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In Hannover stellt eine mysteriöse Mordserie die Kommissare des K9 vor ein Rätsel. Der Täter mordet wahllos und äußerst brutal. Die Polizei ermittelt auf Hochtouren und zieht einen namhaften Profiler zu Rate, doch erst ein Hinweis auf die Vergangenheit des Täters bringt die Kripo auf die richtige Spur, die sie zunächst nach Frankfurt führt. Dabei spannt der Täter sein Netz in Hannover um ein ganz bestimmtes Opfer ....
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Seitenzahl: 253
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Impressum.. 2
Prolog, Frankfurt 1993. 2
23 Jahre später, Hannover. 4
Freitag, 17:30 Uhr. 4
Freitag, 19:15 Uhr. 5
Samstag, 08:40 Uhr. 6
Samstag, 19:00 Uhr. 10
Samstag, 22:50 Uhr. 11
Sonntag, 11:20 Uhr. 13
Sonntag, 12:00 Uhr. 14
Sonntag, 15:20 Uhr. 15
Montag, 8:15 Uhr. 16
Montag, 10:35 Uhr. 18
Montag, 11:30 Uhr. 19
Montag, 12:45 Uhr. 20
Montag, 16:50 Uhr. 23
Dienstag, 09:00 Uhr. 25
Dienstag, 15:10 Uhr. 27
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Mittwoch, 08:35 Uhr. 31
Mittwoch, 16:40 Uhr. 34
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Donnerstag, 09:15 Uhr. 36
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Montag, 07:30 Uhr. 68
Montag, 16:05 Uhr. 76
Montag, 17:55 Uhr. 77
Montag, 21:10 Uhr. 78
Epilog. 79
Ulrike Puderbach wurde 1972 in Wuppertal geboren. Nach dem Abitur in Rheinland-Pfalz und einer technischen Ausbildung studierte sie Sprachpädagogik an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Ihre Leidenschaft war von jeher das Schreiben und nach der Veröffentlichung eines Lehrwerks für technisches Englisch und ihrem Krimi „Eiskalte Erinnerung“ ist „Blinder Hass“ ihr zweiter Kriminalroman in der Reihe um die beiden Kommissare aus Hannover. Heute lebt sie mit ihrem Sohn in einem kleinen Ort im Westerwald zwischen Köln und Koblenz und arbeitet hauptberuflich als Technische Redakteurin. In ihrer Freizeit treibt sie Sport, liest, fotografiert und schreibt für die lokalen Zeitschriften.
First published in 2016 Copyright: @2016 Ulrike Puderbach Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin ISBN: 978-3-7418-1879-0www.epubli.de Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.
„BLINDER HASS“
Meiner Tante mit Dank für unermüdliches Korrektur lesen und
meinen Freunden, ohne die ich nicht die wäre, die ich heute bin.
Seine Schritte wurden immer schleppender, je mehr er sich der Straße näherte, in denen sich ihre kleine Mietwohnung befand. Es war eine kleine Dreizimmerwohnung in einem alten schäbigen Wohnblock, in dem die Flure nach kaltem Zigarettenqualm, Urin und manchmal auch Erbrochenem stanken. Wer im Frankfurter Stadtteil Bonames lebte, hatte keine großen Ansprüche. Der Großteil der Bevölkerung war arbeitssuchend – wie es ihm Beamtendeutsch so hübsch bürokratisch genannt wurde – und kaum jemand schaffte den Absprung zu den Reichen und Schönen, deren Villen in Okriftel oder den anderen gepflegten Vororten standen. Er würde Ärger bekommen. Gewaltigen Ärger. Das hatte er schon gewusst, als der Lehrer die Mathematikarbeiten zurückgegeben hatte. Er hatte nur eine 2-, eigentlich keine schlechte Note, aber es würde ihr nicht genügen. Sie erwartete nur Topleistungen von ihm, denn schließlich sollte er es ja einmal besser haben als sie. Sie glaubte, dass er immer noch nicht wusste, wie sie das Geld für sie beide wirklich verdiente. Als wenn er nicht abends im Bett das leise Klappen der Türen, das Klirren der Gläser und das leise Gemurmel, Gekicher und später das Stöhnen aus dem Schlafzimmer hören würde. Manchmal schlich er an der Tür zum Schlafzimmer vorbei, wenn er nachts noch einmal auf die Toilette musste, auch wenn sie ihm streng verboten hatte, sein Zimmer noch zu verlassen, nachdem sie ihn zu Bett geschickt hatte. Vor allem dann, wenn „Besuch“ da war, wie sie es nannte. Besuch – er schnaubte abfällig. Fette, schmierige, verschwitzte Kerle, die ein paar Euro dafür bezahlten, dass seine Mutter die Beine breit machte. Sie hatte mit Müh und Not ihren Hauptschulabschluss geschafft, danach aber keinen Ausbildungsplatz bekommen. Mit sechzehn hatte sie seinen Vater kennengelernt, kurz darauf war er auf die Welt gekommen und der versoffene Bastard, wie er seinen Erzeuger zu nennen pflegte, hatte sich davon gemacht. Sie hatten nie wieder etwas von ihm gehört oder gesehen. Aus Angst alleine zu bleiben hatte