Blinde Vögel - Ursula Poznanski - E-Book
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Ursula Poznanski

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Beschreibung

Zwei Tote in Salzburg. Sie stranguliert, er erschossen. Die Tat eines zurückgewiesenen Liebhabers? Aber die beiden scheinen zu Lebzeiten keinerlei Kontakt miteinander gehabt zu haben. Oder täuscht der erste Blick? Das Salzburger Ermittlerduo Beatrice Kaspary und Florin Wenninger ist ratlos. Aber Beatrice mag die Sache nicht auf sich beruhen lassen und verfolgt die Spuren, die die Toten im Internet hinterlassen haben. Auf Facebook wird sie fündig: Beide waren dort Mitglieder in einem Forum, das sich ausgerechnet mit Lyrik befasst. Gedichte werden hier mit stimmungsvollen Fotos kombiniert und gepostet. Ganz harmlos. Ganz harmlos? Bald ahnt Beatrice, dass die Gedichte Botschaften enthalten, die nur wenige Teilnehmer verstehen. Düstere Botschaften, in denen es um Angst und Tod geht. Und dann stirbt noch eine der Lyrik-Liebhaberinnen ...

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Ursula Poznanski

Blinde Vögel

Thriller

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Zwei Tote in Salzburg. Sie stranguliert, er erschossen. Die Tat eines zurückgewiesenen Liebhabers?

 

Aber die beiden scheinen zu Lebzeiten keinerlei Kontakt miteinander gehabt zu haben. Oder täuscht der erste Blick? Das Salzburger Ermittlerduo Beatrice Kaspary und Florin Wenninger ist ratlos. Aber Beatrice mag die Sache nicht auf sich beruhen lassen und verfolgt die Spuren, die die Toten im Internet hinterlassen haben. Auf Facebook wird sie fündig: Beide waren dort Mitglieder in einem Forum, das sich ausgerechnet mit Lyrik befasst. Gedichte werden hier mit stimmungsvollen Fotos kombiniert und gepostet. Ganz harmlos. Ganz harmlos?

 

Bald ahnt Beatrice, dass die Gedichte Botschaften enthalten, die nur wenige Teilnehmer verstehen. Düstere Botschaften, in denen es um Angst und Tod geht. Und dann stirbt noch eine der Lyrik-Liebhaberinnen ...

Über Ursula Poznanski

Ursula Poznanski wurde 1968 in Wien geboren. Sie war als Journalistin für medizinische Zeitschriften tätig. Inzwischen widmet sie sich ganz dem Schreiben und lebt mit ihrer Familie im Süden von Wien.

Inhaltsübersicht

Ira Sagmeister ...PrologKapitel einsIch verstehe nicht, ...Kapitel zweiKapitel dreiKapitel vierIch gehe meinen ...«Den Datenstick steckst ...Kapitel fünfEs ist eine ...Kapitel sechsKapitel siebenAch, Ira. Was ...Es musste zwei ...Kapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfAn manchen Tagen ...Um 14 Uhr ging ...Kapitel dreizehnTina Herbert bedeckt ...Kapitel vierzehnKapitel fünfzehnIch glaube, ich ...Kapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigLeseprobe: StimmenProlog1. Kapitel2. Kapitel

Ira Sagmeister

Wie fandet ihr das Gedicht mit der Rose, gestern? Ich bekomme es nicht aus dem Kopf.

5 Personen gefällt das

 

Silke Hernau *hach* so düster und so schön.

Irena Barić Immer sind es Rosen. Ich wünschte, die Leute würden genauer hinsehen, dann würden sie oft merken, dass die angebliche Rose eine Kamelie oder eine Tulpe ist …

Ira Sagmeister @Silke – düster und schön, genauso empfinde ich es auch.

@Irena: Manchmal kann man aber völlig sicher sein. Wer mit Rosen vertraut ist, erkennt sie sofort.

Thomas Eibner Irena, hier geht es um Poesie, nicht um Biologie. Kann es sein, dass du da etwas durcheinanderbekommst?

Helen Crontaler Das war übrigens von Hebbel, ich wundere mich, dass keiner das dazugeschrieben hat. Passt herrlich zur Jahreszeit.

Nikola DVD Ich liebe Rosen. Ich wüsste gern, wo Hebbel diese spezielle gesehen hat. Ob er sie wirklich gesehen hat oder nur in seiner Phantasie.

Ira Sagmeister Ich bin sicher, er hat sie tatsächlich gesehen. Wo? In der Nähe eines Brunnens, vielleicht. Ein Brunnen nahe einer Kirche – so stelle ich mir das vor. Und eine Rose wie keine zweite.

Thomas Eibner Ich finde eure Gespräche hier ziemlich merkwürdig.

Prolog

Dunkel. Eng. Keine Luft. Jede Unebenheit der Straße ein Schlag.

Der Knebel in ihrem Mund ließ sich nicht mit der Zunge verschieben, die Nase war vom Weinen zugeschwollen.

An sie gepresst lag der Dicke. Wimmerte. Sie fühlte das Zucken seiner gefesselten Hände. Vielleicht würden sie sich mit ihm begnügen. Im Gegensatz zu ihm war sie schnell, konnte rennen.

Sie sog Luft durch die verstopften Nasenlöcher, mit aller Kraft.

Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit.

Ohne dass sie es wollte, spulte ihr Hirn die Worte ein weiteres Mal ab.

In blanken Sälen schleichen leise Schauer.

Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer,

und alle Wege weltwärts sind verschneit.

Er war nackt gewesen, als er es ihr das erste Mal gezeigt hatte, und sie hatte nackt neben ihm gelegen. Voller Glück.

Sie presste die Lider aufeinander, versuchte, zu diesem Moment zurückzukehren. Die Zeit zu überwinden, die Monate, die vergangen waren, auszulöschen. «Düster», hatte sie gesagt. «Ein weißes Schloss, wie kann das so düster sein?»

«Die wahre Dunkelheit kommt von innen», hatte er geantwortet. «Und sie ist wie Krebs. Frisst sich weiter, weißt du? Durch alles, nach und nach. Schwarze Metastasen.»

Sie war ein Stück von ihm abgerückt, um ihm ins Gesicht sehen zu können, und war erstaunt gewesen, dass er lächelte.

Sein Vergleich hatte einen Schatten auf ihren Tag geworfen. Aber jetzt wünschte sie sich, vielleicht eines Tages an Krebs sterben zu können. In dreißig, in fünfzig Jahren. Ein Tod im richtigen Alter, bitte. Nicht heute, nicht jetzt, nicht!

In blanken Sälen schleichen leise Schauer.

Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer.

Zwischen ihren Fingern fühlte sie das Papier, das sie wie eine Rettungsleine mit ihm verband. Es war sein Drucker gewesen, der es ratternd ausgespuckt hatte.

Und alle Wege weltwärts sind verschneit.

Kaltes Beben überlief sie, trotz der stickigen Enge neben dem Dicken, der nach Angst stank.

Vorne wurde gesprochen. Einer der Männer klang angespannt, der andere lachte.

Holpern. Sie gab sich Mühe, den Kopf zu heben, damit er nicht bei jeder Unebenheit gegen den Boden des Kofferraums schlug.

 

Darüber hängt der Himmel brach und breit. Ihr Hirn spuckte immer weitere Verse aus. Sie klammerte sich an sie wie an ein Gebet.

Es blinkt das Schloß. Und längs den weißen Wänden

hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen.

Die Uhren stehn im Schloß: es starb die Zeit.

«Ich kenne das Gefühl», hatte er gesagt, und seine Hand war über ihre Wirbelsäule geglitten, auf und ab, ab und auf. «Kennst du es auch?»

«Nein», hatte sie geantwortet, aber jetzt begriff sie es, oh Gott, und wie. Die Zeit war tot und blähte sich auf wie ein verwesender Leib. Jede Sekunde war quälend lang und verging gleichzeitig viel zu schnell, jede weitere führte näher an den Moment heran, der nicht kommen durfte …

und längs den weißen Wänden

hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen –

Dann hielt der Wagen. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Einer der Männer sagte etwas, das sie nicht verstand.

In blanken Sälen schleichen leise Schauer, leise Schauer, leise Schauer … die Worte fraßen sich in ihr Hirn und erstickten alle Gedanken. Der Dicke gab hinter seinem Knebel gurgelnde Geräusche von sich.

Todkrank krallt das Geränk sich an die Mauer.

Schritte, die näher kamen. Metallisches Klimpern. Zwei kurze, hohe Töne. Entsperrung.

Die Heckklappe öffnete sich.

Und alle Wege weltwärts sind verschneit.

Kapitel eins

Der Tisch war gedeckt, die Gläser poliert, sogar die Wassergläser. Beatrice sah nach dem Truthahn im Rohr und kämpfte gegen das völlig unpassende Gefühl an, ein Date vor sich zu haben. So war es nicht, ganz im Gegenteil, trotzdem wollte sie unbedingt noch duschen und sich umziehen, bevor sie den Tisch deckte.

Ein Date, was für ein Wort. Als wäre sie siebzehn und nicht sechsunddreißig.

Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, drehte die Temperatur des Ofens hinunter und stieg aus ihren Jeans. Fünfzehn Minuten noch, das würde reichen. Mit etwas Glück fanden sie nicht gleich einen Parkplatz, dann hätte sie sogar noch Zeit genug, um sich ein gelöstes Lächeln ins Gesicht zu trimmen.

Sie duschte schnell und heiß, föhnte ihr Haar halb trocken und schlüpfte in ein hellblaues Sommerkleid, über das sie eine Schürze band, bevor sie die Teller auflegte und den Truthahn aus dem Ofen beförderte.

Der Abend musste friedlich verlaufen, er musste einfach.

