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"Bittere Vergeltung" erzählt die Geschichte einer Rache, bei der es dem Leser nicht ganz leicht gemacht wird, immer zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Er blickt in menschliche Abgründe, verliert aber trotzdem nicht den Glauben an das Gute im Menschen.
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Seitenzahl: 210
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Bittere Vergeltung
Von Ulrike Puderbach
Buchbeschreibung:
Ein kirchliches Internat, eine ermordete Lehrerin und scheinbar jede Menge seltsamer Vorkommnisse, die von der Schulleitung und der Kirche unter Verschluss gehalten werden. Überall stoßen die Ermittler auf eine Mauer des Schweigens.
Marina Thomas und Robert Kunz werden zur Leiche einer Lehrerin gerufen, die übel zugerichtet ist und auf deren Stirn mit Blut geschrieben das Wort "Hure" steht. Angeblich gibt es kein Motiv für den Mord, doch dann wird Robert eine schwarze Rose mit einem Bibelzitat geschickt. Bald darauf geschieht ein weiterer Mord, doch die Schulleitung und das Kollegium hüllen sich weiter in Schweigen.
Die beiden Kommissare vom K9 lassen nicht locker und stoßen schließlich auf eine Spur.
Und sie finden Dinge heraus, an die sie in ihren kühnsten Träumen nicht geglaubt hätten.
Ebenfalls in dieser Reihe erschienen sind:
Eiskalte Erinnerung
Blinder Hass
Abpfiff
Über die Autorin:
Ulrike Puderbach wurde 1972 in Wuppertal geboren. Nach dem Abitur in Rheinland-Pfalz und einer technischen Ausbildung studierte sie Sprachpädagogik an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz.
Ihre Leidenschaft war von jeher das Schreiben und nach der Veröffentlichung eines Lehrwerks für technisches Englisch war "Eiskalte Erinnerung" ihr erster Roman. Inzwischen sind mit "Blinder Hass", "Abpfiff" und "Bittere Vergeltung" drei weitere Romane um die Kommissare aus Hannover und das Kinderbuch "Der Schängel-Schatz" dazu gekommen.
Heute lebt sie mit ihrem Sohn in einem kleinen Ort im Westerwald zwischen Köln und Koblenz und arbeitet hauptberuflich als Technische Redakteurin. In ihrer Freizeit treibt sie Sport, liest bevorzugt Krimis und historische Romane, fotografiert und schreibt für die lokalen Zeitschriften.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.
Bittere Vergeltung
Ein Robert Kunz-Krimi
Von Ulrike Puderbach
Christian für alles, was er für uns getan hat,
und
Bettina,
die Internatsgeschichten liebt.
Neopubli GmbH
Prinzessinnenstraße 20
10969 Berlin
www.epubli.de
1. Auflage,
© Ulrike Puderbach– alle Rechte vorbehalten.
Neopubli GmbH
Prinzessinnenstraße 20
10969 Berlin
Neopubli, Berlin
www.epubli.de
Prolog, 17. Juli 2015
Ihre beiden Körper rieben sich schwitzend aneinander. „Ich bin absolut verrückt nach dir“, stöhnte sie und knabberte an seinem Ohrläppchen. Heiße Schauer durchliefen seinen Körper und er ließ seine Hände über ihren gesamten Körper wandern. Sie lag nackt auf dem Stapel Decken und wölbte sich ihm hingebungsvoll entgegen. Sie machte ihn wahnsinnig und er konnte einfach nicht genug von ihr bekommen.
Sie wussten beide, dass es falsch war. Auf sie wartete ein Ehemann zu Hause, auf ihn eine Frau und drei Kinder. Doch auch wenn ihnen bewusst war, dass sie mit dem Feuer spielten, so hatten sie sich nicht ausreichend in der Gewalt, um dieser leidigen Affäre ein Ende zu setzen. Noch schlimmer wog der Ehebruch, weil sie beide bei einer kirchlichen Einrichtung arbeiteten und bei ihrer Verbeamtung in den Kirchendienst einen Eid geleistet hatten, den Moralvorstellungen der Kirche zu gehorchen. Wenn das hier irgendwann an die Öffentlichkeit gelangen würde, gäbe es einen Riesenskandal.