seine Mutter sich in eine Affäre nach der anderen gestürzt, bis Hardy kam. Hardy hatte sie zunächst wie eine Königin behandelt, sie zum Essen und ins Theater eingeladen, bis er nach knapp einem Jahr einen „Kollegen“ abends zum Essen mitbrachte und sein wahres Gesicht zeigte. Er war ein eiskalter Zuhälter und verschacherte sie an alles und jeden, der ein paar Euro dafür bezahlte, mal wieder Sex zu haben. Und davon gab es hier im Stadtviertel weiß Gott genug Kerle. Anfangs hatte sie noch versucht, sich ihm zu widersetzen, aber nachdem er sie ein paar Mal im wahrsten Sinne des Wortes grün und blau geschlagen hatte, hatte sie sich in ihr Schicksal gefügt. So ging es nun seit gut fünf Jahren, sie hatte sich allerdings wohl geschworen, dass er es schaffen sollte, dass aus ihm etwas Anständiges werden sollte. Seit einem halben Jahr besuchte er das städtische Gymnasium, er war kein schlechter Schüler, aber seine Mutter war absolut unbarmherzig, wenn er einmal nicht der Klassenbeste war. Jeden Tag beim Mittagessen erklärte sie ihm, dass sie es ja nur gut meine, dass sie nur sein Bestes wolle und er solle doch später einmal ein besseres Leben in einer schöneren Wohnung vielleicht sogar mit einem kleinen Garten oder Balkon führen. Sie bestrafe ihn doch nur, weil sie es für ihn und seine Zukunft tat. Jeden Tag die gleichen Worte – wie ein Mantra, das sich in seinen Kopf einbrannte. Und doch hasste er sie dafür. Nein, vielleicht hasste er sie nicht wirklich, aber er verachtete sie und sehnte sich den Tag herbei, da er diesem allem entfliehen konnte. Aber er war erst zehn Jahre alt. Ein verzweifeltes Kind, das versuchte, seiner Mutter immer Recht zu machen, auch wenn es ihm nicht gelang. Und er hasste Hardy, diesen schmierigen aalglatten Typen, der nicht nur ihr, sondern auch sein Leben zerstört hatte. Wenn er erwachsen war, würde er sich an ihm rächen – und an allen Hardys und Nutten dieser Welt. Inzwischen hatte er die Eingangstür erreicht, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte. Der kalte, faulige Gestank des Treppenhauses schlug ihm in einer Übelkeit erzeugenden Welle entgegen. Langsam stieg er die Treppenstufen hinauf, es würde sowieso passieren, da konnte er es auch direkt hinter sich bringen. Als er die Wohnungstür aufschloss, hörte er sie bereits in der Küche hantieren. Er ließ den Rucksack auf den Boden gleiten, hängte die Jacke ordentlich an den Haken, nahm das Heft heraus und ging in die Küche. Wortlos legte er das Heft aufgeschlagen auf den Küchentisch. Sie drehte sich um, trocknete sich die Hände an der Schürze ab und warf einen Blick auf das aufgeschlagene Heft. „Dein Gürtel“, sagte sie leise und streckte ihm auffordernd die Hand entgegen. Er zog den Ledergürtel, den er zum letzten Geburtstag von ihr bekommen hatte, aus der Jeans. „Dreh dich um und Hose runter.“ Er tat wortlos, wie ihm geheißen. „Du weißt, dass das alles hier nur zu deinem Besten ist“, sagte sie leise. „Wie viele Punkte fehlen?“ „Sechzehn“, antwortete er mit leiser Stimme, bei der es ihm unmenschliche Kraft kostete, das Zittern zu unterdrücken. „Es ist für deine Zukunft, ich tue das nicht gerne, aber du sollst es einmal besser haben als ich.“ Er schloss die Augen und biss sich auf die Unterlippe, als der Gürtel das erste Mal auf die nackte Haut klatschte. Mit jedem Schlag würde es schlimmer werden, das wusste er aus Erfahrung. Insgesamt sechzehn Mal ließ sie den Ledergürtel auf sein nacktes Hinterteil niedersausen. Ihm wurde übel vor Schmerz, aber schließlich hatte er es ja nicht besser verdient. Er hatte versagt – wieder einmal. Sie schlief mit fremden ekelerregenden Männern, damit sie seine Schulbücher bezahlen konnte. Da war es seine Verpflichtung, eine Gegenleistung zu bringen. Und wenn er dazu nicht in der Lage war, musste er eben mit den Konsequenzen leben. Nachdem sie fertig war, richtete er sich mühsam auf, zog vorsichtig die Jeans und die Boxershorts über die geschundene Haut, die wie Feuer brannte, nahm das Heft vom Tisch und ging zur Tür. „Ich gehe meine Hausaufgaben machen“, sagte er leise, schlich zu seinem Zimmer und warf sich erst einmal bäuchlings aufs Bett, nachdem er sich die Jeans direkt wieder ausgezogen hatte. Er würde wieder tagelang nicht schmerzfrei sitzen können und er würde eine gute Ausrede benötigen, um beim Sport nicht duschen zu müssen. Er hasste sie, er hasste Hardy, er hasste dieses ganze verdammte Dasein.
