Blinde Liebe - Wilkie Collins - E-Book

Blinde Liebe E-Book

Wilkie Collins

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Beschreibung

Sie machte ihm die Freude, seine Einladung bereitwillig anzunehmen, ärgerte ihn aber gleich nachher durch die nochmalige Frage, ob er nichts von Lord Harry gehört habe. Er antwortete kurz und scharf: »Ich habe nichts gehört. Was sind denn Ihre letzten Nachrichten über ihn?« »Nachrichten«, sagte sie, »die, wie ich zuversichtlich hoffe, sich als unwahr erweisen werden. Eine irische Zeitung wurde mir zugesandt, welche meldete, er sei der geheimen Gesellschaft beigetreten, die, wie ich fürchte, nichts Besseres ist als eine Mörderbande. Sie ist bekannt unter dem Namen der ›Unüberwindlichen‹.« Wilkie Collins' Roman zählt zu den großen Klassikern des Krimi-Genres.

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Wilkie Collins

Blinde Liebe. 

idb

ISBN  9783961503919

Erstes Kapitel.

An einem trüben Morgen des Jahres 1881 störte bald nach Sonnenaufgang eine besondere Botschaft die Ruhe Dennis Howmores in seiner Wohnung, die in dem freundlichen irischen Städtchen Ardoon gelegen war.

Augenscheinlich wohlbekannt mit den Räumlichkeiten stieg der Überbringer die Treppe hinaus, klopfte an die Tür von Howmores Schlafzimmer und richtete, ohne zu öffnen, mit lauter Stimme seinen Auftrag aus:

»Der Herr will Sie sprechen; Sie sollen ihn nicht zu lange warten lassen!«

Der, welcher diesen gemessenen Befehl schickte, war Sir Giles Mountjoy von Ardoon, Baronet und Bankier, und der Empfänger sein erster Commis. Schleunigst kleidete sich Dennis Howmore an und eilte in die Privatwohnung seines Chefs, welche in der Vorstadt von Ardoon lag.

Er fand Sir Giles in einem aufgeregten und beunruhigten Gemütszustand. Ein Brief lag geöffnet auf des Bankiers Bett; die Nachtmütze saß verschoben und zerdrückt auf seinem Kopf; er war in so großer Erregung, daß er den Guten-Morgen-Gruß Howmores gar nicht beachtete.

»Dennis, ich habe einen Auftrag für Sie; die Sache muß aber ganz geheim gehalten werden und erlaubt keinen Aufschub.«

»Hängt sie in irgend einer Weise mit dem Geschäft zusammen, Sir?«

Der Bankier fuhr ungeduldig auf.

»Wie können Sie solch ein höllischer Narr sein, Dennis, und glauben, daß es sich in dieser frühen Morgenstunde um eine Geschäftsangelegenheit handelt? Wissen Sie den ersten Meilenstein auf dem Weg nach Garvan?«

»Ja, Sir.«

»Gut. Dann gehen Sie sogleich dorthin und tragen Sorge, daß Sie niemand dort erblickt. Sehen Sie hinter dem Stein nach, und wenn Sie da auf dem Boden einen Gegenstand entdecken, welcher hingelegt zu sein scheint, so bringen Sie ihn mir. Vergessen Sie aber dabei nicht, daß der ungeduldigste Mann in ganz Irland auf Sie wartet.«

Nicht ein einziges erklärendes Wort folgte diesem sonderbaren Auftrage.

Dennis Howmore machte sich sogleich auf den Weg, während ihm als echtem Irländer allerlei Verschwörungs- und Mordgeschichten im Kopf herumgingen. Sein Chef war keine beliebte Persönlichkeit. Sir Giles hatte stets seine Steuern gezahlt, wenn sie fällig waren, und war mit Freuden bereit, – und das war noch schlimmer – anzuerkennen, was England im Laufe der letzten fünfzig Jahre für Irland getan hatte. Wenn irgend etwas Verdächtiges an dem geheimnisvollen Gegenstand, den er zu suchen ausgesandt war, sein Mißtrauen rechtfertigen sollte, so beschloß Dennis, vorsichtig Umschau zu halten nach einem etwaigen Flintenlauf, wenn er auf seinem Heimweg nach der Stadt an einer Hecke vorüber mußte.

Bei dem Meilenstein angekommen, entdeckte er hinter demselben aus dem Boden nur einen einzigen Gegenstand – ein Stück von einer zerbrochenen Tasse.

Ganz natürlich zögerte Dennis, dies mitzunehmen, denn es schien ihm einfach ganz unmöglich, daß die ernsten und genauen Verhaltungsmaßregeln, die er erhalten hatte, mit solch einer Scherbe in Beziehung stehen könnten. Doch lautete sein Auftrag so bestimmt, wie ihn Ton, Ausdruck und Sprache nur irgend geben konnten. Die einfache Befolgung der empfangenen Befehle schien das richtigste zu sein, selbst auf die Gefahr hin, daß er von seinem Herrn, wenn er mit einer zerbrochenen Tasse in der Hand zurückkam, in einer Weise empfangen würde, die seiner Selbstachtung zu nahe trat.

Der Erfolg jedoch rechtfertigte diese seine Bedenken durchaus nicht. Es konnte ihm gar kein Zweifel bleiben, daß Sir Giles auf den anscheinend ganz wertlosen Fund hinter dem Meilenstein großes Gewicht legte. Nachdem er die Scherbe mehreremale genau untersucht hatte, sprach er die Absicht aus, Dennis aus einen zweiten Botengang zu schicken, ohne sich auch jetzt zu einer näheren Erklärung seiner unverständlichen Aufträge herbeizulassen.

»Wenn ich mich nicht irre«, begann er, »sind die Lesezimmer unserer Stadtbibliothek von morgens neun Uhr an geöffnet. – Nicht wahr? – Gut! Dann gehen Sie mit dem Schlag neun dorthin.« Er hielt im Reden inne und zog den Brief zu Rate, der geöffnet auf seinem Bett lag. »Lassen Sie sich«, fuhr er nach einer Weile fort, »von dem Bibliothekar den dritten Band von Gibbons ›Niedergang und Fall des römischen Kaiserreiches‹ geben. Darin schlagen Sie die Seiten achtundsiebzig und neunundsiebzig auf. Finden Sie zwischen diesen beiden Blättern ein Stück Papier, so nehmen Sie es an sich, aber ohne daß es jemand sieht, und bringen es mir. Das ist alles, Dennis, und vergessen Sie dabei nicht, daß ich nicht eher meine Ruhe finden kann, bis ich Sie wiedersehe.«

Für gewöhnlich war Dennis durchaus nicht der Mann darnach, auf dem zu bestehen, was er seiner Würde schuldig sein zu müssen glaubte. Doch war er andererseits wieder ein sehr empfindliches menschliches Wesen, das sich wohlbewußt war der Bedeutung, welche ihm seine verantwortliche Stellung im Geschäft verlieh. Die sonderbare und geradezu beleidigende Zurückhaltung Sir Giles', für die er nicht einmal ein Wort der Entschuldigung hatte, erreichte jetzt die Grenze der Geduld Howmores.

»Ich sehe mit Bedauern«, sagte er, »daß ich meinen Platz in der Achtung meines Chefs verloren habe. Der Mann, dem Sie die Oberaufsicht über Ihre Angestellten und über Ihre Geschäfte anvertrauen, hat nach meiner unmaßgeblichen Meinung auch eine gewisse Berechtigung, – unter den gegenwärtigen Verhältnissen – ins Vertrauen gezogen zu werden.«

Jetzt war der Bankier seinerseits beleidigt.

»Ich gestehe Ihnen gern diese Berechtigung zu«, antwortete er, »so lange Sie an Ihrem Pult in meinem Geschäft sitzen. Aber gerade in diesen unruhigen Zeiten der Arbeitseinstellungen und anderer schlimmen Dinge ist dem Chef ein Vorrecht geblieben – er hat nicht aufgehört, ein Mensch zu sein, und hat daher auch nicht das Recht des Menschen verwirkt, Geheimnisse für sich zu haben. Ich kann in meinem Verhalten Ihnen gegenüber durchaus nichts finden, was Ihnen irgend einen stichhaltigen Grund gewähren könnte, sich zu beklagen.«

Auf diese Abfertigung hin verbeugte sich Dennis stillschweigend und ging weg.

Bedeutete diese stumme Ergebung in sein Schicksal, daß er befriedigt war? Durchaus nicht, sie bedeutete gerade das Gegenteil. Dennis hatte sich überlegt, daß diese Geheimnisse des Sir Giles Mountjoy früher oder später aufhören würden, Geheimnisse für den ersten Commis Sir Giles Mountjoys zu sein.

Zweites Kapitel.

Den erhaltenen Befehlen getreulich nachkommend, ließ sich Dennis den dritten Band von Gibbons großem Geschichtswerk geben und fand zwischen der achtundsiebzigsten und neunundsiebzigsten Seite diesmal, was ihm der Beachtung mehr wert erschien.

Es war ein Blatt sehr feinen Papiers, von einer Anzahl kleiner Löcher durchbohrt, die ganz verschieden an Größe und mit der peinlichsten Sorgfalt ausgeführt waren. Nachdem er sich, sobald der Bibliothekar ihm den Rücken zugewendet, in den Besitz dieses merkwürdigen Gegenstandes gesetzt hatte, dachte Dennis Howmore über seinen Fund nach.

Ein Blatt Papier, zu irgend einem bestimmten, unbekannten Zweck mit Löchern versehen, deren Bedeutung er nicht erraten konnte, war an sich schon ein höchst verdächtiges Ding. Und was flüsterte dieser Verdacht dem nachgrübelnden Geist des argwöhnischen Mannes in Südwest-Irland vor der Unterdrückung der Landliga zu? Ganz ohne Frage das Wort – Polizei.

