Black Night Falling (Bd. 3) - Teri Terry - E-Book

Black Night Falling (Bd. 3) E-Book

Teri Terry

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Beschreibung

Tabby weiß nun endlich, welche Rolle sie in der großen Verschwörung des "Kreises" spielt. Doch ist der Weg, der ihr zugedacht wurde, wirklich der einzige, um die unausweichlich erscheinende Zerstörung der Erde zu stoppen? Tabby und die anderen Auserwählten suchen nach einem letzten Ausweg. Doch muss Tabby dafür auch die Menschen verraten, die sie am meisten liebt?

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Seitenzahl: 450

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eISBN 978-3-649-64419-4.

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

First published in Great Britain in 2022 by Hodder & Stoughton

Text copyright © Teri Terry, 2022

The moral right of the author has been asserted.

All characters and events in this publication, other than those clearly in the public domain, are fictitious and any resemblance to real persons, living or dead, is purely coincidental.

All rights reserved.

No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, without the prior permission in writing of the publisher, nor be otherwise circulated in any form of binding or cover other than that in which it is published and without a similar condition including this condition being imposed on the subsequent purchaser.

Originalverlag: Hodder Children’s Books

Originaltitel: Black Night Falling

Aus dem Englischen von Wolfram Ströle

Übersetzung Gedichtausschnitt auf S. 5: Fritz Lemmermayer; zitiert aus:

Koppenfels, Werner von / Manfred Pfister, Englische und amerikanische Dichtung 2:

Von Dryden bis Tennyson, München 1991, S. 331–335

Umschlaggestaltung: Frauke Schneider

Lektorat: Sara Falke

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-63873-5.

Teri Terry

Aus dem Englischen von Wolfram Ströle

Für alle, die den Fisch jagen:Widerstand ist niemals zwecklos

Mir kam ein Traum – es war nicht ganz ein Traum.

Die schöne Sonne war verglüht; die Sterne

Verdunkelt kreisten in dem ew’gen Raum,

Weglos und ohne Strahl; blind zog die Erde

In mondesleerer Luft …

Lord Byron im Juli 1816,dem Jahr ohne Sommer

Inhalt

PROLOG

TEIL 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

TEIL 2

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

TEIL 3

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

TEIL 4

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

TEIL 5

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

TEIL 6

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

TEIL 7

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

TEIL 8

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

TEIL 9

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

EPILOG

PROLOG

London 1941

»Es ist zu früh, sie ist noch nicht bereit«, sagt Mam, aber die anderen beachten sie nicht und schieben mich in das Krankenzimmer. Ich rümpfe wegen des Geruchs die Nase – eine unangenehme süßlich-faulige Mischung, wie von etwas Totem, Verwesendem.

Aber Alicia hat die Augen noch geöffnet. »Es ist, wie es ist und wie es sein muss«, sagt sie mit einem kaum hörbaren Flüstern. »Komm her, Kind«, sagt sie, und als ich mich nicht rühre, schiebt mich eine der Tanten zu ihr.

Ihre kalte Hand schließt sich um mein Handgelenk wie ein Ring aus Knochen.

»Lasst uns allein«, sagt Alicia und die anderen gehen, sogar meine Mam.

Die Tür fällt ins Schloss und ich will ihr nachrennen, bin aber vor Angst wie gelähmt.

»Hab keine Angst, Cassandra. Der Kreis muss sich schließen, bevor es zu spät ist. Konzentriere dich auf die vier Worte. Sprich sie mit mir zusammen.«

Sie fängt an und ich falle ein, zuerst noch mit versagender Stimme, dann kräftiger, während ich mich auf die Worte konzentriere und auf das, wofür sie stehen:

Sonne … Meer … Erde … Himmel …

Sonne … Meer … Erde … Himmel …

Wir wiederholen die Worte immer wieder und die anderen Stimmen fallen ein – die Stimmen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich habe gelernt, dass diese Stimmen sich von meiner unterscheiden, aber manchmal höre ich sie doch in mir flüstern. Wir sprechen lauter, flüstern nicht mehr, und ich werde ruhig, ergebe mich. Es muss so sein.

»Gut. Jetzt nimm den Ring.« Alicia zeigt auf den Tisch neben ihr, auf einen in roten Samt eingeschlagenen Gegenstand. Ich wickle ihn aus. Es ist ein Ring aus glänzendem Metall, größer als meine Hand. Ein Schrei entfährt mir, als ich ihn ergreife, denn er schneidet mir mit seinen scharfen Kanten in die Finger. Aber ich kann ihn nicht loslassen – ich darf ihn nicht loslassen, sagen die Stimmen, und die Schmerzen lassen schon nach.

Alicia ergreift die andere Seite des Rings und schneidet sich ebenfalls in die Hand. Sie hebt ihn an ihre Kehle und zieht dabei meine Hand mit, und als ich sehe, was sie vorhat, ist es bereits zu spät, es noch zu verhindern. Sie zieht die messerscharfe Kante über ihren Hals und aus der Wunde schießt mit ihrem Herzschlag pulsierend ein roter Strahl. Warm und nass läuft er an meiner Hand und meinem Arm hinunter.

Ihr Blut, mein Blut und das Blut all unserer Schwestern in der Vergangenheit.

Alles, was sie sind, was sie verloren und erlitten haben, strömt mit Alicias Blut von ihr zu mir. Panik überkommt mich angesichts so vieler auf mich einstürzender Leben – alle drängen zu mir, bevor der Blutstrom versiegt.

Alicia sackt zusammen. Sie hat ihren Körper verlassen und ich höre sie jetzt mit den anderen in mir. Ich konzentriere mich auf ihre Worte – Sonne … Meer … Erde … Himmel –, um das Geschrei zum Verstummen zu bringen, und allmählich legt sich der Aufruhr in meinem Inneren. Ich bin davon so überrascht, als hätte ich aus dem Nichts einen widerspenstigen Hengst unter Kontrolle gebracht.

Alles, was war, was ist und was sein wird, dreht sich um mich. Ich bin der Mittelpunkt all dieser Kreise. Verschiedene Wege führen zu verschiedenen Kreisen, aber ich weiß instinktiv, welche Reihenfolge die richtige ist.

Nicht!, flüstert Alicia in mir. Die Zeit dreht sich, ist im Fluss. Folge nicht dem Faden, damit du nicht durch das, was du siehst, beeinflusst, was sein wird.

Sie will mich zurückhalten, aber ich folge wie gebannt den Kreisen: zuerst dem einen, dann einem anderen und noch einem. Der Krieg – mit seinen Bomben, von denen eine Alicia die Beine zerschlagen hat – wird enden. Mehr wird folgen.

Die Menschen fügen sich selbst und einander so viel Leid und Kummer zu, es ist überwältigend. Ich könnte mich darin verlieren und nicht mehr zurückkehren. Ich will mich zurückziehen, aber es ist zu spät. Ich kann nicht ungesehen machen, was vor mir, vor uns allen liegt.

Wie ist das möglich? Dass die Stimmen der Zukunft – verstummen? Ich gerate in Panik und blicke hin und her, in alle möglichen Richtungen, nicht nur in die eine. Aber alle Kreise führen zu folgendem:

Die Natur schreit auf und liegt im Sterben. Die Menschen werden das Ende der Erde und ihr eigenes herbeiführen und dann werden die Stimmen für immer verstummen.

Es ist falsch, und dass es so falsch ist, droht mich zu zerreißen, genauso wie die Angst, die Panik. Es kann, es darf nicht sein, dass es so kommen muss – und jetzt schreie ich auch.

Ein kleiner Teil meines Bewusstseins registriert, dass die Tanten zurückkehren, mir die Hand verbinden und mich wegbringen. Von dem Ort, an dem Alicia gestorben ist. An dem ich am liebsten auch gestorben wäre.

Viel später erhole ich mich so weit, dass ich essen und mir Wasser ins Gesicht spritzen kann. Als ich in den Spiegel blicke, sind meine Haare schneeweiß, wie die von Alicia es waren.