Als er die Tür aufschloss, hörte er laute Musik aus der Küche. Der Ghettoblaster schmetterte „Whenthesungoes down“ von David Guetta, überall roch es nach frischer Farbe und im Flur standen diverse Türme aus unterschiedlich beschrifteten Kisten. In der Küche balancierte Anna auf der Küchenzeile, die roten Locken in einem Zopf gebändigt, den sie unter eine Baseballkappe von Hannover 96 gesteckt hatte und pinselte munter in der Ecke neben den Hängeschränken. Was war das bitte für eine Farbe? Professor Hofmann hätte sie sehr treffend als leichentuchgrün bezeichnet, auf dem Eimer stand allerdings mintgrün. „Hatten wir uns nicht eigentlich für sonnengelb entschieden, junge Frau?“ fragte er mit gespielter Empörung. Anna, die ganz in ihre Arbeit vertieft gewesen war, drehte sich um – ein bisschen zu heftig und geriet ins Straucheln. Robert ließ alles fallen – auch die Eier in der Einkaufstüte – und fing sie auf. Ihre Augen blitzten und er stellte wieder einmal für sich fest, welches unglaubliche Glück er doch hatte, so eine Frau an seiner Seite zu haben. Als sie sich vor einem Jahr kennengelernt hatten, war sie noch verschüchtert und extrem verschlossen gewesen. Sie war die Hauptverdächtige in einem Mordfall, den seine Abteilung - das K9 - bearbeitet hatte, und er hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt. Anfangs war Anna noch sehr reserviert gewesen, vor allem wegen der schlimmen Ereignisse in ihrer Ehe, aber nach und nach hatte sie begonnen, damit abzuschließen – komplett vergessen konnte sie nicht, aber das machte auch nichts. Er hatte gelernt, damit zu leben. Von dem Gepolter in der Küche angelockt, streckte der siebzehnjährige Tom seinen Schopf durch die Tür. „Na toll“, grinste er und zeigte auf den Hund, der sich gerade genüsslich über die zerschlagenen Eier in der Einkaufstüte hermachte. „Darf ich unter diesen Umständen davon ausgehen, dass es morgen in diesem Haushalt wohl eher keine Frühstückseier geben wird, wenn ich nicht einkaufen gehe?“ Er rollte gespielt theatralisch mit den Augen. „Wenn man nicht alles selber macht …“, stöhnte er. „Ja, du bist schon wirklich arm dran“, spöttelte Anna. „Ich finde, du solltest dringend das Jugendamt um Hilfe bitten.“ „Und alles nur, weil ich rote Haare habe“, Tom raufte sich den widerspenstigen Schopf. „Heute im Unterricht kam unsere Lehrerin auf die grandiose Idee, Gruppenarbeit zu machen – anderer pädagogischer Ansatz und so. Und was sagt die? Wir machen heute mal Gruppen nach Haarfarbe.“ Tom konnte gut schauspielern und verzog furchtbar leidend das Gesicht. „Darauf ich: Gut, dann bin ich wohl meine eigene Gruppe. War ihr furchtbar peinlich.“ Alle drei lachten schallend. „Danach durfte ich mir dann aussuchen, mit wem ich in eine Gruppe wollte.“ Anna setzte sich auf die Küchenzeile, legte den Kopf schräg und lachte Robert an. „Um deine Frage von eben zu beantworten – bei der Farbe handelt es sich um mintgrün, passt hervorragend zu den dunkelgrünen Blenden. Und ja, wir hatten uns für sonnengelb entschieden – allerdings für den Flur“, lachend schüttelte sie den Kopf. „Bloß gut, dass dein Kopf angewachsen ist. Wie hast du nur jemals die Aufnahmeprüfung für die Polizeischule geschafft?“ Robert blickte sie an. „Na warte, meine Rache wird fürchterlich über dich kommen.“ „Oh, ich habe schon Angst.“ Tom schaltete sich in das Geplänkel ein. „Können wir die Turtelei vielleicht für einen kleinen Moment vergessen und das Einkaufsproblem klären? Grundsätzlich würde ich mich ja bereit erklären, neue Eier und was sonst noch so zu Bruch gegangen ist zu kaufen, schließlich bin ich ein Jugendlicher im Wachstum und muss vernünftig ernährt werden.“ Anna zog skeptisch die Augenbrauen in die Höhe. „Du siehst auch extrem mangelernährt aus, aber wir könnten ja, während du einkaufst, hier ein bisschen zusammen räumen und das Pizzataxi bestellen. Heute Abend streichen wir die Küche fertig und ab morgen können wir dann wieder kochen.“ „Heißt das etwa, dass ich armer hart arbeitender Polizist meinen wohlverdienten Feierabend mit der Farbrolle auf der Leiter verbringen muss?“ „Lass mich kurz überlegen – ja“, kam die prompte Antwort von Anna. Sie grinste mit krausgezogener Nase, was sie locker zehn Jahre jünger wirken ließ.cVor zwei Wochen waren sie in das hübsche Reihenhäuschen in einem Vorort von Hannover gezogen. Fast ein Jahr lang waren sie zwischen Roberts und Annas Wohnung hin- und hergependelt. Für drei Personen und Hund waren beide Wohnungen zu klein, also hatten sie vor ein paar Wochen die Entscheidung getroffen, sich etwas Größeres zu suchen. Für Anna war die Entscheidung nicht leicht gewesen, aber sie hatte sich einmal mehr klar gemacht, dass Robert und Toms Vater nichts miteinander gemein hatten und irgendwann musste man die Schatten der Vergangenheit auch hinter sich lassen. Als sie dann die Anzeige für das Häuschen sahen, in das sie sich auf Anhieb verliebt hatten, hatten sie nicht lange gezögert. Die letzten beiden Wochen waren mit Kisten schleppen, Möbel aufbauen und Anstreichen ins Land gegangen, aber so langsam lichtete sich das Chaos. Tom schnappte sich die Stofftasche, um einkaufen zu gehen, Robert schlüpfte aus der Jeans in die alten Arbeitsklamotten und die beiden machten sich wieder an die Küche. Eine dreiviertel Stunde später klingelte der Pizzalieferant an der Tür, alle setzten sich um den Küchentisch und Tom ging kurz durch den Kopf, dass das hier etwas von einem ganz normalen Familienleben hatte. Ein wenig von der Normalität, die für andere Alltag war.
