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Auge um Auge – Kugel um Kugel! In nur vierundzwanzig Stunden verwandelt sich Victors Urlaub in eine Todesfalle. London: MI5, die russische Mafia und der brutale Gangsterboss King John – sie alle jagen nur ein Ziel: Victor! Denn der gefährlichste Mafiaboss Londons wurde in seiner eigenen Suite ermordet und nicht viele sind zu so etwas fähig. Doch Victor, der beste Auftragskiller der Welt, denkt nicht daran zu fliehen. Denn es gibt eine Schuld zu begleichen. Mit Blut. Viel Blut!
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Seitenzahl: 493
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Titel
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Eine Woche später
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Zwei Wochen später
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Danksagung
Über den Autor
Auch von Tom Wood
Impressum
Blood Debt – Blutschuld
Tom Wood
Aus dem Englischen von Franca Tödter
Für Andrei & Ema
Victor versuchte, keinen übermäßigen Schaden anzurichten. Zum einen, weil er es noch nie leiden konnte, Unordnung zu schaffen. Zum anderen, weil es unhöflich genug war, jemanden zu töten, auch ohne seinen Körper in einem geschmacklosen Zustand zurückzulassen.
Manchmal konnte das nicht vermieden werden.
Fahim Akram lag wie eine Insel in einem See aus Blut. Etwa achtzig Prozent seines Blutvolumens hatten seinen Körper durch die klaffende Wunde an seinem Hals verlassen. Sowohl seine Halsschlagadern, seine Drosselvenen als auch mehrere kleinere Blutgefäße waren durchtrennt. Zunächst war es ein kräftiger Strahl gewesen, der die Sandsteinwände der Kammer rot gefärbt hatte. Dann, als der Blutdruck nachließ und Akram auf seine Knie fiel, verteilte sich das Blut in einem fast perfekten Kreis um ihn herum, färbte den staubigen Boden und breitete sich durch Kapillarwirkung immer weiter aus, bis auch die letzten Neuronen in seinem Gehirn aufhörten zu feuern. Als die Leiche schließlich in den See kippte, wurde der perfekte Kreis durchbrochen und das Blut, das Victor so behutsam gemieden hatte, spritzte auf seine Khakihose.
Solche Vorfälle waren einer der Hauptgründe, warum ein Messer nie seine Waffe der Wahl gewesen war. Die effektivsten und effizientesten Wunden waren selten sauber und um solche Wunden zu verursachen, war eine gewisse Nähe zum Ziel nötig. Das erhöhte die Chance drastisch, dass sich die unvermeidbare Sauerei nicht nur auf das Opfer begrenzte. Angesichts der Präzision der Forensik, die sich stetig verbesserte, war die Wahrscheinlichkeit, von einem solchen Mord wegzugehen und keine Beweise mit sich zu tragen oder zurückzulassen, minimal.
Außerdem, warum dabei gute Kleidung ruinieren?
Folglich waren Schusswaffen sein bevorzugtes Mittel der Wahl und das seit Beginn seiner Karriere – fast zwanzig Jahre war das her, wenn er seinen Militärdienst mitzählte. Was er tat, denn letztlich lag der einzige Unterschied zwischen seinem jetzigen Job und seinem alten Job darin, dass er als Soldat ein Gehalt bekommen hatte.
Das war alles Geld der Welt für ihn gewesen, und doch würde ein Monatsgehalt von damals heute nicht einmal die Ausgaben eines Tages decken.
Wie zum Beispiel das Messer mit der schwarzen Klinge aus gehärtetem Stahl, der die Schneide optimierte, was eine höhere Schärfe und sauberere Schnitte bedeutete. Diese Härte führte unweigerlich zu Sprödigkeit, deswegen handelte es sich um eine Rückenklinge. Das hieß, dass die falsche Schneide dicker sein konnte und so für Stärke und Stabilität sorgte. Aufgrund dieser falschen Schneide besaß die Klinge einen deutlichen Distal Taper, um sie an der Spitze zu verjüngen. Insgesamt eine ausgezeichnete Waffe. Hervorragend geeignet sowohl für Schnitte als auch für Stiche.
Victors Zielperson würde dem nicht widersprechen.
In Anbetracht der Tatsache, dass Akram bewaffnete Wachen in der Nähe hatte, war eine geräuschlose Tötung sinnvoll gewesen. Da Victor in Kabul keine geeignete Waffe mit Schalldämpfer hatte beschaffen können, musste nun also ein Messer herhalten.
Dem Ganzen schwang eine gewisse Ironie mit angesichts der Tatsache, dass der Afghane ein Waffenhändler war und Victor sich im Auftrag eines anderen Waffenhändlers in seinem Komplex befand. Eine Ironie, die dadurch verstärkt wurde, dass Akram soeben, als Teil eines letzten großen Geschäfts, mehrere Kisten von Schalldämpfern aus den USA sichergestellt hatte. Ein Geschäft, das auch der Grund für seine Ermordung war.
