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Eine fantastische Erzählung aus dem 24. Jahrhundert. Die Serie "Meisterwerke der Literatur" beinhaltet die Klassiker der deutschen und weltweiten Literatur in einer Sammlung.
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Seitenzahl: 64
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Bis zum Nullpunkt des Seins
Kurd Laßwitz
Inhalt:
Kurd Laßwitz – Biografie und Bibliografie
Bis zum Nullpunkt des Seins
Das Geruchsklavier
Im Pyramidenhotel
Die Rache im Odoratorium
Ins All verbannt
Bis zum Nullpunkt des Seins, K. Laßwitz
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849624590
www.jazzybee-verlag.de
Philosophischer und belletristischer Schriftsteller, geb. 20. April 1848 in Breslau, verstorben am 17. Oktober 1910 in Gotha. Studierte in Breslau und in Berlin Mathematik, Physik und Philosophie, war 1875 Lehrer am Gymnasium in Ratibor und bekleidete ab 1876 eine Lehrerstelle am Gymnasium in Gotha; 1884 wurde er zum Professor ernannt. In seinen philosophischen Arbeiten hat er sich von dem früher eingenommenen subjektivistischen Standpunkt mehr entfernt und erstrebt eine erkenntnis-kritische Grundlegung der Wissenschaften im Sinne des Kantschen Idealismus. Er schrieb: »Atomistik und Kritizismus« (Braunschw. 1878); »Die Lehre Kants von der Idealität des Raumes und der Zeit allgemeinverständlich dargestellt« (Berl. 1883); »Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton« (Hamb. 1890, 2 Bde.); »G. Th. Fechner« (in »Frommanns Klassikern der Philosophie«, Stuttg. 1896, 2. Aufl. 1902); »Wirklichkeiten. Beiträge zum Weltverständnis« (Berl. 1900, 2. Aufl. 1903). Auf belletristischem Gebiet veröffentlichte er: »Bilder aus der Zukunft«, Erzählungen (3. Aufl., Bresl. 1879); »Seifenblasen«, moderne Märchen (3. Aufl., Weim. 1901); »Auf zwei Planeten«, Roman (2. Aufl., das. 1898, 2 Bde.); »Nie und Immer«, neue Märchen (Leipz. 1902).
Erzählung aus dem Jahre 2371
Aromasia saß im Garten ihres Hauses und sah träumerisch ins Blau des schönen Sommertages vom Jahre 2371. Sie folgte mit ihren Blicken den kleinen dunklen Wolken, welche sich hier und da plötzlich in der Atmosphäre bildeten und einen Regenguß herabströmen ließen; oder sie spähte nach den fliegenden Wagen und Luftvelozipeden aus, die zu ihren Füßen in buntem Gewühle die breite Straße erfüllten. Denn der Garten Aromasias befand sich in der luftigen Höhe von ungefähr hundert Metern über dem Erdboden auf dem Dache ihres Hauses.
Man sah sich genötigt, die Wohnhäuser in so gewaltigen Dimensionen aufzutürmen und die Gärten über ihnen anzubringen, da man den Raum der ebenen Erde dem Ackerbau vorbehalten mußte. So reichbevölkert war der Erdball, daß man jedes Plätzchen dem Anbau der Halmfrucht und der Ernährung des Schlachtviehs widmen mußte, um die Gefahr einer Hungersnot abzuwenden.
So wogten denn am Boden die Getreidefelder, wo immer Luft und Licht es gestatteten; darüber standen auf festen, hohen Säulen die Gebäude der Menschen, in deren unteren Stockwerken die Industrie ihr geschäftiges Leben trieb. Weiter oben folgten Privatwohnungen, und die Krone des Ganzen bildeten anmutige Gärten, deren freie und gesunde Lage sie zum beliebtesten Aufenthalte machte.
Die Aufeinanderfolge von fünfzehn bis fünfundzwanzig Stockwerken war übrigens durchaus nicht mit Unbequemlichkeiten verbunden; denn der Luftwagen war das gewöhnliche Verkehrsmittel; und wollte man wirklich einmal zu Fuß ausgehen, so fanden sich die Treppen durch treffliche Hebe- und Senkvorrichtungen ersetzt. In den Städten – und deren gab es unzählige – waren außerdem die einzelnen Stockwerke längs der Straßenfront durch Galerien verbunden; ihre Benutzung war bequem und praktisch, aber – wie es so geht, man weiß nicht immer, warum – bei der feinen Gesellschaft galt sie nicht für standesgemäß; sie diente nur dem kleinen Geschäftsverkehr und Hausgebrauche. Ebenso hielt man es für unpassend, ja, es war sogar straßenpolizeilich verboten, innerhalb der Stadt mit den leichten Fahrzeugen sich höher als die Dächer der Häuser zu erheben oder quer über Privatbesitz durch die Luft zu fliegen. Natürlich gab es auch immer mutwillige und unartige Übertreter dieser Sitte, und wenn es früher, im rohen Neu-Mittelalter, der Übermut der männlichen Jugend nicht verschmähte, in weinseliger Nacht allerlei Unfug an Schildern und Hausklingeln zu verüben, so kam es auch heute wohl vor, daß sich am Morgen ein Fenster mit schönen Bildern verklebt fand oder ein wohlverpacktes Bukett zum Schornstein hereinspazierte.