Aber das ist unwichtig.

Das Ende hat angefangen.

TEIL 1

UNDERSEA TABBY

@HaydenNoPlanetB

Als Industria United Chemikalien in die Atmosphäre blasen ließ, um die Erde vor der Sonne zu schützen, sollte das angeblich die Klimaerwärmung abschwächen – das sechste Massenaussterben verhindern, ohne dass wir die Art, wie wir Energie erzeugen und nutzen, radikal ändern müssten. Das ist aberwitzig. Man denke an die Meere: Sie nehmen immer mehr Kohlenstoff auf. Die daraus folgende Versauerung verhindert die Bildung von Muscheln und Korallen und wird, wenn sie anhält, die bestehenden Riffe auflösen. Ein Viertel aller Meereslebewesen ist von Korallen abhängig – sie werden für immer verschwinden, wenn wir jetzt nicht handeln.

#NaturImAufschrei

1

Das wilde Meer ist so nah, quälend nah, und bietet mir einen Ausweg an. Wie leicht wäre es, jetzt Schluss zu machen, an einem Ort und zu einem Zeitpunkt meiner Wahl.

Von ihren Medikamenten bin ich ohnehin schon halbtot, und die Versuchung, das zu Ende zu führen und sie um ihren Erfolg zu bringen, ist da. Aber sie sind zu viele und ich bin allein. Selbst wenn ich mich dazu überwinden könnte, vom Schiff ins Unbekannte zu springen, in den heulenden Sturm und die Nacht, habe ich nicht wirklich die Wahl.

Eine von ihnen öffnet die Tür eines kleinen Gefährts, das an einer Art Kran auf Deck hängt. Sie nennen es Tauchboot, und nach dem, was Malina zuvor gesagt hat, handelt es sich um eine Art U-Boot für zwei Personen. Aus dem Fernsehen kenne ich so etwas nicht – es ist klein und fast rund. An der offenen Tür sehe ich, dass es sehr dicke Wände hat. Innen ist es also noch kleiner. Einige halten das Tauchboot fest und ich steige hinter Malina ein, wie man mir befiehlt. Malina zeigt mir, wie ich vom oberen Ende meines Sitzes Gurte herunterziehe und mich damit anschnalle.

Die Tür schließt luftdicht. Das Boot hat keine Fenster, aber Außenkameras projizieren ein Bild auf einen Monitor. Das Bild schwankt heftig, als wir vom Schiff zu den gewaltigen Wellen hinuntergelassen werden. Donnernd steigen sie um uns auf und werfen uns hin und her. Ich kämpfe gegen eine Erinnerung, die mir den Verstand zu rauben droht: die Erinnerung an den Hurrikan. Simone – meine Mutter, die ich noch gar nicht lange gekannt hatte –, wie sie neben mir in unserem Auto vom Wasser eingeschlossen wurde und ertrank …

Irgendwie reiße ich mich zusammen und schiebe die Erinnerung weg.

Dann verschluckt uns das Meer. Wir lassen Wind und Regen hinter uns und den Aufruhr an der Oberfläche. Auch in der Tiefe gibt es Strömungen, die so stark sind, dass das Tauchboot ruckt und vibriert, aber trotzdem herrscht hier eine Art Frieden.

Nach einer Weile spüre ich einen immer stärkeren Druck – von außen und in mir. Es ist, als drängten das Meer und mein Blut gleichermaßen auf mich ein und als sei die Luft in unserem Gefährt zu dünn. Entweder mein Blut sprengt meinen Körper oder das Meer drückt die Wände ein. Ich lege meine Hände mit gespreizten Fingern an das Metall, das uns umschließt – drücke dagegen und werde gedrückt –, und mein Blut pocht erregt, als wollte es zum Meer auf der anderen Seite. Ich habe keine Angst, auch nicht unterschwellig. Eher habe ich das Gefühl, dass die schiere Gewalt des Meeres belanglos macht, ob man Angst hat oder nicht.

»Alles in Ordnung, Tabby?«, fragte Malina.

Ich antworte nicht, bin auf die Kraft konzentriert, die durch meine Adern und die Wand strömt, aber ihr Tonfall dringt zu mir durch.

Stimmt etwas nicht?

Ohne die Hände von der Wand zu nehmen, wende ich mich ihr zu. Malina ist neben mir angegurtet, hält die Steuerelemente – unser Leben – in den Händen. Sie erwidert meinen Blick. Ich mustere sie, und sie wendet die Augen wieder ab, als sei es ihr unangenehm.

Die unerschütterliche Malina, die nichts aus der Ruhe bringen kann, ist nervös. Warum?

»Hast du das schon gemacht?«

»Schon oft.«

»Ist jetzt etwas anders?«

»Der Druck steigt und nähert sich der Grenze, für die das Tauchboot ausgelegt ist.« Sie zuckt mit den Schultern. »Er steigt mit zunehmender Tiefe, aber noch ist alles im grünen Bereich.« Ich höre ihr zu. Was sie sagt, klingt nach einer einleuchtenden Erklärung für ihre Unruhe – aber sie ist nicht deshalb nervös, ihre Nervosität hat einen anderen Grund.

Was ist das? Ein gespenstisch leises Geräusch, kaum hörbar. Ganz allmählich wird es ein wenig lauter. Es kommt von unserem Tauchboot – es lebt und hat Schmerzen. Wie ein wildes Tier, das uns verschluckt hat und dem jetzt der Magen wehtut. Fest umschlingt es uns und ächzt und stöhnt.

»Jetzt verstehst du, warum wir Isha nicht mitnehmen konnten.«

Isha war im Trainingslager mit dabei, aber beim Training in einem Tank – wir mussten in einem Behälter aus Glas und Stahl die Luft so lange anhalten, wie wir konnten – ist sie in Panik geraten. Sie hatte Klaustrophobie. Wie das hier wohl für sie gewesen wäre, in so einer Nussschale zu sitzen, hilflos den Strömungen ausgeliefert, während der Druck des Wassers unaufhörlich steigt.

Sie haben Isha also nicht mitgenommen, aber wo sind die anderen von uns? Hat überhaupt jemand überlebt, als die Schule von der Sturmflut zerstört wurde? Oder gibt es noch andere wie Isha, die nicht da waren, als es passierte?

Wie ich.

Und Denzi.

Ich bin weggelaufen, habe ihn zurückgelassen, er lag bewegungslos am Strand. Die Ungewissheit, ob er noch am Leben ist, zerreißt mich. Und was habe ich erreicht? Nichts. Die haben mich trotzdem gefangen. Aber es ist zwecklos, Malina zu fragen, was mit Denzi passiert ist. Das habe ich schon oft getan und nie hat sie geantwortet.

Ein Pochen.

Der Druck in mir und der Druck auf das Boot steigen weiter und wir werden mit Sicherheit bald zur gleichen Zeit im- und explodieren.

Trommeln.

Es ist wie bei einer Geburt oder zumindest stelle ich es mir so vor – Blut, Druck und Schmerzen. Ich bin nahe dran, zu schreien, weil ich es nicht mehr aushalte. Da spüre ich mehr, als dass ich es sehe, dass wir am Ende unserer Fahrt angekommen sind.

Malina steuert auf eine Art klaffenden schwarzen Schlund zu – ein Nichts, erkennbar nur daran, dass es noch schwärzer ist als die kaum unterscheidbare Umgebung. Wir fahren hinein und kurz darauf schaltet Malina die Scheinwerfer an – wie bei einem Auto, nur im dunklen Wasser schwächer. Wir schweben weiter. Da gerät das Wasser um uns in Bewegung, wir schwanken. Die Öffnung, durch die wir gekommen sind, schließt sich hinter uns.

Malina hat mir das vor dem Tauchgang erklärt. Wir fahren durch eine Folge von Schleusen – wie ein Kanalboot, das einen Höhenunterschied überwinden muss, nur dass sich in unserem Fall der Wasserdruck verändert. Pumpen verringern ihn in jeder Schleusenkammer und das Pochen in meinem Kopf lässt nach.