Lena Christensen stand vor dem Spiegel, bürstete sich ihre schulterlangen Haare, bis sie seidig glänzten, trug noch etwas Wimperntusche auf und betrachtete dann eingehend ihr Werk. Sie war zufrieden. Sie sah gut aus, sehr gut sogar. Um acht Uhr hatte sie einen Auftrag, sie sollte einen Geschäftsmann zum Abendessen begleiten. Punkt acht Uhr sollte sie in der Lounge des Sheraton-Hotels an der Bar warten. Dort würde er sie abholen. Wahrscheinlich würde er sie nach dem Essen noch mit auf ein Zimmer nehmen. Sie hatte sich darauf eingestellt und schwarze Spitzendessous mit Strumpfhaltern angezogen. Sie hatte geduscht, sich komplett rasiert und eingecremt; sie wusste, worauf Männer standen. Zu Beginn ihres Studiums hatte sie noch mit kellnern, Zeitungen austragen und diversen anderen Jobs versucht, sich finanziell über Wasser zu halten, doch das Geld reichte hinten und vorne nicht. Irgendwann hatte eine Kommilitonin sie angesprochen und gesagt, sie hätte einen Superjob für sie – 200 Euro für einen Abend als Begleitung. Sie müsse nichts tun, lediglich mit essen gehen und freundlich und unverbindlich lächeln. Lena hatte angenommen, der Abend war völlig harmlos verlaufen und sie hatte mehr Geld mit einem Abendessen verdient als den ganzen Monat mit kellnern. Sie hatte diese Aufträge immer öfter angenommen und irgendwann bot ihr der erste reiche Geschäftsmann 500 Euro extra für Sex im Auto. Zunächst hatte sie sich geziert, dann aber eingewilligt und es auch gar nicht so schlimm gefunden. Vor allem unter dem Aspekt, was sie sich mit diesem Geld alles leisten konnte. Sie betrachtete sich noch einmal komplett in dem großen Spiegel im Flur, war zufrieden und schlüpfte in Jacke und Stiefel. Im Hinausgehen nahm sie die Schlüssel zu ihrem Audi A1, den sie sich im letzten Jahr neu gekauft hatte, vom Haken und machte sich auf den Weg zum Sheraton. Den Wagen stellte sie in die Tiefgarage und an der Bar bestellte sie sich einen Tequila Sunrise. Pünktlich um acht kam ein schlanker, gepflegter, gut aussehender Mann im maßgeschneiderten Anzug auf sie zu. Er hatte braune, perfekt geschnittene Haare und eine Aura von Charme umgab ihn. „Warum bestellt der sich einen Escort?“ ging es ihr durch den Kopf. Der würde doch bestimmt auch anders eine Begleitung finden. Naja, wie auch immer, vielleicht arbeitete er einfach lieber mit Profis. „Thomas Winkelmann“, stellte er sich vor. „Lena Christensen.“ Er bot ihr den Arm und sie gingen nach nebenan ins Restaurant. Das Essen verlief wie erwartet. Lena, die Literaturwissenschaft und gehobenes Management an der Hochschule Hannover studierte, besaß eine gute Allgemeinbildung, ausgezeichnete Manieren und konnte sich sehr eloquent ausdrücken. Der Geschäftspartner, wegen dem Winkelmann von ihr zu dem Essen begleitet werden wollte, war begeistert und sie kamen schnell zu einem Abschluss. Er lud sie noch auf einen Drink an der Bar ein. „Kommst du noch mit aufs Zimmer? Ich habe eine Suite hier.“ „Kostet aber 300 extra.“ „Kein Problem“, er zückte die Brieftasche und zählte drei grüne Scheine auf den Tisch. Sie fuhren mit dem Lift nach oben, doch kaum hatten sie die Zimmertür hinter sich geschlossen, fiel die Maske und der biedere Geschäftsmann zeigte sein wahres Gesicht.