Der Salat stand auf dem Tisch, daneben dampfte der Reis in einer Porzellanschüssel. Es sieht aus, dachte Beatrice, als würde ich so etwas hier jeden Tag machen.

Sie hatte den Truthahn gerade fertig tranchiert, als es an der Tür läutete. Pünktlich auf die Sekunde, natürlich.

Das Lärmen der Kinder im Treppenhaus war sogar durch die geschlossene Tür zu hören, am lautesten Jakobs helle Stimme: «Ich bin schneller, ich bin schneller!». Beatrice öffnete die Tür, und beide Kinder stürmten ihr entgegen, atemlos.

«Ich war schneller, Mama», keuchte Jakob. «Du hast es gesehen, oder? Oder?»

Mina warf ihm einen vor Verachtung triefenden Blick zu. «Ist mir doch egal, Zwerg.» Sie drückte sich an Beatrice vorbei und schnupperte in die Wohnung hinein.

Jetzt hatte auch Achim den letzten Treppenabsatz hinter sich gelassen. Er stand abwartend da, mit einer Flasche Wein in der Hand und einem Gesichtsausdruck, der sich zwischen Lächeln und Stirnrunzeln nicht entscheiden konnte. Beatrice ging ihm entgegen und nahm ihn am Arm.

«Komm rein. Das Essen steht schon auf dem Tisch. Danke für den Wein.»

Seine Miene hellte sich auf, und er strich sich beinahe verlegen über das schüttere blonde Haar.

Es würde klappen, diesmal. Sie würden nicht streiten, sondern sich unterhalten wie Menschen, die etwas verbindet. Vielleicht würden sie sogar etwas finden, worüber sie gemeinsam lachen konnten.

«Hattet ihr eine schöne Zeit?», fragte sie.

«Ja, wir waren im Zoo in Hellbrunn», quäkte Jakob aus dem Badezimmer. Die Kinder wuschen sich freiwillig die Hände. Ein Wunder.

«Die Nashörner sind so toll, Mama. Fast so groß wie ein Haus, und die stinken wie … wie …» Er fand keinen Vergleich und schüttelte sich zur Demonstration.

Beatrice tauschte ein Lächeln mit Achim, eines der ersten seit der Scheidung. «Setzt euch, ja? Wer will Apfelsaft?» Sie fühlte, wie allmählich die Anspannung, die sie den ganzen Tag über begleitet hatte, von ihr abfiel. Das hier war ein normales Abendessen. Familie. Keine Prüfung, die sie zu bestehen hatte. Wenn die Kinder im Bett waren, würde sie mit Achim reden, ganz in Ruhe, und endlich einen Modus für ihre Scheidungsbeziehung finden.

Scheidungsbeziehung, oh mein Gott. Vielleicht Trennungsverhältnis? Auch nicht besser.

Der Truthahn war gelungen, stellte sie nach dem ersten Bissen erleichtert fest. Das idiotensichere Rezept aus dem Internet hielt, was es versprochen hatte.

«Wein?» Achim schwenkte die Flasche über ihrem Glas.

«Ja, bitte.»

Sie prosteten einander zu. Beatrice suchte nach dem bitteren Zug um seinen Mund, der und das alles hast du weggeworfen sagte, aber heute war nichts davon zu sehen.

«Mina würde gern wieder einmal zum Segeln gehen», merkte er an, nachdem er den Wein gekostet hatte. «Ich finde, sie ist jetzt alt genug, um den Segelschein zu machen. Wäre doch ein schönes Hobby, nicht?»

«Sicher. Wenn sie das möchte.»

Mina hopste auf ihrem Stuhl auf und ab. «Ja, will ich! Dann steuere ich das Boot, und ihr sitzt nur drin und –»

Beatrices Handy klingelte. Es war der schrille, nicht zu überhörende Ton, den sie für Anrufe aus dem Büro eingestellt hatte.

«Drrring!», echote Jakob mit vollem Mund.

Ihr erster Impuls war, nicht ranzugehen. Vielleicht war es bloß Hoffmann, der einen noch fehlenden Bericht einfordern wollte.

Nein. Das konnte nicht sein. Hoffmann war für zwei weitere Tage in Wien.

«Ach, Mist.» Sie legte die Gabel aus der Hand und blickte entschuldigend zu Achim.

«Geh nur ran.»

War sein Lächeln gönnerhaft? Oder tat sie ihm unrecht? Versuchte er, verständnisvoll zu sein? Beatrice fischte ihr Handy aus der Tasche. Florin.

Das war gut. Er würde verstehen, dass sie jetzt keine Zeit hatte, Berufliches zu besprechen. Bitte kein neuer Fall, nicht heute, nicht jetzt!

Doch sie musste nur den Klang seiner Stimme hören, um zu wissen, dass sie das Abendessen vergessen konnte.

«Bea, es tut mir leid. Eben ist ein Anruf hereingekommen, Spaziergänger haben zwei Tote gefunden, nicht weit von Schloss Aigen. Ich fahre gleich los. Kannst du direkt hinkommen?»

Sie antwortete nicht sofort, sah erst zu Achim hinüber, der ebenfalls sein Besteck abgelegt hatte. Er rieb sich übers Kinn, eine ärgerliche Längsfalte teilte seine Stirn. Anrufe dieser Art hatte es früher oft gegeben, und er hatte nie freundlich darauf reagiert.

Friedensverhandlungen einmal mehr im Ansatz gescheitert, dachte sie. «Wohin genau?» Sie kramte im Stiftehalter nach einem Kugelschreiber, der funktionierte, fand aber nur einen halb ausgetrockneten, grünen Textmarker. Der musste reichen.

Florin gab ihr eine Wegbeschreibung durch. In der Nähe des Fundorts lag ein Campingplatz, dort würde sie parken können, und dort würde er auf sie warten.

Feste Schuhe, eine Jacke, Haare zusammenbinden. Aber vorher musste sie noch mit Achim sprechen.

«Es tut mir leid, wirklich, aber …»

«Ein Notfall», führte er ihren Satz zu Ende. «Ja. Ist es das nicht immer?» Er klang resigniert, aber nicht angriffslustig, ganz anders als sonst. «Wer war dran? Wenninger?»

«Ja. Florin. Er ist schon unterwegs zur Fundstelle.»

«Du hast es also eilig.» Achims Lächeln wirkte angestrengt, aber es war da. Er gab sich wirklich Mühe.

«Ja. Danke, dass du es verstehst», sagte sie vorsichtig. «Würdest du warten, bis ich zurück bin? Wegen der Kinder – und vielleicht können wir anschließend noch ein Glas trinken?»

Jetzt senkten sich seine Mundwinkel, aber wenigstens blieb die Stimme freundlich. «Wenn du wiederkommst, schnarche ich längst auf der Couch. Ich habe nicht vergessen, wie das abläuft, machen wir uns keine Illusionen.»

«Danke.» Sie lief ins Schlafzimmer, zog sich um, küsste die Kinder und saß innerhalb von fünf Minuten im Auto. Ein wenig beschämt über ihre eigene Erleichterung und Dankbarkeit Achim gegenüber. Als ob er etwas Besonderes geleistet hätte, indem er ihr keine Szene gemacht hatte.

 

Sie stieg aus dem Auto und roch Brathuhn. Der Duft kam aus dem Bistro des Campingplatzes und erinnerte Beatrice daran, dass sie kaum etwas von ihrem Truthahn gegessen hatte.

War vermutlich auch besser so. Florin hatte nichts über den Zustand der Leichen gesagt. Es war gut möglich, dass ein voller Magen sich mit ihrem Anblick nur schlecht vertrug.

Sie band sich die Schuhe fester zu und nahm die Jacke vom Rücksitz. Am Waldrand hatte sich eine Gruppe von Campern zusammengerottet, drei Polizisten in Uniform sprachen mit ihnen und sorgten gleichzeitig dafür, dass niemand zwischen den Bäumen verschwand.

Dann entdeckte sie Florin. Er saß an einem Tisch vor dem Campingplatzbistro und unterhielt sich mit zwei jungen Männern. Sehr jungen Männern, wie Beatrice beim Näherkommen feststellte, höchstens neunzehn. Beide waren blass, einer hielt sich die Hände vor den Mund, als sei der Geruch von gebratenem Huhn zu viel für ihn.

Florin winkte Beatrice dazu. «Gut, dass du da bist. Das hier sind Samuel Heilig und Daniel Radstetter. Studenten aus Freiburg, die ein paar Tage hier campen.»

Beatrice schüttelte beiden die Hand. Die von Radstetter war eiskalt und feucht, trotz der sommerlichen Temperaturen.

«Ich bin Beatrice Kaspary. Landeskriminalamt, genau wie mein Kollege. Ich vermute, Sie haben die Toten entdeckt?»

Samuel Heilig schluckte und schloss kurz die Augen. «Wir waren spazieren, mit dem Hund. Unsere Freundinnen sind im Zelt geblieben.»

Seiner Aussprache nach kam er aus Schwaben.

«Der Hund hat plötzlich wie wild zu bellen begonnen und uns weitergezerrt. Zu einer … Mulde hin. Einer Senke, wo ziemlich viel Gestrüpp wächst und dort –» Heilig unterbrach sich und warf seinem Freund einen hilfesuchenden Blick zu, aber der schüttelte nur den Kopf.

«So schlimm», flüsterte er, die Hände immer noch vor dem Mund.

«Ich gehe es mir ansehen.» Beatrice schob ihren Stuhl zurück und stand auf. «Ist Drasche schon hier?» Sie spähte zum Parkplatz hinüber, ohne das Auto des Spurensicherers zu entdecken.

«Nein, aber er ist auf dem Weg.» Florin winkte einen der uniformierten Polizisten zum Tisch. «Bleiben Sie bitte bei den beiden Zeugen.»