Victor lauschte dem Rinnsal aus Blut, welches jetzt nur durch die Schwerkraft aus dem Leichnam floss. Außerhalb des kleinen Gebäudes, das als Lagerraum für die Kisten von Schalldämpfern diente, war der restliche Komplex um diese Zeit, als die Sonne sich dem Horizont zuneigte, ruhig. Den Tag über hatte reger Betrieb geherrscht. Natürlich hatte Victor seinen Besuch zeitlich so abgepasst, dass der Komplex so leer wie möglich sein würde. Von morgens bis abends waren zahlreiche Mitarbeiter damit beschäftigt, die eingehenden Waren zu sortieren und für den künftigen Verkauf neu zu verpacken.
Akram war sehr darauf bedacht gewesen, dem Käufer, den Victor gespielt hatte, die beeindruckende Auswahl an Schalldämpfern vorzuführen.
Mit dem Rückzug der USA aus Afghanistan wurde eine beträchtliche Menge an Waffen und Ausrüstung in verlassenen Stützpunkten und Außenposten zurückgelassen. Einige davon waren unbrauchbar, aber nicht alle für geschäftstüchtige Ingenieure irreparabel. Allerdings wurden nicht nur solche von den abziehenden Streitkräften zurückgelassen. Auch große Mengen zusätzlicher Waffen wurden ins Land gebracht, um das afghanische Militär zu unterstützen, das nun auf sich allein gestellt sein würde. Ein großer Teil dieser brandneuen Waffen, Fahrzeuge und Munition, die sich in den Händen der afghanischen Streitkräfte befanden, wurde im Rahmen der Waffenstillstandsverhandlungen zwischen beiden Seiten an die Taliban übergeben. Der Rest stand zum Verkauf.
Diese Umleitung amerikanischer Kriegsgeräte sorgte für einen Goldrausch bei den Händlern in der Region. Alles, von Infanteriegewehren bis hin zu Black Hawk Hubschraubern, war nun auf dem Markt. Victors Zielperson war Teil eines Kartells von örtlichen Waffenhändlern, die sich schnell als Hauptakteure etablierten und überschüssige Munition beschafften und diese an Käufer im gesamten Nahen Osten weiterverkauften.
Auf diese Art von Wettbewerb konnte Vladimir Kasakov gut verzichten. Das örtliche Kartell hatte so gute Arbeit beim Einsammeln amerikanischer Waffensysteme geleistet, dass die Ukraine beeindruckt war von der Geschwindigkeit, mit der sie auf dem globalen Waffenschwarzmarkt Fuß gefasst hatten. Aber auch von dem Unternehmergeist, mit dem sie bereits etablierte Akteure verdrängt hatten. Bedauerlicherweise für das Kartell, konnte auch ein noch so beeindruckender Gegner nicht am Leben gelassen werden.
Und obwohl Kasakov nicht Victors Kunde war, erwies Maxim Borisyuk dem erfolgreichen Waffenhändler einen Gefallen in Form von Victor.
Er nahm das Satellitentelefon des toten Afghanen, um einen Anruf zu tätigen.
Als die Verbindung stand, sagte Borisyuk: »Der Auftrag ist vom Tisch.«
»Der zweite Teil des Auftrags ist bereits erledigt. Es fehlt nur noch einer.«
»Wann?«
Victor machte eine schnelle Berechnung. »26, 27 Sekunden, seit sein Herz angehalten hat. Hirntod wird etwas länger dauern, also hätte ich vielleicht sagen sollen, dass die Erledigung des zweiten Teils des Auftrags unmittelbar bevorsteht.«
Borisyuk antwortete: »Machen Sie, dass Sie da rauskommen! Sofort! Ich habe ein Flugzeug für Sie bereitgestellt, das Sie in die Türkei bringt, sobald Sie am Flughafen ankommen.«
»Dann gehen Sie ein unnötiges Risiko ein angesichts der Tatsache, dass NATO-Streitkräfte alle ein- und ausgehenden Flugzeuge dokumentieren.«
»Ich weiß und es ist mir egal«, erklärte der Russe. »Unser Mann vor Ort hat Sie an das Kartell verpfiffen. Sie wissen, wer Sie sind.«
Er meinte es nicht wörtlich, denn nicht einmal Borisyuk wusste wer Victor war, aber Victor verstand, was er meinte: Das Waffenkartell wusste, dass er nicht der Käufer war, für den er sich ausgegeben hatte, um mit Fahim Akram alleine zu sein.
»Sie werden kommen«, drängte Borisyuk.
Als er das Dröhnen der sich nähernden Fahrzeuge hörte, sagte Victor: »Sie sind schon hier.«
Der Gebäudekomplex bestand aus mehreren besetzten Häusern umgeben von einer Mauer, die in das Pink des Wüstensonnenuntergangs gehüllt war. Victor stellte sich vor, wie es einmal – in einem anderen Leben – einem reichen Seidenhändler gehört hatte. Vielleicht das Zuhause einer Großfamilie, wohlhabend und weltbürgerlich. Solche Zeiten waren nun nicht mehr als Erinnerungen. Denn auch wenn das Hauptgebäude noch als Wohnhaus genutzt wurde, waren die anderen Gebäude innerhalb der Mauern zu Lagerräumen, Werkstätten und Büros von erfolgreichen Waffenhändlern umfunktioniert worden.
Zumindest bisher erfolgreich.