Robert und Anna lagen in dem neuen Doppelbett, das sie sich anlässlich des Umzugs gegönnt hatten. Die ersten Sonnenstrahlen lugten durch die Schlitze in der Jalousie, Anna lag zusammengerollt mit dem Gesicht zu ihm und schlief noch tief und fest. Das Licht spiegelte sich in ihren Haaren wieder und Robert wagte kaum, sich zu rühren, um sie nicht zu wecken. Bis nach ein Uhr hatten sie gestrichen, aber jetzt war die Küche fertig und Anna wollte sie heute Abend mit einem schönen Abendessen einweihen, zu dem sie auch Marina und Hartmut eingeladen hatten. Er freute sich auf den gemeinsamen Abend. Seine anfängliche Befürchtung, es könne Spannungen zwischen seiner langjährigen und vertrauten Freundin und Kollegin und der Frau an seiner Seite geben, hatte sich glücklicherweise nicht bewahrheitet. Die beiden Frauen waren von Anfang an gut miteinander ausgekommen und kurze Zeit, nachdem Anna und er ein Paar geworden waren, hatten es auch Marina und Hartmut endlich geschafft. Der gutmütige sanfte KTU-Techniker, der sich so lange nach seiner Kollegin verzehrt hatte, hatte sich irgendwann ein Herz gefasst und ihr seine Gefühle gestanden. Irgendwie lief alles im Moment zu glatt. Als hätte er es geahnt, fing das Smartphone auf dem Nachttisch an zu vibrieren. Schnell nahm er es auf, um Anna nicht zu wecken, schob sich vorsichtig über die Bettkante und schlich in den Flur. Es war Marina, das konnte nichts Gutes verheißen, denn sie hatten dieses Wochenende Bereitschaft. „Typisch“, grummelte er. „Hallo Lieblingskollegin“, nahm er den Anruf entgegen. „Jetzt sag nicht, dass ausgerechnet dieses Wochenende irgendein Irrer gemordet hat.“ „Doch“, kam es aus dem anderen Ende der Leitung. „Schulze hat mich gerade angerufen. Wir sollen ins Sheraton kommen.“ „Alles klar, ich brauche ungefähr eine halbe Stunde.“ Er wollte eben auflegen, als Marina noch etwas sagte. „Und frühstück besser nichts vorher – es muss wohl ziemlich übel sein.“ „Na prima“, Robert seufzte und schlurfte in Richtung Bad. Nach einer Dusche in Rekordzeit, schlüpfte er in seine Jeans, ein frisches T-Shirt und warf sich die Segeltuchjacke über. Pünktlich eine halbe Stunde später parkte er seinen Wagen auf dem Angestelltenparkplatz vor dem Sheraton. Im Foyer warteten Marina und Prof. Hofmann – ziemlich schlecht gelaunt, weil man ihn so früh aus dem Bett geklingelt hatte. „Guten Morgen“, brummte er. „Dann wollen wir uns die Schweinerei mal anschauen.“ Marina verzog leidend das Gesicht. Dann wandte sie sich ihrem Kollegen zu. „Das Zimmermädchen hat die Leiche heute Morgen gefunden, als sie die Betten machen wollte. Die Tür stand offen, das Schild war umgedreht und laut Computer hatte der Gast aus dem Zimmer – ein gewisser Winkelmann – bereits ausgecheckt. Da drüben sitzt sie.“ Sie wies mit dem Kopf auf eine junge, südländisch aussehende Frau, die wie ein Häufchen Elend an einem Tisch im Empfangsbereich saß. „Aus ihr werden wir wohl nichts herausbekommen“, mutmaßte sie. „Die steht unter Schock. Die Hotelleitung hat einen Arzt gerufen, damit sie versorgt wird. Aus ihrem Gestammel war nur herauszuhören, dass sie wohl in einem See aus Blut gestanden hat, als sie das Zimmer betrat.“ Hofmann holte derweil die Schutzkleidung der KTU hervor. „Und dass mir hier keiner irgendwelche Spuren verwischt. Sie beide bleiben brav an der Tür stehen, bis ich Ihnen erlaube, hereinzukommen.“ „Keine Sorge“, murmelte Marina. „Ich war sowieso nicht so scharf auf die Überreste des Kettensägenmassakers.“ Und an Robert gewandt. "Sagte ich, dass es das ist, was ich an unserem Job verabscheue?“ Er grinste leicht gequält. „Lass mich nachdenken – ja, ich glaube mich dunkel zu erinnern, dass du es mal am Rande erwähnt hattest. Keine Angst, ich kann dich gut verstehen. Komm, wir bringen es hinter uns.“ Er hakte seine Kollegin unter und gemeinsam gingen sie in Richtung des Aufzugs, der sie in die oberste Etage zu der Suite bringen sollte. Bereits in der Tür sahen sie, was das Zimmermädchen so geschockt hatte. Auf dem Bett lag bäuchlings eine junge Frau, Laken und Decken waren von Blut nur so getränkt und es war am Bett weiter hinunter gelaufen und hatte sich überall auf und in dem flauschigen Teppichboden verteilt. Selbst Hofmann verzog angewidert das Gesicht. „Was für eine Schweinerei – diese Suite können sie wohl dann komplett renovieren. Warum müssen die Irren immer so eine Sauerei hinterlassen, statt einfach gepflegt ihren Mord zu begehen?