In der letzten Kammer halten wir an und warten, während das Wasser hinausgepumpt und durch Luft ersetzt wird. Über uns geht Licht an.

Malina öffnet die Tür des Boots.

Wir sind nicht tot, sondern wiedergeboren.

2

Wir treten auf eine felsige Plattform hinaus, die kaum mehr Platz bietet als unser Boot. Von den rauen Wänden tropft Meerwasser und es stinkt nach fauligem Tang. Die Decke über uns ist für eine natürliche Höhle zu regelmäßig – wurde sie aus dem Fels gehauen? Es ist feucht und kalt.

»Hier entlang«, sagt Malina und zeigt auf eine Art Luke in der Wand. An ihr ist ein Rad befestigt. Es dreht sich nur schwer, und sie fordert mich auf, ihr zu helfen. Endlich gibt es nach. Malina zieht daran und eine Tür schwingt in unsere Richtung auf. Sie ist schwer und bestimmt dreißig Zentimeter dick. Damit sie dem Druck standhält, wenn die Kammer voller Wasser ist?

Wir treten hindurch in einen kleinen Flur. Malina verriegelt die Tür erneut, dann gehen wir in einen quadratischen Raum am Ende des Flurs. Dort erwarten uns zwei Frauen. Eine davon ist Elodie, Simones Mutter, meine Großmutter. Obwohl ich ziemlich davon überzeugt war, dass sie zum Kreis gehört, spüre ich doch einen Stich der Enttäuschung. Sie hat die ganze Zeit so getan, als sei ich ihr wichtig, und hat dabei versteckt, wer sie wirklich war. Unsere Augen begegnen sich und offenbar sieht sie die Anklage in meinen. Sie zuckt ein wenig zusammen und wendet den Blick ab.

Die andere Frau ist sehr klein – vielleicht ein Meter fünfzig – und hat schneeweiße Haare sowie einen wachen, eindringlichen Blick. Ich bin mir sicher, dass ich sie noch nie gesehen habe, aber etwas an ihr ist mir vertraut, ohne dass ich sagen könnte, was.

Sie lächelt. »Tabby, Kind. Endlich.« Sie klingt bewegt. »Ich sehne mich schon so lange danach, dich kennenzulernen. Ich bin Cassandra Penn. Catelyn, die dich aufgezogen hat, war meine Enkelin. Willkommen in Atlantis, dem Ersten Kreis von Undersea.«

Sie ist Cates Großmutter? Ihre Augen erinnern mich tatsächlich an Cate – etwas an der Farbe, aber noch mehr ihr direkter Blick. Dann erst wird mir bewusst, was sie noch gesagt hat.

»Ihr nennt diesen Ort Atlantis? Im Ernst?«

»Die meisten Legenden beginnen mit einer Wahrheit«, sagt sie. »Das ist unsere, schon seit sehr langer Zeit. Komm. Es ist noch Zeit für weitere Vorstellungen und Erfrischungen, bevor deine Initiation beginnt.«

Initiation? Was soll das sein? Bevor ich fragen kann, geht die Tür hinter ihr auf und Ariel kommt heraus.

»Ariel! Du lebst?« Erleichterung kämpft in mir mit anderen Gefühlen.

Ariel grinst breit, stürzt sich auf mich und umarmt mich, und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Wir waren Freundinnen, glaubte ich zumindest. Aber sie muss mich angelogen haben, als es darum ging, ob sie die Penrose Clinic kennt, die Klinik für künstliche Befruchtung, die hinter dem steckt, was uns angetan wurde. Und war sie wirklich die Person auf den Bildern der Überwachungskamera am Hoover-Damm? Wird sie im Zusammenhang mit diesem verheerenden Bombenanschlag gesucht?

Ariel macht es mir leicht. Sie ergreift wie immer die Initiative und hakt sich bei mir ein. »Komm, Zeit für einen kurzen Rundgang.«

Ich sehe mich rasch nach Malina um, meiner Aufpasserin, aber die hat sich Cassandra zugewandt.

»Geh, wenn du willst«, sagt Cassandra. »Aber, Ariel, seid rechtzeitig zur Versammlung wieder da.«

Ariel nickt. »Natürlich.« Und an mich gewandt, sagt sie: »Schnell, wir haben nicht viel Zeit und ich muss dir unbedingt was zeigen.«

Ich folge ihr durch die Tür, durch die sie gekommen ist, in einen Flur. Bevor ich sie noch etwas fragen kann – wie sie hierhergekommen ist, ob noch andere überlebt haben –, fängt sie an zu laufen, und ich halte mit ihr Schritt. Durch eine weitere Tür gelangen wir in einen schmalen Gang, der anscheinend in Spiralen nach oben führt. Es ist dunkel, aber immer wieder gehen Bewegungsmelder an, obwohl wir so schnell rennen, dass wir fast schon an ihnen vorbei sind, wenn sie aufleuchten. Ich habe wieder das Gefühl, als würde der Druck in mir steigen, so als würden wir uns dem Wasser nähern. Und dann kommen wir zu einer lukenartigen Tür. Ich helfe Ariel, sie zu öffnen, und wir treten hindurch. Auf den ersten Blick ist alles dunkel und die Luft ist kalt und feucht. Langsam gewöhnen sich meine Augen daran und dann …

»Wow!«, keuche ich.

»Sagte ich doch – du musst das sehen.«

Ich gehe weiter in den Raum hinein. Er ist rund, die Decke kuppelförmig gewölbt. Und über uns? Das Meer. Ich sehe in seiner schwarzen Tiefe nur ein schwaches Schimmern, das sich bewegt – irgendwelche phosphoreszierenden Meerestiere. Je mehr sich meine Augen an die Dunkelheit anpassen, desto mehr erkenne ich: die Umrisse von Fischen, Tintenfischen und Quallen, deren Tentakel sich wellenartig in der Strömung bewegen.

»Wie tief sind wir?«

»In der Dämmerlichtzone. Hier etwa dreihundert Meter, unten eher fünfhundert.«

Silbrige Gestalten nähern sich, blicken auf uns herunter. Delfine?

Ariel ist am Rand stehen geblieben, wo die Decke niedriger ist, und hat die Hände zu der durchsichtigen Oberfläche ausgestreckt. Die Gestalten schwimmen zu ihr.

»Später«, sagt sie und winkt und die Gestalten entfernen sich wieder.

Sie sieht mich an. »Es ist wirklich schön, dich zu sehen«, sagt sie. »Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist.« Ihre Worte klingen aufrichtig und echt, und ich bin auf einmal trotz allem überglücklich, sie zu sehen und zu wissen, dass ihr nichts passiert ist.

»Geht mir genauso. Aber wurdest du nach dem Hurrikan nicht vermisst gemeldet? Was ist in der Schule passiert?«

»Das ist eine lange Geschichte, zu lang für jetzt, ich erzähle sie dir später. Wir müssen gehen, sonst verspäten wir uns und machen Cassandra böse. Und glaub mir, das willst du nicht.«

Sie zieht die Tür auf, und ich kneife die Augen zusammen, als die Lichter im Flur angehen. Wir schließen die Luke und rennen den nach unten führenden Gang zurück – diesmal schneller. Aber als wir zu seinem Ende kommen und die Tür dort passieren, wechseln wir zu einem zügigen Gehen.

»Gleich sind wir da«, sagt Ariel. »Wir konnten es kaum erwarten, dass du zu uns stößt.«

»Wir? Wer ist noch hier?«

Sie fängt an, Namen aus dem Trainingslager aufzuzählen. Einige klingen bekannt, andere nicht, und dann hört sie auch schon viel zu früh wieder auf. Es sind zu wenige Namen. Und nur die von Mädchen.

