU SELBSTSTÄRKE
IN DEN WIRREN DES LEBENS
MARENS SUCHE NACH ZUGEHÖRIGKEIT
LIZBETHS VERZWEIFELTER WEG
WENN DIE VERMTWORTUNG SCHWER WIEGT
VON LIEBE UND LASTEN
ÜBER HÜRDEN DER LIEBE
AUFBRUCH INS UNGEWISSE
ABSPANN
Maren war gerade erst drei Jahre alt, als sie und ihr großer Bruder Thorben im Alter von vier Jahren zum ersten Mal ihrer Mutter entrissen wurden. Maren war ein aufgewecktes, neugieriges Mädchen mit langen, braunen Locken und durchdringend blauen Augen, die manch Fassade durchleuchteten. Thorben hingegen war schüchtern, aber genauso pfiffig und aufgeweckt. Seine blauen Augen strahlten, und sein kurzes, braunes Haar verlieh ihm einen kindlichen Charme. Trotz ihres jungen Alters trugen beide Kleidung aus der Altkleiderkammer, mit kleinen Löchern von Motten oder Mäusen.
Die Familie konnte sich weder neue Kleider noch Bücher oder Spielzeug leisten, und oft mangelte es an Essen und Hygiene. Dies spiegelte sich in der zarten Statur der Kinder wider, die dünn und mit vielen Knoten in den Haaren waren. Nur wenige Wochen zuvor waren Maren, ihr Bruder Thorben und ihre Mutter Lizbeth in einem Nachtzug nach Westdeutschland gereist. Ihr Ziel war das kleine Städtchen Bruchsal, wo subventionierte Wohnungen Familien aus Ostdeutschland eine neue Perspektive bieten sollten. Der Vater, der sich abgewandt hatte, existierte nicht mehr in ihrem Leben.
Die Familie fand vorübergehend in einer kleinen Kellergeschosswohnung auf dem Gelände eines alten Klosters namens "Die Comburg" Unterschlupf. Die Wohnung war düster mit wenigen Fenstern, nur etwa 40 Quadratmeter groß und umfasste zwei Zimmer. Die Kinder konnten von ihrem Zimmer aus durch die Fenster in den Hof krabbeln, während die Mutter auf dem Sofa im Wohnzimmer schlief.
Lizbeth, die Mutter, war eine starke Frau mit einer bewegten Vergangenheit. Klein und schlank mit wunderschönen schwarzen Locken und großen braunen Augen hatte das Leben der 25-Jährigen bereits harte Prüfungen auferlegt. Mit 11 Jahren war sie alkoholabhängig und schwänzte die Schule. Lizbeth stammte aus einem Elternhaus ohne Liebe, fand jedoch Trost bei ihren Großeltern. Mit 18 Jahren zog sie aus, arbeitete als Kellnerin und traf Günther, den Vater der Kinder. Er hatte, wie Lizbeth, schwarze Haare. Er war normaler Größe, schlank und am Arm hatte er einen Ankertatoo. Das war für ihn schon die dritte Ehe. Sie verliebten sich schnell und heirateten. Schon mit 21 Jahren bekam sie einen kleinen jungen, und kurz darauf ein kleines Mädchen und schließlich mit 24 Jahren ein weiteren jungen, den sie zur Adoption frei gab.
Die Ehe endete, als Günther die Tochter nicht akzeptierte.
Im September, mitten in der Nacht, wurden Maren und Thorben von fremden Händen aus ihren Betten gerissen. In diesem tragischen Moment wurden sie von ihrer überforderten Mutter Lizbeth getrennt. Die Kinder schrien nach ihrer Mutter, die nur hilflos im Türrahmen stand.
Beide starr vor Angst, nicht wissend was los ist, schrien und weinten sie nach ihrer Mutter „Mama, was passiert hier. Wieso nehmen diese Menschen uns mit?."
Ein Versprechen der Liebe begleitete sie, als sie aus dem Raum getragen wurden. Beide versuchten mit aller Kraft sich den fremden Händen zu entreißen, um zu ihrer Mutter zu gelangen. Nach dem schmerzhaften Abschied brach Lizbeth unter Tränen zusammen, griff zu Zigaretten und Apfelkorn, während sie sich fragte, wie es nun weitergehen sollte.
Lizbeth versuchte sich einzureden, dass es das Beste für sich und den beiden war. Sie wollte, dass ihre kleinen eine Chance auf ein Leben hatten. Doch Lizbeth stand nur da, überfordert und nahe einem Kollaps. Sie war nicht in der Lage, weder geistig noch körperlich, etwas zu unternehmen. Der Schock war groß und Hilflosigkeit durströmte ihren Körper.
„Ich komme euch bald wieder nach Hause holen. Ich liebe euch, vergesst dass nicht", schrie Lizbeth zum Abschied."
Als ihre Kinder aus dem Haus waren, sackte Lizbeth unter Tränen in sich zusammen. Hastig und mit zitternden Händen zündetet sie sich eine weitere Zigarette an und nahm einen weiteren tiefen Schluck aus der Apfelkornflasche. Dass tat sie öfters, wenn sie überfordert war oder nicht weiterwusste. Sie sparte oft an ihrem eigenen Essen, um sich Zigaretten und Alkohol zu kaufen.
Sie wusste nicht, wie es jetzt weiter gehen soll, Lizbeth wusste nur, dass sie schleunigst Hilfe brauchte.
In Tränen aufgelöst versuchte sie, ihren Schmerz mit Alkohol zu ertränken.
„Wer hat eine Meldung ans Jugendamt gemacht?", murmelte Lizbeth vor sich hin. Sie wusste, dass Alkohol keine Lösung war, aber es half ihr, mit ihren Gefühlen klarzukommen. Das Jugendamt legte ihr einen Besuch in einer Suchtklinik nahe. Sie müsse unbedingt trocken werden und ihre Gefühle sowie ihr Leben in den Griff bekommen. Nach einer Weile schlief Lizbeth betrunken auf dem Boden ein. Der nächste Tag war schon angebrochen, und die ersten Sonnenstrahlen fielen in die Kellerwohnung.