Fahim Akram war nicht bloß Teil eines Waffenkartells gewesen, das sich zurückgelassene amerikanische Waffen schnappte – er war die Nummer eins in der Kartellhierarchie. Victor hatte die Nummer drei des Kartells schon letzte Woche getötet und es wie einen versehentlichen, aber tödlichen Unfall auf den Treppen aussehen lassen – eine berufliche Premiere für ihn. So verfügten Fahim Akram und seine Nummer zwei, Najid Maqsoodi, über erheblich mehr Reichtum und Macht, da sie die verbliebenen Anteile am Kartell geerbt hatten. Wichtiger noch, der Fall bedeutete, dass sie weder ihren Tagesablauf änderten noch ihre Sicherheit verstärkten. Sie hatten nicht gewusst, dass ein Mörder einen nach dem anderen von ihnen jagte.
Da Fahim Akrams Leiche zu Victors Füßen lag, mussten die sich nähernden Fahrzeuge zu Najid Maqsoodi und seiner Entourage gehören.
Unser Mann vor Ort hat dich an das Kartell verpfiffen.
Genau dieser Mann stand auf der Gehaltsliste der Bratva und war angeheuert worden, um Victor mit Informationen zu versorgen. Diese brauchte er, um seine Arbeit in unbekanntem Gebiet zu erledigen. Victor arbeitete stets unter der Annahme, dass jeder einen irgendwann verraten würde, also war dies keine große Überraschung für ihn. Der Zeitpunkt des Verrats allerdings war alles andere als ideal.
Vorsichtig öffnete er die einzige Tür des Lagerraums ein paar Zentimeter, spähte durch den schmalen Spalt und sah, wie zwei Toyota Land Cruiser auf dem staubigen Innenhof zwischen den Gebäuden hielten. Durch die offenen Fenster waren die bewaffneten Männer im Inneren deutlich zu erkennen.
Sie gehörten verschiedenen Nationalitäten an, wobei Maqsoodi der einzige Afghane war. Entweder hatte er Angst vor Bedrohungen von außen oder befürchtete, seine Kartellpartner würden sich gegen ihn wenden, weil er sich gerne mit ausländischen Söldnern umgab. Solche angeworbenen Killer waren der Grund dafür, dass Victor sich Maqsoodi bis zum Schluss aufgehoben hatte.
Die Kompetenzen der privaten Militärdienstleister waren äußerst unterschiedlich: von Lkw-Fahrern, die Schusswaffen etwas zu sehr mochten, bis hin zu ehemaligen Sondereinsatzkräften, die keine einzige ihrer ausgefeilten Fähigkeiten eingebüßt hatten. Sie stiegen vor Maqsoodi aus den Fahrzeugen aus und waren mit taktischer Ausrüstung und Waffen bestückt. Schweiß hatte ihre T-Shirts verdunkelt und ließ ihre Gesichter glänzen. Victor zählte sechs von ihnen und bemerkte, dass sie alle Militärsonnenbrillen trugen, die unter Söldnern dermaßen verbreitet waren, dass er sich fragte, ob sie zu ihren vertraglichen Bestimmungen gehörten.
Najid Maqsoodi stieg aus dem zweiten Fahrzeug. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann um die vierzig. Genau wie seine Söldner war auch er gut bewaffnet: eine Pistole in einem Oberschenkelholster und ein teures Gewehr in der Hand. Er beriet sich mit seinen Partnern. Sie wirkten wachsam, aber nicht direkt kampfbereit. Einige hielten ihre Waffen in der Hand, andere wiederum trugen sie an Riemen seitlich an ihrem Körper oder über ihre Schulter geschnallt. Das bedeutete, dass sie nicht wussten, dass Victor bereits hier war. Sein Bratva-Kontakt hatte ihm nur Informationen zugespielt. Er konnte nicht wissen, wann Victor seinen Angriff geplant hatte.
Es schien nicht so, als ob Maqsoodi mit den zwei Wachen am Tor gesprochen hatte, die die Fahrzeuge gefügig und ohne Widerspruch durchgelassen hatten. Und ohne die örtlichen Streitkräfte der russischen Mafia hatte Maqsoodi keine Chance, Victor nur an seinem Aussehen zu erkennen.
Dass er kein Afghane war, war klar. Aber das waren seine Partner auch nicht, und auch nicht die vielen Ausländer, die sich im Land aufhielten, um die Instabilität auf die eine oder andere Weise auszunutzen.
Wäre es mitten am Tag gewesen, mit beschäftigten Angestellten im ganzen Komplex, wäre es Victor womöglich gelungen, einfach von dem Gelände zu spazieren, ohne aufgehalten zu werden. Jetzt gab es kein Entkommen. Der einzige Ausgang war durch einen Waffenhändler, seine sechs Partner und zwei Wachen versperrt und alle waren bewaffnet.
Im Lagerraum befanden sich eine Menge Kisten, doch jede einzelne war gefüllt mit Schalldämpfern oder anderem Kriegsmaterial. Wenn er sich verstecken würde, könnte er einer zufälligen Durchsuchung des Raums vielleicht entgehen – wäre da nicht der Leichnam von Fahim Akram, der in einer riesigen Blutlache auf dem Boden lag.