»Was ist mit den Jungs? Und den restlichen Mädchen?«

»Lange Geschichte.«

»Ich weiß, du erzählst sie mir später.«

Sie legt den Kopf schräg. »Das nicht, aber du wirst es erfahren.« Ihr Blick verdunkelt sich kaum merklich, aber dann nähern sich Schritte. Es ist Zara, eins der Mädchen aus unserer Gruppe im Trainingslager.

»Hi, Tabby«, sagte sie und lächelt. »Ich bin froh, dass sie dich doch überreden konnten, zu kommen.«

Überreden? Die haben mich verfolgt, gegen meinen Willen entführt und etwas mit Denzi gemacht. Beim Gedanken an das, was sie ihm wohl angetan haben, steigt wieder Panik in mir auf. Gewaltsam verdränge ich sie und konzentriere mich auf das Hier und Jetzt. Überreden ist in jeder Hinsicht das falsche Wort. Während ich noch überlege, was ich antworten kann, höre ich weitere Stimmen und Schritte – Leute nähern sich aus allen Richtungen.

Durch eine Tür gelangen wir in einen großen offenen Raum. Reihen von Steinbänken führen nach unten zu einem offenen Rund in der Mitte. Ich fühle mich an das Minack Theatre in Cornwall erinnert, in das Cate mich vor Jahren mitgenommen hat. Nur war das Minack ein in die Felsen über dem Meer gehauenes Freilufttheater. Hier dagegen umgeben die Sitzreihen die Bühne unten von allen Seiten und das Meer ist nicht unter, sondern über uns. Ich werfe einen Blick nach oben zur Decke aus glatt zugehauenen Steinen. Wenn ich an das Gewicht der Steine und des Wassers zwischen uns und dem Himmel denke – hm. Sosehr ich das Meer liebe, es ist eine seltsame Vorstellung.

Offenbar liest Ariel meine Gedanken. »Es wird leichter. Ich denke schon fast nicht mehr daran.«

Frauen und Mädchen aller Altersstufen, darunter auch Kinder, treten durch die Türen in der Wand oberhalb der Bänke. Die meisten gehen zwischen den Sitzreihen entlang und suchen sich einen Platz, aber die Mädchen aus dem Trainingslager, die Ariel vorhin aufgezählt hat, stehen plaudernd unten seitlich auf der Bühne. Ich steige hinter Ariel die Treppe hinunter und gehe zu ihnen. Sie begrüßen mich wie eine lange vermisste Freundin, selbst die, die ich kaum kenne, wie Jess – das Mädchen, von dem Denzi glaubte, es hätte ihn dazu benutzt, um mich zu finden.

Malina tritt durch eine Tür und kommt zu uns herunter. »Setzt euch bitte, Mädchen«, sagt sie.

Ich will Ariel und den anderen folgen, aber Malina gibt mir mit einer Berührung an der Schulter zu verstehen, dass ich bei ihr bleiben soll. Wieder stimmt etwas mit ihr nicht. Hinter ihrem üblichen ruhigen Lächeln spüre ich eine unterschwellige Spannung.

»Was ist los?«

»Vieles, das eintreten kann oder auch nicht. Aber lass das nicht deine Sorgen sein.«

Die Plätze über uns sind jetzt fast alle besetzt. Vielleicht fünfhundert Menschen sind anwesend. Und obwohl das übliche Stimmengewirr und Rascheln zu hören ist, wenn so viele es sich bequem machen, sehen doch in gewisser Weise alle mich an, entweder offen oder verstohlen. Ich komme mir vor wie eine in einem Glas gefangene Fliege.

Über uns geht erneut eine Tür auf und schlagartig verstummen Stimmen und Rascheln.

Absolute Stille kehrt ein.

3

Cassandra und eine andere Frau treten ein. Die andere Frau kommt mir bekannt vor, aber ich kann sie nicht einordnen. Oder – ach so. Ist das Ariels Mutter, Dr. Rose? Ich habe online Fotos von ihr gesehen, als ich nach Informationen über die Penrose Clinic gesucht habe. Sie hat die Klinik mitgegründet.

Moment! Sagte Cassandra nicht, sie heiße Cassandra Penn? Penn und Rose: Penrose Clinic.

Die beiden scheinen hier das Sagen zu haben. Wenn sie die Klinik auch gegründet haben, hängt die nicht nur irgendwie mit dem Kreis zusammen, sondern beides ist ein und dasselbe! Die Klinik, die meerliebende und schwimmsüchtige Designerbabys wie mich hergestellt hat, und der Kreis, der Naturkatastrophen ausgelöst und mit weiteren gedroht hat, wenn die Welt nicht bald etwas gegen die Klimakrise unternimmt. Aber wie passt das alles zusammen?

Die beiden Frauen gehen zwischen den Sitzreihen nach unten zu der Plattform, auf der ich mit Malina stehe.

»Seid gegrüßt, Schwestern«, sagt Cassandra. »Die Zeit der Erwählten ist fast gekommen und die verlorene Schwester ist zu uns zurückgekehrt. Eigentlich sollte Catelyn für sie sprechen, aber sie wurde schon vor Jahren verbannt und kann nicht zu uns kommen. Wer will in ihrer Abwesenheit ihren Platz einnehmen?«

»Ich«, sagt Malina und tritt vor.

Cate wurde verbannt? Heißt das, sie ist nicht gegangen, sondern wurde hinausgeworfen? Und sie kann nicht kommen: eine seltsame Beschreibung der Wirklichkeit. Sie ist tot, wurde im Gefängnis ermordet, als sie auf ihren Prozess wartete, weil sie mich entführt hatte. Kurz nachdem Malina mich gefangen hat, habe ich sie gefragt, ob der Kreis irgendwie mit Cates Tod zu tun hat. Sie hat das verneint und ich habe ihr geglaubt. Aber es ist klar, dass sie hier nicht das Sagen hat. Vielleicht hatten die anderen damit zu tun und sie weiß es nur nicht.

Ich muss erfahren, was mit Cate passiert ist. Allein die Vorstellung, die anderen könnten etwas mit ihrem Tod zu tun haben, macht mich wütend. Wenn ja, werden sie es büßen. Dieser Gedanke beschäftigt mich so sehr, dass ich das, was als Nächstes gesagt wird, nur wie aus der Ferne höre.

»Ich bin dagegen«, sagt Dr. Rose.

Um uns holen alle scharf Luft und ich höre wieder zu. Malina versteift sich. Hat sie das befürchtet?

»Weshalb?«, fragt Cassandra.

»Aus vier Gründen. Erstens haben wir sie nicht von Kind auf beobachtet und ihre Ausbildung und Loyalitäten sind unbekannt.«

»Wir werden sie kennenlernen und sie uns«, sagt Malina. »Das ist kein Hindernis.«

»Vielleicht nicht. Zweitens hat sie eine unserer grundlegenden Regeln gebrochen und mit Außenseitern über uns gesprochen. Wir mussten deshalb einschreiten, was wir lieber nicht getan hätten.«

Einschreiten: Bei dem Gedanken, was sie meinen Freunden womöglich angetan haben, wird mir ganz übel.

»Wenn sie nicht von uns ausgebildet wurde, wie hätte sie wissen sollen, dass das falsch war?«, erwidert Malina.

»Nichtwissen ist keine Entschuldigung, aber ich gewähre mildernde Umstände. Drittens hat sie versäumt, ihr Versprechen zur Sommersonnenwende abzugeben, obwohl sie es kürzlich nachgeholt hat.«

»Damit ist sie nicht die Erste.«

»Mag sein.« Eine Pause entsteht und Dr. Rose sieht sich um. Ihr Blick scheint bei bestimmten Frauen stehen zu bleiben. »Aber als sie das Versprechen schließlich abgelegt hat, hat sie es zusammen mit einem Jungen getan. Er hat dieselben Worte gesprochen.«

Alle sehen mich entsetzt an – als hätte ich das Versprechen mit einem Alien von einem anderen Planeten abgelegt. Wenn der heutige Tag maßgeblich ist, besteht der Kreis nur aus Frauen und Mädchen. Aber es sind auch Kinder da – wo sind ihre Väter?