Ihr Kopf ruckte zur Seite. „Da vor dem Fenster ist jemand, ich hab etwas gehört.“ Er lauschte einen Moment. „Da ist nichts“, er schüttelte mit dem Kopf. Gerade wollte er sich wieder ihren entblößten Brüsten widmen, da zuckte ein Lichtblitz durch den Raum. Sie hörten schnelle Schritte, die sich rasch entfernten. “Und jetzt?“, ihre Frage stand unheilschwanger im Raum. „Ich weiß doch auch nicht“, er setzte sich auf und stützte den Kopf in die Hände. Hastig zogen sie sich wieder an und verließen das alte Bootshaus, das zum Internatsgelände gehörte. Seit das neue Bootshaus gebaut worden war, war dieses hier in Vergessenheit geraten und als er eines Tages zufällig im Hausmeisterbüro den Schlüssel gesehen hatte, war ihm die Idee gekommen, das alte Bootshaus zu ihrem Liebesnest für die verbotene Affäre zu machen. Sie hatten sich sicher gefühlt und waren wohl unvorsichtig geworden. Scheinbar hatte irgendjemand von den Schülern oder den Kollegen Wind davon bekommen und jetzt war es passiert. Sie waren wohl aufgeflogen, blieb ihnen nur noch abzuwarten, was der- oder diejenige nun vorhatte.
Sie verließen das Bootshaus - nicht ohne sich auf dem Weg zu ihren Autos noch mehrmals umzudrehen. Hinter ihnen löste sich eine Person aus dem Schatten und folgte der dunkelhaarigen Frau in einigem Abstand, die in ihr Cabrio einstieg und davonfuhr.
„Du elendes Miststück“, zischte er durch zusammengebissene Zähne. „Euch beide kriege ich dran, das werdet ihr beide noch bereuen.“ Er steckte das Handy zurück in die Tasche, ging dann zurück zum Bootshaus und öffnete die Tür mit dem Dietrich, den er sich besorgt hatte. Drinnen fand er das verlassene Lager, auf dem die beiden sich noch eine halbe Stunde zuvor vergnügt hatten. Er fotografierte alles, wobei er peinlich darauf achtete, nichts zu berühren und zu verändern. Es war schon schlimm genug, dass er sich durch den Blitz an der Kamera fast verraten hatte. Die beiden sollten sich ruhig in Sicherheit wiegen, bis er genug Material gesammelt hatte, um die Bombe platzen zu lassen. Dieses Mal würden die beiden mit ihrem durchtriebenen Spiel nicht ungeschoren davonkommen - und ganz besonders sie nicht. Sie würde nie wieder ein Leben zerstören – nicht, wenn er es irgendwie verhindern konnte.
03. November 2016
Mittwoch, 16:20 Uhr
Tom hatte bis zur achten Stunde Schule gehabt und war gerade auf dem Heimweg. Heute Abend war Fußballtraining; vorher wollte er noch in der Stadt in dem neuen Sportgeschäft vorbei. Dort gab es einige sehr interessante Eröffnungsangebote, und er hatte seine Mutter Anna überzeugen können, dass er sich doch ganz nötig mal nach einem Paar neuer Fußballschuhe umsehen musste. „Hi Tom“, hörte er plötzlich eine bekannte Stimme hinter sich. Er drehte sich um und sah seinen Mannschaftskameraden Hanno aus dem Verein.