“ Da war er wieder, der morbide Humor. Auf Marinas entrüsteten Blick hin, sagte er kleinlaut. „Tut mir Leid, am besten wären natürlich gar keine Morde.“ Er streifte sich die weißen Plastikschuhe über, schlüpfte in den Anzug, zog die Kapuze über und die sterilen Handschuhe an. Ein bisschen sah er aus wie ein Außerirdischer. Vorsichtig nahm er das Fieberthermometer aus seiner Tasche und ging vorsichtig zum Bett hinüber, um rektal die Temperatur zu messen. „36,2°“, murmelte er. „Unter Berücksichtigung der Temperaturen hier im Raum würde ich sagen, der Todeszeitpunkt liegt zwischen 0:00 und 1:00 Uhr. Die Todesursache ist ganz offensichtlich …“, er drehte sich mit einem entschuldigenden Grinsen zu Marina um. „Blutarmut – die gute Frau ist schlicht und ergreifend ausgeblutet. Ich tippe darauf, dass er ihr in noch lebendigem Zustand die Halsschlagader aufgeschnitten hat - längs, damit der Blutstrom auch nicht versiegt.“ „Warum sind Sie so sicher, dass sie noch gelebt hat, als er ihr die Verletzung zugefügt hat?“ hakte Robert nach. „Also wirklich, jetzt sind Sie schon so lange bei der Mordkommission“, entrüstete sich Hofmann und erklärte dann in einem Ton, wie man kleinen Kindern erklärt, warum sie jetzt ins Bett müssen. „Erstens bluten Tote nicht komplett aus, weil das Herz ja nicht mehr schlägt, um das Blut aus dem Körper zu treiben und zweitens hat sie an Hand- und Fußgelenken Fesselspuren – ich vermute von Handschellen. Sie muss im Todeskampf daran gerissen haben wie eine Irre, hatte aber natürlich keine Chance. So ein hübsches, junges Ding. Ihr Todeskampf hat lange gedauert.“ Er drehte sich zu den beiden Kommissaren um. „Erinnert mich ein bisschen an Jack, the Ripper, allerdings hat er sie wohl nicht ausgeweidet und auch die blutigen Wandmalereien unterlassen, wobei das bei der Schweinerei hier nichts mehr gemacht hätte.“ Er griff nach einer Handtasche, die am Fußende des Bettes stand und brachte sie zur Tür. Robert und Marina streiften sich die Handschuhe über, die sie bis jetzt in der Hand gehalten hatten und öffneten die Tasche vorsichtig. Darin waren neben diversen Schminkutensilien und einer Haarbürste ihr Portemonnaie und ein Autoschlüssel, sowie eine Dose Pfefferspray. Robert hielt es in die Höhe. „Das hat ihr auch nicht mehr geholfen. Aber ganz offensichtlich ging es unserem Täter weder um ihr Geld noch um ihr Auto.“ Marina hatte inzwischen einen Blick in das Portemonnaie von desigual geworfen. Sie fischte mehrere kleine Plastikkärtchen heraus. „Sie hieß Lena Christensen, 26 Jahre alt, war Studentin an der hiesigen Hochschule und verfügte über …“, sie pfiff leise durch die Zähne „eine Platinkreditkarte und jede Menge Bargeld. Welche Studentin schleppt abends fünfhundert Euro mit sich rum?“ „Das ist allerdings eine Menge Geld. Da drängt sich doch der Verdacht auf, dass sie nicht neben dem Studium gekellnert oder Nachhilfestunden gegeben hat.“ „Danach sieht das hier auch nicht aus“, stimmte Marina mit einem Blick auf die schwarzen Spitzendessous zu. Sie rümpfte angewidert die Nase. „Brauchen Sie uns hier noch, Professor Hofmann?“ fragte sie. Es fiel ihr schwer, nicht zu hoffnungsvoll zu klingen. Der Geruch nach geronnenem Blut in Kombination mit dem langsam einsetzenden Verwesungsgestank verursachte ihr Unbehagen und leichte Übelkeit. „Nein, Sie beide können ruhig schon zum Revier fahren und nach dem Papierkram in ihr wohlverdientes Wochenende gehen. Die junge Dame hier läuft uns definitiv nicht mehr weg. Am Montagmorgen haben Sie den Obduktionsbericht auf dem Tisch.“ „Danke“, sagte Marina. „Ihnen auch ein schönes Restwochenende.“ Sie zogen die Handschuhe aus, warfen sie in den Müll und fuhren zum Präsidium. Robert schickte Anna schnell eine SMS, wo er war und dass er auf dem Heimweg Brötchen für ein verspätetes Frühstück mitbringen würde. Ihre Antwort war ein Smiley, der ihm einen Kuss zuwarf. Sie hatte immer Verständnis für seinen Job, sie zeterte nicht, wenn er am Wochenende plötzlich raus musste oder nachts das Telefon klingelte. Mit Anna war alles so unglaublich unkompliziert, ganz anders als in seiner Ehe. „Du grinst schon wieder wie ein Honigkuchenpferd“, zog seine Partnerin ihn auf. „Ist ja gut“, grinste er zurück. „Du bist doch auch nicht besser. So, auf ins Büro, wir haben heute beide noch was vor.