Mücken umschwirrten Beatrice und Florin schon am Waldrand, begleiteten sie auch, als sie in den Schatten der Bäume traten. Sirren und Summen. Am Fundort würde es noch schlimmer sein. Ein Fest für die Fliegen.

Schweigend überwanden sie eine leichte Steigung. Beatrice spürte, dass Florin sie von der Seite ansah. Besorgt. Wirkte sie so mitgenommen?

«Mit mir ist alles in Ordnung», erklärte sie.

Er nickte und lächelte. «Gut zu wissen.»

Sie überlegte, ob sie ihn fragen sollte, was sie in der Senke erwartete. Auf welchen Anblick sie sich einstellen musste. Doch dann ließ sie es bleiben. Es würde ihren ersten Eindruck zunichtemachen.

 

Beatrice konnte den Fundort der Leichen hören, bevor sie ihn sah. Wütendes Summen empfing sie, als sie auf den mit rot-weißem Band abgesperrten Bereich zugingen. Sie hatte recht gehabt mit den Fliegen. Aber noch kein Geruch.

Sie kletterte unter der Absperrung hindurch und schluckte gegen das enge Gefühl in ihrer Kehle an. Doch die Anspannung blieb. Sie würde in Situationen wie dieser wohl ewig ihr Begleiter sein. Die Begegnung mit dem Tod wurde auch nach vielen Malen nicht einfacher.

Sie lagen inmitten von trockenem Laub, eine Frau und ein Mann. Er auf dem Bauch, sie auf dem Rücken. Sein Körper war klein und gedrungen, ihrer lang und überschlank. Gegensätze, dachte Beatrice.

Zwischen den Leichen kniete Dr. Vogt und war eben damit beschäftigt, mit einem Skalpell Hose und Unterhose des Mannes zu durchschneiden. Das Thermometer, mit dem er gleich die Rektaltemperatur messen würde, lag schon bereit.

Beatrice unterdrückte den Impuls, sich abzuwenden. Sie heftete ihren Blick auf das zur Seite gewandte Gesicht der Frau, die bläuliche Hautfärbung, die aus dem Mund hängende Zunge. Halb offene, verdrehte Augen. Kein Wunder, dass die beiden jungen Camper so verstört gewesen waren.

«Erdrosselt», erklärte Vogt, bevor sie fragen konnte. «Mit einer Wäscheleine, die liegt hier noch.»

«Und der Mann?»

Der Gerichtsmediziner winkte sie heran, deutete auf den von Laub halb verdeckten Kopf der Leiche.

Ein Einschussloch an der rechten Schläfe. Eine ungleich größere Austrittswunde an der gegenüberliegenden Seite, das halbe Ohr und die Wange waren weggesprengt. Direkt neben der Hand des Toten entdeckte Beatrice nun auch eine Pistole. Wenn sie die Fingerabdrücke des Mannes darauf fanden und sich zeigte, dass die Waffe auf ihn gemeldet war, dann konnten sie von Mord und Selbstmord ausgehen. Unerfüllte Liebe, Vertrauensmissbrauch, Betrug – sie versuchte, sich vorzustellen, wie die Beziehung der beiden zueinander gewesen sein mochte.

Merkwürdig, es gelang ihr nicht.

Es lag an der Frau. Ihr Gesicht war aufgequollen und verfärbt, aber man erkannte immer noch, dass sie sehr hübsch gewesen war. Puppenartige Züge, ein durchtrainierter, langgliedriger Körper. Schicke Kleidung – ein enormer Kontrast zu den an den Schenkeln abgewetzten Jeans des männlichen Opfers, das dazu ein sandfarbenes Poloshirt in Übergröße trug.

Es war kein zulässiger Schluss, aber ein zu starker Eindruck, als dass Beatrice ihn einfach hätte ignorieren können. Mord und Selbstmord kamen hauptsächlich in Beziehungen vor, und sie glaubte nicht, dass die tote Frau ein intimes Verhältnis zu dem Mann gehabt hatte. Eher, dass er hinter ihr her gewesen war.

Unerfüllte Liebe. Stalking, vielleicht.

Vom Weg her waren eilige Schritte zu hören und die vertraute, übellaunige Stimme von Drasche, der wieder einmal seinen Unmut darüber kundtat, dass andere vor ihm am Tatort gewesen waren. Als könnten allein ihre Blicke wichtige Spuren verwischen.

«Hallo, Gerd», begrüßte ihn Beatrice. «Bevor du fragst: Nein, wir haben noch nichts angefasst.»

«Gut.» Drasche stellte seinen Spurensicherungskoffer ab und entnahm ihm Handschuhe, Plastikaufsteller mit Spurennummern und sein übliches Arsenal an Behältern und Tüten.

Mittlerweile hatte auch sein Kollege Ebner den Anstieg geschafft, grüßte einmal in die Runde und packte seine Kamera aus.

«Was bringt zwei so unterschiedliche Menschen im Tod zusammen?», murmelte Beatrice, mehr zu sich selbst, doch Florin hörte ihre Worte.

«Das Leben, schätze ich. Wir wissen doch noch gar nichts über sie, Bea.»

«Ja. Trotzdem.» Sie ging ein Stück näher heran, um Drasche besser bei der Arbeit beobachten zu können. Florin gesellte sich zu Vogt, der eben unter dem Absperrband hindurchtauchte und sein Diktiergerät in die Jackentasche steckte.

«Der Mann hat einen Ausweis bei sich, die Frau nicht.» Drasche hielt ein abgewetztes Lederportemonnaie hoch, aus dem er einen Führerschein zog, einen der neuen, im Scheckkartenformat. «Gerald Pallauf, geboren 1985. Vermutlich aus der Gegend, das Dokument wurde in Salzburg ausgestellt. Alles andere später.»

Was ab jetzt will ich nicht mehr gestört werden bedeutete.

Beatrice schrieb die Daten in ihr Notizbuch, die Augen zusammengekniffen, um besser sehen zu können. Die Dämmerung wich immer schneller der Dunkelheit. Gerade eben war noch jedes Detail des Waldbodens zu erkennen gewesen, nun hatte er sich in eine diffuse Fläche voller Stolperfallen verwandelt.

Ebner brachte zwei Scheinwerfer in Position. Kurz darauf schnitt ihr Licht eine blendend grelle Scheibe aus der Finsternis und legte jedes Detail des Todes frei. Beatrice konzentrierte sich wieder auf Drasche, der sich gerade den Händen der Frau widmete, erst die linke, dann die rechte untersuchte. Er betrachtete die gekrümmten Finger, hielt plötzlich inne und griff nach seiner Pinzette. Förderte etwas Dünnes, Weißes ans Licht, kaum größer als eine Briefmarke.

«Ist das Papier?» Wenn man Drasche schon bei der Arbeit störte, war es Beatrices Erfahrung nach am erfolgversprechendsten, nur Ja- und Nein-Fragen zu stellen. Es funktionierte auch heute wieder, Drasche nickte und ließ den Papierschnipsel in einen kleinen Plastikbeutel fallen.

«Steht etwas drauf?»

Er sah kurz hoch, ungehaltene Querfalten auf der Stirn. «Nein. Diesmal keine Briefe an euch, wie es aussieht.»

Beatrice ging bewusst nicht auf die Anspielung ein. Der Fall vom Frühjahr war ihr immer noch allzu präsent. Einiges, was damit in Zusammenhang stand, begleitete sie täglich in die Arbeit und zurück.

Ein Stück leeres Papier also. Von einem größeren Blatt abgerissen, der Form und den Kanten nach zu schließen. Soweit sie die Senke überblickte, war dieses Blatt hier nirgendwo zu sehen.

«Wir sollten uns um die Camper kümmern.» Florin war wieder neben sie getreten. «Die Campingplatzbesitzer befragen.» Er legte ihr eine Hand auf die Schulter.

«Gleich.» Sie ließ Drasche nicht aus den Augen, wartete, bis er die Leiche zur Seite drehte. Auch hier nichts. Kein Papier.

 

Sie erzählte Florin auf dem Weg zurück zum Campingplatz von dem Papierschnipsel. «Aber der Rest ist hier nirgendwo. Was die Frau zwischen den Fingern hatte, sah ganz klar so aus, als hätte sie es abgerissen, und das muss kurz vor ihrem Tod gewesen sein, sonst wäre der Schnipsel nicht mehr in ihrer Hand. Also gibt es zwei Möglichkeiten.» Beatrice stieg über einen dicken Ast, der quer auf dem Weg lag. «Erstens: Sie wurde an einem anderen Ort ermordet und hierher transportiert. Finde ich unwahrscheinlich, weil ein so kleines Stück Papier unterwegs ziemlich sicher verlorengegangen wäre.»

Folgte Florin ihrer Argumentation? Er nickte. Gut.

«Zweitens: Sie wurde hier im Wald getötet. Aber wo ist dann das Blatt, von dem sie das Stück abgerissen hat? Jemand hat es mitgenommen. Und damit haben wir einen weiteren Beteiligten. Einen potenziellen Mörder.»

«Wind», sagte Florin.

«Wie bitte?»

Florin blieb stehen und lächelte sie an. «Wind, Bea. Papier fliegt davon, wenn der Wind es erfasst. Ich kann deine Gedanken nachvollziehen, aber du ziehst gerade sehr große Schlüsse aus einem sehr kleinen Papierfitzelchen.»

Wie um ihn in seiner Argumentation zu unterstützen, kam eine leichte Brise auf und blies ihm die dunklen Strähnen aus der Stirn.

Fortgeweht. Dann musste das Blatt im Wald noch zu finden sein. Irgendwo am Fuß eines Baums. Wenn das so war, würde es Drasche nicht entgehen.