Hanno spielte mit Tom in derselben Mannschaft, kam aber eigentlich aus der Nähe von Frankfurt. Seit der Trennung seiner Eltern lebte er in Hannover im Internat. Seine Mutter war mit ihrem neuen Mann in die Staaten gegangen, für ihren Sohn war da kein Platz mehr in ihrem Leben gewesen. Sein Vater wollte ihn auch nicht bei sich haben und so besuchte Hanno seit fünf Jahren die kirchliche private Internatsschule am Rande Hannovers, die direkt an der Leine gelegen war. Es gab ein breites Kultur- und Sportangebot an der Schule - unter anderem Leichtathletik und Rudern, aber Hanno hatte sich für den TuS Kleefeld Hannover entschieden, in dem er vor drei Jahren Tom kennengelernt hatte, der nach dem Umzug mit seiner Mutter dort in den Verein gewechselt hatte. Die beiden Jungen waren schnell Freunde geworden, sahen sich aber meistens nur beim Training und zum Spiel. In den letzten Monaten wirkte Hanno jedoch oft still und bedrückt und Tom nahm sich vor, die Gelegenheit heute zu nutzen um mal mit ihm zu reden.
„Auch auf der Suche nach neuen Fußballschuhen?“ Hanno zog ein Paar schwarze Adidas Ace aus dem Regal. „Also die hier könnten mir schon gefallen“, er hielt Tom die Schuhe hin. „Du hast Recht, die sind echt cool. Gibt’s die auch in meiner Größe?“ „Was brauchst du denn?“ Tom legte den Kopf schräg. „Ich glaube 9 ⅔ oder so.“ „Probier die doch einfach mal, die sind immerhin um 30% reduziert.“ „Gute Idee“, die beiden Jungen hockten sich auf den Boden und probierten verschiedene Modelle und Größen, bis beide etwas gefunden hatten. Auf dem Weg zur Kasse fragte Tom: „Ist eigentlich alles ok mit dir? Du wirkst ein bisschen komisch in letzter Zeit.“ Sein Freund druckste ein wenig herum. „Naja, das ist eine lange Geschichte. Es läuft nicht so richtig in der Schule im Moment und ich will gar nicht drüber nachdenken, was passiert, wenn mein Vater die Nachricht bekommt, dass ich die erforderliche Punktezahl für die Abizulassung wahrscheinlich nicht schaffe. Auch wenn er sich sonst einen Dreck für mich interessiert, das wird ihn interessieren.“ Tom blickte ihn mitfühlend an. „Ist es echt so übel?“ Er überlegte einen Moment. „Komm doch einfach mit zu uns heute, wir können bei mir essen und dann zusammen zum Training gehen. Und dann erzählst du mir alles in Ruhe.“ Sein Freund schaute ihn überrascht an. „Geht das denn einfach so? Was sagen denn deine Mutter und dein Stiefvater dazu, wenn du einfach so jemanden zum Essen mit nach Hause bringst?“ „Mach dir da mal keine Gedanken, den beiden ist das völlig egal. Die sind da total tiefenentspannt. Komm ruhig mit, das geht schon in Ordnung.“
Die beiden Jungen bezahlten ihre Schuhe und gingen dann in Richtung der Reihenhaussiedlung, in die Tom vor knapp zwei Jahren mit seiner Mutter und seinem neuen Vater gezogen war.
„Hi Mum“, rief Tom, als die beiden den Flur betraten. „Ich habe noch einen Freund aus dem Fußballverein mitgebracht. Wir haben uns im Sportgeschäft getroffen.“ „Gut“, Anna kam in den Flur und streckte Hanno die Hand hin, die sie gerade an einem Geschirrtuch abgetrocknet hatte. „Ich bin Anna, schön dich kennenzulernen.“ Hanno schüttelte ihre Hand. „Guten Abend, ich bin Hanno Weiler, ich hoffe, ich störe Sie nicht, so unangemeldet.“ „Natürlich nicht“, Anna schüttelte entrüstet den Kopf. „Toms Freunde sind bei uns immer willkommen. In einer halben Stunde können wir essen. Du bleibst doch zum Essen, oder?“ „Nur wenn ich wirklich nicht störe“, sagte Hanno. „Ich habe doch gesagt, du störst nicht. Robert kann euch ja später gemeinsam zum Training fahren.“ „Jetzt komm schon“, Tom zog seinen Freund in Richtung der Treppe und drehte sich dann zu seiner Mutter um. „Wir gehen solange noch in mein Zimmer.“ Und damit schob er Hanno die Treppe hoch.