Auf dem Rückweg zu seinem Herrn machte Dennis einen Besuch bei einem alten Freund, der als Zeitungsschreiber mancherlei Kenntnisse und große Erfahrung besaß. Aufgefordert, das merkwürdige Stück Papier zu betrachten und den Gegenstand zu bestimmen, womit diese Löcher gemacht worden seien, zeigte sich die zu Rate gezogene Autorität des in sie gesetzten Zutrauens würdig. Dennis verließ das Zeitungsbureau als ein erleuchteter Mann; er kannte jetzt die Geheimnisse Sir Giles', und das Gefühl der Erleichterung, das ihn bei diesen Gedanken überkam, machte sich höchst unehrerbietig in den Worten Luft: »Jetzt hab' ich ihn.«

Der Bankier blickte ratlos von dem Papier auf seinen ersten Commis und von diesem wieder auf das Papier zurück und sagte endlich:

»Das verstehe ich nicht. Verstehen Sie es vielleicht?«

Dennis bewahrte immer noch den Schein der Unterwürfigkeit und bat um die Erlaubnis, eine Vermutung äußern zu dürfen. Dieser durchlöcherte Papierbogen sah nach seiner Meinung wie ein Rätsel aus.

»Wenn wir noch einen oder zwei Tage warten«, riet er seinem Herrn, »werden wir den Schlüssel dazu schon bekommen.«

Am nächsten Tag ereignete sich nichts. Am zweiten Tag aber stellte ein zweiter Brief eine kühne Anforderung an den nicht sehr geduldigen Sir Giles Mountjoy.

Schon das Couvert war ein Rätsel in diesem Fall; das Postzeichen war »Ardoon«. Mit anderen Worten, der Schreiber hatte den Postmann als Boten benützt; während er oder sein Helfershelfer wirklich in der Stadt sich aufhielt, hatte er doch den Brief auf der Post aufgegeben, die nur ein paar Schritte von dem Bankhause entfernt lag. Der Inhalt bot ein undurchdringliches Rätsel; die Schrift machte den Eindruck, als ob sie von einem Verrückten herrührte; die Sätze befanden sich in einem unglaublichen Zustand der Verwirrung, und die Worte waren so verstümmelt, daß man sie gar nicht verstehen konnte. Diesmal lagen die Verhältnisse so, daß Sir Giles nicht anders konnte, als seinen ersten Commis in das Geheimnis einzuweihen.

»Wir wollen mit dem Anfang beginnen«, sagte er. »Hier ist der Brief, den Sie auf meinem Bette liegen sahen, als ich Sie das erstemal holen ließ. Ich fand ihn auf meinem Tisch, als ich an jenem Morgen erwachte. Wie er dorthin gekommen ist, das weiß ich nicht. Lesen Sie ihn.«

Dennis las wie folgt:

»Sir Giles Mountjoy! Ich habe Ihnen eine Eröffnung zu machen, welche ein Glied Ihrer Familie nahe berührt. Bevor ich wagen kann, mich zu erklären, muß ich versichert sein, daß ich Ihnen trauen darf, und als Beweis hiefür fordere ich von Ihnen, daß Sie die folgenden zwei Bedingungen erfüllen und zwar ohne den geringsten Zeitverlust. Ich darf Ihnen nicht meinen Namen und meine Adresse nennen. Die geringste Unvorsichtigkeit meinerseits könnte sehr verhängnisvoll werden für den wahren Freund, der diese Zeilen schreibt. Wenn Sie meine Warnung nicht beherzigen, werden Sie es bis an Ihr Lebensende bedauern.«

Die beiden in dem Briefe genannten Bedingungen brauchen wir nicht noch einmal mitzuteilen. Von ihnen ist schon berichtet worden bei Gelegenheit der Funde, die hinter dem Meilenstein und zwischen den Seiten von Gibbons Geschichte gemacht wurden. Sir Giles war schon zu dem Schluß gekommen, daß ein Anschlag auf sein Leben und vielleicht auf Beraubung des Bankhauses im Entstehen begriffen sei. Der vernünftigere Dennis wies auf das durchlöcherte Papier und das unverständliche Schreiben hin, welches der Bankier heute morgen erhalten hatte, und sagte:

»Wenn wir herausbekommen können, was dies bedeutet, dann werden Sie besser im stande sein, sich eine richtige Meinung zu bilden.«

»Und wer wird das können?« fragte der Bankier.

»Ich kann es nur versuchen, Sir«, lautete die bescheidene Entgegnung, »wenn Sie in einem Versuche meinerseits nicht etwa eine Anmaßung sehen.«

Sir Giles gab seine Zustimmung zu dem vorgeschlagenen Versuche durch stummes und spöttisches Nicken mit dem Kopfe zu erkennen.

Aber Dennis war ein vorsichtiger Mann und machte deshalb auch nicht gleich vollständigen Gebrauch von der ihm privatim gewordenen Belehrung: das hätte seinem Chef doch verdächtig vorkommen können. Er trug vielmehr Sorge, daß der erste Versuch ein erfolgloser war. Dann fragte er bescheiden, ob er noch einen zweiten Versuch machen dürfe, und diesen zweiten Versuch ließ er zu einem glücklichen Ende kommen. Er hob das durchlöcherte Papier in die Höhe und legte es sorgfältig auf den Brief, der das unverständliche Geschreibsel enthielt. Worte und Sätze erschienen jetzt durch die Löcher in der richtigen Anordnung und Folge. Der Inhalt war an Sir Giles gerichtet und lautete folgendermaßen:

»Ich spreche Ihnen meinen Dank aus für die pünktliche Erfüllung der gestellten Bedingungen. Sie haben zu Ihrem eigenen Besten mich zufriedengestellt. Gleichwohl ist es leicht möglich, daß Sie noch Bedenken tragen, einem Menschen zu trauen, der noch nicht im stande ist, Sie mit seiner Person bekannt zu machen. Aber die gefährliche Lage, in der ich mich befinde, zwingt mich, Sie noch um zwei oder drei Tage Frist zu bitten, bevor ich ohne Gefahr für mich eine Begegnung mit Ihnen herbeiführen und mich so Ihnen zu erkennen geben kann. Fassen Sie sich daher, bitte, in Geduld und wenden Sie sich um keinen Preis um Rat oder Schutz an die Polizei.«

»Diese letzten Worte«, erklärte Sir Giles, »sind entscheidend! Je eher ich unter dem Schutz des Gesetzes stehe, um so besser ist es für mich. Tragen Sie meine Karte auf das Polizeiamt.«

»Darf ich mir erst ein paar Worte erlauben, Sir?«

»Soll das heißen, daß Sie mit mir nicht übereinstimmen?«

»Ja, Sir.«

»Sie sind Ihr Lebtag eigensinnig gewesen, Dennis, und das nimmt zu, je älter Sie werden. Nun, das tut nichts: sprechen Sie sich nur deutlich aus. Wer ist denn nach Ihrer Ansicht die Person, auf welche es in diesen verwünschten Briefen abgesehen ist?«

Dennis Howmore nahm den ersten der beiden Briefe in die Hand und zeigte auf die Anfangsworte: »Sir Giles Mountjoy, ich habe Ihnen eine Eröffnung zu machen, welche ein Glied Ihrer Familie nahe berührt.« Dennis wiederholte noch einmal nachdrücklich die Worte: »ein Glied Ihrer Familie.«

Sein Chef sah ihn erstaunt und fragend an.

»Ein Glied meiner Familie?« wiederholte nun Sir Giles seinerseits. »Nun, mein Freund, was denken Sie darüber? Ich bin ein alter Junggeselle und habe keine Familie.«

»Ihr Bruder ist auch noch da, Sir.«

»Mein Bruder lebt in Frankreich – ganz außer dem Bereiche jener Schurken, die mich bedrohen. Ich wollte, ich wäre bei ihm.«

»Ihr Bruder hat auch zwei Söhne, Sir Giles.«

»Gewiß; was ist da aber zu befürchten? Mein Neffe Hugh ist in London und hält sich von allen politischen Dingen fern. Ich hoffe über kurz oder lang von ihm zu hören, daß er sich verheiraten wird, wenn das beste und niedlichste Mädchen in England ihn haben will. Was ist jetzt dabei Schlimmes?«

Dennis erklärte:

»Ich will nur sagen, Sir, daß ich bei meinen Worten an Ihren andern Neffen gedacht habe.«

Sir Giles lachte.

»Arthur in Gefahr?« rief er aus. »Der harmloseste junge Mann, der jemals gelebt hat? Das Schlimmste, was man von ihm sagen kann, ist, daß er sein Geld zum Fenster hinauswirft infolge seiner verrückten Idee, in Kerry ein Gut zu pachten.«

»Entschuldigen Sie, Sir Giles, dort, wo er sich jetzt befindet, ist aber nicht viel Gelegenheit, sein Geld wegzuwerfen. Niemand wird wagen, sein Geld zu nehmen. Ich traf gestern auf dem Markt einen von Herrn Arthurs Nachbarn. Ihr Neffe ist boykottirt.«

»Um so besser!« erklärte der hartnäckige Bankier. »Dann wird er wenigstens bald von der Verrücktheit, den Pächter zu spielen, geheilt werden und an den Platz zurückkehren, den ich für ihn in meinem Geschäft offen halte.«

»Gott gebe es!« sagte Dennis ernst und bewegt.