 

Die Besitzerin des Campingplatzes wartete an der Rezeption, einer dunklen, verschrammten Holztheke, auf der Stapel alter Zeitschriften lagen. Zwischen zwei gelb verfärbten Fingern hielt sie eine Zigarette, die sie am Rand eines überquellenden Aschenbechers ablegte, als sie Beatrice und Florin begrüßte. «Tut mir leid, ich rauche eigentlich nicht mehr.» Sie griff noch einmal nach der Zigarette und nahm einen tiefen Zug, bevor sie sie ausdrückte und den Aschenbecher zur Seite schob. «Aber ich bin völlig fertig. Meine Güte, so ein Drama, und ausgerechnet hier. Wenn jetzt nur nicht alle abreisen.»

Ihre Augen wurden groß, und sie schlug sich die Hand vor den Mund. «Was sage ich denn da. Entschuldigen Sie bitte – viel schlimmer ist natürlich, was den beiden jungen Leuten passiert ist. Sie waren jung, oder?»

«Ja.» Florin setzte das Lächeln auf, das Beatrice insgeheim sein Wolfslächeln nannte. «Sie können mir sicherlich die Anmeldeformulare aller Personen geben, die derzeit bei Ihnen campen?»

Die Frau zögerte, dann nickte sie. «Aber es war bestimmt keiner von meinen Gästen.»

Das Wolfslächeln vertiefte sich. «Interessant. Wie können Sie da so sicher sein?»

Die Frau kratzte sich unsicher im Nacken. Sie trug das ergraute Haar kurz und praktisch, wie Beatrices Mutter es genannt hätte. «Na ja. Ich meine … die sind doch auf Urlaub hier. Zum Erholen.»

Wie um Florins Blick zu entkommen, tauchte sie hinter ihrer Theke ab und förderte eine zerfledderte Mappe zutage. «Hier. Das sind die Anmeldungen.»

Beatrice sah sie durch. Kein Gerald Pallauf.

«Vermissen Sie einen von Ihren Campern?», erkundigte sie sich. «Ist jemand überhastet abgereist oder von einem Spaziergang nicht zurückgekommen?»

«Nein.»

Beatrice bezweifelte, dass die kettenrauchende Nichtraucherin das Kommen und Gehen ihrer Gäste zuverlässig im Blick hatte, aber gut.

«Ich werde Sie später bitten, sich die beiden Opfer anzusehen, wir müssen wissen, ob Sie Ihnen schon einmal begegnet sind.»

Wieder legte die Frau eine Hand vor den Mund. «Das kann ich nicht», drang es gedämpft dahinter hervor.

«Dann werden wir Ihnen Fotos zeigen. Die Anmeldungen können wir mitnehmen, ja? Danke für Ihre Hilfe.»

 

Die beiden jungen Männer saßen auf einer Picknickdecke vor zwei kleinen Kuppelzelten, jeder eine Flasche Bier in der Hand. Einer hatte den Arm um die Schultern seiner Freundin gelegt, der andere die Knie bis zum Kinn gezogen. Er schaukelte immer wieder vor und zurück.

Der hier wird heute Nacht Albträume haben, dachte Beatrice.

«Hat jemand von Ihnen die Toten gekannt? Oder sie schon einmal hier auf dem Platz gesehen?»

Einhelliges Kopfschütteln. Das Mädchen hatte ihr Gesicht an der Brust ihres Freundes verborgen und sah nun auf.

«Wir dürfen nicht abreisen, haben Sie gesagt.» Sie strich sich eine Haarsträhne zur Seite. «Aber ich kann doch hier nicht bleiben. Ich sterbe vor Angst. Es gibt Mörder, die besonders gern Paare umbringen, und wenn das so einer war … ich werde kein Auge zutun.»

«Heute Nacht wird Polizei hier sein. Aber wir bringen Sie gerne auch anderswo unter.»

Sie organisierten neue Bleiben für die Ängstlichen und befragten dann die übrigen Camper, einen nach dem anderen. Der Platz war nicht groß, trotzdem dauerte es bis nach Mitternacht. Keiner hier hatte ein Paar gesehen, das den Toten ähnelte. Und keiner kannte einen Gerald Pallauf.

 

Sie schob den Schlüssel millimeterweise ins Schloss und drehte ihn lautlos nach links. Geschafft. Das kurze Klacken, das beim Lösen der Verriegelung entstand, konnte niemanden aufgeweckt haben.

Beatrice schlüpfte aus ihren Schuhen und schlich über den Flur. Fast ein Uhr, Achim war sicher schon eingeschlafen. Entweder in dem Ohrensessel im Kinderzimmer, den Mina den «Geschichtensessel» getauft hatte, oder auf der Wohnzimmercouch. Beides war in Ordnung, an beiden musste sie nicht vorbei, um in ihr Schlafzimmer zu gelangen. Durch den Spalt unterhalb der Wohnzimmertür drang gedämpftes Licht. Wahrscheinlich war auch der Fernseher noch an, und Achim war bei den Spätnachrichten eingeschlafen. Egal. Hauptsache, sie liefen sich heute nicht mehr über den Weg. In etwas mehr als fünf Stunden musste Beatrice wieder aufstehen, allein der Gedanke daran ließ ihren Körper ganz schwer werden vor Müdigkeit. Und wenn sie müde war, war sie gereizt.

Mit der gleichen Behutsamkeit wie vorhin öffnete sie die Schlafzimmertür und schloss sie hinter sich. Geschafft. Nur noch aus den Kleidern schlüpfen und unter die Decke. Sie würde schnell einschlafen und nicht träumen, das fühlte sie, und das war …

«Bea?»

Sie schrak hoch, musste bereits eingedöst gewesen sein. Ihr Puls jagte. «Herrgott, Achim.»

«Wieso schleichst du dich in deine eigene Wohnung wie eine Einbrecherin?»

«Warum wohl? Um euch nicht zu wecken, natürlich.» Ja, das hatte gereizt geklungen. Verdammt. Achim verschränkte die Arme vor der Brust. Sie beeilte sich, seiner beleidigten Replik zuvorzukommen.

«Entschuldige bitte. Ich habe mich nur erschrocken, und es gab einen schauderhaften Fund heute. Zwei junge Leute, sicher noch keine dreißig.»

«Mhm.»

Sie wusste, was sich hinter seiner hohen Stirn abspielte. Du müsstest das nicht tun, du könntest es so einfach haben, es ist deine Entscheidung …

«Willst du gar nicht wissen, wie es heute Abend mit den Kindern lief?»

«Doch, natürlich.»

«Warum bist du dann nicht zu mir ins Wohnzimmer gekommen und hast gefragt?»

Auf dieses Spiel würde sie sich nicht einlassen. «Wäre etwas schiefgegangen, hättest du mich angerufen. Also war alles okay, und der Bericht konnte bis zum Frühstück warten.» Beatrice zwang sich ein Lächeln ab. «Nicht wahr?»

Er kräuselte seine Lippen. «Ausgezeichnet, Frau Kommissarin. Dann gehe ich wieder zurück auf meine durchgesessene Couch. Gute Nacht.»

Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich um und schloss die Tür hinter sich, eine Spur lauter als nötig.

Durch all ihre Müdigkeit hindurch spürte Beatrice, wie die alte Wut in ihr hochkochte. Wieso war Achim so versessen darauf, dass sie sich schuldig fühlte?

Sie vergrub ihren Kopf im Kissen, wühlte ihn tief hinein, als wäre dort unten die ersehnte Ruhe zu finden. Doch ihr Herz schlug zu hart, und ihre Gedanken krochen erschöpft zwischen Achim und dem toten Paar hin und her, bis sie endlich vor dem Schlaf kapitulierten.

Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. Ich war nicht unachtsam, das liegt nicht in meiner Natur, umso mehr empfinde ich diesen Einbruch in mein Leben als unverschämt. So plötzlich. Ohne Vorwarnung.

Dein Sohn will dich sehen, bitte, dein Sohn. Ich konnte dem Mädchen ansehen, wie sehr sie gehofft hat, dass allein dieses Wort sie retten würde. Was vielleicht geklappt hätte, wenn es einen Sohn gäbe, der nach mir Sehnsucht haben könnte. Aber sie selbst, sie hat sich jedes ihrer Worte geglaubt. Keine Lüge in den blauen Augen, nur blanke Angst. Nichts macht gesprächiger.

Es war merkwürdig. Ich war wie unter Schock, musste mich zusammennehmen, um nicht plötzlich zu lachen oder davonzulaufen. Es ist nicht wahr, dachte ich die ganze Zeit, natürlich nicht, warum auch. Aber an dem, was sie gesagt und mir gezeigt hatte, war nicht zu rütteln. Sie war so kooperativ. Erst, als ich sie fragte, wie mein Sohn denn hieß, kam keine Antwort mehr. Spätestens da musste sie begriffen haben.

Und so bleibe ich mit nur einem einzigen Anknüpfungspunkt zurück – und mit einem allgegenwärtigen Gefühl der Bedrohung.

Vielleicht war es nur der unglücklichste und letzte Zufall ihres Lebens, der das Mädchen an meine Ufer gespült hat. Aber darauf darf ich mich nicht verlassen.

Ihr fetter Begleiter, dem der Rotz aus der Nase lief, war ein wimmerndes Bündel, der Charakter so schlaff wie der Körper. Er konnte nichts dafür, er hatte keine Ahnung, er wusste von nichts, er würde niemandem etwas sagen, und dann dieses fortwährende bitte. Sie lernen es mit zwei Jahren und glauben dann, es würde ihnen von da an alles bescheren, was sie sich wünschen, und sie vor allem Furchtbaren bewahren.

Aber es sind nur zwei Silben, und sie bedeuten nichts.