Als Lizbeth wieder zu sich kam, überkam sie der Schmerz darüber, dass ihre Kinder in der vergangenen Nacht weggenommen worden waren. In ihrer Verfassung schien es unmöglich, eine Suchtklinik zu finden und dorthin zu gelangen. Sie besaß weder Auto noch Führerschein. Lizbeth brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Sie warf sich eine Schmerztablette gegen die Kopfschmerzen ein, zog sich an und benutzte etwas Wasser, um sich zu erfrischen. Dann machte sie sich auf den Weg zum Hausarzt, in der Hoffnung, dass er ihr weiterhelfen konnte.
Dort angekommen, sah sie die Dame am Empfang streng an, erkannte jedoch sofort, dass diese Frau dringend Hilfe brauchte. Die Empfangsdame bat Lizbeth, einen Moment im Wartezimmer Platz zu nehmen, da der Arzt sich gleich Zeit für sie nehmen würde. Lizbeth wartete etwa eine Stunde, was ihr wie eine Ewigkeit ohne Zigaretten oder Alkohol vorkam. Sie fing an zu zittern und bemerkte schnell, dass ihr körperlicher Zustand von Minute zu Minute abbaute.
Lizbeth raffte sich auf, um nach einem Arzt zu fragen. Ein starkes, unkontrolliertes Zittern überkam sie, als sie aufstand. Nach wenigen Sekunden wurde es besser, und sie konnte zum Empfang gehen. Kurzatmig und mit zitternden Beinen erreichte sie den Tresen, an dem sie sich krampfhaft festhielt. Ihr Hausarzt kam und rief gleichzeitig den Krankenwagen.
„Frau Weidmann, können Sie ins Sprechzimmer laufen?", fragte der Arzt etwas lauter. Er hatte den Eindruck, als sei Lizbeth nur bedingt aufnahmefähig, womit er auch Recht hatte. Lizbeth schaute den Arzt nur an und brach dann zusammen. Wenige Minuten später fand sie sich auf der Liege im Sprechzimmer wieder. Am Arm hatte sie ein Pulsmessgerät, und in der Tür standen Sanitäter, die Lizbeth zum Transport vorbereiteten.
„Was ist passiert?", fragte sie verwirrt und schaute dabei den Arzt an.
„Ihr Körper ist kollabiert. Sie werden jetzt erstmal ins Krankenhaus für weitere Tests gebracht, um auszuschließen, dass Organe beschädigt sind", mit diesen Worten ließ der Arzt die Sanitäter durch und nahm ihr das Pulsmessgerät ab. „Ich brauche Hilfe. Ich muss in eine Suchtklinik", flehte Lizbeth den Arzt an. „Sie haben mir letzte Nacht meine Kinder genommen."
„Keine Sorge, Frau Weidmann, im Krankenhaus wird man sich um Sie kümmern", redete der Arzt beruhigend auf Lizbeth ein.
In der Notaufnahme wurde Lizbeth von oben bis unten untersucht. Herz, Lunge, Leber, Niere und den Blutkreislauf. Alles wurde genau geprüft und getestet. Es schien bisher alles in Ordnung zu sein. Nur die Lunge war auffällig. Es hatte sich viel Teer darin gesammelt, was das starke Rauchen verursacht hatte.
Lizbeth war auf sich allein gestellt. Sie hatte keine Hygieneartikel, keine frische Wäsche oder Zigaretten dabei. Sie hatte auch keine Freunde oder Verwandte, die ihr gerade etwas bringen konnten. Nach ein paar Stunden in der Notaufnahme wurde sie auf die normale Station verlegt. Am Nachmittag wollte ein Arzt bei ihr reinschauen, um mit ihr die Ergebnisse und das weitere Vorgehen zu besprechen. Jetzt sollte sie sich erstmal ausruhen und zu Kräften kommen. Die Ärzte hatten ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt, und Lizbeth schlief tief und fest ein.
Als sie wenige Stunden später erwachte, zog sie sich schnell ihre Schuhe an und suchte das Krankenhauscafé, in dem es sicherlich auch Zigaretten gab. Sie hatte fünf Mark einstecken, das reichte hoffentlich für etwas Tabak und Hülsen. Sie hatte Glück, das Krankenhauscafé war auch ein kleiner Kiosk, in dem die Patienten einkaufen konnten. Es gab sogar die Lieblingszigarettenmarke von Lizbeth, und das Geld reichte gerade so. Eigentlich hoffte sie, dass etwas übrigbleiben würde, damit sie eine Telefonkarte kaufen konnte. Lizbeth wollte unbedingt beim Jugendamt anrufen, um in Erfahrung zu bringen, wo ihre Kinder sind und wie es ihnen geht. Im Nachhinein ärgerte sich Lizbeth, dass sie zuerst die Zigaretten gekauft hatte. Sie war wieder mal nur auf sich bedacht gewesen.
Am Nachmittag kam der Visitenarzt und präsentierte Lizbeth die Ergebnisse ihrer Blutwerte sowie der Untersuchung der inneren Organe.
„Guten Tag Frau Weidmann, mein Name ist Dr. Gregorian. Wie geht es Ihnen?",
„Guten Tag Dr. Gregorian, mir geht es schon viel besser als heute Morgen. Wobei ich immer noch stark zittere und es auch nicht kontrollieren kann", gespannt wartet Lizbeth auf ihre Ergebnisse.
„Das freut mich zu hören. Dass mit dem Zittern wird auch erstmal nicht aufhören. In ihren Blutwerten haben wir einen Promillewert von 3,2 gemessen. Dieser Wert ist höher als ein normaler Alkoholabsturz. Konsumieren Sie regelmäßig Alkohol Frau Weidmann?", fragte Dr. Gregorian ganz offen ohne Umschweife. Er hatte im Laufe seiner Dienstjahre gelernt, dass es meist nichts hilft, um den heißen Brei herumzureden.
„Ja leider schon. Das hilft mir, mit mir selbst klarzukommen" gab Lizbeth beschämt zu.
„Das erklärt einiges. Wir haben auch Auffälligkeiten bei Ihrer Lunge festgestellt. Der starke Teerkonsum durch das Rauchen hat Spuren hinterlassen. Es wäre ratsam, wenn Sie mit dem Rauchen aufhören würden", erklärte Dr. Gregorian.
„Ich weiß, dass ich einiges ändern muss. Aber im Moment treibt mich die Sorge um meine Kinder um. Haben Sie Informationen darüber, wo sie sich befinden?", fragte Lizbeth besorgt.