Victor hatte es geschafft, sowohl seine Pistole als auch sein Kampfmesser an den zwei Wachen des Komplexes vorbeizuschmuggeln, allerdings würde ihm keine der beiden Waffen hier viel bringen, sollte es laut werden. Theoretisch hatte er genügend Kugeln, um jeden der Kerle im Innenhof plus die zwei Wachen am Tor zu töten. Hinsichtlich der zwei Fahrzeuge, die leicht zugängliche Deckung boten, konnte er das jedoch nicht tun, ohne im Gegenzug ebenfalls beschossen zu werden. Es waren zu viele, auch wenn sie noch nie zuvor auf etwas anderes als eine Zielscheibe geschossen hatten. Jeder von ihnen hatte ein Gewehr und eine Seitenwaffe, und jede Menge Reservemagazine. Einige waren mit Messern ausgerüstet. Ein paar mit Granaten.
Das Gebäude, in dem Akram Victor seine neuen Waren vorgeführt hatte, war alles andere als ein Bunker. Die einzige Tür bestand aus brüchigem Holz und war nicht in der Lage, einem Tritt, geschweige denn einer Kugel standzuhalten. Wenn er hier drinnen blieb und kämpfte, würde er nur so lange leben, wie einer der Männer für die Erkenntnis brauchte, dass er eine Granate durch den Spalt in der Wand werfen konnte, der sowohl als Fenster als auch als Luftschacht diente – viel zu klein, um hindurchzuklettern, sonst wäre Victor schon längst auf halbem Weg hier raus.
Er konnte nicht fliehen, er konnte sich nicht verstecken, und er würde sich seinen Weg auch nicht freikämpfen – so viel war klar. Nicht gegen neun Männer in einem Feuergefecht, das zu ihren Gunsten ausgelegt war.
Er zog seine Pistole aus dem hinteren Teil seines Hosenbundes und streckte eine Hand aus, um sie an der Oberkante des dicken Türrahmens zu positionieren. Die FN Five-Seven – eine Selbstladepistole – war gerade so schmal genug, um an der Wand zu balancieren, ohne herunterzufallen. Victor legte sein zweites Magazin dazu.
Das Messer ... Er gab es ungern auf, aber es würde ihm nicht viel nützen, wenn die Dinge schlecht liefen, und es war schwer, mit einer so tödlichen Waffe am Körper einen unbedrohlichen Eindruck zu machen. Es war nicht leicht, das Messer neben der Pistole und dem Magazin zu balancieren, also rammte er die Spitze in den Türrahmen und ließ es aus dem Holz herausragen.
Damit stieß er die Tür auf und trat hinaus in den Innenhof.
Wenn er weder fliehen noch sich verstecken oder kämpfen konnte, dann konnte er sich vielleicht herausreden.
Köpfe drehten sich und die Augen hinter den Sonnenbrillen richteten sich auf ihn. Victor behielt eine entspannte, selbstbewusste Haltung und redete sich ein, dass er hierhin gehörte, als er ihren Blicken begegnete. In ihren Gesichtern suchte er nach Hinweisen darauf, dass sie ihn wiedererkannten. Er fand keine. So weit, so gut.
Najid Maqsoodi hatte zurückgekämmtes Haar. Es war dunkelbraun und glänzte vor Pomade oder Wachs. Sein Bart war dicht und reichte ihm bis zum Adamsapfel. Er war der letzte, der sich in Victors Richtung drehte, und als er das tat, lag unverhohlenes Misstrauen in seinen Augen.
Ohne eine Möglichkeit, diesem Misstrauen entgegenzuwirken, ging Victor direkt darauf ein.
Er schlenderte an den schwer bewaffneten Männern vorbei auf Maqsoodi zu und präsentierte sein freundlichstes Lächeln, als er seine Hand ausstreckte.
»Ich bin Boulanger«, sagte er. »Ein Partner von Fahim Akram.«
»Ey ey ey«, bellte einer der Söldner, während er auf Victor zueilte, um ihn abzufangen, bevor er Najid Maqsoodi erreichte. »Immer mit der Ruhe, Freundchen.«
Ein Brite. Ein großer Kerl, mindestens hundert Kilo schwer. Sein Gesicht war rot von der Hitze, und die grelle Sonne hatte Falten um seine Augen gelegt. Auf seinen breiten Schultern schien der Kopf klein und rund. Seine Haare waren bis auf wenige Millimeter abrasiert, so dass die Rötung seiner Haut auf der Kopfhaut ebenso sichtbar war wie in seinem Gesicht und an seinem Hals. Sein langärmeliges T-Shirt spannte sich über den breiten Rücken und die Wölbungen an seiner Taille, wo die Speckrollen über den taktischen Gürtel quollen.
Er deutete auf Victors Hände.
»Halt sie da, wo ich sie sehen kann.«
»Wie du wünscht.«
Der Brite tastete Victors Oberkörper, seine Arme und jeweils die Vorder- und Rückseite seiner Beine ab.
Zu Najid Maqsoodi sagte er dann: »Er ist sauber.«
Victor nickte. »Ich habe heute bereits zweimal geduscht.«
Der Brite blieb unbeeindruckt. Maqsoodi zeigte den Anflug eines Lächelns.
»Wo ist Fahim?«, fragte er mit höflicher, fast majestätischer Stimme.