Kapitel zwei

Die Fotos lagen ausgebreitet auf ihrem Schreibtisch, eine Collage grausiger Details. Ebners Drucker musste die halbe Nacht lang gelaufen sein. Florin war damit beschäftigt, einige der Aufnahmen an der Pinnwand zu befestigen. Dabei bildete die Großaufnahme der annähernd sternförmigen Einschusswunde am Kopf des Mannes das Zentrum.

«Drasche und Vogt sind sich einig, es ist ein absoluter Nahschuss», sagte er. «Die gefundene Patronenhülse passt zur Waffe, die Schmauchspuren an Kopf und Händen werden noch im Detail untersucht, aber wir können davon ausgehen, dass die Pistole beim Abdrücken direkt an seine Schläfe gehalten wurde.»

«Klingt also wirklich nach Selbstmord.» Beatrice hielt Ausschau nach ihrer Kaffeetasse und entdeckte sie neben dem Waschbecken. «Wissen wir schon etwas darüber, wer die Frau ist?»

«Nein. Darum müssen wir uns heute gleich kümmern, auch um das Umfeld von Gerald Pallauf. Ich möchte wieder Stefan ins Team holen, wenn du einverstanden bist.»

Das war sie, und wie. Stefan Gerlach – rothaarig, schlaksig, fast zehn Jahre jünger als sie und von ansteckendem Enthusiasmus – hatte sich bei ihrem letzten großen Fall als unschätzbar hilfreich erwiesen.

«Ich freue mich immer, ihn dabeizuhaben», sagte sie daher und untersuchte ihre Tasse auf Flecken. Sie fand keine und setzte die Espressomaschine in Gang. «Wenn wir es wirklich mit Mord und Selbstmord zu tun haben, sollte die Arbeit allerdings überschaubar sein. Dann wird Hoffmann ihn bald wieder abziehen.»

Florin pinnte das nächste Foto an die Wand. Die Pistole im trockenen Laub. «Ja. Wenn. Aber sieh dir mal diese Waffe an.»

Während die Espressomaschine gurgelnd Milchschaum spuckte, trat Beatrice näher an die Pinnwand heran. «Weia, ich bin keine Expertin. Ist das eine Glock?»

«Ganz genau. Eine Glock 21, Kaliber 45.»

 

Sie betrachtete Florin von der Seite. Er roch heute ein wenig anders als sonst. Ein neues Eau de Toilette? Sie verkniff es sich, noch näher an ihn heranzurücken. «Verstehe. Und mit einer Glock 21 kann man nicht Selbstmord begehen, oder wie?»

«Doch. Aber sie hat dreizehn Schuss. Und zwölf waren noch im Magazin.»

Beatrice dämmerte, worauf Florin hinauswollte. «Er hätte die Frau erschießen können, und danach sich. Aber er hat sie erwürgt. Unter freiem Himmel, auch sehr ungewöhnlich.»

Sie ging die Bilder durch, die noch auf dem Schreibtisch lagen. Das verfärbte Gesicht der Frau, die Wäscheleine, die halb unter und halb neben ihr lag. «Es könnte natürlich sein, dass er sie bestrafen wollte, durch einen langsameren Tod voller Angst.»

Da war ein Foto, das die rechte Hand der Frau zeigte. Daumen und Zeigefinger lagen aneinander, als würden sie immer noch den Papierschnipsel halten. «Hat jemand den Rest des Zettels gefunden?»

«Nein. Drasche hat lange gesucht, und heute Morgen hat er drei Leute aus seinem Team noch mal hingeschickt, aber bisher …»

Wenn es kein Selbstmord war, dann die zufällige Tat eines Psychopathen, dem die beiden über den Weg gelaufen waren? Oder Mord aus Eifersucht?

Beatrice holte sich ihren Kaffee, setzte sich auf ihren Drehstuhl und blätterte durch, was an offiziellen Daten zu Pallauf verfügbar war. Es war nicht viel, und es war nichtssagend. Also holte sie ihren Computer aus dem Stand-by-Modus und gab Gerald Pallauf bei Google ein.

Die schiere Anzahl der Treffer war erstaunlich. Es gab zwei Männer dieses Namens, aber der aus Salzburg war im Netz deutlich aktiver gewesen als der andere. Mitgliedschaften in einem Film-, einem Computerspiel- und einem Science-Fiction-Forum, bei Facebook und bei Twitter, und zu guter Letzt ein eigener Blog – das war allein die Ausbeute der ersten zwei Seiten, die Google anzeigte.

Zufrieden lehnte sie sich zurück. Pallauf würde ihnen vieles über sich selbst erzählen, er hatte wortreiche Spuren hinterlassen, auf die sie jederzeit zugreifen konnten. In letzter Zeit hatte Beatrice diese Hinterlassenschaften im Netz immer mehr schätzen gelernt. Sie rundeten das Bild ab, das Akten und Zeugen von Opfern, aber auch Verdächtigen zeichneten.

In Pallaufs Fall würde einer dieser Zeugen ein gewisser Martin Sachs sein. Sachs hatte sich mit Pallauf eine Wohnung in der Schumacherstraße geteilt. Florin stand bereits an der Tür und klimperte mit den Autoschlüsseln. Wenn der Verkehr nicht zu stark war, konnten sie in fünfzehn Minuten dort sein.

 

Es war ein großer Bau gegenüber der Salzburger Stadtbibliothek. Sie fuhren mit dem Aufzug in den fünften Stock, wo bereits ein schmaler, blasser Mann in Jogginghose die Tür geöffnet hatte und auf sie wartete.

«Ich bin Martin Sachs.» Er reichte Beatrice eine weiche, feuchte Hand. «Kommen Sie herein, ich habe versucht, ein wenig aufzuräumen, aber …» Er zuckte die Schultern.

Entweder war sein Versuch nur kurzlebig gewesen, dachte Beatrice, oder das Chaos davor musste unbeschreibliche Ausmaße gehabt haben. Im Flur stapelten sich Altpapier und leere Pizzakartons, im Wohnzimmer lag gebrauchte Wäsche, verteilt auf mehrere Häufchen. Ein riesiges Bücherregal nahm die ganze Längswand ein und war so vollgestopft, dass es wirkte, als müssten die Bücher es jeden Moment sprengen. Zwei Computertische, ein Sofa, ein Couchtisch, alles bis auf den letzten Zentimeter zugemüllt.

Sichtlich verlegen raffte Sachs einen Haufen Zeitschriften, eine löchrige Wolldecke und ein Kissen zusammen und machte damit das Sofa zur Hälfte frei.

«Möchten Sie gerne etwas trinken?»

«Nein danke.» Beatrices Antwort kam ein wenig zu prompt, um höflich zu sein. Sie versuchte, das durch ein herzliches Lächeln wettzumachen. Ob Sachs lüften würde, wenn sie ihn darum bat?

Besser, sie verkniff sich die Frage, denn ihr Gegenüber rang ohnehin um Fassung. Er hatte die Finger ineinander verschränkt und sah abwechselnd Beatrice und Florin an. Trat von einem Bein aufs andere.

«Vielleicht könnten Sie sich ebenfalls setzen», schlug Florin vor. «Unsere Unterhaltung wird etwas länger dauern.»

«Oh. Ja.» Sachs blickte sich um, als sei ihm die Wohnung nicht vertraut, bevor er den Bürostuhl packte, der vor einem der Computertische stand, und ihn in Richtung Couch rollte.

«Sie leben hier gemeinsam mit Gerald Pallauf?», begann Beatrice. «Wie lange schon?»

«Das sind, also, das sind …» Die Finger des Mannes wanden sich immer heftiger, als versuchten sie verzweifelt, sich voneinander zu lösen. «Zweieinhalb Jahre. Ungefähr. Wir haben uns an der Uni kennengelernt. Gerry hat Germanistik studiert und ich Romanistik. Wir hatten viele gemeinsame Hobbys, und deshalb – zu zweit kann man sich eine Wohnung eben besser leisten. Ein Zimmer zur Untermiete ist auch teuer, und man lebt viel beengter.»

Beatrice nickte und sah sich um. Bei dieser Auffassung von Ordnung hätte wohl niemand einen der jungen Männer lange als Untermieter behalten.

«Wie alt sind Sie, Herr Sachs?» Florin hatte sein Clipboard gezückt und den Kugelschreiber aufs Papier gesetzt.

«Sechsundzwanzig. Seit April. Können Sie mir sagen, wie Gerry …»

«Gleich. Aber erst möchte ich Sie bitten, meine Fragen zu beantworten. Nicht erschrecken, Sie sind nicht verdächtig, aber: Wo waren Sie vorgestern Nacht zwischen einundzwanzig und fünf Uhr?»

Sachs’ Blick ging ins Leere. «Ist das die Zeit, also, ist Gerry da –»

«Ja. Unser Gerichtsmediziner sagt, dass Gerald Pallauf innerhalb dieser Zeitspanne getötet worden ist.»

Endlich löste Sachs seine Hände voneinander, aber nur, um sein Gesicht in ihnen zu verbergen. «Zu Hause. Und es gibt niemanden, der das bezeugen kann. Das wollten Sie mich doch fragen, oder? Um ungefähr halb elf habe ich mir eine Pizza geholt, gleich vorne an der Ecke. Sie können sich bei Ahmed erkundigen, der hat mich bedient.»

Das würden sie tun, auch wenn es Sachs kein Alibi verschaffte. Beatrices Blick blieb an einer leeren Keksschachtel hängen, die zusammengeknüllt unter dem Couchtisch lag, umgeben von Krümeln. Sie tat, als müsste sie husten, um hinter der vorgehaltenen Hand ein Grinsen zu verbergen. Wenn Sachs der Täter war, würden sie ihn innerhalb von zwei Tagen überführt haben. Jemand, der solches Chaos verbreitete, war unmöglich imstande, die Spuren seiner Tat mit der nötigen Gründlichkeit zu verwischen.