„Ich kann verstehen, dass Sie besorgt sind. Allerdings habe ich keine Informationen darüber. Ihr Hauptfokus sollte jetzt auf Ihrer Gesundheit liegen. Wir können Ihnen bei Ihrem Alkoholproblem und auch beim Rauchstopp helfen. Es gibt hier im Krankenhaus entsprechende Programme und Beratungen", schlug der Arzt vor.
„Das ist wichtig, ich will mein Leben ändern. Aber bitte, gibt es irgendeine Möglichkeit, mehr über meine Kinder zu erfahren?", bettelte Lizbeth.
„Ich werde mich erkundigen, ob es eine Kontaktperson gibt, die Sie informieren kann. Geben Sie mir bitte etwas Zeit", sagte Dr. Gregorian.
„Vielen Dank, Dr. Gregorian", sagte Lizbeth, während sie die Unterlagen entgegennahm. Die Gedanken an den möglichen Schaden, den sie sich selbst zugefügt hatte, ließen sie nachdenklich werden. Die Vorstellung einer Entzugsklinik war ihr zwar unangenehm, aber sie erkannte die Dringlichkeit, ihr Leben in den Griff zu bekommen.
Lizbeth blieb allein zurück und hoffte darauf, bald mehr über den Verbleib ihrer Kinder zu erfahren.
„Ich weiß, dass es schwer ist, aber der Weg in die Klinik könnte ein erster Schritt zu einem besseren Leben sein", fügte Dr. Gregorian hinzu. „Wir werden Sie unterstützen, so gut wir können."
„Regelmäßiger Alkoholgenuss kann ihrem Körper erheblichen Schaden zufügen und endet oftmals mit dem Tod. Sie sollten eine Entzugsklinik besuchen", mit diesen Worten drehte sich der Arzt zu einer der Helferinnen um. „Bitte geben Sie Frau Weidmann die Prospekte von der Klinik in Weinsberg Frau Hofmeyer."
„Ich würde dies sehr gerne in Anspruch nehmen Dr. Gregorian. Wie komme ich da hin? Was muss ich machen, um dort einen Platz zu erhalten?", Lizbeth war dem Arzt dankbar, dass er ihr schon eine passende Klinik herausgesucht hatte.
„Suchtkliniken haben oftmals Plätze für Akutfälle. Ich würde Sie als solchen einstufen und sie in zwei Tagen dorthin verlegen lassen", schlug der Arzt vor.
„Das wäre wunderbar" freute sich Lizbeth. Jetzt muss sie sich nur noch ein paar Klamotten und Hygieneartikel von zu Hause besorgen.
„Sie haben die Möglichkeit morgen Vormittag nach Hause zu fahren, um ein paar Sachen für die Klinik zu packen. Seien Sie bitte zum Mittagessen wieder hier, damit wir nochmals nach Ihnen sehen können." Lizbeth wunderte sich über Dr. Gregorian, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Am liebsten wäre sie aus dem Bett gesprungen, um den Arzt vor Dankbarkeit zu umarmen.
Nachdem der Arzt das Zimmer verlassen hatte, blieb Lizbeth mit den Informationsmaterialien zurück. Sie blätterte durch die Prospekte und las über die verschiedenen Therapieansätze. Der Gedanke, sich dieser Herausforderung zu stellen, wurde in ihrem Kopf immer präsenter.
„Ich muss etwas ändern", murmelte sie vor sich hin. Mit einem Blick auf die Uhr realisierte sie, dass es Zeit war, die Kinder zu suchen und sich über ihren Verbleib zu informieren. Der Drang nach Antworten und die Angst um ihre Kinder trieben Lizbeth dazu, die Klinikpläne vorerst zu verschieben und sich auf die Suche zu machen.
Die Gedanken an ihre Kinder übermannten sie, und sie entschied sich, zuerst beim Jugendamt anzurufen, um nach ihren Kindern zu fragen. Nach dem Telefonat konnte sie dann zu Hause ein paar persönliche Gegenstände für die Klinik packen.
Am nächsten Morgen stand Lizbeth früh auf und fuhr mit dem Bus zu ihrer Wohnung. In Eile packte sie einige persönliche Gegenstände und sorgte dafür, dass ihre Wohnung sicher war. Sie informierte auch ihren Vermieter über die neuen Umstände. Zurück im Krankenhaus kaufte sie eine Telefonkarte, um das Jugendamt anzurufen.
In der großen Eingangshalle des Krankenhauses fand Lizbeth eine Telefonnische gegenüber dem Café. Aufgeregt wählte sie die Nummer des Jugendamtes und teilte ihre aktuelle Situation mit. Die Mitarbeiterin versprach, die Informationen weiterzuleiten, konnte jedoch keine Auskunft über den Aufenthaltsort ihrer Kinder geben. Frustriert rauchte Lizbeth eine Zigarette vor der Tür.
Die Ärzte hatten ihr ein Mittel gegen das Verlangen nach Alkohol gegeben, was ihr half, den Tag zu überstehen. Trotzdem konnte das Zittern nicht gelindert werden. Lizbeth hatte ihre Sachen nicht ausgepackt, da sie am nächsten Morgen weiterreisen würde. Anspannung und Sehnsucht nach ihren Kindern begleiteten sie. Am nächsten Morgen sollte sie frühzeitig zur Entzugsklinik nach Weinsberg gebracht werden.
Maren und Thorben wurden auf die Rückbank eines Autos gesetzt. Beide weinten und hatten große Angst. Thorben versuchte seine kleine Schwester zu beruhigen und ein starker, großer Bruder zu sein.
„Keine Angst, Maren. So lange wie wir zusammen sind, kann uns nichts passieren", versuchte er, so selbstsicher wie möglich zu klingen, doch seine Tränen verschluckten seine Worte. Maren verstand kein Wort von dem, was die fremden Menschen ihr und ihrem Bruder mitteilten. Die Menschen sagten, sie seien Mitarbeiter vom Jugendamt und würden beide nun in eine Familie bringen, bei der sie vorübergehend bleiben könnten. Auch ihr Bruder schaute ratlos zu ihr herüber und drückte dabei ihre Hand. Das kleine Mädchen mit den sonst so strahlenden Augen war gebrochen. Sie fühlte sich verraten von ihrer Mutter. Maren versuchte immer noch alles zu verarbeiten, was passiert war. Auch ihr Bruder Thorben sackte in sich zusammen und starrte finster auf den Fußboden vor sich.