Victor wusste, dass die Redegewandtheit Maqsoodis auf dessen Zeit in englischen Internaten und seine Tätigkeit in der deutschen Luftfahrtindustrie zurückzuführen war, bevor er nach Hause zurückgekehrt war, um seine geschäftlichen Fähigkeiten in einem ganz anderen Bereich einzusetzen. Er hatte scharfe, kantige Gesichtszüge, die durch seinen geringen Körperfettanteil noch stärker zur Geltung kamen. Seine Augen waren hell und energisch, seine Zähne weiß und ebenmäßig.
Victor zeigte auf das Hauptgebäude des Komplexes. »Er hält gerade seinen Mittagsschlaf. Vielleicht kann ich ja weiterhelfen?«
»Nein, kannst du nicht. Die Sache erfordert seine sofortige Aufmerksamkeit.« Er deutete auf den Briten. »Geh und weck ihn auf. Sag ihm, dass ich hier bin.«
Victor hob seine Handflächen in Richtung des Briten. »Er wird kaum erfreut sein, wenn man seinen Schlaf stört.«
Mit einem starren eiskalten Blick sagte Najid Maqsoodi: »Genauso wenig wie ich, solltest du versuchen mich aufzuhalten.«
Die zwei Wachen am Tor beachteten sie nicht und waren zu weit entfernt, um zufällig etwas aufzuschnappen, während sie sich unterhielten. Hätte Maqsoodi sich dazu entschieden, auch nur einen von ihnen zu befragen, wäre Victors Täuschung sofort aufgeflogen. Deswegen stand er mit dem Rücken zum Haus, so dass die zwei Wachen hinter Maqsoodi und somit außerhalb seines Sichtfeldes lagen.
»Ich arbeite für Herrn Akram, nicht für dich«, sagte Victor. »Und er, nicht du, ist verantwortlich für dieses Unternehmen.«
Sicherlich ein risikoreicher Spielzug, aber ein ausgeklügelter. Victor befand sich bereits in einer schwachen Position ohne eine Waffe und gegenüber von mehreren schwerbewaffneten Killern. Das Letzte, was er wollte, war, dass Najid Maqsoodi ihn für schwach hielt.
Der Afghane hielt sein Ärgernis unter Kontrolle und sagte: »Gut, du gehst und weckst Fahim sehr, sehr vorsichtig von seinem Mittagsschlaf auf. Und dann wirst du ihm höflich erklären, dass ich wünsche, mit ihm eine Bedrohung für uns beide zu besprechen, die seine sofortige Aufmerksamkeit erfordert.«
»Wie du wünscht.«
»Das tue ich«, betonte er. »Das wünsche ich mir sogar sehr.«
Victor nickte als Zeichen der Kapitulation, um Maqsoodis gekränktes Ego zu beruhigen. Doch das war ein Fehler, denn indem er seinen Kopf senkte, unterbrach er den Blickkontakt mit dem Mann. Als Victor seinen Kopf wieder hob, sah er, wie sich Maqsoodis Blick verändert hatte. Er betrachtete ihn nun prüfend von Kopf bis Fuß, um ein besseres Verständnis von dem Mann zu bekommen, mit dem er da sprach. Victor bemerkte seinen Fehler, eine Sekunde bevor Maqsoodi ihn fragte: »Warum ist da Blut auf deiner Hose?«
Der Brite, der sich während des Gesprächs gelangweilt und seinen Blick abgewandt hatte, wurde wieder aufmerksam.
»Warum ist da Blut auf deiner Hose?«, fragte Najid Maqsoodi wieder.
Victor schaute an sich herab, als würde er das Blut zum ersten Mal sehen. »Oh, wie nervig.« Er seufzte ironisch. »Ich hätte vorsichtiger sein sollen, als ich die Ziege vorhin geschlachtet habe.«
Maqsoodi sah den Briten an und der erwiderte seinen Blick.
Während dieses kurzen, wortlosen Austausches berechnete Victor seine Chancen, den Söldner seiner Waffen zu entledigen, ihn zu erschießen und danach, bevor irgendjemand reagieren konnte, auch die anderen zu töten.
Nicht unmöglich ... aber realistisch betrachtet so unwahrscheinlich wie jeder andere Plan zu diesem Zeitpunkt.
»Wir gehen kein Risiko ein.« Der Brite griff nach den Kabelbindern, die an seinem Gürtel befestigt waren. »Halt still.«
Die Wahrscheinlichkeit, den Söldner erfolgreich zu entwaffnen, während er mit Kabelbindern gefesselt war, war noch unwahrscheinlicher als sein vorheriger Plan. Doch jetzt sahen Najid Maqsoodi und seine sechs Partner ihn an, als könnte er eine Bedrohung darstellen. Victor war völlig planlos.
»Was soll das?«, fragte er, wobei er Unwissenheit und Besorgnis vortäuschte, wie es ein verwirrter, verängstigter Zivilist tun würde.
»Da musst du jetzt durch«, sagte Maqsoodi bestimmend. »Wir haben derzeit Sicherheitsbedenken und ich kenne dein Gesicht nicht. Sobald dein Boss bestätigt, dass du wirklich der bist, für den du dich ausgibst, lassen wir dich frei.«
Victor ließ den Briten die Kabelbinder um seine Handgelenke legen. Jetzt, wo er so nah war, musste er sich gegen seinen Drang sträuben, dem Mann einen Kopfstoß zu verpassen, nach dessen Waffen zu greifen und – während er bewusstlos wäre – zu schießen und weiter zu feuern, bevor ein Gegenschuss Victors Herz oder Gehirn treffen könnte.