Cassandra und Malina wirkten nicht überrascht, als Dr. Rose zu ihrer Kritik ansetzte. Sie schienen geradezu damit gerechnet zu haben und Malina hatte ihre Antworten parat. Bis zu diesem letzten Einwand. Die beiden wussten nicht, dass Denzi das Versprechen mit mir abgelegt hat. Woher wusste es Dr. Rose?

Die einzige andere Person, die bezeugen kann, was wir getan haben, ist Denzi selbst. Wenn Dr. Rose es auf irgendeine Art von ihm erfahren hat, dann … kann Denzi zumindest nicht am Strand ums Leben gekommen sein.

Das heißt zwar noch nicht, dass es ihm gut geht – er hat bestimmt nichts freiwillig verraten –, aber ein Fünkchen Hoffnung flackert in mir auf.

»Wir vertagen die Sitzung, bis wir uns mit diesen Einwänden beschäftigt haben«, sagt Cassandra.

Die Frauen und Mädchen stehen auf und gehen hinaus. Sie sind stumm, aber unter der Oberfläche geht etwas vor sich, das ich nicht einordnen kann.

An der Tür dreht Ariel sich noch einmal um – unsere Blicke begegnen sich. Ihr Gesicht wirkt besorgt, ängstlich, und es ist, als wollte sie mir mit ihren Augen etwas zu verstehen geben. Aber dann tritt eine Frau hinter sie und sagt etwas und sie wendet sich ab und verschwindet.

4

Malina bringt mich in eine Art kleines Wohnzimmer und sagt, ich solle dort warten, bis sie mich holt. Die Tür schließt sich hinter ihr.

Mir schwirrt der Kopf von allem, was passiert ist – dem Ort und dem, was gesagt wurde. Viele aus dem Trainingslager haben den Hurrikan irgendwie überlebt und wurden hierhergebracht. Was bedeutet »Zeit der Erwählten«? Sind damit wir gemeint? Und Malina hat für mich gesprochen – die verlorene Schwester laut Cassandra. Das alles lässt mich nicht los und ich gehe in Gedanken versunken um das Sofa und den Stuhl und wieder zurück. Da klopft es leise.

Die Tür geht auf, aber es ist nicht Malina, sondern Elodie.

»Tabby, Liebes, ich freue mich so, dich zu sehen. Endlich zu Hause.«

»Zu Hause? Ich kenne diesen Ort nicht.«

»Du wirst ihn bald kennenlernen. Komm, setz dich. Lass uns miteinander reden.«

Ich sehe sie nur an und bleibe stehen.

Sie seufzt. »Es tut mir leid, Tabby. Ich verstehe ja, dass du wütend auf mich bist. Aber ich habe das Beste für dich getan, das ich unter den Umständen tun konnte.«

»Erklärst du mir etwas?«

»Wenn ich kann.«

»Du bist hier – also gehörst du zum Kreis, was ich sowieso vermutet habe. Aber wie passt Simone in das alles rein? Der Kreis hat etwas mit meiner DNA gemacht, mich verändert. War sie darin eingeweiht? Und Ali – hatte er ein Mitspracherecht?«

»Simone gehörte nicht zum Kreis. Deine Eltern wussten beide nichts davon.«

»Aber du schon, ja? Und du hast Simone, deiner eigenen Tochter, nicht die Wahrheit über das Baby gesagt, mit dem sie schwanger war?«

»Das durfte ich nicht. Aber du musst wissen, sie hatte dich sehr lieb. Und Ali genauso. Ohne dass sie wussten, wie besonders du bist.«

Ich kneife die Augen ein paar Mal heftig zusammen. »Das weiß ich. Aber der Kreis hat den Hurrikan ausgelöst, in dem Simone umkam, und du gehörst dazu.«

»Ich wollte das nicht. Es war nicht geplant, dass sie dort ist.«

Aber sie war dort, wegen mir. Ich bin schuld, das meint sie doch, ja?

Die Tür geht auf und Malina streckt den Kopf herein und zögert, als sie Elodie sieht. »Tut mir leid, wenn ich störe.« Sie zeigt auf mich. »Aber sie sind jetzt für dich bereit.«

»Wir unterhalten uns später weiter«, sagt Elodie und geht.

Sie schließt die Tür hinter sich und Malina sieht mich an. »Alles in Ordnung?«

Nichts an diesem Ort oder meiner Anwesenheit ist auch nur annähernd in Ordnung, aber ich zucke nur mit den Schultern und sage nichts.

Ich folge Malina durch den Flur zu einer anderen Tür. Sie klopft einmal und macht auf. Drinnen warten Cassandra und Dr. Rose, die mir entgegenkommt.

»Ich bin Dr. Seraphina Rose. Die anderen nennen mich Phina. Ich bin die wissenschaftliche Chefberaterin des Kreises.«

Jetzt, aus der Nähe, sehe ich in ihrer Haltung und ihrem Körperbau eine gewisse Ähnlichkeit mit Ariel.

»Du bist Ariels Mutter?«

»Ja.«

Und das Fischmädchen unter dem Zentrum für Sportmedizin mit Ariels Gesicht? War sie Ariels Zwillingsschwester? Und auch deine Tochter? Das hätte ich Dr. Rose am liebsten gefragt, aber ich beherrsche mich. Es ist nicht ratsam, sich mit ihr anzulegen, das habe ich schon in dieser kurzen Zeit gemerkt. Als ich die Kreatur damals in einem Käfig unter Wasser entdeckt habe, bin ich beim ersten Mal weggerannt – halb Fisch, halb Mensch, unter Wasser atmend und mit Ariels Augen, aber völlig ausdruckslos. Wie konnte sie mit ihren eigenen Kindern experimentieren? Oder überhaupt mit Kindern.

»Cassandra bist du ja schon begegnet, aber vermutlich noch nicht offiziell. Sie ist eine Älteste und Seherin des Kreises.«

»Seherin? Heißt das, sie kann in die Zukunft sehen?« Mir fällt ein Traum ein, den ich einmal gehabt hatte – in dem die Stimmen der Zukunft alle verstummt waren.

»Es ist wirklich offensichtlich, wie wenig dieses Mädchen weiß, Cassandra«, sagt Phina.

»Sie weiß vielleicht nicht alles über unsere Geschichte und Organisation, dafür weiß sie über die Vier sehr gut Bescheid und kann sie auch anwenden«, erwidert Malina. »Außerdem werden die Träume ausgleichen, was sie nicht weiß.«

»Aber mit welchem Risiko? Sie muss geprüft werden. Viele stimmen mir darin zu.«

»Ich kenne deine Anhänger.« Cassandra seufzt. »Wir haben nur so wenig Zeit.«

»Dann muss es sofort geschehen.«

Malina macht ein alarmiertes Gesicht. »Wir können die Blocker erst absetzen, wenn ihre Schulung abgeschlossen ist.«

»Einspruch zur Kenntnis genommen und abgelehnt«, sagt Cassandra.

»Dann muss ich ihre Übungen hochfahren …«

»Wie bereits gesagt, wir haben keine Zeit«, sagt Phina.

»Phina hat recht«, sagt Cassandra. »Und das Mädchen ist hart im Nehmen.« Sie streift mich mit einem Blick. Die drei reden über mich, als sei ich gar nicht anwesend.

»Hast du das gesehen? Wird sie sich behaupten?«, fragt Malina Cassandra.

»Ich habe es nicht in der Zukunft gesehen und will das auch nicht. Stell mir dazu keine weiteren Fragen.«

Malina weicht einen Schritt zurück, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen.

»Bring sie auf ihr Zimmer, damit sie etwas essen und sich ausruhen kann«, sagt Cassandra, und als Malina sich nicht rührt, fügt sie hinzu: »Jetzt gleich.«

5

Sonne … Meer … Erde … Himmel …

»Konzentriere dich nacheinander auf jedes Wort«, sagt Malina, aber ich habe noch nichts gegessen und mit Ausruhen hat das auch nichts zu tun. »Bitte«, fügt sie hinzu.