Einen Augenblick schwieg Sir Giles betroffen still. Dann fragte er:

»Haben Sie irgend etwas gehört, was Sie mir bis jetzt noch nicht gesagt haben?«

»Nein, Sir. Ich habe nur an etwas gedacht, was Sie – verzeihen Sie den Ausdruck – vergessen zu haben scheinen. Der letzte Pächter dieses Gutes in Kerry weigerte sich, den Pachtzins zu entrichten. Herr Arthur hat also ein Gut gepachtet, das man ein weggenommenes Gut nennt. Es ist meine feste Überzeugung«, sagte der Buchhalter, indem er sich erhob und mit ernster Stimme sprach, »daß die Person, welche jene Briefe an Sie gerichtet hat, Herrn Arthur kennt und weiß, daß er sich in Gefahr befindet; sie versucht, durch Sie Ihren Neffen zu retten, und setzt dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel.«

Sir Giles schüttelte den Kopf.

»Das nenne ich aber eine weit hergeholte Erklärung, Dennis. Wenn das, was Sie sagen, wahr ist, warum wandte sich denn der Schreiber dieser anonymen Briefe nicht geradenwegs an Arthur, anstatt an mich?«

»Ich habe soeben meine Ansicht darüber geäußert, Sir, daß nämlich der Schreiber des Briefes Herrn Arthur kennt.«

»Ja, das haben Sie. Aber was besagt das?«

Dennis erklärte seine Worte.

»Jeder, der mit Herrn Arthur bekannt ist, weiß, daß der junge Mann neben allen möglichen guten Eigenschaften starrköpfig und tollkühn ist. Wenn ein Freund ihm sagen würde, er befände sich auf seinem Pachthof in Gefahr, das würde an sich genügen, ihn dort, wo er sich befindet, festzuhalten und der Gefahr Trotz zu bieten. Sie dagegen, Sir, sind bekannt als vorsichtig, bedachtsam und besonnen.« Er hätte hinzusetzen können: feig und eigensinnig, engherzig und von maßlosem Eigendünkel besessen; aber der Respekt vor seinem Chef hatte seine Beobachtungsgabe schon seit einer langen Reihe von Jahren in dieser Hinsicht getrübt. Wenn manche mit einem Löwenherzen geboren sind, so hat die Natur anderen den Mut eines Esels verliehen. Dennis' Herz gehörte zu den anderen.

»Sehr hübsch gegeben«, entgegnete Sir Giles befriedigt. »Die Zeit wird lehren, ob man wegen einer so durchaus unbedeutenden Person, wie mein Neffe Arthur ist, sich einen Mord auf das Gewissen ladet. Die Anspielung auf ihn ist eine einfache Zweideutigkeit, welche nur bezwecken soll, daß ich weniger auf meiner Hut bin. Meine Stellung, mein Geld, mein Einfluß in der Gesellschaft machen mich zu einer öffentlichen Persönlichkeit. Gehen Sie jetzt gleich auf das Polizeiamt, und bringen Sie den ersten besten Beamten, den Sie dort im Dienst treffen, mit hieher.«

Der gute Dennis Howmore näherte sich nur sehr widerwillig der Türe. Bevor er jedoch das Ende des Zimmers, an dem sich der Ausgang befand, erreicht hatte, wurde die Tür von außen geöffnet. Einer der Markthelfer der Bank meldete einen Besuch.

»Miß Henley, Sir, wünscht zu wissen, ob Sie zu sprechen sind.«

Sir Giles blickte angenehm überrascht auf. Lebhaft erhob er sich, um die Dame zu empfangen.

Drittes Kapitel.

Wenn Iris Henley einmal stirbt, so wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach Freunde hinterlassen, welche ihrer gedenken und über sie sprechen, und bei diesem Gespräch mögen zufällig Fremde anwesend sein (in den meisten Fällen natürlich Frauen), deren Neugierde sie Fragen stellen läßt, die sich auf die äußere Erscheinung und den Charakter der Verstorbenen beziehen. Keine Antworten werden jedoch den Fragenden eine wahrheitsgetreue Beschreibung geben. Miß Henleys hauptsächlichster Vorzug bestand in einer wunderbaren Beweglichkeit des Ausdrucks, welche jeden Wechsel in ihrem Denken und Fühlen widerspiegelte, besonders für zarte und empfindliche Frauennaturen. Wahrscheinlich aus diesem Grunde wird auch keine Schilderung ihrer Persönlichkeit mit der andern übereinstimmen. Keine Vergleiche werden eine richtige Anschauung von ihr geben. Das einzige Bild, welches von Iris gemalt worden ist, wird nur von parteiischen Freunden des Künstlers als getroffen bezeichnet. In und außerhalb Londons wurden photographische Aufnahmen von ihr gemacht. Sie haben die Ehre, in dieser einen Hinsicht den Porträts von Shakespeare zu gleichen – neben einander gesehen ist es nicht möglich, zu entdecken, daß sie ein und dieselbe Person darstellen. Was das Zeugnis anbetrifft, das das liebende Gedächtnis ihrer Freunde gibt, so ist es sicherlich in letztem Grunde auch widersprechend. Sie hat ein angenehmes Gesicht, ein gewöhnliches Gesicht, ein kluges Gesicht – eine häßliche Gesichtsfarbe, eine zarte Gesichtsfarbe, überhaupt gar keine Farbe – Augen, die eine heftige Gemütsart, einen glänzenden Geist, einen festen Charakter, einen leidenschaftlichen Sinn, eine ehrliche Natur, hysterische Empfindlichkeit, unbezwingbaren Eigensinn verraten. Ihre Gestalt ist zu klein; nein, sie hat gerade die rechte Größe; nein, sie ist weder das eine noch das andere. Sie trägt sich elegant, oder ihr Anzug ist schäbig, ganz, wie man will; o gewiß nicht, ihr Anzug ist gediegen und einfach; nein, etwas mehr als das, herausfordernd, theatralisch einfach, getragen mit der deutlich ausgesprochenen Absicht, nicht so gekleidet zu sein wie die anderen. War denn diese Menge von Widersprüchen auch schon da, als Iris noch lebte? Ja und nein; ja – unter den Leuten; nein – nicht ohne Beschränkung. Der Mann, der sie vor allen anderen am meisten hätte lieb haben sollen, war gerade derjenige, der sie am übelsten behandelte – ihr eigener Vater. Und als das arme Mädchen heiratete (wenn sie überhaupt geheiratet hat), wie viele von Ihnen haben denn der Hochzeit beigewohnt? – Keine von uns. Und als sie gestorben war, wer von Ihnen hat sie betrauert und beweint? Wir alle – was? Bei dieser besonderen traurigen Veranlassung gab es keine Meinungsverschiedenheit – wir stimmten damals, Gott sei Dank, alle überein.

Lassen wir die Jahre zurückrollen und Iris selbst sprechen in der denkwürdigen Zeit, da sie in der ersten Blüte der Jugend stand und ein bewegtes Leben noch vor ihr lag.

Viertes Kapitel.

Als Miß Henleys Pate genoß Sir Giles gewisse Vorrechte. Er legte seine dicht behaarte Hand auf ihre Schulter und küßte sie auf beide Wangen. Nach dieser zärtlichen Begrüßung begann er sie auszufragen. Welches außerordentliche Zusammentreffen von Ereignissen hatte Iris bestimmt, London zu verlassen, und sie in sein Bankhaus nach Ardoon geführt?

»Ich wollte von Hause fort«, antwortete sie, »und da ich niemand habe als meinen Paten, zu dem ich gehen könnte, so bin ich hieher gekommen zu Ihnen.«

»Allein?« rief Sir Giles.

»Nein, ich habe mein Mädchen als Begleiterin mitgenommen.«

»Nur Ihr Mädchen, Iris? Sie haben doch sicherlich unter den jungen Damen, die mit Ihnen gleichalterig sind, Bekannte!«

»Bekannte – ja! Freundinnen – nein!«

»Hat denn Ihr Vater zu Ihrem Unternehmen seine Zustimmung gegeben?«

»Wollen Sie mir einen Gefallen erweisen?«

»Wenn ich kann – ja.«

»Verlangen Sie von mir keine Antwort auf Ihre letzte Frage.«

Die bleiche Farbe, welche ihr Gesicht bedeckt hatte, als sie das Zimmer betrat, war verschwunden. Ebenso änderte sich der Ausdruck um ihren Mund. Die Lippen schlossen sich krampfhaft und verrieten einen unabänderlichen Entschluß, hervorgerufen durch das bestimmte Gefühl erlittenen Unrechts. Sie sah älter aus, als sie in Wirklichkeit war; wie sie einmal in zehn Jahren sein mochte, so war sie jetzt. Sir Giles verstand sie. Er stand auf und wanderte im Zimmer umher. Eine alte Gewohnheit, die er mit unendlicher Schwierigkeit, als er Baronet geworden war, unterdrückt hatte, kam von neuem zum Vorschein: er steckte seine Hände in die Taschen.

»Sie und Ihr Vater haben sich wieder einmal veruneinigt«, sagte er, vor Iris stehen bleibend.

»Ich leugne es nicht«, antwortete sie.

»Wer ist daran schuld?«

Sie lachte bitter.

»Die Frau ist immer der schuldige Teil.«

»Hat das Ihnen Ihr Vater gesagt?«

»Mein Vater erinnerte mich daran, daß ich an meinem letzten Geburtstag einundzwanzig Jahre alt geworden sei, und sagte mir, ich könnte tun, was mir beliebte. Ich verstand ihn und verließ das Haus.«

»Sie werden doch wohl wieder zurückkehren?«

»Ich weiß nicht.«

Sir Giles begann wiederum das Zimmer zu durchschreiten. Seine markierten Züge, die von Unglück und Kampf im früheren Leben erzählten, zeigten Spuren von Mißvergnügen und Trauer.