«Können wir das Zimmer von Herrn Pallauf sehen?», fragte sie. «Und Ihres?»

«Ja. Sicher.» Sachs führte sie mit schnellen Schritten in sein Zimmer, als wolle er es so bald wie möglich hinter sich haben. «Bitte.»

Der gleiche Anblick wie im Wohnzimmer, mit nur leichten Abweichungen. Auf dem schmalen, zerwühlten Bett machten sich Zeitschriften den Platz mit leeren CD-Hüllen und einer Fernbedienung streitig. Der Boden war praktisch vollständig bedeckt. Überall T-Shirts, Werbezettel, Bücher.

In Gerald Pallaufs Zimmer zogen bunte Plakate an den Wänden den Blick auf sich, hauptsächlich Filmposter. The Avengers, James Bond, Batman. Der Raum erweckte einen geringfügig saubereren Eindruck als der von Sachs, fast als hätte Pallauf verzweifelt versucht, die Auswirkungen jahrelangen Nicht-Putzens in einer halben Stunde ungeschehen zu machen. In einer Ecke entdeckte sie einen Stuhl, über dessen Lehne einige Jeans in Übergröße hingen. Die Bettdecke war zusammengefaltet, das Kopfkissen aufgeschüttelt. «Haben Sie seit vorgestern etwas verändert?», fragte sie Sachs.

Der schüttelte den Kopf. «Nein, es ist alles so, wie Gerry es zurückgelassen hat.»

«Können Sie uns sagen, ob er eine Waffe besessen hat?»

Sachs’ Augen weiteten sich. «Gerry? Nie im Leben. Na gut, er hat ein Laserschwert und eine Zwergenaxt, aber die ist nicht scharf.»

Das Unverständnis in ihrer und Florins Miene musste überdeutlich gewesen sein. «Gimlis Axt», ergänzte Sachs in einem Ton, als erkläre das alles. «Aus dem ‹Herrn der Ringe›. Wir sind beide große Fans.»

«Und Schusswaffen? Hat Herr Pallauf eine Pistole besessen? Oder eine für jemanden aufbewahrt?»

«Ganz bestimmt nicht. Das wüsste ich.»

Sie gingen zurück ins Wohnzimmer. Florin klebte zwei gekreuzte Streifen Absperrband über die Tür zu Pallaufs Zimmer. «Bitte nicht mehr betreten, bis unsere Leute da waren. Wenn Sie es doch tun, werden wir es merken.»

«Okay.» Sachs begann, an der Nagelhaut seines linken Daumens herumzubeißen.

Die Sonne leuchtete hinter den trüben Fensterscheiben. Beatrices Wunsch nach frischer Luft wuchs ins Unermessliche.

«Hatte Herr Pallauf eine Freundin?» erkundigte sich Florin, während er einen halben Kartoffelchip vom Sofa klaubte. «Oder auch einen Freund? Eine intime Beziehung?»

Erstmals verzog sich Martin Sachs’ Mund zu einer Art von Lächeln. «Ich dachte schon, Sie würden nie fragen!» Der kurze Anflug von Fröhlichkeit verebbte sofort wieder. «Bis vor fünf Tagen hätte ich nein gesagt, aber letztens – hat sich eine Frau für ihn interessiert. Mehr als das, um genau zu sein. Sie stand plötzlich vor der Tür und wollte zu Gerry. Er hat sie reingelassen, und sie ist geblieben, mehrere Tage lang, eigentlich bis …» Sachs hob die Hand und ließ sie wieder fallen. Es war klar, was er meinte.

«Und das konnten Sie uns nicht gleich sagen?» Florins Stimme war nur noch oberflächlich freundlich. «Sie haben doch sicher in der Zeitung gelesen, dass er gemeinsam mit einer weiblichen Leiche gefunden wurde.»

«Sie haben mich nicht danach gefragt.»

Florin und Beatrice wechselten einen Blick. «Da haben Sie völlig recht», sprang sie ein. «Und keine Sorge, wir wären noch darauf gekommen. Wissen Sie, wie die Frau hieß? Das ist jetzt sehr wichtig für uns.»

«Sarah – so hat sie sich mir jedenfalls vorgestellt. Aber wir haben kaum miteinander gesprochen. Die meiste Zeit waren die beiden in der Stadt unterwegs, ziemlich untypisch für Gerry. Wenn sie hier waren, saß Sarah die ganze Zeit über in seinem Zimmer. Er hat nachts auf der Couch geschlafen und ihr das Bett überlassen, also waren sie vermutlich noch nicht … Sie wissen schon.»

Ja, tue ich, dachte Beatrice. Das traurige Bild der beiden Toten trieb durch ihre Erinnerung. Kein Paar. Wie sie vermutet hatte.

«Sarah – und weiter?»

«Weiß ich nicht. Hat sie nicht gesagt.» Er runzelte die Stirn. «Aber ich glaube, sie war nicht von hier. Die Art, wie sie gesprochen hat, verstehen Sie? Nicht wie die Leute in Salzburg. Sondern wie jemand aus Deutschland. Und auch nicht aus Bayern, sondern von weiter nördlich.»

Das hatte gar nichts zu bedeuten. Immer mehr Deutsche kamen nach Österreich, um hier zu arbeiten, und ganz besonders in die grenznahe Stadt Salzburg.

Beatrice sah, wie Florin Sarah aus Deutschland – ??? zu seinen Notizen hinzufügte.

«Versuchen Sie bitte, sich zu erinnern», sagte sie. «Hat Gerald früher schon von ihr gesprochen? Jedes Detail, das er erzählt hat, kann wichtig sein.»

«Nein.» Sachs’ Antwort kam mit aller Bestimmtheit. «Er hat sie nie erwähnt. Ich bin ziemlich sicher, er hat sie gar nicht gekannt, bis zu dem Moment, als sie an unserer Tür geläutet hat. Und selbst da hat er mehrmals nachgefragt, ob das nicht ein Irrtum wäre.»

Beatrice versuchte, das Szenario vor ihrem inneren Auge ablaufen zu lassen. Ein blondes, lächelndes Mädchen und der schüchterne, zutiefst überraschte Pallauf. «Hätte er sie denn hier übernachten lassen, wenn sie eine völlig Fremde war?»

Sachs lächelte, müde diesmal. «Das Mädchen war wirklich sehr hübsch. Solche wie die sehen Typen wie uns normalerweise nicht einmal an, und wenn doch, nur um zu warten, bis wir rot werden, damit sie sich dann kaputtlachen können.» Er zog an seinem linken Daumen, als wollte er ihn ausreißen. Als er Beatrice wieder ansah, lag etwas Herausforderndes in seinem Blick. «Sie müssen das doch selbst am besten wissen. Frauen wie Sie bemerken keine unscheinbaren Männer. Sie laufen vorbei, blond und langbeinig, und …» In offensichtlicher Ermangelung von Worten hob Sachs die Hände.

Beatrice schüttelte den Kopf. «Ich fürchte, ich bin kein gutes Beispiel für Ihre Theorie. Lassen wir mich da besser raus.»

«Okay. Sie sind ja auch schon älter … also nicht alt, natürlich, aber – Sie wissen ja.» Wie zur Demonstration dessen, was er vorhin gesagt hatte, färbte sich sein Gesicht fleckig rot.

«Danke», erwiderte Beatrice trocken. «Für wie alt hätten Sie Sarah denn geschätzt?»

«Hm. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig? So ungefähr. Und Gerry war völlig hin und weg von ihr.»

Sie beließen es fürs Erste dabei. Fragten Martin Sachs noch nach Pallaufs Familie – keine Geschwister, die Mutter tot, der Vater nach Skandinavien ausgewandert. «Wir melden uns wieder. Bleiben Sie bitte in der Stadt.»

Als sie die Tür von außen hinter sich schlossen, atmete Beatrice tief durch. «Wird ein wenig dauern, bis ich mir darauf einen Reim machen kann. Und Sauerstoff wäre jetzt eine gute Sache.»

Auf dem Weg zurück zum Auto sprachen sie nicht viel. Der Tag würde warm werden. Die Flasche Wasser, die Beatrice im Auto liegen hatte, war es bereits.

«Sie haben sich nicht gekannt», sinnierte Florin und setzte sich hinters Steuer. «Eine fremde Frau steht plötzlich vor der Tür. Pallauf lässt sie rein, beherbergt sie für ein paar Tage, und nun sind beide tot.»

«Ist das normal bei jungen, schüchternen Männern?» Es sollte sachlich klingen, nicht neckisch. Misslungen. Beatrice biss sich auf die Lippen.

«Was meinst du?», hakte Florin nach.

«Dass sie hübsche Frauen bei sich aufnehmen, ohne lange nachzufragen, wer sie sind und was sie wollen.»

Florins Augenbrauen wanderten nach oben. «Du denkst, ich kann dir diese Frage beantworten?»

«Na ja.» Sie zuckte die Schultern. «Hättest du es getan? Mit Mitte zwanzig?»

«Vielleicht. Wahrscheinlich eher nicht. Ich war damals in einer festen Beziehung, die ich sehr ernst genommen habe. Darin liegt vermutlich auch der Unterschied zwischen mir und Gerald Pallauf. Keine Freundin, keine Eltern – ich könnte mir vorstellen, dass er einsam war.»

Ich war in einer festen Beziehung, die ich sehr ernst genommen habe.

Beatrice ließ die Worte in ihrem Kopf nachklingen. Fragte sich, wie Florin wohl mit fünfundzwanzig gewesen war, und blickte dann schnell nach vorne, als sie bemerkte, wie lange sie ihn schon ansah.

Er startete den Wagen. «Einsamkeit macht uns hungrig, Bea. Nach Bestätigung, nach Zuneigung, nenn es, wie du willst. Wenn ich es mir genau überlege – wer weiß, vielleicht hat Pallauf das Mädchen doch getötet. Als er gemerkt hat, dass sie das alles wusste und seine Einsamkeit für ihre Zwecke ausgenutzt hat.»