Ich schließe die Augen und mache es richtig.

Sonne … Meer … Erde … Himmel …

Die gleißende Sonne, so hell, dass man sie nicht ansehen kann. Das tiefe, endlose Meer, den meisten weniger bekannt als die Sterne über uns. Das Grün und Blau unserer Erde, die sich am Himmel dreht, verdeckt von Abscheulichkeiten: Chemikalien, die man absichtlich in die Atmosphäre gepumpt hat, um uns vor der Sonne zu schützen. Geo-Engineering am Himmel, um die Temperatur des Planeten zu senken, ohne Rücksicht auf die Schäden, die es verursacht. Ali, mein Vater, arbeitet für Industria United. Er hatte damit zu tun, und als ich an ihn denke und daran, was er getan hat, kann ich mich nicht mehr konzentrieren.

»Nicht abschweifen«, sagt Malina und ich versuche es noch einmal.

Sonne … Meer … Erde … Himmel …

»Denk immer dran«, sagt sie, »wenn du dich je von etwas überwältigt fühlst, kehre dazu zurück. Dann kann dir nichts passieren.« Von Cate habe ich ganz oft etwas Ähnliches gehört.

Ich öffne die Augen. »Wovor hast du Angst?«

Malina seufzt. »Du wirst geprüft. Abhängig vom Ergebnis wirst du entweder in den Kreis aufgenommen oder verbannt.«

»Ich will nicht hier sein, also bitte, verbannt mich.«

Malina schüttelt den Kopf. »Du weißt nicht, was das bedeutet. Du würdest in den äußeren Kreis von Undersea verbannt und von dort nie mehr wegkommen.«

»Ich bin schon hier eine Gefangene, was wäre also der Unterschied?« Ich mache meinem Ärger Luft und rufe mir dann meinen Plan ins Gedächtnis, den einzigen, der mir während meiner Gefangenschaft eingefallen ist: die Mitglieder des Kreises kennenlernen, dafür sorgen, dass sie mir vertrauen, ihre Pläne in Erfahrung bringen und dann fliehen. Jetzt füge ich noch etwas hinzu: herausfinden, ob sie hinter Cates Tod stecken. Wut hilft mir nicht weiter, das weiß ich, aber sie steckt in mir, ist auf meinem Gesicht zu sehen und ich kann sie nicht wegschieben.

»Cassandra meinte, Cate sei verbannt worden. Aber sie war nicht in diesem äußeren Kreis, was immer das sein soll.«

»Gut, nein, aber nur, weil wir sie nicht finden konnten.«

»Erst als sie im Gefängnis war, dann wusstet ihr, wo sie steckte. War der Kreis für ihren Tod verantwortlich?«

Ich höre ein Geräusch, spüre einen Luftzug, als die Tür hinter mir aufgeht. Malina blickt mit großen Augen über meine Schulter.

Es ist Cassandra mit einem Tablett. »Ich bringe dir etwas zum Abendessen, Kind. Und wir müssen reden.« Sie sieht Malina an. »Lass uns allein.«

Sie stellt das Tablett auf den Nachttisch am Bett, während Malina geht. Mit aufmerksamen Augen – freundlichen Augen, hinter denen Schatten liegen, die ich mehr erahne als sehe – betrachtet sie mich, während sie sich auf den Stuhl gegenüber von meinem Bett setzt.

»Du hast etwas von Cate. So wie deine Augen funkeln, wenn du wütend bist. Dein trotziger Blick. Ich vermisse sie so sehr.«

Der aufrichtige Schmerz in ihrer Stimme löst etwas in mir.

Ich lasse den Kopf in die Hände sinken. »Ich auch.«

Eine Hand berührt mich an der Schulter – es ist nur eine kleine Geste, aber Cate hätte mich genauso getröstet. Ich blicke zu Cassandra auf. »Ich dachte, Cate sei meine Mutter, aber sie hat mich mein Leben lang angelogen. Wirst du mir die Wahrheit sagen?«

»Ich werde die Wahrheit sagen oder, wenn ich es nicht kann, schweigen – genauso, wie Cate es bestimmt auch getan hat. Aber wähle deine Fragen mit Bedacht. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Ich höre von dir und Phina ständig, wir hätten nicht viel Zeit. Zeit für was?«

Sie legt den Kopf schräg und sieht mich an, als würde sie etwas in meinem Kopf lesen. »Es wird bald zu einer Krise kommen«, sagt sie schließlich. »Wir brauchen dich.«

»Warum mich? Und was heißt das überhaupt?«

»Das kann ich dir noch nicht sagen. Du wirst alles erfahren, wenn du die Prüfung bestehst.«

»Ist die Penrose Clinic nach euch beiden benannt? Cassandra Penn und Seraphina Rose.«

Sie verdreht ein wenig die Augen. »Das war Phinas Einfall, nicht meiner. Sie wollte unbedingt, dass mein Name auf allem steht, was sie tut.«

»Die Wissenschaft hinter dem, was man mit uns gemacht hat, die kommt also von Phina?«

»Ja, ganz und gar. Wir betreiben bei unseren Töchtern seit vielen Generationen eine künstliche Selektion, aber auf die herkömmliche Art – indem wir die Eltern nach Merkmalen auswählen, die wir stärken oder schwächen wollen. Diesmal sind wir zum ersten Mal direkt vorgegangen, unter Einsatz bestimmter genetischer Methoden.«

»Du hast gesagt, Cate sei verbannt worden. Aber das stimmt nicht, oder? Sie ist gegangen und hat mich mitgenommen – oder ist sie geflohen?«

»Sie wurde in Abwesenheit verbannt – für dieses Verbrechen.«

»Weißt du überhaupt, warum sie mit mir geflohen ist?«

»Ich darf dir ihre Geschichte noch nicht erzählen. Zuerst müssen wir deine kennenlernen. Dafür sage ich dir ungefragt etwas anderes. Cate war tatsächlich deine Mutter.«

Ich starre sie an wie vom Donner gerührt. Ich habe Cate wie meine Mutter geliebt, aber sie war es nicht. All die Beweise, die man mir vorgelegt hat, konnten mich nicht davon abbringen, aber dann habe ich mich erinnert. Wie Simone mir Geschichten vorgelesen hat, als ich klein war, und sogar an die Stofftiere in meinem Kinderzimmer bei Simone und Ali. Ab da stand für mich zweifelsfrei fest: Sie waren meine Eltern.

Ich schüttle den Kopf. »Das glaube ich dir nicht. Ich erinnere mich an Simone als meine Mutter.«

»Gut, Simone hat dich geboren. Aber Cate war deine Mutter, deine Schwester …«

»Und meine Freundin, ja, das hat sie oft gesagt. Aber wie kann das alles gleichzeitig stimmen?«

»In deiner DNA ist etwas vom Kreis und das kam von Cate.«

Ich runzle die Stirn und versuche zu verstehen, was sie sagt. »Das, was Phina genetisch mit mir gemacht hat, bestand also darin, mir Kreis-DNA von Cate einzupflanzen?«

»Genau. Du bist eine Erwählte des Kreises. Deine leiblichen Eltern wurden sorgfältig nach bestimmten genetischen Anforderungen ausgewählt. Die menschliche DNA wurde zum Teil durch DNA vom Kreis – in deinem Fall von Cate – ersetzt. Du bist also ganz konkret meine Urenkelin.«

Solch eine Verbindung mit Cate zu haben, fühlt sich gut an, aber was bedeutet das im weiteren Sinn? Ich rufe mir ins Gedächtnis, was der Kreis alles angerichtet hat. Er hat Stürme an der englischen Südküste und in New York verursacht, die Tausende Opfer gefordert haben – darunter Simone. Sie hat mich so sehr geliebt, obwohl ich mich kaum an sie erinnerte. Sie war auf jeden Fall meine leibliche Mutter, trotz der Manipulationen, von denen sie nichts wusste. Und der Kreis hat Staudämme in den USA und China gesprengt, was weitere Opfer gefordert hat, so unvorstellbar viele, dass sie mir ganz unwirklich vorkommen.