Maren hatte ein stark ausgeprägtes Menschenverständnis. Sie konnte nicht nur die Empfindungen der Menschen um sich herum, sondern auch deren Charakter, ohne jeweils mit ihnen gesprochen zu haben, bei nur einem kurzen Blick spüren. Doch was sie jetzt empfand, war Wut, Verzweiflung und Angst davor, was als Nächstes kommen würde.
Die Habseligkeiten, die Maren und Thorben besaßen, passten in einen kleinen Rucksack. Eilig hatten die fremden Menschen nur ein paar Kleidungsstücke und jeweils ein Spielzeug vom Sperrmüll für die Kinder zusammengepackt. Sie hatten nur ihre Hausschuhe und eine Jacke übergeworfen bekommen.
Die Fahrt schien eine Ewigkeit zu dauern. Maren und Thorben waren erschöpft. Der Mond war vom Seitenfenster der schwarzen Limousine gut zu erkennen. Bald ist Vollmond. Endlich angekommen, stiegen Maren und ihr Bruder Thorben zögerlich aus dem Auto. Sie blieben vor einem schönen, großen Einfamilienhaus stehen. Das Haus stand in einer Reihe anderer Neubauhäuser direkt im Wendehammer eines Wohngebiets. Die Kinder konnten auf der Straße spielen, malen und Fahrrad fahren, ohne dass Autos sie behinderten.
Im Vorgarten standen Kinderfahrräder, und auch ein Sandkasten sowie eine Schaukel waren für Maren und Thorben erkennbar. Das Haus war von außen beleuchtet, mit rotem Klinker überzogen und hatte eine schwarze Haustür. Hinter dem Haus erstreckte sich ein großer Garten mit einem Tor und einem Trampolin.
Der Mitarbeiter des Jugendamts, ein Mann mittleren Alters mit leicht graumelierten Haaren und eher hagerer Statur, kniete sich zu Maren und Thorben hinunter. Er sprach mit sanftem und ruhigem Ton:
"Ich weiß, ihr habt Angst. Alles ist neu und ungewiss. Mein Name ist Keith, und ich werde euch begleiten. Diese Pflegefamilie hat auch Kinder in eurem Alter und freut sich darauf, euch kennenzulernen. Ihr werdet eine Weile bei ihnen bleiben."
„Eine Pflegefamilie ist eine ganz normale Familie mit Mama, Papa und oft auch eigenen Kindern. Sie nehmen fremde Kinder auf, betreuen und erziehen diese, wenn die Kinder nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können", erklärte Keith.
„Die Kinder sind nur für einen bestimmten Zeitraum oder manche sogar dauerhaft in Pflegefamilien untergebracht."
„Kann jeder eine Pflegemama oder Pflegepapa sein?", fragte Maren.
„Nein, man muss sich erst einmal dafür qualifizieren. Hierzu sind einige Unterlagen nötig, wie zum Beispiel ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis, in dem steht, ob sie lieb oder böse waren, oder ein Gesundheitsattest aller Pflegemamas und Pflegepapas. Damit wird geschaut, ob alle gesund sind. Zudem wird geprüft, ob die Pflegeeltern genug Geld haben, um fremde Kinder aufzunehmen, und sie müssen an vielen Schulungen und Eignungsverfahren teilnehmen. Dann entscheiden wir vom Jugendamt, ob diese Familie geeignet ist, Kinder in Not aufzunehmen und zu betreuen. Wir schauen uns von jeder Pflegefamilie vorher ihr Zuhause an, ob es sauber, ordentlich ist und ob genug Essen sowie Kleidung vorhanden sind", erläuterte Keith geduldig. Er versuchte es so kindgerecht wie möglich zu erklären. Er selbst hatte keine Kinder, konnte aber sehr gut mit ihnen umgehen und hatte ein feines Gespür für die Empfindungen der Kleinen. Darum liebte er seinen Job und hing mit Herzblut daran. Maren und Thorben waren sein dritter schwerer Fall, mit dem er es zu tun bekam. Nur selten musste er nachts in ein Haus gehen, um die Kinder dort herauszuholen. Das nahm ihn schon sehr mit.
„Werden Maren und ich zusammenbleiben?", fragte Thorben. „Natürlich werdet ihr das. Wir gehen jetzt erstmal rein und ihr lernt die Familie kennen. Sicherlich gibt es die Möglichkeit, dass ihr gemeinsam in einem Zimmer schlafen könnt", antwortete Keith, der Mitarbeiter vom Jugendamt, mit einem Lächeln. Thorben packte die Hand seiner kleinen Schwester, während Keith die Stufe zur Haustür emporging, um zu klopfen. Klingeln durfte er um diese Uhrzeit nicht, denn die Kinder der Familie schliefen. Eine schlanke, eher kleine Frau mit kurzen blonden Haaren öffnete die Tür und lächelte Maren und Thorben freundlich an. „Hallo ihr zwei, ich bin Angeline, schön dass ihr da seid. Wir haben schon auf euch gewartet und heißen Kakao gemacht." Hinter Angeline kam ein großer, ebenfalls schlanker Mann mit kurzen schwarzen Haaren hervor. Auch er lächelte beide freundlich an. „Guten Abend Maren und Thorben. Ich bin Richard, gebt mir eure Sachen, ich trage diese schon mal ins Haus."
Im Haus vernahm man aufgeregtes Gebell, und ein Hund stürmte freudig auf die beiden Kinder zu, um sie zu begrüßen. Er sprang hoch und versuchte, Maren und Thorben zu beschnuppern und abzulecken.
„Ihh, lass das!", kicherte Maren. Eine angenehme Wärme strömte von dieser Familie aus. Mutig streichelte sie den Hund und schloss ihn in die Arme. Auch bei Thorben löste sich die Anspannung, und er konnte sich von seiner kleinen Schwester lösen.