 

Die ersten Ergebnisse, die aus der Spurensicherung kamen, sprachen für Florins Annahme. Auf der Glock hatte man Pallaufs Fingerabdrücke gefunden – nur seine. Darüber hinaus Schmauchspuren an der Hand. Aber nichts, was darauf hinwies, dass er die Waffe zum Tatort gebracht hatte – keine Faserspuren, die mit dem Stoff seiner Jacke übereinstimmten, nichts. Als hätte er die Pistole noch mal in aller Gründlichkeit saubergemacht, bevor er sich damit getötet hatte.

Konnte es trotzdem Selbstmord sein? Die Fußspuren rund um den Tatort waren laut Drasches Bericht kaum brauchbar – die beiden Studenten hatten keinerlei Rücksicht auf die Spurenlage genommen, ebenso wenig wie die anderen Spaziergänger, die den ganzen Tag über den nahen Spazierweg durch den Wald entlanggewandert waren, ohne die Leichen zu bemerken.

Auch darüber, ob Pallauf die Schuld am Tod des Mädchens trug, ließ sich nichts Genaues sagen. An der Wäscheleine waren seine Fingerabdrücke nicht gefunden worden. Gar keine Abdrücke, um genau zu sein, die einzigen organischen Spuren stammten von der Haut des Opfers.

Sarah. Wenn sie wirklich so hieß.

Nach ihrer Rückkehr ins Büro hatte Beatrice sich sofort mit dem deutschen Bundeskriminalamt in Verbindung gesetzt, ein Foto des toten Mädchens geschickt und um Hilfe bei der Identifikation gebeten.

Nun hieß es warten.

Sie ging gerade noch einmal die Daten durch, die vorhin von Drasche gekommen waren, als Stefan in ihr Büro platzte. «Morgen bekommen wir den Computer des Opfers. Ich übernehme ihn, okay? Dann kann ich euch am Abend vielleicht schon jede Menge über den armen Kerl erzählen.»

«Gut.» Florin klopfte nachdenklich mit dem Bleistift auf die Schreibtischplatte. «Halte besonders Ausschau nach Seiten, die sich mit Selbstmord beschäftigen – es gibt eigene Plattformen dafür, nicht wahr? Wo man sich zum gemeinsamen Lebensende verabreden kann.»

«Wird gemacht.» Stefan war schon wieder aus der Tür, und Beatrice fragte sich unwillkürlich, ob sie in ihrem Leben wohl noch ein einziges Mal so viel Energie haben würde.

Über den Nachmittag tröpfelten die Informationen herein. Sarah war nicht vergewaltigt worden und hatte in den letzten achtundvierzig Stunden vor ihrem Tod auch keinen Geschlechtsverkehr gehabt. Ihr Körper wies aber, ebenso wie der von Pallauf, leichte Blutergüsse auf. «Nicht schlimm genug, um als Misshandlungsspuren gedeutet zu werden», erklärte Vogt am Telefon. «Eher, als wären die beiden heftig herumgeschubst worden.»

So wie er es sagte, klang es, als ginge er von einem dritten Beteiligten aus. Einem, der, wie Vogt es nannte, geschubst hatte.

Kurz bevor sie sich am Abend zum Gehen bereitmachte, kam eine weitere Nachricht herein. Die Glock war vor drei Jahren als gestohlen gemeldet worden.

«Glaubst du, dass ein übergewichtiger Tolkien-Fan Pistolen stiehlt? Oder gestohlene Pistolen kauft?», fragte Beatrice.

In Florins Gesicht hatten sich bereits Spuren der Müdigkeit gegraben, doch nun lachte er auf und wirkte mit einem Schlag wieder vollkommen frisch. «Bea! Wie oft predigst du mir, dass man nicht nach dem ersten Eindruck gehen darf! Und dann fragst du so was?»

Sie grinste, halb amüsiert, halb verlegen. «Natürlich nicht. Aber sein Zimmer! Harmloser geht es doch kaum – James Bond und Superhelden an der Wand! Pallauf kommt mir vor wie ein zu schnell gewachsenes Kind. Naiv, vertrauensselig und wahrscheinlich dankbar für jedes freundliche Wort.»

Und das hat ihn womöglich umgebracht. Sie sprach es nicht aus, dachte es nur. Florin hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Dass er sie beobachtete, ihr Verhalten auslotete, fiel ihr in letzter Zeit immer häufiger auf. Seit dem Fall im letzten Frühjahr schien er … besorgter um sie zu sein. Als befürchtete er, sie könnte noch einmal in eine so lebensbedrohliche Situation geraten.

«Ich muss gehen.» Sie schulterte ihre Tasche und war schon fast aus der Tür, als ihr Handy das Eintreffen einer SMS verkündete.

Moon River, wider than a mile

I’m crossing you in style some day …

Beatrice fühlte ihr Gesicht heiß werden. Hektisch wühlte sie in ihrer Tasche, fand das Telefon und würgte den Ton mit einem Tastendruck ab.

Sie verstand selbst nicht, warum es ihr jedes Mal so peinlich war, wenn Florin mitbekam, dass sie den Klingelton, den er ihr einprogrammiert hatte, nach Monaten noch immer nicht geändert hatte. Warum konnte sie nicht einfach mit einem Scherz über ihre Verlegenheit hinweggehen?

«Schade», hörte sie Florin hinter sich murmeln. «Ich mag das Ende so gern.»

Die Nachricht war von Katrin, der Nachbarstochter, die heute auf die Kinder aufpasste.

Dauert es noch lange?

Beatrice tippte, dass sie schon auf dem Weg sei. «Ich mag das Ende auch», sagte sie halblaut, bevor sie die Bürotür hinter sich schloss.

 

Spaghetti carbonara rückten Jakobs Welt sichtlich zurecht. Während Mina jedes einzelne Stück Speck mit der Gabel an den Tellerrand verbannte, stürzte er sich mit solcher Begeisterung auf sein Abendessen, dass Beatrice sich wieder einmal schwor, öfter ordentlich zu kochen. Auch wenn ihr eigener Appetit, so wie heute, eher dürftig war.

Sie stützte ihren Kopf auf die Hände und betrachtete ihre Kinder mit einer Mischung aus Stolz und Angst.

Wie war wohl Gerald Pallauf in diesem Alter gewesen? Was hatte ihn zum Einzelgänger gemacht? Was ließ jemanden, der gerade erst achtundzwanzig und rechtlich unbescholten war, mit einem Kopfschuss im Wald enden?

«Ich brauch noch Saft, Mama!» Jakob schwenkte sein Glas, den Mund mit weißer Sauce verschmiert.

«Hol ihn dir gefälligst selbst», folgte prompt Minas ungnädiger Kommentar. «Siehst du nicht, dass Mama müde ist?»

Die gerunzelte Stirn und der herrische Tonfall ihrer Tochter brachten Beatrice zum Lachen. «Vielen Dank, sehr fürsorglich. Aber bis zum Kühlschrank schaffe ich es noch.»

Sie goss den letzten Rest Apfelsaft in Jakobs Glas und füllte es – trotz heftigen Protests – mit Wasser auf.

«So schmeckt das ja nach gar nichts!» Er zog die Mundwinkel nach unten. «Nie können die Sachen so sein, wie ich sie will!»

Gewöhn dich am besten dran, lag es Beatrice auf der Zunge, doch sie bremste sich. Meine Güte, sie würde noch eine verbitterte alte Kuh werden, bevor sie vierzig war.

 

Stefan saß vor Pallaufs Notebook, umgeben von Papierstößen, leeren Wasserflaschen und malerisch verteilten Chipspackungen. Zwischen seinen Lippen steckte ein Zahnstocher, den er im Takt der Melodie, die er summte, auf- und abwippen ließ. Beatrice glaubte «Love is in the Air» zu erkennen.

Sie schob einen Teil des kreativen Chaos zur Seite und zog sich einen Stuhl heran. «Schon etwas gefunden?»

An der gegenüberliegenden Schreibtischseite hob Bechner, mit dem sich Stefan widerwillig das Büro teilte, den Kopf und seufzte. «Großartig. Wenn das jetzt ein Kaffeekränzchen wird, bin ich weg. Bei Gerlachs Geräuschkulisse kann ohnehin kein Mensch arbeiten.»

Er griff nach einer Aktenmappe und einem grünen Leuchtmarker und verließ grußlos das Büro.

«Wahnsinn, wie der mich nervt», stellte Stefan fest, ohne dass das Lächeln sein Gesicht verließ. «Schlechte Laune, hoch dosiert, jeden Tag. Aber egal.» Er drehte das Notebook so, dass Beatrice eine bessere Sicht auf den Bildschirm hatte.

«Ich gehe gerade Pallaufs E-Mails durch. Sind witzig, zum Teil. Schade, dass er tot ist, ich hätte ihn gut leiden können.»

Die Nachricht, die im Moment geöffnet war, kam von einem gewissen Nils Ulrich, der Pallauf ein Computerspiel namens Torchlight 2 ans Herz legte. Die Mailadresse endete auf .de – vermutlich also ein Deutscher.

«Freu dich nicht zu früh», meinte Stefan, als Beatrice ihn nach einer möglichen Verbindung zu Sarah fragte. «Er hatte massenhaft Kontakte nach Deutschland, in praktisch alle Bundesländer. Ist ja auch ganz normal, geht mir genauso.» Er klickte das Mailprogramm weg, und eine Liste mit dem Titel «Aktivitäten G. Pallauf» erschien.

«Bisher habe ich neun Foren gefunden, in denen er sich herumgetrieben hat. Die Mitgliedschaften bei Facebook, StudiVZ und Twitter gar nicht mitgerechnet.»