Und ich trage etwas vom Kreis in mir? Keine Ahnung, was ich davon halten soll.

Cassandras Blick ist mitfühlend, traurig – als wisse sie, was ich denke. Dass ich Zeit brauche und mich vielleicht nie zu ihr bekennen werde. »Hast du gehört, was ich Malina gefragt habe?«

»Ja. Cate hat mir viel bedeutet. Nie hätte ich ihr etwas zuleide getan. Genauso wie ich dir nie etwas antun könnte.«

Ihr direkter Blick erinnert mich so sehr an Cate, dass ich ihr glauben will. Aber darf ich das? Diese Organisation hat so viele Opfer gefordert.

»Willst du mich noch etwas fragen?«, sagt sie.

»Es wurde noch etwas anderes zu meiner DNA hinzugefügt. Was?«

»Wir dachten, dass du es bestimmt schon herausgefunden hast.«

Das Andere in mir – zum Schweigen gebracht durch die Blocker, die Malina mich nehmen ließ. Nicht dass sie davon wusste – sie wollte nur die Stimmen zum Schweigen bringen, den Begleitchor meines Lebens, das Flüstern, das immer da war, wenn ich darauf lauschte. Manchmal so laut, dass ich es nicht verdrängen konnte. Aber sie wusste nichts von der anderen Hälfte, die schon immer ein Teil von mir ist. Mit der ich Delfine rufen kann, die mir das Leben gerettet haben, als Simone ertrank – weil sie mich retten wollte: meine Sippe. Abgesehen von Denzi, habe ich das noch nie laut zu jemandem gesagt, und es fällt mir schwer, es jetzt bei Cassandra zu tun, der ich eben erst begegnet bin.

Und die darüber schon Bescheid weiß. »Die DNA eines Delfins«, sage ich schließlich. »Stimmt’s?«

»Ja.« Und obwohl ich es schon wusste, ist es doch ein Schock, zu hören, wie jemand es so ruhig bestätigt.

»Aber warum?«

»Die Antwort darauf kann ich dir erst geben, wenn du zum Kreis gehörst.«

»Aber das will ich gar nicht. Lass mich gehen.«

»Tut mir leid, Kind. Mir ging es einmal genauso – vor vielen Jahren. Wenn du erst richtig zum Kreis gehörst, wirst du alles verstehen, wie ich damals auch. Er ist sowieso schon ein Teil von dir und begleitet dich, egal wohin du gehst.«

Es gibt kein Entkommen. Ein Schauer überläuft mich. Ich trage dieselben Gene in mir wie die vom Kreis? Aber ich bin nicht wie sie, auf keinen Fall. Ich würde nie Dinge zerstören und Menschen töten, und es spielt auch gar keine Rolle, warum sie es getan haben – das Warum macht es nicht weniger falsch.

»Wie kann man das, was der Kreis getan hat, auch nur ansatzweise rechtfertigen?«

»Urteile erst, wenn du mehr weißt. Du kennst uns kaum und unsere Geschichte ist sehr lang.«

»Einige Jahrtausende laut den Zeichnungen, die man in Höhlen gefunden hat. Stammen die auch vom Kreis?«

»Du bist da online draufgestoßen?«

Ich nicke.

»Ja, es stimmt alles. Es tut mir leid, dass wir die Karriere dieser Archäologin ruinieren mussten, aber wir durften damals noch nicht riskieren, dass das bekannt wird.« Sie zögert. »Nichts von dem, was wir getan haben, war allein meine Entscheidung. Einiges hätte ich anders gemacht, wenn ich gekonnt hätte. Aber zugleich bin ich doch für vieles verantwortlich. Das kann ich nicht leugnen und ich will mich auch nicht entschuldigen. Es ist, wie es ist.«

»Es gibt den Kreis also seit einigen tausend Jahren. Und dieser Ort – euer Atlantis? Du hast gesagt, ihr wärt schon ganz lange hier, und er sieht auch wirklich alt aus, aber wie ist das möglich? Die Technik für das Tauchboot gibt es noch nicht lange.«

»Unsere Vorfahren konnten manches, von dem wir heute nichts mehr wissen. Zum Beispiel diesen Ort schaffen. Aber in meiner Kindheit war der Weg hierher ein anderer, man benutzte Tunnel unter dem Meer. Sie wurden im Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstört – ganz unabsichtlich, denn niemand wusste von ihrer Existenz. Wir haben den Kontakt zu unseren Schwestern hier über viele Jahre gehalten, bis wir endlich die notwendige Technik hatten – die Tauchboote und anderes –, um zu ihnen zu stoßen.«

»Aber der Weltkrieg ist lange her. Heißt das, einige von euch haben ihr ganzes Leben hier unten verbracht?«

»Einige ja.«

»Wie alt ist Atlantis?«

»Wir kennen nicht unsere ganze Geschichte und wissen nicht, wie weit sie zurückreicht oder wann dieser Ort erbaut wurde.«

»Die Stimmen der Vergangenheit können es euch nicht sagen?«

»Theoretisch ja. Aber in Wirklichkeit werden sie schwächer und weniger, je weiter man zurückgeht. Und so weit zurückzugehen, übersteigt unsere Kräfte – zumindest meine. Aber das reicht vorerst an Fragen. Iss und versuche zu schlafen. Du wirst deine Kraft für das brauchen, was dir bevorsteht.«

Sie steht auf, öffnet die Tür und blickt noch einmal zurück.

»Ich weiß, dass das alles sehr schwer für dich ist. Konzentriere dich darauf, in den Kreis aufgenommen zu werden, dann wirst du alles verstehen. Und wenn du mit dem, was wir getan haben oder noch tun wollen, nicht einverstanden bist, bring deine Einwände vor! Du bist eine der Erwählten, wir müssen dir zuhören. Aber jetzt schlaf gut.«

Dann ist sie weg.

6

Ich zähle ein paar Minuten ab, nachdem Cassandra gegangen ist, und versuche dann, die Tür zu öffnen, in der Erwartung, dass sie abgeschlossen ist. Aber sie geht auf. Ich blicke in den Gang hinaus, durch den wir gekommen sind.

Warum sollte sie die Tür absperren, wenn ich doch nirgends hinkann? Ich befinde mich unter dem Meer, und selbst angenommen, ich könnte einen Weg nach draußen finden, weiß ich doch nicht, was der starke Druck so tief unter der Wasseroberfläche mit mir anstellen würde. Und wenn ich ein Tauchboot zur Verfügung hätte, könnte ich es doch nicht bedienen.

Was also tun?

Ich setze mich wieder auf das Bett, neben den Nachttisch, auf den Cassandra das Tablett gestellt hat. Belegte Brote – mit Fisch natürlich. Das Brot – irgendwie hellgrün. Dazu Tee, der nicht wie der Tee aussieht, den ich kenne. Es gibt so vieles, über das ich nachdenken muss, aber im Moment kann ich nur daran denken, wie lange meine letzte Mahlzeit her ist. Laut Cassandra haben viele von den anderen jahrzehntelang in völliger Isolation hier unten gelebt. Dann haben sie sich ausschließlich vom Meer ernährt. Vorsichtig beiße ich von dem Brot ab. Es schmeckt anders als alles, was ich bisher gegessen habe, irgendwie nach Algen. Und der Fisch ist interessant gewürzt. Obwohl alles so sonderbar ist, schmeckt es mir und ist schnell aufgegessen.

Die Geschehnisse seit unserer Ankunft hier gehen mir unablässig durch den Kopf. Ich weiß nicht, was ich mir unter dem Sitz des Kreises vorgestellt habe, aber irgendwie nicht das hier. Verlass dich immer auf dein Bauchgefühl, hat Cate oft gesagt. Mein Bauchgefühl sagt mir: Egal was der Kreis getan hat, ich bin Cassandra wichtig.