Keith, der Mitarbeiter vom Jugendamt, begab sich zu dem Ehepaar, um sie zu begrüßen. Maren, Thorben, Keith, Angeline und Richard betraten zusammen mit Benno dem Hund den Flur des Hauses. Ein verlockender Duft von Essen durchströmte die Luft. Spielsachen lagen überall auf dem Boden, kleine Kinderschuhe standen ordentlich an der Garderobe, und darüber hingen die Jacken und Mäntel. Maren und Thorben waren sprachlos angesichts der Liebe, die diese Familie für ihre Kinder zeigte. Überall waren Spielsachen, so weit das Auge reichte. Die Köpfe der Kinder waren überwältigt von der Fülle und Wärme, die sie hier spürten. Nachdem alle ihre Schuhe und Jacken ausgezogen hatten, setzten sie sich an einen großen, alten Holztisch, an dem sechs alte Holzstühle mit Kissen standen.
Angeline setzte sich neben Maren und strich ihr sanft über das Haar. „Ihr könnt euch hier wie zu Hause fühlen, okay?", sagte sie liebevoll. „Benno ist ganz harmlos, er mag Kinder sehr."
Maren lächelte und spürte, wie ihre Anspannung nachließ. Thorben schaute unsicher zu Boden. Richard setzte sich auf die andere Seite von Thorben und versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen. „Hast du gern Hunde, Thorben?", fragte er freundlich.
Thorben nickte leicht, aber sagte nichts. Seine Unsicherheit war noch spürbar.
„Wisst ihr, Maren und Thorben, wir sind sehr froh, dass ihr bei uns seid. Wir wollen euch gerne kennenlernen und euch ein schönes Zuhause bieten", erklärte Richard. „Hier gibt es viele Spielsachen, und wenn ihr möchtet, könnt ihr euch euer eigenes Zimmer aussuchen."
Maren schaute strahlend zu Thorben. Ein eigenes Zimmer – das hatten sie noch nie gehabt. Langsam begannen die beiden Kinder, sich in ihrer neuen Umgebung zu entspannen.
Thorben ergriff zuerst seine Tasse mit dem heißen Kakao. So etwas hatte er zuvor noch nie getrunken, dafür war kein Geld da. Maren griff zuerst nach den belegten Broten, die in der Mitte des Tisches standen. Sie nahm sich ein Wurstbrot mit Butter und Ei darauf. Genüsslich verschlang sie es im Handumdrehen und widmete sich dann ihrem Kakao. Thorben aß nichts. Er saß schweigend und geknickt neben Maren. Seinen Kakao hatte er leer getrunken und war zu schüchtern, nach einer weiteren Tasse Kakao zu fragen.
Die Sonne ging bald auf. Keith stand vom Tisch auf, nachdem die ersten Details besprochen waren, und drehte sich zu Maren und Thorben: „Hier seid ihr in guten Händen. Ich komme morgen nochmal, um nach euch zu sehen. Dann können wir auch in Ruhe sprechen, und ich beantworte gerne eure Fragen." Anschließend verließ er das Haus und trat hinaus in die frische Morgenluft.
Angeline nahm Maren und Thorben an die Hand: „Kommt ihr zwei, ich zeige euch eure Zimmer. Ich hoffe, ihr könnt gut einschlafen. Soll ich Benno für heute Nacht bei euch lassen?", fragte sie. Marens Augen funkelten bei dem Gedanken, dass sie mit Benno kuscheln durfte. „Oh ja, gerne. Er ist so lieb."
Beide kuschelten sich in ihre zugewiesenen Betten und waren schnell eingeschlafen.
Als Maren am nächsten Tag erwachte, überkam sie eine unsagbare Traurigkeit. Sie fühlte sich von ihrer Mutter verraten. Warum hatte ihre Mutter ihr nicht geholfen und zugelassen, dass Keith sie und ihren Bruder mitnahm? Liebte ihre Mutter sie nicht? Viele Fragen schossen der kleinen Maren bereits in ihren jungen Jahren durch den Kopf. Sie konnte nicht anders und fing bitterlich an zu weinen. Thorben erwachte durch das Schluchzen seiner kleinen Schwester und kuschelte sich ganz nah an sie: "Maren, du bist meine beste Freundin. Alles wird gut, und ich werde dich beschützen." Maren sah ihren großen, tapferen Bruder mit bewundernden Augen an. Wie konnte er diese Stärke aufbringen? Sie war froh, dass er an ihrer Seite war und sie nicht ganz allein war.
Als beide aus ihren Zimmern kamen, war es fast Mittag. In der Küche kochte Angeline das Mittagessen. Maren und Thorben taten sich schwer, sich in ein intaktes Familienleben einzugliedern. Frisch gekochtes Essen aus gesunden Zutaten, wie Kartoffeln, war ihnen ungewohnt. Ihre Mutter Lizbeth hatte meistens eine Dose Erbsensuppe geöffnet und halbherzig erwärmt.
Angeline begrüßte Maren und Thorben freudig und ging zu ihnen. „Guten Morgen, ihr beiden, habt ihr gut geschlafen?", fragte sie und nahm beide in den Arm. Richard und die Kinder waren bereits früh aus dem Haus gegangen. Er hatte zuerst Anna in den Kindergarten und dann Levin in die Schule gebracht, bevor er ins Büro fuhr. Richard war Architekt und arbeitete an einem wichtigen Projekt für die Stadt. Anna war ein verträumtes Mädchen mit kurzen braunen Haaren, einer kleinen süßen Stupsnase und rehbraunen Augen. Sie liebte es zu malen, zu puzzeln und zu rätseln. Mit ihren vier Jahren wusste sie schon genau, was sie wollte. Ihr Bruder Levin war mit sechs Jahren sehr groß und schlank. Er hatte dunkle kurze Locken und war ein aufgeweckter, pfiffiger Junge. Motorisch war er nicht so geschickt, dafür konnte er gut Gitarre spielen.
„Habt ihr Hunger? Möchtet ihr etwas frühstücken?", und stellte beiden ein Marmeladenbrötchen mit etwas Orangensaft auf den Tisch. Thorben war als erster am Tisch und fing gleich an zu essen. Maren konnte noch nicht an den Tisch. Sie spürte etwas, was sie nicht beschreiben konnte. Es war ein Gefühl von Misstrauen, Angst und Wohlbehagen.
Thorben war bereits fertig mit seinem Frühstück und saß immer noch am Tisch, um auf Maren zu warten. „Komm schon, Maren, das Brötchen und der Saft sind lecker. Sowas gab es bei uns noch nie", ermunterte Thorben seine kleine Schwester.