«Gute Arbeit.»

Stefan fuhr sich durchs Haar und warf Beatrice einen schelmischen Blick unter halb geöffneten Lidern zu.

«Danke. Aber es war kein großes Kunststück, so gern ich das auch behaupten würde. Die Seiten hat Pallauf alle als Lesezeichen gebookmarkt, und offenbar hat er sich gewohnheitsmäßig immer dauerhaft angemeldet. Ich musste noch kein einziges Passwort knacken, es war fast peinlich simpel bisher. Hättest sogar du geschafft.»

Beatrice rempelte ihn freundschaftlich an. «Na schön, du Genie. Dann hast du ja sicherlich auch Hinweise auf Sarah gefunden. Oder darauf, woher Pallauf die Waffe hatte. eBay, eventuell?»

Wider Erwarten wurde Stefan ernst. «Nein, zu einer Sarah habe ich bisher keine Verbindung entdeckt. Ich gehe zuerst die Mails durch, das sind die persönlichen Kontakte, dann knöpfe ich mir alle Facebook-Freunde vor, das kann nur leider bis nächste Woche dauern, er hat nämlich 2677 davon. Darunter sind einige Sarahs, auf den ersten Blick aber keine, die wie das weibliche Opfer aussieht.»

Er öffnete den Browser und holte Pallaufs Facebook-Profil in den Vordergrund. «Was eine Waffe angeht, würde ich übrigens vermuten, dass er keine hatte. Schau mal.» Er lenkte den Mauszeiger zielsicher zur Mitte der Seite und hielt dann inne. «Du kennst doch Facebook, oder?»

«Geht so. Ich hatte vor drei Jahren einmal einen Account, aber ich habe ihn bald wieder gelöscht.» Ursprünglich hatte sie die Idee gehabt, Kontakt zu Studienkollegen aus ihrer Zeit in Wien aufzunehmen, doch als der Erste sich meldete, war Beatrice der kalte Schweiß ausgebrochen. Er hatte Evelyn gekannt, er war auf der Party gewesen, die Beatrices beste Freundin letztlich das Leben gekostet hatte, und er würde sicher irgendwann darauf zu sprechen kommen. Was hatte sie sich dabei nur gedacht? Von da an hatte sie Facebook gemieden und ein paar Monate später ihr kaum benutztes Profil entfernt.

«Okay. Aber du weißt, dass man zu fast allem, was es hier zu sehen und zu lesen gibt, ‹Gefällt mir› sagen kann. Ja?»

«Ja.»

«Zu den Kommentaren anderer Leute, aber auch zu Seiten, die ein Thema behandeln. Mir gefallen zum Beispiel die Simpsons, Dexter und Elvis Presley.»

Sieh mal einer an. Für so nostalgisch hatte sie Stefan gar nicht gehalten. «Elvis? Ehrlich?»

«Ja, ich habe als Kind seine Filme geliebt, aber das tut jetzt hier nichts zur Sache, denn schau dir bloß mal an, was Gerald Pallauf alles so mochte.»

Er klickte auf die gesammelten «Gefällt mir»-Angaben und scrollte bis zur Rubrik «Aktivitäten und Interessen».

«Siehst du?»

Es war eine Liste sehr unterschiedlicher Dinge, für die sich Pallauf hatte begeistern können. Ein Fußballclub war aufgelistet, eine Lyrikseite, die Herr der Ringe-Trilogie, eine Biermarke. Worauf Stefan aber hinauswollte, war die Initiative «Nein zu privatem Waffenbesitz», die Pallauf ebenfalls mit «Gefällt mir» markiert hatte.

Das war nicht vom Tisch zu wischen. Es konnte natürlich auch Tarnung sein, aber wozu die Mühe? Umso mehr, als es Drasches Ergebnisse unterstützte: Er hatte keinen einzigen Hinweis darauf gefunden, dass die Tatwaffe Pallauf gehörte.

Stefan klickte die Seite auf. Die Beiträge waren eine Mischung aus persönlicher Betroffenheit – Mein Onkel ist Alkoholiker und hat ein Jagdgewehr im Schrank, was soll ich tun? – und verlinkten Berichten über Amokläufe, Eifersuchtsmorde und … ja, auch Suizide.

«Die Glock, mit der Pallauf sich allem Anschein nach erschossen hat, ist gestohlen gemeldet», sagte Beatrice. «Meinem Gefühl nach … ach, ich weiß nicht.»

«Sag schon.» Stefan drehte sich zu ihr herum. «Du glaubst auch nicht, dass es Selbstmord war, oder?»

Sie schüttelte den Kopf. Nein. Immer weniger.

Der Papierschnipsel beschäftigte sie immer noch. Sie hätte viel darum gegeben, den Rest des Blattes zu sehen.

Das Drasche in dreihundert Metern Umkreis nicht gefunden hatte.

 

Das Salzburger Wetter lieferte eine Probe seines ganzen Könnens ab – ein Tag lang sanfter, aber hartnäckiger Regen, und der Boden war Schlamm. Ein weiterer Besuch am Campingplatz brachte nichts als dreckige Schuhe.

Bechner war am Tag zuvor noch einmal hier gewesen, um eine weitere Befragung durchzuführen, aber keiner der Camper hatte Pallauf und Sarah in den Wald spazieren sehen, keiner hatte einen Schuss gehört. Und einen Zettel, von dem eine Ecke abgerissen war, hatte erst recht niemand gesehen. Es waren hauptsächlich Studenten und ältere Leute, die Mitte September hier noch ein paar Tage Spätsommer genießen wollten. Keiner von ihnen war verdächtig, also ließen sie sie nach Hause fahren.

Obwohl Drasche in seiner berüchtigten Gründlichkeit sicher jedes einzelne Blatt im Wald umgedreht hatte, nahm Beatrice noch einmal die halbe Stunde Fußweg zum Fundort der beiden Leichen auf sich.

Das Absperrband war noch da, sonst nichts mehr. Sie drehte sich mehrmals um sich selbst, ließ den Wald auf sich wirken. Er war nicht so dicht, dass man Zweige zur Seite schieben musste, wenn man abseits der Wege spazieren wollte. Aber er war zu eng bewachsen und die Fundstelle zu weit vom Waldrand entfernt, als dass ein Blatt Papier einfach hinausgeweht werden konnte. Wenn sie es nicht übersehen hatten, musste es von jemandem mitgenommen worden sein.

Mord, dachte Beatrice. Ich bin mir sicher, es war Mord.

 

Noch am Abend des gleichen Tages erhielt ihre Theorie unverhoffte Unterstützung von Dr. Vogt.

«Der männliche Tote», dozierte er durchs Telefon, «war bei schwacher allgemeiner Konstitution. Völlig untrainiert. Falls es zwischen den beiden zu einem Kampf gekommen wäre, hätte die Frau ihn gewonnen. Die Leichen weisen leichte Hämatome auf, die auf eine … wie soll ich es nennen? Auf eine Rangelei hindeuten könnten.»

«An der aber auch jemand anders hätte beteiligt sein können?»

«Absolut. Ich habe da noch etwas, das Sie sicher wissen möchten. Beide müssen nicht lang vor ihrem Tod gefesselt gewesen sein, allerdings haben die Fesseln nicht ins Fleisch geschnitten. Die Spuren sind so gering, dass sie kaum nachweisbar sind. Ich tippe auf Tücher, und zwar weiche, aus Viskose oder Seide. Werden auch bei dominantem Sex gern verwendet, das hinterlässt die gleichen Spuren.»

Beatrice schätzte die Ungerührtheit, mit der Vogt seine Erkenntnisse präsentierte. Irritierend fand sie nur, dass er meistens dabei aß. Auch jetzt hörte sie ihn kauen.

«Ach ja. Knebel. Ich habe im Mund der Frau Faserspuren gefunden, vermutlich Leinen. Bei der männlichen Leiche habe ich nichts finden können, aber da wurde durch den Schuss die Mundhöhle zerstört.»

Gefesselt. Damit war es klar. «Also kein Selbstmord. Ich wusste –»

«Langsam», fiel ihr Vogt ins Wort. «Natürlich ist es Ihr Job, die Schlüsse zu ziehen, aber wie ich schon erwähnte – dominanter Sex, der schiefgeht, sieht ähnlich aus. Wer sagt Ihnen, dass die beiden nicht in den Wald gegangen sind, um ein bisschen zu spielen? Ich weiß, die Frau hatte keinen Verkehr in den letzten Tagen, aber das wäre vielleicht etwas später noch passiert. Erst fesselt sie ihn, dann fesselt er sie. Würgt sie auch – leider ein wenig zu fest, schon hat er eine tote Gespielin. Als ihm das klarwird, erschießt er sich. Nur so als Gedankenanstoß.»

Beatrice schüttelte den Kopf, obwohl Vogt das nicht sehen konnte. «Und deshalb nimmt er eine voll geladene Pistole mit? Zum Spielen? Nein, Doktor, das funktioniert nicht, fürchte ich. Aber danke für all die Information. Sie haben mir sehr weitergeholfen.»

Kaugeräusche, Schluckgeräusche. «Immer wieder gerne.»

 

Hoffmanns Rückkehr aus Wien verdunkelte den nächsten Tag. Sie verbrachten den ganzen Vormittag damit, ihn über den Stand der Dinge in Kenntnis zu setzen, obwohl Florin ihn durchgängig per Telefon auf dem Laufenden gehalten hatte.

Hoffmann schritt vor der Wand auf und ab, an die die Fotos der beiden Toten, des Fundorts und der Waffe gepinnt waren. Er stellte Florin, Stefan, Vogt und Drasche seine Fragen, vermied es aber peinlich, auch nur ein einziges Wort an Beatrice zu richten.