»Hugh versprach mir«, sagte er, »zu schreiben, hat es aber nicht getan. Ich weiß, was das bedeutet, und weiß auch, wodurch Sie Ihren Vater erzürnt haben. Mein Neffe hat Sie schon zum zweitenmale gebeten, seine Frau zu werden. Und zum zweitenmale haben Sie ihm eine abschlägige Antwort gegeben.«

Ihr Gesicht erhellte sich und erhielt seinen besseren und jüngeren Ausdruck wieder.

»Ja«, sagte sie traurig und niedergeschlagen, »ich habe ihn zum zweitenmale abgewiesen.«

Sir Giles verlor seine Ruhe.

»Was in aller Welt haben Sie denn an Hugh auszusetzen?« brach er los.

»Mein Vater sagte dasselbe zu mir«, entgegnete sie, »fast mit den nämlichen Worten. Ich erzürnte ihn, als ich versuchte, ihm meine Gründe auseinanderzusetzen. Ich habe keine Lust, Sie auch noch böse zu machen.«

Er nahm keine Notiz von diesen letzten Worten.

»Ist Hugh nicht ein guter Junge?« fuhr er zu fragen fort. »Ist er nicht freundlich und gutherzig und ehrenhaft? Ist er nicht ein hübscher Mensch, wenn wir auch darauf kommen wollen?«

»Hugh ist alles das, was Sie sagen. Ich habe ihn gern, ich bewundere ihn, ich verdanke seiner Güte einige der glücklichsten Tage meines traurigen Lebens und bin ihm dankbar – o, von ganzem Herzen bin ich Hugh dankbar!«

»Wenn das wahr ist, Iris –«

»Jedes Wort davon ist wahr.«

»Wenn das wahr ist, sage ich – dann gibt es für Sie keine Entschuldigung, Iris. Ich hasse bei einem jungen Mädchen Eigensinn. Warum heiraten Sie ihn dann nicht?«

»Versuchen Sie es, wie ich zu fühlen«, antwortete sie sanft; »ich kann ihn nicht lieben.«

Der Ton ihrer Stimme sagte dem Bankier mehr, als ihre Worte hätten ausdrücken können. Den geheimen Kummer ihres Lebens, der ihrem Vater bekannt war, kannte auch Sir Giles.

»Jetzt sind wir endlich auf das Richtige gekommen«, sagte er. »Sie können also meinen Neffen Hugh nicht lieben. Und Sie wollen mir den Grund dafür nicht sagen, weil Ihr empfindliches, zartes Gemüt davor zurückschreckt, mich zu erzürnen. Soll ich Ihnen den Grund nennen, mein Kind? Ich kann es mit zwei Worten – Lord Harry.«

Sie antwortete darauf nicht und gab überhaupt durch kein Zeichen zu erkennen, daß sie seine Worte verstanden hatte. Sie neigte den Kopf ein wenig und faltete die Hände auf ihrem Schoß; das hartnäckige Stillschweigen, das alles ertragen kann, machte ihr Gesicht hart und ihre Gestalt steif – das war aber auch alles.

Der Bankier war entschlossen, ihr nichts zu ersparen.

»Es ist leicht ersichtlich«, fuhr er fort, »daß Sie in Ihrer törichten Verblendung für diesen Lump noch immer befangen sind. Er mag gehen, wohin er will, an die verrufensten Orte und unter die gemeinsten, schlechtesten Menschen, er zieht Ihr Herz stets mit sich. Ich bin erstaunt, daß Sie sich nicht einer solchen Neigung schämen.«

Diese Worte trafen sie doch. Sie erhob sich lebhaft und antwortete ihm.

»Harry hat ein wildes Leben geführt«, sagte sie; »er hat sich schwere Vergehen zu schulden kommen lassen, und er mag es auch jetzt noch toller treiben, als er bisher getan hat. Zu welcher Erniedrigung, in welche schlechte Gesellschaft und Schule dies ihn bringen mag, das sich auszumalen überlasse ich seinen Feinden. Ich sage Ihnen aber dies eine: er besitzt Eigenschaften, die das alles vergessen machen, die Sie und Leute Ihrer Art indessen niemals entdecken werden, weil Sie dazu viel zu wenig gute Christen sind. Er hat Freunde, die ihn noch würdigen können – Ihr Neffe Arthur Mountjoy ist unter ihnen. O, ich weiß es durch Arthurs Briefe an mich! Verdammen Sie Lord Harry, so viel Sie wollen, er hat noch die Fähigkeit zu bereuen, sage ich Ihnen, und eines Tages – wenn auch wahrscheinlich zu spät, wie ich leider hinzusetzen muß – wird er es beweisen. Ich kann niemals seine Frau werden. Wir sind getrennt für immer; niemals wird es für uns wieder einen Anknüpfungspunkt geben. Aber er ist der einzige Mann, den ich jemals geliebt habe, und er wird auch der einzige sein, den ich in Zukunft lieben werde. Wenn Sie glauben, daß diese Liebe den Beweis liefert, daß ich ebenso schlecht bin wie er, ich werde Ihnen nicht widersprechen. Weiß denn überhaupt einer von uns, wie schlecht er ist? Haben Sie neuerdings etwas von Harry gehört?«

Der plötzliche Übergang von der so ernsten und warmen Verteidigung des Mannes zu einer so gewöhnlichen, bedeutungslosen Frage nach ihm überraschte Sir Giles.

Er wußte im Augenblick nichts darauf zu erwidern; Iris hatte ihm zu denken gegeben. Sie hatte bewiesen, daß sie ihre heftigsten Gefühle zu beherrschen verstand gerade in dem Moment, wo sie sie zu überwältigen drohten, und das findet man selten bei jungen Mädchen. Wie man sie beeinflussen und leiten könnte, das war eine Aufgabe, deren Lösung ruhiger Überlegung bedurfte. Sein Eigensinn mehr noch als seine Überzeugung hatten den Bankier immer noch an der Hoffnung einer schließlichen Heirat seines Neffen mit Iris festhalten lassen, selbst dann noch, als Hughs Werbung zum zweitenmale einen abschlägigen Bescheid erhalten hatte. Sein ebenso starrköpfiges Patenkind war gekommen aus eigenem Antrieb, ihn zu besuchen. Sie hatte die Tage ihrer Kindheit nicht vergessen, in denen er einigen Einfluß auf sie gehabt und sich ihr liebevoller gezeigt hatte, als ihr Vater jemals gewesen war. Sir Giles erkannte, daß er gegen Iris einen falschen Ton angeschlagen. Sein Ärger hatte sie nicht beunruhigt, seine Meinung nicht beeinflußt. In Hughs Interesse beschloß er, zu versuchen, was Überlegung und Nachsicht tun könnten, um sein Ansehen bei ihr zu vergrößern. Nachdem er gehört, daß ihr Mädchen und ihr Gepäck im Gasthof zurückgeblieben waren, bestand er darauf, daß sie in seinem Hause Wohnung nehme, und ließ das Mädchen samt den Sachen holen.

»So lange Sie in Ardoon bleiben, Iris, sind Sie mein Gast«, sagte er.

Sie machte ihm die Freude, seine Einladung bereitwillig anzunehmen, ärgerte ihn aber gleich nachher durch die nochmalige Frage, ob er nichts von Lord Harry gehört habe.

Er antwortete kurz und scharf:

»Ich habe nichts gehört. Was sind denn Ihre letzten Nachrichten über ihn?«

»Nachrichten«, sagte sie, »die, wie ich zuversichtlich hoffe, sich als unwahr erweisen werden. Eine irische Zeitung wurde mir zugesandt, welche meldete, er sei der geheimen Gesellschaft beigetreten, die, wie ich fürchte, nichts Besseres ist als eine Mörderbande. Sie ist bekannt unter dem Namen der ›Unüberwindlichen‹.«

Gerade als sie diese furchtbare Verbindung erwähnte, kehrte Dennis Howmore von dem Polizeiamt zurück. Er brachte die Meldung, daß ein Sergeant da sei, um die Befehle Sir Giles' zu empfangen.

Fünftes Kapitel

Iris erhob sich, um zu gehen. Ihr Pate aber hielt sie höflich zurück.

»Warten Sie, bitte, hier so lange«, sagte er, »bis ich mit dem Sergeanten gesprochen habe. Ich werde Sie dann selbst in mein Haus bringen. Mein Commis wird alles Nötige im Hotel besorgen. Sie sehen nicht sehr befriedigt aus. Gefällt Ihnen das von mir vorgeschlagene Arrangement nicht?«

Iris versicherte ihn, daß sie vollständig damit einverstanden sei. Zugleich aber gestand sie, daß sie die Entdeckung seines Verkehrs mit der Polizei etwas überrascht habe.

»Ich erinnere mich aber jetzt, daß wir in Irland sind«, fuhr sie fort, »und ich bin töricht genug, zu fürchten, Sie könnten in irgend welcher Gefahr schweben. Ich hoffe jedoch, daß es sich nur um einen schlechten Scherz handelt.«

Nur ein schlechter Scherz! Außer anderen, zarteren Gefühlen, die Iris' herber Natur fehlten, hatte Sir Giles auch noch bemerkt, daß das junge Mädchen nur sehr unvollkommen seine angesehene soziale Stellung zu würdigen verstand. Das war ein neuer Beweis dafür. Der Versuchung zu widerstehen, seinem einsichtslosen Patenkind Gefühle der Angst – untermischt mit Bewunderung – zu erwecken dadurch, daß er sich als eine durch eine Verschwörung öffentliche Persönlichkeit hinstellte, das war mehr, als der Eitelkeit des Bankiers möglich war. Bevor er das Zimmer verließ, trug er Dennis auf, Miß Henley zu erzählen, was vorgefallen war, und sie selbst entscheiden zu lassen, ob er sich unnötigerweise durch das, was sie einen ›schlechten Scherz‹ zu nennen beliebte, beunruhigen lasse.