„Wow“, Hanno ließ seinen Blick bewundernd durch Toms Zimmer unter dem Dach wandern. „Das ist ja richtig toll.“ Tom konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ja, ich habe ziemlich Glück gehabt. Hier oben gibt es zwei Schlafzimmer und ein Bad. Meine Eltern haben allerdings das kleinere genommen, weil sie meinten, für mich wäre es ja auch Wohnzimmer und nicht nur reines Schlafzimmer. Und so bin ich zu diesem hier mit eigenem Balkon gekommen.“ „Dein neuer Vater ist echt ok, oder?“, fragte Hanno vorsichtig. Er war um den Raumteiler herumgegangen, der das Bett und den Kleiderschrank vom Rest des Raumes ein wenig abtrennte. „Mehr als das“, gab Tom freimütig zu. „Auch wenn ich ja eigentlich keinen wirklichen Vergleich habe, denn mein Erzeuger hatte, glaube ich, nicht viel mit einem Vater zu tun. Aber wir sind nicht hier, um über meinen Vater zu reden. Was ist denn jetzt los mit dir?“ Hanno ließ sich in dem Sessel nieder, der vor der Balkontür stand. Tom hockte sich auf das Sofa und blickte ihn erwartungsvoll an. „Ach, keine Ahnung“, Hanno zuckte mit den Schultern. „In meinem Leistungskurs in Geschichte läuft es gerade überhaupt nicht, ich kann machen, was ich will, ich kriege nie mehr als zwei Punkte. Und weil ich in den beiden anderen Kursen auch nicht so doll stehe, kriege ich wahrscheinlich die Punkte für die Abiqualifikation nicht zusammen. Mein Vater rastet aus, wenn er davon was erfährt. Ich habe auch schon versucht, mit der Lehrerin zu reden, aber sie ist eiskalt. Ich wollte ein Referat machen, um meine schlechte Klausur wenigstens teilweise auszubügeln, aber sie meinte, das hätte ich mir eben vorher überlegen sollen und jetzt müsste ich eben sehen, wie ich klarkäme.“ „Hört sich nicht gut an“, gab Tom zu bedenken. „Ich bin jetzt auch nicht so die Riesenleuchte in Geschichte, aber wir können vor der nächsten Klausur mal meine Mum fragen, die kann dir bestimmt helfen. Wäre doch gelacht, wenn wir der Alten nicht ein Schnippchen schlagen könnten.“ „Meinst du echt, das würde sie für mich machen?“, fragte Hanno zweifelnd. „Sie kennt mich doch eigentlich kaum.“ „Ja und, was hat das denn damit zu tun. Sie macht das, kannst du dich drauf verlassen. Wir können sie gleich beim Essen fragen. Musst du eigentlich vor dem Training nochmal ins Internat?“ „Außer den neuen Schuhen habe ich jetzt nichts dabei.“ „Dann fahren wir ein bisschen früher, beziehungsweise ich fahre dich da vorbei.“ Tom setzte sein breitestes Grinsen auf. „Wie? Du fährst?“ „Allerdings, begleitetes Fahren ab 17, seit zwei Wochen habe ich meinen Lappen und mit Robert und meiner Mum darf ich jetzt begleitet fahren.“ „Mann, das ist ja obercool“, Hanno war wirklich beeindruckt. „Darauf hätte ich auch wirklich Bock, aber das geht ja leider nicht. Naja, in ein paar Monaten bin ich auch 18, dann kann ich auch fahren.“ „Und sogar noch vor mir“, Tom stand auf und klopfte Hanno auf die Schulter. „Komm, wir gehen runter, es gibt jeden Moment Essen.“