Als beide noch am Frühstück saßen, klingelte es an der Tür, und Keith betrat das Haus. „Hallo, Frau Grotha, wie geht's unseren beiden Neuankömmlingen?", fragte er und zog sich dabei seine Schuhe aus. „Beide sitzen beim Frühstück, sie sind eben erst aufgestanden. Maren tut sich noch etwas schwer, aber das ist verständlich nach so einem Erlebnis wie letzte Nacht" antwortete Angeline, als sie die Tür schloss.
Keith setzte sich zu Maren und Thorben an den Küchentisch und begrüßte beide mit einem Lächeln. „Mama hat uns verraten", brach es aus Maren heraus. Sie fing bitterlich an zu weinen. Thorben legte einen Arm um seine Schwester, und auch ihm kullerten Tränen herunter.
Keith nahm die Hände der Kinder und sagte,
„eure Mutter hat euch nicht verraten. Sie ist sehr, sehr krank und braucht dringend Hilfe. Sie hat uns letzte Nacht angerufen und uns gebeten, euch in Sicherheit zu bringen. Eure Mutter ist jetzt in einer Klinik, um wieder gesund zu werden, damit sie sich wieder gut um euch kümmern kann." Maren und Thorben schluckten die Tränen herunter und hörten genau zu, was Keith ihnen erzählte.
„Möchtet ihr eure Mutter bald in der Klinik besuchen?", fragte er. Maren schüttelte den Kopf. „Nein, das möchte ich nicht", und damit war für sie das Thema beendet. Thorben hingegen bejahte die Frage.
„Ich würde sie gerne besuchen. Ich habe viele Fragen." Er wirkte auf einmal so erwachsen und reif. Er schien über Nacht um Jahre gealtert zu sein.
Thorben machte sich viele Gedanken darüber, wie es weitergehen sollte. Hatte ihre Mutter sie wirklich verraten? Was war denn auf einmal passiert? All diese Fragen möchte Thorben gerne von seiner Mutter beantwortet haben.
Das Dienstfahrzeug des Krankenhauses brachte Lizbeth in knapp einer Stunde zum Suchtzentrum in Weinsberg. Für die junge Mutter erschien diese Fahrt wie eine Ewigkeit. Sie sehnte sich danach, eine Zigarette anzuzünden, um ihre Nerven zu beruhigen. In den letzten drei Tagen war so viel geschehen, dass sie erst einmal Zeit benötigte, um alles zu verarbeiten. Als Lizbeth aus dem Auto stieg, wurde sie bereits vom freundlichen Klinikpersonal erwartet.
„Guten Morgen, Frau Weidmann. Mein Name ist Marie. Ich werde Sie heute betreuen und Ihnen alles zeigen", begrüßte Marie Lizbeth höflich mit einem Lächeln.
„Guten Morgen, mein Name ist Anna. Ich bin eine Praktikantin und begleite Sie ebenfalls", fügte Anna hinzu und hielt Lizbeth schüchtern ihre Hand zur Begrüßung entgegen.
„Guten Morgen, Marie. Hallo, Anna. Es ist sehr nett, dass Sie mich hier empfangen", erwiderte Lizbeth und folgte beiden Damen in die Klinik. Im Eingangsbereich konnte Lizbeth sich am Informationsschalter anmelden und erhielt ohne Zuzahlung eine Telefonkarte.
„Auf Ihrem Zimmer finden Sie ein Telefon. Dort stecken Sie dann Ihre Karte hinein. Abgerechnet wird am Ende des Monats oder wenn Sie die Klinik verlassen", erklärte die Empfangsdame. Nach der Anmeldung führten Marie und Anna Lizbeth durch den Speisesaal, die Therapieräume, den Sportbereich und den Aufenthaltsbereich mit einem kleinen Bistro. Am Ende der Tour begleiteten Anna und Marie Lizbeth in ihr Zimmer.
Lizbeth betrat ein spärlich eingerichtetes Einzelzimmer mit einem Bett, einem Schreibtisch samt Stuhl, einem Kleiderschrank und einem kleinen Fernseher. Hinter einer Wand neben dem Balkon befand sich ein kleines Bad mit Dusche, Waschbecken und Toilette.
„Gleich kommt die diensthabende Therapeutin, Frau Dr. Hünkel, zu Ihnen und bespricht Ihren heutigen Tag sowie Ihre Therapiestunden für die kommenden Tage. Haben Sie noch Fragen, die wir Ihnen vielleicht beantworten können?", fragte Marie geduldig und wartete auf Lizbeths Antwort.
„Nein, vielen Dank für die Einweisung. Hoffentlich finde ich mich zurecht", lächelte Lizbeth sie an.
„Der Anfang ist für alle eine Herausforderung. Sie haben das Schwerste schon geschafft. Ab jetzt wird es jeden Tag ein bisschen leichter", ermutigte Marie sie. „Jetzt kommen Sie erst einmal an und packen Sie Ihre Sachen aus."
Marie und Anna drehten sich um und verließen das Zimmer. Lizbeth atmete tief durch, als sie sich auf dem Balkon eine Zigarette anzündete. Der erste Schritt, meine Kinder wiederzubekommen, wäre geschafft, dachte sie. Alles war neu und ungewohnt. Lizbeth fühlte sich etwas verloren. Sie kannte niemanden und war kein offener Mensch, der auf andere zugehen konnte. Kontakte zu knüpfen, fiel ihr schwer, und sie scheute die Kommunikation mit anderen. Am liebsten blieb sie für sich. Lizbeth war ganz in ihren Gedanken verloren und wusste nicht, wie lange sie schon auf dem Balkon stand, als sie zu frösteln begann. Obwohl es nicht kalt war, verlangte ihr Körper langsam nach Essen und Alkohol. Sie bekam keine Medikamente mehr, die ihr halfen, dem Verlangen standzuhalten.
Es klopfte an der Tür. "Ja, bitte", antwortete Lizbeth, als sie die Balkontür schloss. Die Tür öffnete sich, und eine Frau mittleren Alters trat ein. Ihre schwarzen Haare waren hochgesteckt, und unter ihrem weißen Kittel trug sie eine knallrote Bluse und dazu eine schwarze Leinenhose. In ihren schlanken Händen hielt sie ein Klemmbrett mit zahlreichen Notizen.