»Nimm es nicht persönlich, Kollege«, versuchte ihn der Brite zu beruhigen, während er die Kabelbinder so festzog, dass Victors Handgelenke zusammengepresst wurden. »Die Anspannung ist hoch im Moment.«
Die Kabelbinder waren schwarz anstatt weiß oder durchsichtig, aber ansonsten ähnelten sie denen, die benutzt wurden, um Güter und Pakete auf der ganzen Welt zu sichern. Es war nicht leicht, sich aus ihnen zu befreien, jedoch auch alles andere als schwierig, da es kaum eine Art von Fesseln gab, aus denen Victor sich nicht hätte befreien können. Er wusste, dass die Verschlüsse von Kabelbindern bei ausreichender Krafteinwirkung aufgerissen werden konnten. Das Problem war, sich von ihnen zu befreien, ohne währenddessen erschossen zu werden.
Sie hielten seine Handgelenke in einem engen, schraubstockartigen Griff zusammen, so dass die Handflächen gegeneinandergedrückt wurden. Im Laufe seiner Karriere hatte er festgestellt, dass unterschiedliche Menschen sie unterschiedlich banden. Einige bevorzugten ein Handgelenk über dem anderen. Andere fesselten die Hände hinter dem Rücken. Dieser Kerl hatte Victors Hände frontal und mit einem Verbindungsstück gefesselt, so dass die Kabelbinder zu Kunststoff-Handschellen wurden.
Maqsoodi stichelte: »Du brauchst doch wohl keine Hände, um Fahim aufzuwecken, oder?«
Er erwartete keine Antwort und Victor gab ihm auch keine.
»Sei dir bewusst, dass wenn du nichts falsch gemacht hast, du auch nichts zu befürchten hast.« Auf Najid Maqsoodis Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Solltest du mich allerdings auch nur im Geringsten angelogen haben, werde ich dich mit größtem Vergnügen häuten – Zentimeter für Zentimeter.«
»Geh mit ihm«, befahl Najid Maqsoodi seinem britischen Partner. »Beeil dich.«
Als sie auf das Hauptgebäude zugingen, murmelte der Söldner höhnisch vor sich hin: »Jawohl, Chef. Danke, Chef ... Was immer du sagst, Chef.«
Victor führte den Briten durch den gewölbten Eingangsbereich in die kühle Luft des Hauses. Auf der anderen Seite der Haustür befand sich eine große Halle, die zu einer provisorischen Werkstatt umgebaut worden war. Es gab Bänke und Werkzeuge für die Modifizierung von Waffen. Der Boden war mit Metallspänen und Verschnitt bedeckt.
Der Söldner murmelte noch etwas, das Victor nicht verstand, aber er sah, wie der Mann über seine Schulter schaute und seinen Mittelfinger in die Richtung seines Arbeitgebers hob.
Maqsoodi würde dies nicht sehen können, was, wie Victor vermutete, der Sinn der Sache war. Der Söldner schien sehr stolz auf diese Geste zu sein und hielt den Finger mehrere Sekunden lang erhoben.
Er bemerkt, dass Victor in seine Richtung schaute. »Es ist alles in Ordnung, Kollege. Er ist ein wahres Arschloch von Chef.« Er sog die Luft durch seine Zähne. »Du weißt doch, wie es ist, als Ausländer hier in Afghanistan. Die halten uns für Abschaum. Aber wer bettelt, darf nicht wählerisch sein, ’ne?«
Victor kannte den Grundriss des Geländes von seinen Vorbereitungen und seinem ersten Gespräch mit Fahim Akram, obwohl es ohnehin deutlich war, dass die geschwungene Treppe zu allen Schlafzimmern im ersten Stock führte. Der Brite ging geradewegs auf die Treppe zu und regte Victor so dazu an, diese niedere Arbeit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
»Herr Akram erlaubt keine Besucher dort oben«, erklärte Victor ihm.
»Das interessiert mich einen Scheißdreck.«
»Er duldet keine Schimpfwörter.«
»Hä?«
»Und ich gebe ihm recht. Es besteht nicht die Notwendigkeit zu fluchen. Wenn es doch so viele schöne englische Wörter gibt, warum sollte man dann auf die hässlichsten zurückgreifen?«
»Entweder du verarscht mich oder du hast einen beschissenen Sinn für Prioritäten, was deinen Arbeitsbereich angeht.«
»Du hast ja keine Ahnung.«
Dann sagte der Söldner: »Leute, die fluchen, sind schlauer als die, die’s nicht tun.« Er klang selbstsicher. »Ich habe das mal gelesen.«
»Wo hast du das gelesen?«
»Ich erinnere mich nicht, aber es ist ja auch –«
»Welche Methode haben die Wissenschaftler benutzt?«, fragte Victor, während sie die Treppe hochgingen. »Ich gehe davon aus, dass es eine Doppelblindstudie mit strengen Kontrollen war?«
»Ja.« Der Mann schmunzelte. »N-of-1 Studie, Arschgeige.«
»Ich bin mir nicht sicher, dass das heißt, was du denkst.«
»Stichel nur weiter, Kollege. Bitte, bitte mach einfach so weiter und sieh, was passiert.«
Victor blieb still.