“ Sie erledigten den Papierkram und saßen danach noch ein paar Minuten nachdenklich am Schreibtisch. „Wer tut so etwas und warum?“ fragte Marina schließlich. „Keine Ahnung, aber auf mich wirkt es, als wären da jemandem alle Sicherungen durchgebrannt. Blinder Hass und unbändige Wut.“ Marina nickte zustimmend. „Wir müssen noch zu den Eltern – oh Mann, wie ich das hasse.“ „Ich auch. Komm, lass uns zusammenpacken und gemeinsam hinfahren.“ Sie räumten ihre Tische ab, fuhren die Rechner herunter und nahmen den Zettel, auf dem sie sich die Adresse des Ehepaars Christensen notiert hatten und machten sich auf den Weg. „Die armen Leute“, sagte Robert auf der Fahrt an seine Kollegin gewandt. „Nicht nur, dass wir ihnen sagen müssen, dass ihre Tochter tot ist, ich gehe mal davon aus, dass sie keinen blassen Schimmer haben, womit Lena Christensen sich ihr Studium verdient hat. Das ist dann ein richtiger Schlag ins Gesicht.“ Schweigend fuhren sie, bis sie den gepflegten kleinen Ort Ronnenberg erreichten. Ordentliche Vorgärten reihten sich aneinander, als sie die Straße zum Einfamilienhaus der Familie Christensen entlang fuhren. Wie jedes Mal, wenn sie eine Todesnachricht überbringen mussten, hatten beide ein flaues Gefühl im Magen. Dagegen wurde man nicht immun und das war auch gut so. Robert ging etwas durch den Kopf, das Anna bei einem ihrer ersten Dates gesagt hatte, als sie sich über Kriminalromane unterhalten hatten. Sie hatte ihn gefragt, wie er all dieses Elend auszuhalten vermochte. Es war nicht das Elend, das es auszuhalten galt, es waren die Menschen, denen er geholfen hatte, die denen er zumindest ein bisschen Genugtuung hatte verschaffen können. Und vielleicht hatten sie in ihrer langen Karriere auch das eine oder andere Leben gerettet, weil sie einen weiteren Mord hatten verhindern können. Er hatte immer nur Polizist werden wollen, eine Alternative hatte es für ihn nie gegeben. Und selbst nachdem seine Ehe an seinem Job und den unmöglichen Arbeitszeiten zerbrochen war, hatte er es nicht bereut. Mit Anna war das jetzt sowieso anders. Anna war pflegeleicht, wenn man dieses profane Wort dafür überhaupt benutzen durfte. Natürlich freute sie sich nicht, wenn er nachts oder am Wochenende los musste und sie den gemütlichen Abend zu Hause oder im Kino wieder verschieben mussten. Aber sie meckerte auch nicht. Für sie gehörte es einfach dazu. Sie hatte sich in einen Polizisten verliebt, also nahm sie auch die Nachteile ohne jedes Klagen hin. Er dachte, dass es nach dem ganzen Umzugs- und Renovierungsstress mal wieder Zeit sei, sie ein bisschen zu verwöhnen. Er beschloss, bei nächster Gelegenheit ein Wochenende mit ihr weg zu fahren – London, Paris, Rom, Venedig – was auch immer. Hauptsache, sie hatten mal wieder ein wenig Zeit für sich. Aus den Fehlern der Vergangenheit hatte er gelernt, er war aufmerksamer, nahm nichts mehr für selbstverständlich. Ihm war klar, dass eine Beziehung kein Selbstläufer war – beide mussten kontinuierlich daran arbeiten und das würde er tun. „Worüber denkst du nach?“, unterbrach Marina seine Gedanken. „Nichts Besonderes“, er blickte sie an. „Nur daran, dass ich unbedingt mal wieder Zeit mit Anna verbringen möchte. Ich werde das nächste freie Wochenende mit ihr wegfahren.“ „Das ist eine gute Idee. Das ist überhaupt die Idee“, Marina strahlte. „Hartmut wird nächsten Monat vierzig und ich zermartere mir schon seit Wochen den Kopf, was ich ihm schenken soll.“ „Er ist ein absoluter Motorsportfreak“, gab Robert zu bedenken. „Fahr doch ein Wochenende mit ihm zum 24h-Rennen – nehmt euch einfach ein schönes Hotel in der Nähe vom Nürburgring.“ „Das ist eine klasse Idee, du bist der Beste.“ „Ich weiß“, grinste Robert. „Vergiss aber bitte nicht, das ab und zu mal Anna gegenüber zu erwähnen.“ Sie hatten das Haus der Christensens im Rosenweg 5 erreicht. Ein hübsches Reihenhaus, hellblau gestrichen mit einem akkuraten Vorgarten. Auf dem Messingschild über der Klingel stand: Hier wohnen Werner, Ramona und Lena Christensen. „Sieht so aus, als wäre sie das einzige Kind gewesen.