Aromasia Duftemann Ozodes, die allverehrte Künstlerin, seufzte leise, nachdem sie wieder vergebens in der Menge der Luft-Droschken nach dem Ziele ihrer Sehnsucht gesucht hatte.
»Wo nur Oxygen bleiben mag?« klagte sie sanft in den wohltönenden Lauten der deutschen Sprache. Denn wenn man auch im gewöhnlichen Verkehre sich fast ausschließlich der neu eingeführten Universalsprache zu bedienen pflegte, so sprach man doch die zarten Empfindungen des Herzens in den süßen Klängen der ursprünglichen Muttersprache aus.
»Merkwürdig«, fuhr sie fort, »daß er nicht nach seiner Gewohnheit längst zu mir geeilt. Schon neun Uhr vierundachtzig Minuten siebzig Sekunden? Und auch Magnet kommt nicht – aber die Dichter sind unpünktlich. Er sinnt gewiß auf ein Grunzulett; und dazu braucht er Zeit.«
Das Grunzulett ist nämlich eine neue Dichtungsform, welche die Vorzüge des Sonetts, des Gasels, der alcäischen Strophe und des Familienromans in sich vereinigt, leider aber nur in der modernen Universalsprache zu leisten ist, weil seine Hauptschönheit darin besteht, daß Alliteration und Reim durch eigene Selbstvernichtung sich zu einer neuen Form, der »in sich zurückkehrenden unendlichen Lautquetsche«, verbinden.
Jetzt griff Aromasia nach dem neben ihr liegenden Doppelfernrohr und sah scharf nach einer Stelle der Vorstadt, welche ungefähr 25 Kilometer von ihrem Standpunkte entfernt sein mochte; eine jener schon erwähnten kleinen Wolken erhob sich gerade darüber.
»Es ist Oxygen«, sagte sie beruhigt bei sich, indem sie das Fernrohr sinken ließ. »Ich erkenne seine Maschine. Er ist also beschäftigt und wird erst später erscheinen. So muß ich mir denn bis zu seiner Ankunft die Zeit nach eigenem Geschmack vertreiben. Wohlauf, meine getreue Kunst! Ihr gewaltigen Gedanken der großen Duftmeister sollt mir die schleichende Stunde verkürzen und meine Seele in die Regionen wunschlosen Wahnes tragen!«
Sie trat auf die Versenkung und befand sich wenige Augenblicke später in ihrem geschmackvoll eingerichteten Zimmer. Ein Instrument in der Gestalt eines Pianinos stand in der Mitte. Sie öffnete den Deckel und griff in die Klaviatur des Ododions; bald schwelgte sie in den Wonnedüften einer Phantasie von Riechmann, und harmonische Wohlgerüche durchströmten das Zimmer.
Das Ododion oder Geruchsklavier wurde im Jahre 2094 von einem Italiener Namens Odorato erfunden und im Laufe der Zeit, entsprechend den Fortschritten der Chemie, bedeutend vervollkommnet. Das Instrument unserer Künsterlin war aus einer deutschen Fabrik und zeichnete sich durch seinen großen Umfang an Gerüchen aus; es reichte von dem als unterste Duftstufe angenommenen dumpfen Keller- und Modergeruche bis zum Zwiblozin, einem erst im Jahre 2369 entdeckten äußerst zarten Odeur. Jeder Druck auf eine Taste öffnete einen entsprechenden Gasometer, und künstliche mechanische Vorrichtungen sorgten für die Dämpfung, Ausbreitung und Zusammenwirkung der Düfte.
Nachdem man die Musik auf einen solchen Höhepunkt der Vervollkommnung gebracht hatte, daß das Ohr unmöglich mehr ertragen konnte, hatte man seine Aufmerksamkeit der so sehr vernachlässigten Nase zugewandt. Die Feinheit des Geruchsorgans war freilich bei der Menschheit in der Rückbildung begriffen; aber warum sollte man diese nicht steuern können? Kein anderer Sinn wirkt gleich lebhaft auf unsere Ideenassoziation wie der des Geruchs; es lag nahe, ihn künstlerisch dazu zu verwerten, bestimmte Vorstellungen und Empfindungen in uns hervorzurufen. Man studierte die Eigentümlichkeiten und Wirkungen der Gerüche, fand die Gesetze ihrer Harmonie und Disharmonie, anfänglich auf empirischem, später auch auf theoretischem Wege, die Chemie stellte immer wohlfeiler die notwendigen Aromen her, und nachdem das Ododion erst als Kuriosum gezeigt und auf Rundreisen durch die Städte von aller Welt angestaunt worden war, bürgerte es sich bald in den Familien, im Privatkreise ein.