»Guter Junge«, sagte er, als sie am obersten Ende der Treppe ankamen. Er hielt an, um den Treppenabsatz und die vielen davon ausgehenden Türen zu betrachten. »Wie die andere Seite wohnt, ’ne? Wo geht’s zu seinem Zimmer?«
»Hier lang«, antwortete Victor. »Und wenn die Wahl zwischen Beleidigen und Fluchen steht, bevorzuge ich, wenn du fluchst.«
Als Antwort zeigte der Mann Victor den Mittelfinger und fügte dann hinzu: »Scheiß drauf, okay?«
»Abgesehen von der Vulgarität«, fing Victor an, »werde ich das Gefühl nicht los, dass die Engländer alte Traditionen sehr schnell über Bord werfen, wenn es zum Fluchen kommt.«
»Wasquatscht du da, Kollege?«
»Der Finger«, antwortete Victor. »Dein Mittelfinger.«
»Was genau soll damit sein?« Er hielt ihn noch höher, zur Betonung.
»Es ist ein Amerikanismus, eine Verfälschung des englischen V-Zeichens. Eine beleidigende Geste, die Jahrhunderte zurückreicht. Bis hin zum Hundertjährigen Krieg«, erklärte Victor. »Meistens wird sie Azincourt zugeordnet, reicht aber wahrscheinlich bis zu Crécy zurück.«
»Jetzt erfindest du doch nur Wörter.«
»Das waren berühmte Schlachten zwischen den Engländern und den Franzosen im Mittelalter. Die Schlacht von Azincourt ist nach Crécy die bekannteste. Sie war die Grundlage für Shakespeares Henry V.«
»Keine Ahnung, welche Schlachten du meinst, und Shakespeare hab ich in der Schule immer gehasst.«
»Ich muss zugeben, dass es kontraproduktiv ist zu versuchen, Kinder für den Dichter zu begeistern. Als Erwachsener allerdings ist er es wert, sich noch einmal mit ihm zu beschäftigen. Ich bin selbst äußerst selten von etwas in dieser Welt, sagen wir, gerührt. Aber die St.-Crispins-Tag-Rede ... Gänsehaut.«
Tiefe Falten der Verwirrung hatten sich zwischen den Augenbrauen des Mannes gebildet. »Ich bin total verwirrt.«
»Das ist meine Schuld«, gab Victor zu. »Ich bin vom Thema abgekommen. Wie dem auch sei, bevor die Schlacht von Azincourt ernsthaft begann, verspotteten die französischen Armbrustschützen die englischen Langbogenschützen. Sie versprachen, ihnen die Zeige- und Mittelfinger abzutrennen. Genau die Finger, die sie brauchten, um den Bogen mit dem Pfeil zu spannen. Und weißt du, die Engländer waren genauso renommiert wie gefürchtet. Ein großer Teil von ihnen war wahrscheinlich walisisch, aber ich versuche, nicht wieder vom Thema abzukommen. Die meisten Soldaten benutzten die Armbrust, da diese einfacher effektiv zu handhaben war. Dahingegen brauchte es jahrelange Übung, um die Kraft aufzubauen, um mit einem Langbogen – auch Kriegsbogen genannt – schießen zu können.
All das Training zahlte sich damit aus, dass diese Waffe in der Zeit, die das Nachladen eines einzigen Armbrustbolzens brauchte, mehrere Pfeile abfeuern konnte.«
»Ich glaube, jetzt bin ich noch verwirrter als vorher.«
»Die Engländer gewannen die Schlacht«, sagte Victor, als sie das Ende des Flurs und die Tür des Hauptschlafzimmers erreichten. »Mit Abstand. Und als Reaktion auf den Spott der französischen Armbrustschützen vor der Schlacht hoben die englischen Bogenschützen ihren Zeige- und Mittelfinger zu einem V-Zeichen, um ihre fliehenden Feinde zu verhöhnen. Hier lang«, verkündete Victor, während er die Tür öffnete.
Es war ein riesiges, imposantes Zimmer mit einem verzierten Himmelbett auf einem Podium. Persische Teppiche bedeckten den Boden. Wandteppiche und Pelze hingen an den Wänden.
»Wo ist er?«, fragte der Söldner, folgte Victor hinein und betrachtete das Bett.
»Er muss im Bad sein«, antwortete Victor und deutete mit seinem Kinn auf die geschlossene Tür am anderen Ende des Zimmers, die zum dazugehörigen Badezimmer führte. »Ich glaube, die Ziege ist ihm nicht gut bekommen.«
Der Söldner zuckte mit den Schultern. Es war ihm egal.
Victor sprach weiter: »Zurück zu dem, was ich gesagt habe. Ich finde es sehr schade, dass die Engländer es nach so vielen Jahren von Tradition bevorzugen, die amerikanisierte Version – den einzelnen Finger – zu benutzen.«
»Wen interessiert schon Geschichte? Ich geb einen Scheißdreck auf das, was vor tausenden von Jahren passiert ist.«
»Vor hunderten von Jahren«, korrigierte Victor.