Als die beiden Jungen die Treppe herunterkamen, betrat gerade Robert, der eine Runde mit dem Hund gedreht hatte, den Flur. Auch er begrüßte Hanno herzlich und kurz darauf saßen die vier am Tisch im Esszimmer. Es gab Bratkartoffeln, Spiegeleier und einen gemischten Salat und Hanno hatte seit langem einmal wieder das Gefühl von ein wenig ganz normalem Familienleben. Tom fackelte auch nicht lange, sondern brachte Hannos Probleme in der Schule direkt auf den Tisch. Anna und Robert hörten aufmerksam zu und Anna machte einen Vorschlag. „Warum kommst du nicht an den beiden Tagen, an denen ihr Training habt, nach der Schule direkt zu uns? Dann kann ich versuchen, dir bei der Klausurvorbereitung zu helfen und ihr könnt von hier aus zusammen zum Training fahren.“ Hanno schaute überrascht auf. „Das würden Sie wirklich machen? Ist das denn nicht zu viel Aufwand?“ Anna schüttelte lachend den Kopf. „Quatsch, dann wälze ich einfach ein bisschen mehr Hausarbeit auf die beiden Herren der Schöpfung hier ab und dann habe ich ein bisschen mehr Zeit.“ Sie grinste Robert und Tom an, die mit versteinerten Mienen am Tisch saßen. „So war das aber nicht gedacht gewesen“, startete Tom einen letzten Versuch, das Unheil abzuwehren, auch wenn er wusste, dass das nichts mehr bringen würde. „So schlimm wird es schon nicht werden“, schaltete sich sein Stiefvater ein. „Das kriegen wir schon hin.“ Hanno wusste gar nicht, was er sagen sollte. „Das ist unheimlich nett von Ihnen. Aber das kann ich doch nicht annehmen.“ „Doch kannst du“, sagte Anna entschieden, „und das Sie kannst du dir gerne sparen, ich heiße Anna und Robert verzichtet auch gerne auf das Sie.“ Sie lächelte den Jungen warmherzig an. „Und jetzt essen wir erst einmal in Ruhe zu Ende, sonst kommt ihr beiden noch zu spät zum Training.“ Eine Stunde später machte sich Robert mit den beiden Jungen auf den Weg, zuerst zum Internat, wo Hanno seine Tasche packte und dann zum Sportplatz.
Tom wartete mit Robert im Auto, während Hanno seine Sachen in seinem Zimmer packte. Er nutzte die Gelegenheit für ein kurzes Vier-Augen-Gespräch mit seinem Vater. „Ich habe das Gefühl, dass Hanno mir nicht alles erzählt hat.“ Robert blickte seinen Adoptivsohn an. „Wie kommst du darauf?“ Tom kaute auf seiner Unterlippe herum. „Ich weiß es nicht genau; kennst du das, wenn du das Gefühl hast, dass irgendetwas nicht stimmt, du aber nicht genau sagen kannst, warum?“ Robert musste lächeln. „Oh ja, das Gefühl kenne ich nur zu gut. Mein Chef kriegt immer die Krise, wenn ich so ein Gefühl habe und ihm dann nichts Handfestes liefern kann.“ „Genau das meine ich“, bestätigte Tom. „Hanno ist schon seit einer ganzen Weile etwas komisch und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass da noch mehr ist.“ „Wenn er es dir nicht erzählen will, kannst du nicht viel machen“, gab Robert zu bedenken. „Gib ihm Zeit, vielleicht rückt er ja mit der ganzen Wahrheit raus, wenn er häufiger bei uns ist und vielleicht ein wenig Vertrauen zu deiner Mutter oder mir fasst.“