Dennis Howmore müßte kein Mensch gewesen sein, wenn er eine Erzählung von den Ereignissen hätte geben können, die ganz unbeeinflußt von seiner eigenen Ansicht über die Lage der Dinge geblieben wäre. Bei der ersten Erwähnung von Arthur Mountjoys Namen zeigte Iris ein plötzlich so reges Interesse für die eigentümliche Geschichte, daß Dennis überrascht seinen Bericht durch die Frage unterbrach:

»Kennen Sie Herrn Arthur?«

»Ihn kennen?« wiederholte sie. »Er war mein Spielkamerad, als wir beide noch Kinder waren. Er ist mir so lieb, als wenn er mein Bruder wäre. Sagen Sie mir's nur gleich ganz offen – schwebt er wirklich in Gefahr?«

Dennis wiederholte getreulich das, was er schon Sir Giles hierüber gesagt hatte. Miß Henley stimmte mit ihm in allen Punkten überein und fühlte das lebhafteste Verlangen, Arthur über seine Lage aufzuklären und zu warnen. Aber es gab keine telegraphische Verbindung mit der Ortschaft, in deren Nähe sein Gut lag. Sie konnte ihm nur schreiben, und das tat sie auch und schickte den Brief noch am gleichen Tag ab, ohne ihn Dennis zu zeigen, aus Gründen, die sie nur persönlich angingen. Wohl bekannt mit der innigen Freundschaft, welche Lord Harry und Arthur Mountjoy verband, und in Erinnerung an den Zeitungsbericht über den tollkühnen Anschluß des irischen Lords an die »Unüberwindlichen«, identifizierten ihre Befürchtungen den vornehmen Vagabunden mit dem Schreiber der anonymen Briefe, welche so ernstliche Bedenken für seine Sicherheit in ihrem Paten geweckt hatten.

Als Sir Giles zurückkam und sie mit sich in seine Wohnung nahm, sprach er über seine Unterredung mit dem Sergeanten in Ausdrücken, die ihre Furcht betreffs dessen, was sich in Zukunft ereignen würde, nur vergrößerte. Sie war ein trauriger und stiller Gast während der Zeit, die vergehen mußte, ehe sie eine Antwort Arthurs auf ihren Brief erhalten konnte. Der Tag kam; aber die Post brachte ihr keine Erlösung aus ihrer Angst. Auch der nächste ging vorbei, ohne daß der heiß ersehnte Brief gekommen war. Am Morgen des vierten Tages stand Sir Giles später als gewöhnlich auf. Die Korrespondenz wurde ihm vom Geschäft gerade, während er am Frühstückstische saß, zugesandt. Nachdem er einen der Briefe geöffnet und durchgelesen hatte, schickte er sofort in größter Eile einen Boten auf das Polizeiamt.

»Sehen Sie hier!« sagte er zu Iris und reichte ihr den Brief. »Hält mich denn der Mordgeselle für einen Narren?«

Sie las folgende Zeilen:

»Unvorhergesehene Ereignisse zwingen mich, Sir Giles, ein gefährliches Wagnis auszuführen. Ich muß Sie sprechen. Das kann aber nicht am Tage sein; meine einzige Hoffnung auf Sicherheit beruht in der Dunkelheit. Wir wollen uns am ersten Meilenstein auf der Straße nach Garvan, wenn der Mond um zehn Uhr abends untergeht, treffen. Ihren Namen zu nennen ist nicht nötig. Die Parole lautet: ›Treue.‹«

»Und wollen Sie gehen?« fragte Iris.

»Ob ich ermordet werden will?« fuhr Sir Giles auf. »Mein liebes Kind, versuchen Sie doch erst, es sich zu überlegen, bevor Sie sprechen. Der Sergeant wird natürlich an meiner Stelle hingehen.«

»Und den Mann arretiren?« fügte Iris hinzu.

»Gewiß!«

Mit dieser wenig tröstlichen Antwort eilte der Bankier hinaus, um den Polizeimann in dem andern Zimmer zu empfangen. Iris sank in den nächsten Stuhl. Die Wendung, welche die Sache jetzt genommen hatte, erfüllte sie mit unaussprechlicher Angst.

Sir Giles kam nach nicht sehr langer Zeit zurück, beruhigt lächelnd; die ganze Angelegenheit hatte einen ihn vollständig befriedigenden Verlauf genommen.

Der Sergeant sollte sich zu der verabredeten Zeit an den Meilenstein begeben und so in der Dunkelheit den Bankier vorstellen und die Parole nennen. Zwei seiner Leute sollten ihm folgen und in Ruhe warten, bis sein Pfiff ihnen sagte, daß ihre Hilfe erforderlich sei.

»Ich will den Schurken sehen, wenn er sicher gefesselt ist, und habe es daher so eingerichtet, daß ich um Mitternacht die Polizei in meinem Comptoir erwarte.«

Es blieb nur ein verzweifelter Weg offen, den Iris jetzt noch einschlagen konnte, um den Mann zu retten, der sein Vertrauen auf ihres Paten Ehre gesetzt hatte und dessen guter Glaube schon so schmählich betrogen worden war. Niemals hatte sie den geächteten irischen Lord – den Mann, den zu heiraten ihr versagt war, und zwar aus guten Gründen versagt – so geliebt wie in diesem Augenblick. Mochte das Wagnis noch so gefährlich sein, dem entschlossenen jungen Mädchen war eines klar, der Sergeant durfte und sollte nicht der einzige sein, der an den Meilenstein ging und dort die Parole nannte. Dafür war ein dem Lord Harry mit Leib und Seele ergebener Freund da, auf den sie immer bauen konnte – und dieser Freund war sie selbst.

Sir Giles begab sich wieder in das Bankhaus, um nach den Geschäften zu sehen. Iris wartete, bis die Uhr die Stunde anzeigte, zu der die Dienerschaft zu essen pflegte. Dann stieg sie leise die Treppe hinunter, die zu dem Ankleidezimmer ihres Paten führte. Sie öffnete die Garderobekammer und entdeckte in der einen Ecke einen großen und weiten spanischen Mantel und in der andern Ecke einen breitkrämpigen Filzhut, den der Bankier bei Ausflügen aufs Land zu tragen pflegte. Damit konnte sie sich in Anbetracht der Dunkelheit für ihren Zweck genügend verkleiden.

Als sie das Ankleidezimmer wieder verließ, fiel ihr eine Vorsichtsmaßregel ein, die sie auch sofort befolgte. Sie sagte ihrem Mädchen, sie habe mehrere Besorgungen in der Stadt zu machen, und ging weg. Auf der Straße fragte sie den ersten anständig aussehenden Fremden, der ihr begegnete, nach der Straße von Garvan. Ihre Absicht war, noch bei Tage bis zu dem ersten Meilenstein zu gehen, damit sie sicher sein könnte, daß sie ihn auch bei Nacht finden würde. Sie merkte sich genau die verschiedenen Gegenstände am Wege, als sie zum Hause des Bankiers zurückkehrte.

Als die verabredete Zeit der Begegnung näher rückte, wurde Sir Giles zu ungeduldig, zu unruhig, um zu Hause warten zu können. Er begab sich auf das Polizeiamt, begierig zu hören, ob den Behörden wieder eine neue geheime Verschwörung bekannt geworden sei.

In dieser Jahreszeit wurde es schon bald nach acht Uhr dunkel. Um neun Uhr versammelten sich die Dienstboten zum Abendessen. Sie waren zu diesem Zweck alle im Untergeschoß und erwarteten unter lebhaften Gesprächen das Essen.

Als die Glocke neun Uhr schlug, hüllte sich Iris in ihre Verkleidung, um zur rechten Zeit an den verabredeten Ort zu kommen, ohne auf dem Wege dem Sergeanten zu begegnen. Sie verließ, von niemand bemerkt, das Haus. Wolken bedeckten den Himmel. Der abnehmende Mond war nur zuweilen sichtbar, als sie auf der Straße nach Garvan dem Meilenstein zueilte.

Sechstes Kapitel.

Der Wind erhob sich ein wenig, und die Spalten in den Wolken begannen breiter zu werden, als Iris die Landstraße erreichte.

Eine Zeit lang erhellte der Schimmer des trüben Mondlichts den Weg vor ihr. Soviel sie erkennen konnte, bevor sich der Himmel wieder verfinsterte, hatte sie schon mehr als die Hälfte der Entfernung zwischen der Stadt und dem Meilenstein zurückgelegt. Die Gegenstände zu beiden Seiten des Weges lagen im Dunkeln und waren daher nur schwer zu unterscheiden. Ein leichter Sprühregen begann niederzufallen. Der Meilenstein befand sich, wie sie von dem Spaziergang, den sie am hellen Tag hieher gemacht hatte, noch wußte, auf der rechten Seite der Straße. Der Stein war aber wegen seiner stumpfen grauen Farbe in der herrschenden Finsternis nicht leicht zu entdecken.

Der Gedanke beunruhigte sie, sie könnte schon an dem Meilenstein vorübergegangen sein. Sie blieb stehen und betrachtete den Himmel.

Der Regen hatte wieder aufgehört, und es war begründete Aussicht vorhanden, daß die Wolken sich von neuem zerteilen und so das Mondlicht durchscheinen lassen würden. Sie wartete. Schwach und trübe fielen die letzten Strahlen des untergehenden Mondes auf die dunkle Erde. Vor ihr war nichts zu sehen als der Weg. Iris blickte zurück und entdeckte den Meilenstein.