„Guten Tag, Frau Weidmann. Mein Name ist Dr. Susanne Hünkel. Ich weise Sie heute in die für Sie passenden Therapiestunden ein. Konnten Sie sich etwas zurechtfinden?"
„Guten Tag, Frau Doktor. Marie und Anna haben mir freundlicherweise alles gezeigt und viel erklärt. Noch ist alles neu für mich, aber ich werde zurechtkommen", antwortete Lizbeth, überrascht von der modernen Optik der Ärztin. Sie hatte eine ältere, strenge Dame mit einer Hornbrille aus den 80er Jahren erwartet. Lizbeth war erleichtert, dass alle so hilfsbereit und höflich waren, was es für sie um einiges leichter machte. Die Ärztin überreichte Lizbeth einen Stundenplan für die nächsten vier Tage.
„Dies ist vorerst ein standardisierter Plan, der Ihnen helfen soll, Ihre Therapeuten kennenzulernen und Kontakte zu knüpfen. Ein personalisierter Plan wird in den nächsten Tagen mit Ihnen besprochen, sobald wir wissen, welche Therapie Sie genau benötigen. Ich bitte Sie, nach dem Mittagessen Ihre Medikamente an der Ausgabestelle neben der Anmeldung abzuholen", erklärte Dr. Hünkel alles genau und überreichte Lizbeth zudem einen Plan, auf dem sie die entsprechenden Therapieräume finden würde.
Als Dr. Hünkel das Zimmer verließ, studierte Lizbeth ihren Plan genauer. Sie hatte bereits am nächsten Morgen um 8:00 Uhr die erste Sitzung mit einem Dr. Bechthold in Zimmer 401. Der Name kam ihr irgendwie bekannt vor. Lizbeth wusste, dass es hier nicht einfach werden würde, aber wie hart es tatsächlich werden könnte, davon hatte sie bis dato nur eine leichte Vorahnung. Sie ging jetzt erstmal nach unten, um ihre tägliche Medikamentendosis abzuholen, vielleicht würde es ihr dann etwas besser gehen.
Am nächsten Morgen erwachte Lizbeth schon sehr früh, als die Sonne noch nicht aufgegangen war. Da es Juli war, wusste Lizbeth auch ohne Wecker, dass es zu früh zum Aufstehen war. Sie wälzte sich hin und her und erhob sich bei den ersten Sonnenstrahlen. Ihr Biorhythmus war komplett durcheinander, normalerweise schlief Lizbeth den Großteil des Tages und schaute in der Nacht Fernsehen, wenn die Kinder schliefen. Jetzt lernte sie, seit langem wieder, ein geregeltes Leben zu führen, mit Verpflichtungen und Terminen.
Lizbeth ging auf den Balkon und zündete sich eine Zigarette an, während sie den Sonnenaufgang bewunderte. Es war ein milder Morgen, und sie hoffte, heute etwas Zeit für einen Spaziergang zu haben. Ab 7:00 Uhr konnte Lizbeth frühstücken gehen. Sie wartete bereits an der Tür des Speisesaals, als dieser endlich geöffnet wurde. Großen Hunger hatte sie nicht, aber Kaffee, den brauchte sie. Lizbeth war fast allein im Speisesaal, abgesehen von den Bediensteten und einer weiteren Patientin. „Guten Morgen, na auch ein Frühaufsteher?", fragte eine fremde rauchige Stimme hinter Lizbeth.
Sie drehte sich verwirrt um, um zu sehen, wer da mit ihr sprach. Es war eine ältere Dame, schon Anfang sechzig. Ihr Haar war grau und kurz, so dass es wie ein Igelmantel wirkte. Die Dame wirkte hager und zerbrechlich, und ihre Finger waren gelb vom Nikotin.
„Guten Morgen. Ich bin schon länger wach, konnte nicht mehr schlafen. Hier ist es etwas lauter als bei mir zu Hause" antwortete Lizbeth schüchtern.
„Ja, das kenne ich. Das ist am Anfang so, aber man gewöhnt sich daran. Mein Name ist Birgit. Du bist neu, oder?", sagte Birgit und streckte Lizbeth freundlich die Hand entgegen, wobei sie dabei lächelte. Lizbeth bemerkte, dass fast alle Zähne fehlten. Diese Frau musste schon viel in ihrem Leben durchgemacht haben.
„Ja, ich bin seit gestern hier. Mein Name ist Lizbeth Weidmann. Warum bist du hier, wenn ich fragen darf?", fragte Lizbeth, schenkte sich dabei eine große Tasse Kaffee ein und wartete geduldig auf die Antwort.
„Drogen und Alkohol. Ich war fünfzehn Jahre abhängig von Cocain und Amphetaminen. Jeden Tag drei Flaschen harten Alkohol. Bin schon seit sechs Monaten hier. Die Entgiftung ist hart, aber ich komme langsam damit klar. Bin jetzt von der Straße weg und beginne hier meinen Neuanfang. Und du?", erzählte Birgit und nahm sich ebenfalls eine große Tasse Kaffee, während sie Lizbeth auf einen freien Platz gegenüber hinwies.
„Alkohol. Ich habe meine Kinder vor vier Tagen verloren. Ich musste einsehen, dass es so nicht weitergehen kann." Lizbeth nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee und schaute Birgit dabei in ihre braunen Augen.
„Das Wichtigste ist, dass du den Anfang gemacht hast. Das hier wird kein Spaziergang. Du musst hart an dir arbeiten", mahnte Birgit und hob mahnend den Finger. „Glaube nicht, dass du hier schnell wieder rauskommst, wenn du nichts dafür tust."
„Das denke ich mir. Ich habe mich selbst einweisen lassen, weil ich erkannt habe, dass ich Hilfe brauche." Lizbeth schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es an der Zeit war, zur Therapiestunde zu gehen.
„Ich muss los, Birgit. Ich habe um 8:00 Uhr meinen ersten Termin. Wir sehen uns später", sagte Lizbeth und stand auf, dabei stellte sie ihre leere Kaffeetasse auf einem Tablett an der Spülschleuse ab.