Hanno kam mit der Tasche über der Schulter zurück, wurde jedoch auf dem Weg zum Auto von einer Lehrerin aufgehalten. Tom machte seinen Vater auf die Situation aufmerksam. „Guck mal“, sagte er, „das sieht aber nicht nach großer Harmonie aus.“ Sie konnten zwar nicht verstehen, was gesagt wurde, doch sie beobachteten, wie Hanno während des Gesprächs immer weiter zurückwich und es scheinbar eilig hatte, wegzukommen. Als er ins Auto einstieg, konnte Tom sich nicht zurückhalten. „Was war das denn gerade? Was wollte die Tante denn von dir?“ Hanno druckste herum. „Das war meine LK-Lehrerin - die von der ich dir gerade erzählt habe. Sie wollte wissen, wo ich jetzt hinwill und hat mir gute Ratschläge erteilt, dass ich doch lieber mehr lernen sollte, statt meine Zeit mit Fußballtraining zu verschwenden. Diese Frau ist echt der Hass in Büchsen, warum kann die nicht einfach vom Blitz getroffen werden?“ Tom musste wider Willen grinsen. „Weil es eben doch keine Gerechtigkeit auf der Welt gibt?“ Auch Robert musste lachen, er drehte sich zu Hanno um, der auf dem Rücksitz saß und meinte aufmunternd: „Das wird schon, und in den zwei Stunden Training heute Abend lernst du garantiert nicht mehr viel.“
Nach dem Training holte Anna die beiden ab. Sie setzten Hanno am Internat ab und fuhren dann nach Hause. Tom lag noch lange wach in seinem Bett und dachte über das nach, was Hanno ihm heute erzählt hatte.
03. November 2016
Mittwoch, 20:05 Uhr
Sie stand vor dem Spiegel und gab ihrem Make-up noch den letzten Schliff. Sie wollten heute Abend in ein schickes Restaurant außerhalb von Hannover fahren und dort das zweijährige Jubiläum ihrer Beziehung begehen. Ihrem Mann hatte sie gesagt, dass sie heute Abend noch Elterngespräche in der Schule hatte, aber er fragte schon seit langem nicht mehr nach. Auch wenn er von der Affäre gewusst hätte, es war ihr auch egal. Sie trennte sich nur nicht von ihm, weil das einen schlechten Eindruck nach außen machte und an einer kirchlichen Schule nicht gerne gesehen war. Und warum sollte sie sich die Chance auf eine eventuelle Beförderung wegen einer Affäre verbauen? Im letzten Sommer hatten sie einen kurzen Moment befürchten müssen aufzufliegen, doch scheinbar war es nur eine Täuschung gewesen; jedenfalls hatten sie beide nie etwas gehört. Trotzdem waren sie seitdem nicht mehr im Bootshaus gewesen, das war ihnen dann doch zu unsicher geworden. Seitdem trafen sie sich in wechselnden Pensionen und im letzten Sommer hatten sie es geschafft, eine Kursfahrt so zu organisieren, dass sie gemeinsam als begleitende Lehrkräfte mitfahren konnten.
Sie legte einen Hauch von Chanel No. 5 auf und rief noch schnell: „Ich bin dann jetzt weg!“, in Richtung des Arbeitszimmers ihres Mannes, bevor sie mit dem Aufzug in die Tiefgarage des Mehrfamilienhauses fuhr, wo ihr Cabriolet stand. Sie hatte gerade die Tür mit der Fernbedienung aufgedrückt, als plötzlich ein Schatten hinter der Säule neben ihrem Parkplatz hervortrat. Er drückte ihr einen stinkenden Lappen aufs Gesicht und innerhalb von Sekunden wurde alles dunkel um sie herum und sie fiel in eine unendliche Schwärze.