Aber das heißt nicht, dass ich ihr vertrauen kann. Weil ich weiß, wozu die vom Kreis fähig sind, muss ich ihr gegenüber genauso wie gegenüber den anderen weiter auf der Hut sein. Selbst wenn ihre Gefühle echt sind: Würde sie sich für mich entscheiden, wenn es zu einem Konflikt zwischen meinen Wünschen und denen des Kreises käme? Ich bezweifle es.

Wenn ich Cassandra wirklich wichtig wäre, warum lässt sie mich dann entführen und gegen meinen Willen hierherbringen? Warum machen die vom Kreis sich die ganze Mühe? Dass ich Teil ihrer Pläne bin, liegt auf der Hand – und ihre Pläne, woraus immer sie bestehen, sind wichtiger als alle Gefühle, die Cassandra mir gegenüber hat.

Mir fällt ein, dass ich sie nach Denzi hätte fragen sollen, und ich schlage unglücklich die Hand an die Stirn. Vielleicht hätte sie mir wie Malina nicht geantwortet, aber trotzdem hätte ich es versuchen sollen. Ich habe plötzlich sein Gesicht vor Augen. Spüre wieder, wie es sich angefühlt hat, ihm nahe zu sein. Bei ihm habe ich mich sicher gefühlt, auf eine Art, wie es zuvor nur bei Cate war. Wo ist er jetzt?

Wir waren zu einem Treffen mit einem Polizisten unterwegs, dem wir von der Verbindung zwischen dem Kreis und der Penrose Clinic erzählen wollten. Und der Kreis hat uns gefunden, mithilfe der Delfine, die uns so viel bedeuten. Ich hätte daran denken müssen – eine Herde von Delfinen in Ufernähe zieht immer die Aufmerksamkeit auf sich. Jedenfalls sagte Malina, sie hätte die Delfine markiert und sie seien ihnen gefolgt für den Fall, dass sie sie zu mir führten.

In der Erinnerung gehe ich alles noch einmal durch. Wie sie uns am Strand gefunden haben und wir zum Meer gerannt sind – und wie Denzi stürzte und bewegungslos auf dem Boden liegen blieb. Und ich weitergerannt bin.

Wenn Denzi wie ich ist, heißt das nicht, dass er auch zu den Erwählten gehört? Wenn das stimmt, warum haben sie ihn dann nicht zusammen mit mir hierhergebracht? Aber es scheint hier keine Jungen zu geben.

Mit einem Seufzer lege ich mich auf den Rücken, starre an die Decke. Ein Gedanke lässt mich nicht los: Irgendwie haben sie von Denzis Versprechen erfahren, aber daraus folgt nicht zwangsläufig, dass er noch lebt.

Zumal Phina es erwähnt hat. Und ich habe ganz klar den Eindruck, dass meine Anwesenheit hier nicht Teil ihrer Pläne ist. Und Ariel ist ihre Tochter. War sie von Anfang an in alles eingeweiht? Hat sie sich mit mir angefreundet, weil sie mich im Auftrag ihrer Mutter überwachen sollte? Ich weiß, dass sie mich in Sachen Penrose angelogen hat. Und das Video in den Nachrichten von dem Mädchen beim Hoover-Damm – das war ganz bestimmt Ariel. Das alles lässt mich denken, dass sie von Anfang an zum Kreis gehörte.

Es schien Ariel viel daran gelegen, meine Freundin zu sein – sie hatte es wirklich auf mich abgesehen –, aber jetzt hinterfrage ich alles, was sie getan oder gesagt hat. Ich war die meiste Zeit meines Lebens mit Cate allein und immer auf Achse. Wir sind nie irgendwo so lange geblieben, dass wir jemanden näher kennengelernt hätten. Vielleicht bin ich mir jetzt deshalb in Bezug auf Ariel so unsicher. Ich habe so wenig Erfahrung mit Freundschaften. Wie kann ich wissen, was sie wirklich im Sinn hatte.

Obwohl ich natürlich Jago hatte. Wir haben uns an einem der letzten Orte, an denen ich mit Cate war, am Strand kennengelernt. Abgesehen von Cate war er mein erster richtiger Freund. Als ich auf der Flucht vor dem Kreis war, hat er alles getan, um mir zu helfen – und seine Freunde auch. Bei Jago habe ich keine Zweifel. Ich weiß instinktiv, dass ich ihm vertrauen kann.

Zudem hätte ich Cassandra nach der Prüfung fragen sollen, die ich angeblich ablegen muss. Malina schien sich deshalb Sorgen zu machen, ja sogar Angst zu haben. Auch Cassandra schien darüber nicht sonderlich erfreut, obwohl sie meinte, ich sei hart im Nehmen … Hm, das kommt mir im Moment überhaupt nicht so vor.

Wenn ich die Prüfung nicht schaffe, werde ich verbannt – für immer eingesperrt, wie es klingt. Ich sollte also vielleicht die Prüfung bestehen und Mitglied des Kreises werden, wenn ich je herausfinden will, wer Cate getötet hat und was aus Denzi geworden ist. Und dann die Geheimnisse des Kreises in Erfahrung bringen und fliehen.

Ich probiere den Tee. Er schmeckt gut – ein wenig süß und würzig, ein wenig wie Zimt, aber doch anders.

Ich unterdrücke ein Gähnen. Ich bin hundemüde, denn ich habe kaum geschlafen, seit Malina mich und einige von der Sippe in ihrem Netz im Meer gefangen hat.

Wenigstens ist den Delfinen nichts passiert, obwohl ich sie nicht mehr spüre. Malina hat sie freigelassen, als ich mich bereit erklärte, mit ihr mitzukommen.

Heute war Malina dagegen, meine Blocker abzusetzen, und sie sagte, ich bräuchte noch mehr Training. Was hat sie gleich gesagt, als ich nach meiner Gefangennahme die erste Spritze bekam? Dass ich sehr krank sei, dass die Stimmen mir gefährlich werden könnten, wenn ich nicht wüsste, wie ich … zu mir selbst finde. Ich glaube, so hat sie sich ausgedrückt. Sie fürchtet, dass ich mich nicht von den anderen abgrenzen kann. Ich solle mich auf die Vier konzentrieren, sagte sie, wenn ich mich überfordert fühle.

Ich lege mich hin und ziehe die Decke über mich. Es ist hier, tief unter dem Meer, so kalt, dass ich sie brauche. Oben ist es schon sehr lange schrecklich heiß – die globale Erwärmung lässt grüßen –, aber hier fühlt es sich gut an, warm und behaglich unter einer kuscheligen Decke zu liegen.

Meine Lider sind so schwer, dass ich sie nicht länger offen halten kann. Keine Blocker mehr. Wie lange wird es dauern, bis die Stimmen zurückkehren? Bis meine andere Hälfte zurückkehrt und mich wieder ganz macht?

Schlafen …

Ein blaues Auge in einem sich drehenden Kreis. Das Auge starrt bewegungslos, der Kreis leuchtet hell, während er sich dreht. Ich kann nicht widerstehen und strecke die Hand danach aus. Er schneidet in mein Fleisch – so viel Blut. Mein Blut und dann das von jemand anderen?

Zuerst habe ich Angst, dann … bin ich ganz konzentriert. Im Zentrum, mit den vielen Kreisen um mich herum.

Ich bin so allein. Verzweiflung packt mich und würgt mich innerlich …

Doch dann berührt mich etwas, kitzelt mich. Verzweifelt schiebe ich den Traum weg, will mich konzentrieren. Was ist das?

Zaghaft zuerst, ein Hauch von Berührung und dann schon wieder weg. Und wieder da. Ist meine fehlende Delfinhälfte zu mir zurückgekehrt?

Ich blicke suchend in mich hinein, und jetzt bin ich fast sicher, dass sie es ist, aber vor meinen ausgestreckten Händen zurückweicht.