„Ja, bis später", winkte Birgit ihr zu. „Und viel Erfolg." Lizbeth hatte keine Mühe, Raum 401 dank des Plans von Frau Dr. Hünkel zu finden. Als sie den Raum betrat, saß ein junger Mann, vielleicht Anfang dreißig, hinter seinem Schreibtisch. Lizbeth ging erneut raus, um zu schauen, ob sie hier auch wirklich richtig war. Da rief der junge Mann ihr schon zu.
„Guten Morgen, Frau Weidmann. Bitte treten Sie ein", begrüßte sie der junge Arzt. „Mein Name ist Dr. Stefan Bechthold. Keine Sorge, ich sehe jünger aus, als ich tatsächlich bin", lachte der Arzt die junge Mutter an. Lizbeth hatte sich wohl bei dem Namen geirrt, er war ihr doch nicht bekannt. Verlegen setzte sich Lizbeth auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Der Arzt rollte sich zu ihr, um zwischen ihnen keine Distanz zu lassen.
„Schön, dass Sie hier sind und dass wir uns kennenlernen", sagte Dr. Bechthold und schaute Lizbeth dabei in die Augen, wartete auf eine Reaktion. Lizbeth schaute etwas beschämt zu Boden. Ihr war die Sache sehr unangenehm. Mit einem fremden Mann über ihre Probleme zu sprechen, erschien ihr wie eine große Hürde, die sie nicht meistern konnte, und eine Blockade stellte sich bei ihr ein. Ihr Kopf machte auf einmal alle Schotten dicht, und Lizbeth brachte kein Wort heraus.
„Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten. Ich verurteile niemanden und möchte Ihnen nur helfen. Viele Frauen haben am Anfang ein Problem damit, mit einem jungen Arzt über ihre Gefühle, Probleme und Sorgen zu sprechen. Das ist völlig normal", sagte der Arzt und lächelte Lizbeth beruhigend zu. Sie entspannte sich ein wenig. Also war sie nicht die Einzige, die dieses Problem hatte. Die Therapiestunde ging schnell vorbei. Dr. Bechthold sprach viel über das bevorstehende Programm und konnte Lizbeths Fragen gut erklären. Die junge Mutter mochte ihn und hatte Vertrauen, dass sie sich ihm öffnen könnte.
Es waren bereits zwei Wochen vergangen, und Lizbeth hatte sich gut in der Klinik eingelebt. Sie wurde auf Dothiepin, einen Arzneistoff aus der Gruppe trizyklischer Antidepressiva, eingestellt, was ihr bei ihren Depressionen half. Für ihre Angstzustände und Panikattacken bekam sie Diazepam verschrieben. Mit Birgit fand sie eine Freundin zum Reden und zum Kartenspielen. Lizbeth entdeckte ihre Freude am Skat und Kegeln und verbrachte ihre Freizeit oft mit ihrer neuen Freundin. Es tat ihr gut, über den Tellerrand hinauszublicken.
Sie musste einsehen, dass sie nicht der einzige Mensch mit Problemen war und dass jeder einzelne in dieser Klinik ein Schicksal zu bewältigen hatte, sei es durch Tod, Vergewaltigung, körperliche und seelische Gewalt oder Existenzverlust. Alle hatten etwas, womit sie klarkommen mussten. Da erschien Lizbeth sich doch eher als ein kleines Licht.
Von Sitzung zu Sitzung fasste Lizbeth mehr Vertrauen zu den Ärzten und konnte sich ein Stück weit öffnen, um über ihre eigene Kindheit zu sprechen. Sie wurde medikamentös auf den Entzug von Alkohol eingestellt, und das Verlangen, ihre Nerven mit Alkohol zu beruhigen, wurde immer weniger. Auch das Zittern in ihren Händen schwächte sich ab. Sie machte gute Fortschritte, merkte jedoch, dass sie noch nicht am Ziel war und es noch eine Weile dauern würde, bis sie bereit war, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Das Jugendamt hatte sich bei ihr gemeldet, und dabei erfuhr Lizbeth, wo ihre Kinder untergekommen waren und dass sie sie bald besuchen kommen würden. Sie war aufgeregt und freute sich so sehr darüber, dass das Jugendamt sein Wort gehalten hatte, dass sie die ganze Welt umarmen könnte. Diese gute Nachricht musste sie unbedingt Birgit erzählen. Schnell eilte sie in den dritten Stock, wo ihre Freundin ihr Zimmer hatte.
Birgit freute sich für Lizbeth und teilte auch ihre Neuigkeiten mit.
„Stell dir vor, ich werde in vier Wochen entlassen. Ich kann erst einmal bei meinem Sohn unterkommen, bis ich eine eigene Bleibe gefunden habe."
„Das ist schön zu hören. Wie großartig, dass du es geschafft hast und einen Weg zur Normalität gefunden hast. Werde bloß nicht wieder rückfällig", mahnte Lizbeth lachend. Ihr schmerzte der Gedanke, dass ihre Freundin schon bald weg sein würde. Sie war der einzige Mensch, den sie hier kannte.
„Nein, keine Sorge, da passt mein Sohn schon auf. Ich möchte es auch nicht mehr. Ich will in Würde sterben und nicht, dass es heißt, den Junkie hat es dahingerafft", sagte Birgit und lachte dabei, obwohl auch etwas Angst dahintersteckte. Natürlich wollte sie ihr Bestes geben, clean zu bleiben, aber eine Garantie gab es nicht.
Thorben und Maren waren sehr aufgeregt. Es waren bereits zwei Wochen vergangen, seit sie in ihre neue Familie gekommen waren. Beide hatten sich gut eingefunden und spielten oft nach dem Kindergarten und der Schule mit Anna und Levin. Maren und Thorben konnten für eine kurze Zeit das Erlebnis jener Nacht vergessen, als sie aus dem Haus getragen wurden. Sie hatten die Möglichkeit, in den gleichen Kindergarten wie Anna zu gehen, obwohl sie in einer anderen Gruppe war. Das war eine große Freude für die beiden, die vorher nie im Kindergarten waren. Maren und Thorben fanden Anschluss, lernten Lieder und bastelten viel. Maren hatte eine Lieblingspuppenecke, in der sie am liebsten allein spielte, während Thorben sich oft mit den Bauklötzen beschäftigte, die aus Holz waren, und daraus die schönsten Städte baute.