Als sie aufwachte, war alles um sie herum dunkel. Sie lag auf dem Rücken, ihre Zunge fühlte sich an wie ein pelziges Ungetüm. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch ihre Hände und Füße waren an die Pfosten eines alten metallenen Bettgestells gefesselt. Panik stieg in ihr auf und sie schrie verzweifelt um Hilfe. „Schrei ruhig weiter“, ertönte auf einmal eine Stimme aus einer Ecke des dunklen Raumes. „Niemand wird dich hören oder dir zu Hilfe kommen. Nutze die Zeit und denke über alle die Dinge nach, die du anderen angetan hast und über all die unschuldigen Leben, die du wissentlich zerstört hast.“ Ihr Kopf ruckte in die Richtung, aus der die blecherne Stimme kam, doch noch konnte sie in der Dunkelheit nichts erkennen. Als ihre Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie die Umrisse eines viereckigen Lautsprechers und einer Webcam sehen. „Lass mich hier raus“, schrie sie verzweifelt und zerrte an den Stricken, die tief in ihre Hand- und Fußgelenke einschnitten, „ich habe niemandem etwas getan!“ Stille. Dann ertönte die Stimme erneut - höhnisch und eiskalt. „Du hast unzählige Leben zerstört; du, der die Leute ihre Kinder anvertraut haben; du hast deine Macht ausgenutzt und diesen Kindern das Leben zur Hölle gemacht. Aber jetzt wirst du endlich dafür bezahlen.“ Wieder Stille, sie wurde immer panischer. Es wurde immer enger um ihre Brust, so als hätte sich ein bleierner Gürtel um ihren gesamten Brustkorb gelegt, der drohte, sie zu ersticken. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn, sie versuchte zu atmen, doch konnte nur um jeden einzelnen Atemzug ringen. „Bereust du, was du getan hast? Du hast nicht mehr viel Zeit zu bereuen, bevor du deinem Schöpfer gegenübertrittst, falls du überhaupt an Gott glaubst und das nicht auch nur für den Job geheuchelt hast.“ Sie begann zu schluchzen und zu jammern, was dazu führte, dass sie noch weniger Luft bekam. Die Panik ergriff immer weiter von ihr Besitz und in ihr keimte das Gefühl auf, dass dies hier das Ende ihres Lebens sein könnte. Erneut versuchte sie zu dem Unbekannten Kontakt aufzunehmen. Vielleicht konnte sie ihn ja überzeugen, sie gehen zu lassen. „Ich habe doch nie jemandem etwas Böses gewollt, es ist einfach so passiert.“ Ihre Stimme zitterte, auch wenn sie sich alle Mühe gab, ihn die Angst nicht hören zu lassen. Die Stimme aus dem Lautsprecher triefte jetzt vor Spott und Sarkasmus. „Du und nichts Böses gewollt? Dass ich nicht lache. Dir war es doch egal, wessen Zukunft du zerstörst und wie deine Opfer in ihrem Leben klarkamen. Aber jetzt hast du den Rest der Nacht Zeit, darüber nachzudenken, was du alles zu bereuen hast. Ich weiß noch nicht, wann ich mich wieder melde. Bis dahin wünsche ich dir eine gute Nacht und angenehme Träume.“ Sie schrie und zerrte an den Fesseln. „Lass mich hier nicht allein, ich will hier nicht sterben.“ Doch es kam kein weiterer Laut mehr aus der Ecke des Raumes.
Zufrieden lehnte er sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und beobachtete noch eine Weile, wie sie sich auf dem Bett wand und an den Fesseln zerrte. Den Rest der Nacht würde er sie schmoren lassen und morgen früh würde er maskiert hingehen und ihr etwas zu trinken geben. Schließlich sollte sie ihm nicht einfach so wegsterben und sein Gesicht würde sie erst im Augenblick ihres Todes sehen, damit es das Letzte war, was sie je in ihrem Leben sehen würde. Der Zeitpunkt für seine Rache war endlich gekommen. Er hatte eine gefühlte Ewigkeit darauf warten müssen, aber jetzt würde er sich und all die anderen unschuldigen Kinderseelen rächen. Sie sollte leiden und er würde ein Exempel statuieren, damit das ein für alle Mal aufhörte. Er trank sein Bier aus, klappte den Laptop zu und ging schlafen. Morgen würde ein anstrengender Tag werden.