“ „Was die Sache um einiges schlimmer macht“, Marina zog die Augenbrauen in die Höhe. Dann drückte sie auf den Klingelknopf. Drinnen erschall ein melodischer Ton, kurz darauf öffnete eine gepflegte Frau Ende Vierzig die Tür. Man konnte auf den ersten Blick sehen, dass sie die ältere Ausgabe von Lena Christensen war. Die gleichen dunkelblauen Augen und blonden Haare, auch wenn sie von einigen grauen Strähnen durchzogen waren. Das freundliche, fast faltenlose Gesicht blickte die Kommissare fragend an. „Guten Tag, was kann ich für sie tun.“ „Marina Thomas, K9 Mordkommission“, stellte Marina sich vor, während sie der Frau ihren Ausweis hinhielt. „Das ist mein Kollege Robert Kunz. Dürfen wir einen Moment herein kommen? Wir würden uns gerne kurz mit Ihnen unterhalten.“ Es war immer das Gleiche, die Leute ahnten, dass es nichts Gutes bedeuten konnte, wenn die Mordkommission vor der Tür stand. „Geht es um Werner?“, fragte Frau Christensen, die merklich bleicher geworden war, mit tonloser Stimme. Marina fasste die Frau vorsichtig am Arm und dirigierte sie sanft in den Flur hinein. Frau Christensen ließ sich schieben wie eine Strohpuppe, alle Energie war aus ihr gewichen. „Vielleicht setzen wir uns in die Küche“, schlug die Kommissarin vor. Mechanisch bewegte sich die Mutter des Opfers bis an den Küchentisch und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Marina nahm auf dem Stuhl neben ihr Platz, Robert setzte sich gegenüber. Er schluckte einmal, räusperte sich entschlossen und begann zu sprechen. „Es geht nicht um ihren Mann, Frau Christensen, aber leider haben wir trotzdem keine guten Neuigkeiten für sie. Es geht um ihre Tochter Lena.“ „Was ist mit ihr?“ Frau Christensen wurde kreidebleich und ihre Augen waren weit aufgerissen. „Wir haben Lena heute Morgen im Sheraton gefunden. Sie ist einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen.“ Die Frau begann völlig unkontrolliert zu zittern. Marina sprang auf und nahm eine Flasche Wasser und ein Glas von der Spüle. Dann zog sie ihr Handy aus der Jackentasche und wählte den Notruf. Kurz und knapp schilderte sie, dass hier dringend ein Arzt benötigt wurde. „Mein armes Mädchen, mein armes süßes Mädchen“, schluchzte Frau Christensen vor sich hin. Beiden Kommissaren war klar, dass sie von der Frau heute nichts mehr erfahren würden. „Wo ist denn ihr Mann?“ wagte Robert einen Vorstoß. „Er hilft einem Bekannten beim Umbau seiner Gartenlaube. Gegen 15:00 Uhr wollte er wieder zurück sein.“ „Wir haben einen Arzt gerufen, der wird gleich hier sein und Ihnen ein Beruhigungsmittel geben. Ihren Mann verständigen wir auch. Können Sie uns seine Mobilnummer geben?“ Frau Christensen wies wortlos auf das Notizbuch auf der Fensterbank. Robert stand auf, nahm es in die Hand und wählte die Mobilnummer, die hinter dem Namen Werner Christensen stand. Er ging in den Flur zum Telefonieren. Drei Minuten später betrat er die Küche wieder. „Ihr Mann wird gleich hier sein“, wandte er sich an Frau Christensen. Es klingelte an der Tür. „Das wird der Arzt sein“, Robert verließ die Küche wieder, um die Tür zu öffnen. Er erklärte dem jungen Notarzt die Situation, dieser brachte Frau Christensen, die sich willenlos führen ließ, ins Wohnzimmer, wo er sie auf die Couch legte, den Arm freimachte und ihr eine Spritze gab. Sie zuckte noch nicht einmal zusammen, als sich die Nadel in die Vene bohrte. „Das ist ein relativ starkes Beruhigungsmittel, sie sollte aber die nächsten Stunden auf keinen Fall alleine sein.“ „Ihr Mann wird gleich hier sein, wir warten solange.“ Der Arzt verabschiedete sich, Robert brachte ihn noch zur Tür. Frau Christensen lag bleich und teilnahmslos auf der Couch. Die beiden Kommissare sahen sich ratlos an. Einige Minuten später hörten sie den Schlüssel in der Haustür. Herr Christensen betrat bleich und abgehetzt die Wohnung. Sie gingen mit ihm in die Küche, erklärten ihm die Situation und sagten Herrn Christensen, dass sie Montag wieder kommen würden. Sie wünschten herzliches Beileid und verließen das Haus. Der Rückweg verlief ziemlich schweigsam. Beide hingen ihren Gedanken nach. Sie stellten den Dienstwagen auf dem Parkplatz vor dem Präsidium ab. „Bis heute Abend“, sagte Robert. „Sollen wir noch etwas mitbringen?“ „Nur gute Laune und Turnschuhe“, zitierte Robert den vielgeschriebenen Spruch früherer Kindergeburtstagseinladungen und lächelte seiner Kollegin zu, die nicht anders konnte, als zurück zu lächeln.