Eine roh zusammengefügte Steinmauer schützte den Weg auf jeder Seite. Ungefähr hinter dem Meilenstein befand sich ein Loch in dieser Mauer, zum Teil von einem Gestrüpp verdeckt. Eine halb zerstörte Schleuse überwölbte einen ausgetrockneten Graben und bildete eine Brücke, die von der Straße auf das Feld führte. Hatte sich die Polizei nun das Feld ausgesucht, um sich zu verstecken? Nichts war zu erkennen als ein Fußpfad und darüber hinaus ein nur undeutlich wahrnehmbarer Strich angebauten Landes. Während sie diese Entdeckungen machte, begann der Regen wieder zu fallen. Die Wolken zogen sich von neuem zusammen; das Mondlicht verschwand.

In demselben Augenblick stieg vor ihrem Geist ein Hindernis auf, das Iris bis jetzt nicht im entferntesten in Betracht gezogen.

Lord Harry konnte sich nämlich von drei verschiedenen Seiten dem Meilenstein nähern, das heißt, entweder auf dem Weg, der von der Stadt herkam, oder auf dem Weg, der aus dem offenen Land zu dem Meilenstein führte, oder endlich drittens auf dem Fußpfad über das Feld und die halb verfallene Grabenüberbrückung. Wie konnte sie sich nun so aufstellen, daß sie im stande sein würde, ihn zu warnen, bevor er in die Hände der Polizei fiel? Alle drei Annäherungswege in der Dunkelheit der Nacht und zu ein und derselben Zeit zu überwachen, war einfach unmöglich.

Ein Mann in dieser Lage würde, geleitet von der Vernunft, aller Wahrscheinlichkeit nach die kostbare Zeit mit vergeblichen Versuchen, die richtige Entscheidung zu treffen, vergeudet haben. Ein Weib aber, von Liebe beherrscht, überwindet die Schwierigkeit in dem Augenblick, da sie sich ihr entgegenstellt.

Iris beschloß, zu dem Meilenstein zurückzukehren und dort zu warten, bis die Polizei sie bemerken und verhaften würde. Wenn dann Lord Harry pünktlich zur verabredeten Stunde kommen würde, so würde er als notwendige Folge der Verhaftung Stimmen und Geräusch vernehmen und noch zur rechten Zeit entfliehen können. Im Fall er aber zu spät käme, so würde die Polizei mit ihrem Fang schon wieder auf dem Rückweg nach der Stadt sein; er würde niemand mehr am Meilenstein finden und denselben ungefährdet wieder verlassen können.

Sie stand eben im Begriff, sich umzudrehen und auf die Straße zurückzugehen, als etwas auf der dunklen Fläche des Feldes undeutlich sichtbar wurde, was wie ein tieferer Schatten aussah. Im nächsten Moment hatte es den Anschein, als ob es ein Schatten wäre, der sich bewegte. Sie eilte darauf zu. Als sie näher kam, sah der Schatten aus wie ein Mann. Der Mann blieb stehen.

»Die Parole?« fragte er mit vorsichtig gedämpfter Stimme.

»Treue!« antwortete sie flüsternd.

Es war zu dunkel, um die Gesichtszüge des Mannes erkennen zu können; Iris jedoch erkannte ihn an seiner hohen Gestalt und an dem Tonfall der Stimme in dem er nach dem Losungswort gefragt hatte. Da er sie seinerseits irrigerweise für einen Mann hielt, trat er einen Schritt wieder zurück. Sir Giles Mountjoy war ungefähr von mittlerer Größe; der Fremde dagegen in dem Überrock, der ihm die Worte zugeflüstert hatte, war untersetzter.

»Sie sind nicht die Person, welche ich hier anzutreffen erwartet hatte«, sagte er. »Wer sind Sie?«

Ihr Aufrichtigkeit liebendes Herz verlangte darnach, ihm die Wahrheit zu gestehen. Die Versuchung, sich zu entdecken und ihrer Freude darüber Ausdruck zu geben, daß es ihr möglich gewesen sei, ihn zu retten, würde ihre Zurückhaltung überwunden haben, wenn nicht ein Geräusch auf dem Wege hinter ihnen an ihr Ohr gedrungen wäre. In der ringsum herrschenden Stille war aber ein Irrtum unmöglich. Es war das Geräusch von Fußtritten.

Sie fand gerade noch Zeit, ihm zuzuflüstern:

»Sir Giles hat Sie verraten. Retten Sie sich!«

»Ich danke Ihnen, wer Sie auch sein mögen.«

Mit diesen Worten verschwand er plötzlich und schnell in der Finsternis. Iris erinnerte sich der Brücke über den Graben und ging nach ihr hin. Dort unter den Bogen fand sie einen passenden Platz, sich zu verbergen, wenn sie noch zur rechten Zeit in den ausgetrockneten Graben gelangen konnte. Sie stand eben im Begriff, sich mit den Füßen bis an den Rand desselben vorwärts zu tasten, als eine feste Hand ihren Arm ergriff und eine Stimme in gebietendem Ton sagte:

»Sie sind mein Gefangener.«

Sie wurde auf den Weg zurückgeführt. Der Mann, der sie fest gefaßt hielt, ließ einen lauten Pfiff ertönen. Sofort tauchten noch zwei andere Männer aus dem Dunkel auf.

»Machen Sie Licht«, befahl der erstere, »damit wir sehen, wer der Kerl ist.«

Der Schieber an der Blendlaterne wurde zur Seite geschoben; das Licht fiel voll auf das Gesicht des Gefangenen. Die beiden Begleiter des Polizeisergeanten waren vor Staunen ganz starr. Dieser selbst, ein frommer Katholik, brach in den Ruf aus:

»Heilige Maria! Das ist ja eine Frau!«

Nahmen denn die geheimen Gesellschaften Irlands auch Frauen auf? War das eine moderne Judith, welche anonyme Briefe schrieb und sich verpflichtet hatte, einen Finanz-Holofernes, der eine Bank hielt, zu töten? Was hatte sie über sich selbst auszusagen? Wie kam sie dazu, auf einem öden Feld in regnerischer Nacht sich allein aufzuhalten? Anstatt aber auf diese Fragen zu antworten, zog die rätselhafte Fremde eine kühle und kurze Entgegnung vor.

»Bringen Sie mich zu Sir Giles!« Das war alles, was sie zu den Polizeibeamten sagte.

Der Sergeant hatte die Handfesseln bereit, ließ sie aber, nachdem er beim Schein der Laterne die feinen Handgelenke der Gefangenen gesehen hatte, gleich wieder in seiner Tasche verschwinden.

»Eine Lady, da gibt's gar keinen Zweifel«, sagte er zu dem einen seiner Begleiter.

Seine beiden Untergebenen warteten mit boshaftem Interesse, um zu sehen, was er wohl zunächst anfangen würde. Die Liste der rühmlichen Eigenschaften ihres frommen Vorgesetzten enthielt auch Parteilichkeit für die Frauen, welche immer die gnadenreiche Seite der Gerechtigkeit walten ließ, wenn der Übeltäter einen Unterrock trug.

»Wir werden Sie zu Sir Giles bringen, Miß«, sagte er und bot ihr anstatt der Handfesseln seinen Arm. Iris verstand ihn und nahm das Anerbieten an.

Sie verhielt sich schweigsam – ganz unverantwortlich schweigsam, wie die Männer dachten – auf dem Weg nach der Stadt. Einigemale hörten sie sie seufzen, und einmal klang der Seufzer mehr wie ein Schluchzen; sie ahnten nichts von dem, was in der Seele des jungen Mädchens während der Zeit vorging.

Der eine Gegenstand, welcher die Gedanken von Iris ganz in Anspruch genommen hatte, war die Rettung Lord Harrys. Nachdem diese gelungen, hatten ihre nun von der Sorge darum befreiten Gedanken sie jetzt an Arthur Mountjoy erinnert.

Es war schlechterdings unmöglich, daran zu zweifeln, daß die vorgeschlagene Zusammenkunft an dem Meilenstein den Zweck haben sollte, Sicherheitsmaßregeln für das Leben des jungen Mannes zu ergreifen. Ein Feigling ist immer mehr oder minder grausam. Die Handlungsweise von Sir Giles, ebenso hinterlistig wie unmenschlich, durch die er für die Sicherheit seines eigenen Lebens sorgen zu müssen glaubte, hatte Lord Harrys edles Vorhaben aufgeschoben, vielleicht sogar gänzlich vereitelt. Die Möglichkeit lag nahe, furchtbar nahe, daß es nur durch eine geschickte und pünktliche Benützung der Zeit möglich gewesen wäre, Arthur vor dem Tode durch Mörderhand zu bewahren. In der Gemütserregung, welche sie ergriffen hatte, trieb sie die Polizeibeamten ordentlich zur Eile an bei der Rückkehr in die Stadt.

Siebentes Kapitel.

Sir Giles hatte es so eingerichtet, daß er auf den Bericht über den Verlauf der Sache in seinem Privatzimmer in dem Bankhause harrte, und so befand er sich denn dort in Gesellschaft von Dennis Howmore in gespannter Erwartung der kommenden Dinge.

Der Polizeisergeant betrat zuerst allein das Zimmer des Bankiers, um seinen Bericht zu erstatten. Er ließ die Tür offen stehen, so daß Iris alles hören konnte, was in dem Zimmer gesprochen wurde.

»Haben Sie Ihren Gefangenen erwischt?« begann Sir Giles.

»Ja, Euer Gnaden.«

»Ist der Schurke auch genügend gefesselt?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir, aber es ist gar kein Mann.«

»Unsinn, Sergeant, es kann doch unmöglich ein Knabe sein.«

Der Sergeant erklärte, es sei allerdings kein Knabe. »Es ist eine Frau!« sagte er.

»Was???«

»Eine Frau«, wiederholte der geduldige Beamte, »und zwar eine junge. Sie fragte nach Ihnen.«

»Bringen Sie die Person herein.«

Iris gehörte nicht zu den Menschen, die warten, bis sie hineingeführt werden. Sie trat aus eigenem Antrieb in das Zimmer.