04. November 2016
Donnerstag, 08:45 Uhr
Der Leistungskurs Geschichte saß seit einer halben Stunde im Kursraum und wartete mal wieder auf ihre Lehrerin Monika Antweiler. Nicht, dass sie irgendjemand besonders vermissen würde oder, dass das irgendwie ungewöhnlich wäre, immerhin handelte es sich um eine der berühmten Randstunden und Frau Oberstudienrat Antweiler war dafür bekannt, diese gerne einmal ausfallen zu lassen. „Ist ja mal wieder typisch“, murrte Pauline, eine Mitschülerin von Hanno, „wenn sie wenigstens Bescheid sagen würde, wenn sie nicht kommt, dann hätte ich mich schön noch einmal in meinem Bett rumdrehen können.“ „Nicht nur du“, Hanno legte den Kopf auf das aufgeschlagene Buch. „Unser Trainer hat uns gestern ganz schön rennen lassen, ich hätte ne zusätzlich Stunde Schlaf heute auch gut gebrauchen können.“ „Wo warst du eigentlich gestern Abend beim Essen?“, wollte Pauline wissen. „Ach, ich habe Tom, einen Mannschaftskollegen vom Fußball getroffen und er hat mich nach Hause zu sich zum Essen eingeladen. Es war echt toll bei denen. Seine Mutter hat vor zwei Jahren einen Kommissar vom K9 geheiratet und der hat ihn sogar adoptiert, die sind echt alle schwer in Ordnung.“
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Kursraum und der stellvertretende Direktor trat ein. „Oh, bin mal gespannt, welche Ausrede er dieses Mal für sein Liebchen hat“, flüsterte Pauline zu Hanno geneigt. Der musste grinsen. „Vielleicht waren sie ja gestern zu lange aus und Madam muss heute Morgen erst noch ausschlafen.“ Der stellvertretende Direktor räusperte sich. „Guten Morgen, meine Damen und Herren, leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Unterricht heute nicht stattfinden kann. Frau Antweiler ist scheinbar plötzlich erkrankt, daher haben Sie die ersten beiden Stunden heute frei.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ den Raum. „Komm, lass uns zusammenpacken und in die Cafeteria gehen“, schlug Pauline vor und Hanno stimmte zu. „Nichts wie raus hier, nicht dass die Alte es sich noch anders überlegt und plötzlich hier aufschlägt“, sagte er, während er seine Bücher in die Tasche packte. „Also ich kann nicht gerade behaupten, dass ich besonders traurig über ihre Erkrankung bin. Vielleicht hat sie ja die Beulenpest oder sonst was Hübsches“, fügte er mit einem schuldbewussten Grinsen hinzu. Pauline blickte ihn mitfühlend an. „Ich kann dich echt verstehen. So wie die Olle dir das Leben zur Hölle macht, würde ich ihr an deiner Stelle auch die Pest an den Hals wünschen.“ Seite an Seite verließen sie den Klassenraum und gingen in die Cafeteria, wo Hanno sie auf einen Kaffee einlud. Taschengeld bekam er reichlich; damit wollte sein Vater scheinbar sein schlechtes Gewissen beruhigen, weil er seinen Sohn nicht bei sich haben wollte, sondern lieber ins Internat abschob. Sie setzten sich an einen Tisch in der Ecke, und Hanno erzählte Pauline von Toms Angebot und wie sehr er den Abend gestern genossen hatte. Sie nutzten den Rest der Freistunde für gemeinsame Hausaufgaben, bevor sie zurück in den Unterricht musste, während Hanno die dritte Stunde regulär noch frei hatte.
04. November 2016
Donnerstag, 10:50 Uhr