»Herr Gott im Himmel«, schrie Sir Giles, »Iris, Sie?! In meinem Überrock und mit meinem Hut in der Hand! – Sergeant, das ist ja ein furchtbarer Irrtum. Die Dame hier ist mein Patenkind, Miß Henley.«

»Wir fanden sie bei dem Meilenstein, Euer Gnaden. Diese junge Dame und sonst niemand.«

Sir Giles wendete sich hilflos an sein Patenkind:

»Was soll das heißen?«

Anstatt zu antworten, warf Iris einen Seitenblick auf den Sergeanten. Der Beamte, der sich seiner Verantwortlichkeit bewußt war, ließ sich nicht irre machen und blickte seinerseits Sir Giles an. Aber sein Gesicht zeigte deutlich, daß das jedem Irländer angeborene lebhafte Gefühl für Humor gekitzelt war; er verriet jedoch nicht die Absicht, das Zimmer zu verlassen. Sir Giles erkannte, daß sich das junge Mädchen in Gegenwart des Mannes auf keine Erklärung einlassen würde, und sagte daher:

»Sie brauchen nicht länger zu warten.«

»Bitte, was soll mit der Gefangenen geschehen?« erkundigte sich der Sergeant.

Sir Giles beantwortete diese höchst unnötige Frage durch eine abwinkende Bewegung seiner Hand. Er war dreifach verantwortlich – als Baronet, als Bankier und als Handelsrichter.

»Ich werde dafür sorgen«, entgegnete er, »daß Miß Henley erscheint, wenn das Gericht es verlangt. Gute Nacht!«

Dem Pflichtgefühl des Sergeanten war Genüge getan. Er grüßte militärisch und bezeigte seine Ehrerbietung der jungen Dame gegenüber artig durch eine Verbeugung. Darauf schritt er würdevoll aus dem Zimmer.

»Jetzt darf ich«, begann Sir Giles, »wohl annehmen, daß ich eine Erklärung erhalte. Was hat dieses sonderbare, unpassende Benehmen zu bedeuten? Was hatten Sie an dem Meilenstein zu tun?«

»Ich habe die Person gerettet, welche die Zusammenkunft mit Ihnen verabredet hatte«, sagte Iris, »den armen Menschen, der nichts Schlimmes gegen Sie im Sinn hatte, der im Gegenteil alles aufs Spiel setzte, um Ihren Neffen zu erretten. O, Sir, Sie haben einen verhängnisvollen Fehler begangen, daß Sie diesem Mann nicht getraut haben!«

Sir Giles hatte sich auf Äußerungen von Furcht und demütige Entschuldigungen ihrerseits gefaßt gemacht, und jetzt antwortete sie ihm entrüstet mit zornig erregter Stimme und mit Tränen in den Augen. Das Bewußtsein seiner eigenen Würde wurde dadurch auf das empfindlichste verletzt.

»Wer ist denn eigentlich der Mensch, von dem Sie sprechen?« fragte er in hochmütigem Ton. »Und was haben Sie für eine Entschuldigung, daß Sie nach dem Meilenstein gegangen sind, um ihn zu retten – verkleidet mit meinem Überrock und unter meinem Hut verborgen?«

»Verschwenden Sie doch nicht die kostbare Zeit mit Fragen!« lautete die verzweifelte Antwort. »Suchen Sie das Unglück ungeschehen zu machen, das Sie schon angerichtet haben! Ihr Dazuthun – o, ich weiß genau, was ich sage! – kann vielleicht allein noch Ihren Neffen Arthur vor einem schweren Unglück bewahren. Gehen Sie auf sein Gut und retten Sie ihn!«

Sir Giles verlegte sich jetzt auf eine andere Tonart, er nahm plötzlich die mehr oder minder gut gemachte Miene der Bereitwilligkeit an, zog seine Uhr aus der Tasche und betrachtete sie spöttisch.

»Muß ich mich entschuldigen?« fragte er scheinbar zerknirscht.

»Nein, Sie müssen nur so schnell als möglich gehen.«

»Gestatten Sie, Miß Henley, daß ich Sie darauf aufmerksam mache, daß der letzte Zug schon seit zwei Stunden abgefahren ist.«

»Was tut das? Sie sind reich genug, um einen Extrazug zu nehmen.«

Jetzt konnte sich Sir Giles, der Schauspieler, nicht länger verstellen; er ließ die Maske fallen und wurde wieder Sir Giles, der Mann, der er in Wirklichkeit war. Durch ein energisches Läuten mit der Glocke rief er Dennis herbei.

»Begleiten Sie Miß Henley nach Hause«, sagte er und fuhr, sich an Iris wendend, in strengem Ton fort: »Sie haben Zeit, während der noch übrigen Nachtstunden wieder Ihre fünf Sinne zu sammeln. Morgen früh will ich dann Ihre Entschuldigungen hören.«

Am nächsten Morgen stand das Frühstück wie gewöhnlich um neun Uhr bereit. Sir Giles befand sich aber allein an dem Tisch.

Er ließ einer der Dienerinnen sagen, sie möge an Miß Henleys Zimmertür klopfen. Sir Giles mußte ziemlich lange warten, bis die Wirtschafterin in sehr erregtem Zustand selbst vor ihm erschien. Sie war in höchst eigener Person die Treppen hinaufgestiegen, um den Befehl des Herrn auszuführen.

Aber Miß Henley befand sich nicht in ihrem Zimmer, und ebensowenig ihr Kammermädchen. Doch waren die Betten während der Nacht zum Schlafen benützt worden. An dem schweren Gepäck hingen Zettel mit der Aufschrift: »Wird vom Hotel abgeholt werden.« Das war alles, was die verschwundene Iris an sichtbaren Zeugen ihrer Anwesenheit in diesen Räumen zurückgelassen hatte.

Sir Giles ließ im Hotel nachfragen. Die junge Dame war dort mit ihrem Mädchen sehr früh am Morgen erschienen. Sie hatten ihre Reisetaschen bei sich, und Miß Henley hatte die Weisung gegeben, daß das schwerere Gepäck bis zu ihrer Rückkehr unter der Obhut des Wirtes bleiben sollte. Was sie selbst zu tun vorgehabt hatte, das wußte niemand.

Sir Giles war zu aufgebracht, als daß er sich hätte erinnern können, was Iris in der vergangenen Nacht zu ihm gesagt, oder daß er hätte erraten können, welcher Grund sie zur Abreise bewogen hätte.

»Ihr Vater hat schon Ärger und Streit mit ihr gehabt«, sagte er, »und jetzt geht mir's ebenso.«

Seine Dienstboten empfingen den bestimmten Befehl, Miß Henley nicht wieder ins Haus hereinzulassen, wenn sie etwa gar die Kühnheit haben sollte, zu ihrem Paten zurückzukehren.

Achtes Kapitel.

Am Nachmittag desselben Tages langte Iris in der Ortschaft an, welche in der nächsten Nachbarschaft von Arthur Mountjoys Pachtgut gelegen war.

Die allgemeine Erregung, mit anderen Worten der Haß gegen England, der wie eine ansteckende Krankheit die Gemüter der Irländer ergriffen hatte, war sogar bis zu diesem weltentlegenen Orte gedrungen. Auf den Stufen, die in seine kleine Kapelle führten, stand der Priester, der, selbst ein Bauer, zu seinen Brüdern in lautem, lebhaftem Ton sprach. Ein Irländer, der seinem Gutsherrn den Zins zahlte, war ein Verräter an seinem Vaterland; derjenige aber, der sein freies, angeborenes Recht auf das Land behauptete, war ein erleuchteter Patriot. Das war das neue Gesetz, welches der ehrwürdige Herr seiner aufmerksamen Zuhörerschaft vorpredigte. Wenn seine Brüder gern von ihm wissen möchten, wie sie dieses Gesetz in Anwendung bringen sollten, so wolle er auf den treulosen Irländer Arthur Mountjoy hinweisen und ihnen sagen: »Kauft nichts von ihm, und verkauft nichts an ihn; geht ihm aus dem Weg, wenn er sich euch nähert; hungert ihn auf seinem Gut aus. Ich könnte noch mehr sagen. Freunde – ihr wißt schon, was ich meine!«

Den letzten Teil dieser rednerischen Leistung mit anhören zu müssen, ohne ein Wort des Widerspruchs dagegen äußern zu dürfen, war eine harte Prüfung ihrer Selbstüberwindung und Geduld, die Iris erzittern ließ. Erst in zweiter Linie machte sich bei ihr als eine durch die Ansprache des Priesters hervorgerufene Wirkung geltend, daß sich in ihrem Geist die Überzeugung von der Arthur drohenden Gefahr mit zehnfach verstärkter Zähigkeit festwurzelte. Nach dem, was sie soeben gehört hatte, konnte die geringste Verzögerung der Bewahrung seiner Sicherheit das beklagenswerteste Ergebnis zur Folge haben. Sie setzte einen barfüßigen Knaben, der außerhalb der den Priester umdrängenden Menge stand, durch das Geschenk eines Sechspencestückes in nicht geringes Erstaunen und erkundigte sich nach dem zur Besitzung Arthurs führenden Weg. Der kleine Irländer lief rasch vor ihr her, ernstlich bemüht, der freigebigen jungen Dame zu beweisen, wie brauchbar er schon sein konnte. In weniger denn einer halben Stunde stand Iris mit ihrem Kammermädchen vor der Tür des Gutshauses. Nichts von derartigen nützlichen Erfindungen der Zivilisation wie eine Glocke oder ein Klopfer war zu entdecken. Der Junge nahm statt dessen seine Fäuste und lief eilends davon, als er an der innern Seite den Schlüssel im Türschloß sich drehen hörte. Er fürchtete, gesehen zu werden, wenn er mit einem Bewohner der »verfehmten Farm« spräche.

Eine einfach gekleidete alte Frau erschien und fragte argwöhnisch, was die Damen wünschten. Der Accent, mit dem sie sprach, war der unverfälscht englische. Als Iris nach Mr. Arthur Mountjoy fragte, lautete die Antwort: »Nicht zu Hause.« Darauf versuchte die Haushälterin, die Tür wieder zu schließen.

»Der wilde Lord las den Brief« etc. (I. S. 199.)

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte Iris; »die Jahre haben Sie zwar verändert, aber in Ihrem Gesicht liegt etwas, was mir nicht ganz fremd ist. Sind Sie Mrs. Lewson?«

Die Alte erwiderte, dies sei ihr Name.

»Aber wie kommt es, daß Sie mir ganz unbekannt sind?« fragte sie mißtrauisch.

»Wenn Sie lange in Mr. Mountjoys Diensten gewesen sind«, antwortete Iris, »so werden Sie ihn vielleicht von Miß Henley haben sprechen hören?«

Das Gesicht der alten Frau erstrahlte sofort in freudigem Glanz; sie riß mit einem frohen Ausruf des Wiedererkennens die Türe weit auf.

»Treten Sie ein. Miß, treten Sie ein! Wer hätte gedacht, Sie an diesem schrecklichen Ort zu sehen! Ja, ich war die Kinderfrau, unter deren Obhut Sie alle drei – Sie, Miß, Mr. Arthur und Mr. Hugh – zusammen gespielt haben!«

Ihre Augen ruhten mit Wohlgefallen auf ihrem Liebling vergangener Tage. Ihre feinfühlige Sympathie deutete Iris diesen Blick. Liebevoll bot sie der alten Wärterin die Wange zum Kuß. Nachdem sie dieser herzlichen Aufforderung Folge geleistet hatte, brach die Fassung der armen alten Frau zusammen; sie entschuldigte ihre Tränen mit den Worten:

»Wie oft ich jener, ach, so glücklichen Zeit denken mußte, Miß, werden Ihnen diese Tränen erzählen, – wenn Sie sie selbst nicht vergessen haben!«

Als sie das Empfangszimmer betraten, war der erste Gegenstand, den Iris erblickte, der Brief, den sie an Arthur geschrieben hatte; er lag noch uneröffnet auf dem Tisch.

»Er ist also wirklich nicht zu Hause?« fragte sie mit dem frohen Gefühl der Erleichterung.

Er war schon länger als eine Woche von dem Gut abwesend gewesen. Hatte er von einer andern Seite eine Warnung erhalten und in weiser Vorsicht sein Heil in der Flucht gesucht? Das Erstaunen, welches sich in dem Gesicht der Haushälterin ausdrückte, verlangte eine nähere Erklärung. Iris bekannte ohne Zurückhaltung die Gründe, die sie zu der Reise veranlaßt hatten, und erkundigte sich angelegentlich darnach, ob ihre Annahme unrichtig gewesen sei, daß sich Arthur in der ernstlichen Gefahr, ermordet zu werden, befunden hätte.

Mrs. Lewson schüttelte den Kopf. Es unterlag nicht dem geringsten Zweifel, daß Arthur in Gefahr schwebte; aber Iris hätte seine Natur besser kennen sollen, als daß sie glauben konnte, er habe sich dem drohenden Unheil durch die Flucht entzogen. Er hätte es selbst dann nicht getan, wenn alle Mitglieder der Landliga zusammen ihn bedroht hätten. Nein, gewiß nicht! Lachend hätte er der Gefahr Trotz geboten. Er hatte sein Gut mit der Absicht verlassen, einen Freund in der nächsten Grafschaft zu besuchen, und die alte Frau hatte sich scharfsinnig zusammengereimt, daß ein junges Mädchen, welches sich dort befand, die Anziehungskraft wäre, die ihn so lange entfernt hielt.

»Auf jeden Fall wird er, wie es auch seine Absicht war, morgen zurückkommen«, sagte Mrs. Lewson. »Hoffentlich besinnt er sich aber eines Bessern und benützt die sich ihm bietende günstige Gelegenheit, nach England zu entweichen. Wenn die Barbaren hier in dieser Gegend durchaus jemand töten müssen, ich bin da – eine alte Frau, die doch nicht mehr lange zu leben hat. Mich können sie ruhig ermorden.«

Iris fragte, ob Arthurs Sicherheit auch in der nächsten Grafschaft gefährdet sei und in dem Hause seines Freundes.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Miß, denn ich bin niemals dort gewesen. Er ist in Gefahr, wenn er darauf besteht, nach seinem Gute zurückzukehren. Da gibt es auf dem ganzen Weg bis hieher Gelegenheiten genug, ihn aus dem Hinterhalt niederzuschießen. O, er weiß es, der arme, liebe Junge, ebenso gut, wie ich es weiß. Aber Menschen seiner Art sind so wunderliche, eigensinnige Geschöpfe. Er geht seine eigenen Wege und hört nicht auf eine alte Frau, wie ich bin. Und was seine Freunde anbetrifft, die ihm raten könnten – der einzige von ihnen, der unsere Schwelle betreten hat, ist ein Taugenichts, der besser weggeblieben wäre. Sie mögen vielleicht auch schon von ihm gehört haben. Der alte Earl, ein schlechter Mensch, wurde gewöhnlich mit einem schlimmen Namen bezeichnet, und der wilde junge Lord ist seines Vaters echter Sohn.«

»Doch nicht Lord Harry?« rief Iris aus.

Ihr Kammermädchen bemerkte die heftige Erregung in ihrer Stimme und in ihrem ganzen Wesen, sagte aber nichts. Die Haushälterin Arthurs dagegen machte gar nicht den Versuch, ihre Gedanken darüber zu verbergen.

»Hoffentlich kennen Sie diesen Vagabunden nicht«, sagte sie sehr ernst. »Vielleicht denken Sie an seinen älteren Bruder, den ältesten Sohn des alten Earl, der ein durchaus ehrenhafter Mann ist, wie man mir gesagt hat.«

Miß Henley ließ diese Fragen vollständig unbeachtet. Einzig und allein getrieben von dem Interesse für ihren Geliebten, welches sich jetzt mehr denn je ihrer Beherrschung entzogen hatte, fragte sie:

»Ist Lord Harry seines Freundes wegen in Gefahr?«

»Er hat nichts von dem Gesindel zu fürchten, das unsere Gegend unsicher macht«, entgegnete Mrs. Lewson. Berichte erzählen, er gehöre selbst dazu. Die Polizei, die ist's, vor der seine junge Lordschaft auf der Hut sein muß, wenn nämlich alles wahr ist, was über ihn gesprochen wird. Jedenfalls kam er damals, als er meinem Herrn seinen Besuch abstattete, heimlich wie ein Dieb in der Nacht, und ich hörte Mr. Arthur, als sie beide zusammen hier im Empfangszimmer waren, ihn laut und heftig tadeln wegen etwas, was er getan hatte. Und jetzt nichts mehr über Lord Harry, Miß! Ich habe mit Ihnen etwas Wichtiges zu besprechen. Wollen Sie, wenn ich Ihnen das Versprechen gebe, es Ihnen so behaglich wie möglich zu machen, wollen Sie dann bis morgen hier bleiben, damit Sie mit Mr. Arthur reden können? Wenn es einen Menschen auf der Welt gibt, der im stande ist, ihn zu einiger Vorsicht zu bewegen, so sind Sie es nach meiner Meinung ganz allein.«

Iris erklärte sich sofort bereit, auf Arthur Mountjoys Rückkunft zu warten. Als Mrs. Lewson, um ihren häuslichen Obliegenheiten nachzugehen, sie mit ihrer Kammerzofe allein gelassen hatte, bemerkte sie in dem Gesichte des Mädchens etwas von Mißstimmung.

»Es scheint mir, Rhoda, als ob Du jetzt schon anfingest, zu wünschen«, sagte Iris, »ich hätte Dich nicht an diesen fremden Ort unter diese rohen und wilden Gesellen gebracht?«

Rhoda war ein stilles, freundliches Mädchen, augenscheinlich von sehr zarter Gesundheit. Sie lächelte matt und antwortete:

»Ich dachte gerade an einen andern Edelmann, Miß, als den, von dem Mrs. Lewson soeben sprach; er scheint ein sehr freies, leichtsinniges Leben geführt zu haben. Es stand in einer Zeitung gedruckt, die ich gelesen habe, bevor wir London verließen.«

»War sein Name erwähnt?« fragte Iris.

»Nein, Miß; ich glaube, sie fürchteten, sich dadurch Unannehmlichkeiten zu bereiten. Er hatte so viele sonderbare Wege eingeschlagen, um sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben, daß es sich fast wie ein Roman las.«

»Erinnerst Du Dich noch der Erlebnisse des Helden?« fragte Iris.

»Ich will es versuchen, Miß, wenn Sie es zu hören wünschen.«

Die Erzählung in der Zeitung schien einen lebhaften Eindruck auf Rhodas Geist gemacht zu haben. Wenn man die selbstverständlichen Stockungen und Irrtümer und die Schwierigkeiten, sich richtig auszudrücken, in Abrechnung brachte, so wiederholte sie mit überraschend klarer Erinnerung den Inhalt dessen, was sie gelesen hatte.

Neuntes Kapitel.

Die Hauptpersonen in der Geschichte waren ein alter irischer Edelmann, der einfach der Earl genannt wurde, und der jüngere seiner beiden Söhne, von seinem Bruder durch den mysteriösen Beinamen »der wilde Lord« unterschieden.