»Und wenn es fünf Jahre her wäre. Das ist cooler.« Er hielt seinen Mittelfinger direkt vor Victors Gesicht. »Siehst du?«
»Ich bin anderer Meinung.« Er blickte auf seine gefesselten Hände. Die Innenseiten seiner Handgelenke berührten sich fast. Unfähig, seine Hände zu drehen, versuchte er, ein V-Zeichen mit seinen rechten Fingern zu bilden.
»Leider hindert mich meine derzeitig missliche Lage daran, meinen Punkt zu verdeutlichen.«
Der Söldner nahm seine Sonnenbrille ab und hing sie an den Kragen seines T-Shirts. »Entweder verarscht du mich oder du bist wirklich ein totaler Psychopath.«
»Eine übermäßig vergebene Bezeichnung«, bemerkte Victor. »Und, ich bedaure, weit entfernt von der Wahrheit. Ich kann überhaupt kein Psychopath sein, denn ich werde schrecklich traurig, wenn ich auch nur daran denke, wie Simbas Vater von dieser panischen Herde zertrampelt wurde.«
»Wie auch immer, du brauchst mir das V nicht vorzuführen«, beschloss sein Kidnapper, während er seinen Kopf gleichermaßen vor Belustigung und Frustration schüttelte. »Ich weiß, wie es aussieht.« Er schaute zur Badezimmertür, jetzt ungeduldig. »Wie lange dauert es, einen abzuseilen?«
Victor näherte sich und fragte: »Bist du sicher, dass du weißt, wie man das V-Zeichen macht?«
»Was? Natürlich bin ich mir sicher, verdammt nochmal.«
»Die meisten Leute wissen tatsächlich nicht, wie man es richtig macht.«
»Willst du mich verarschen? Es ist ein V-Zeichen, nicht die Gebärdensprache.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, streckte der Mann Zeige- und Mittelfinger Richtung Victor. »Siehst du?«
Victors gefesselte Hände schnellten nach vorne. Seine linke Hand ergriff den Zeigefinger des Mannes und seine rechte Hand den Mittelfinger.
Mit einer wilden Bewegung nutzte Victor die beträchtliche Zugkraft seines Rückens, um seine Arme anzuziehen, während er seine Ellbogen ausfuhr und seine Unterarme in seinen eigenen angespannten Bauch rammte, wobei die Krafteinwirkung die Kabelbinder aufriss.
Diese plötzliche Befreiung ließ seine Ellbogen an beiden Seiten seines Oberkörpers weiter nach außen schwingen, bis seine Schulterblätter sich fast in der Mitte seines oberen Rückens berührten.
Seine Fäuste bewegten sich in entgegengesetzte Richtung, während sie der Flugbahn seiner Ellbogen folgten.
Die ganze Zeit hielt er die Finger des Mannes fest – jeweils einen pro Faust.
Dadurch riss er die Hand des Söldners bis hin zu seinem Handgelenk in zwei Teile.
Menschliches Fleisch ist prinzipiell sehr reißfest. Die Haut besitzt viel mehr Widerstandfähigkeit, als die meisten Menschen ihr zusprechen wollen. Die Kraft in Victors Rücken war geprägt von einem Leben gefüllt mit Klettern und unzähligen Klimmzügen. Da er sein gesamtes Körpergewicht mehrmals mit nur einer Hand anheben konnte, war das Zerfetzen von Haut und Weichteilen einer Hand mit nur wenig Anstrengung verbunden. Die Kabelbinder waren das, was den vollen Einsatz seiner Kraft erfordert hatte. Im Vergleich dazu war es ein Kinderspiel gewesen, die Hand zu zerreißen, und ein willkommener Nebeneffekt, der zur Befreiung von den Kabelbindern dazukam.
Beim Durchleben extremen körperlichen Traumas reagierte jeder anders. Einige waren innerhalb von zwei Sekunden bewusstlos. Andere heulten. Nur wenige nahmen es kaum wahr, bis sie schließlich der Blutverlust oder die lähmende Eigenschaft der Verletzung anderweitig behinderte. Nach dem Verlust von bereits drei Körperteilen durch eine Axt hatte sich einer von Victors Gefangenen sogar beim vierten weiterhin stur geweigert zu reden. Stumm war er auf Knien und Ellbogen davongekrabbelt, um seine Wunden an einem gusseisernen Holzofen auszubrennen.
Das war eine lange Nacht gewesen.
Der Söldner wurde kreidebleich. Das Blut wich ihm aus dem Gesicht, wusch so der Haut die Farbe aus, ersetzte die Rötung seiner Wangen durch den Farbton frischer Knochen und verdunkelte die Vertiefungen unter seinen Augen fast bis ins Schwarze.
Er fiel auf seine Knie und sackte nach vorne, als Victor seine zwei Finger losließ.
Die voneinander getrennten Teile seiner Hand fielen dumpf in verschiedene Richtungen.
Blut tropfte aus der Wunde und durchnässte das langärmlige T-Shirt des Mannes. Sie war jedoch bei weitem nicht tödlich, da die gemeinsamen Digitalarterien parallel zu den Mittelhandknochen verliefen und somit auf beiden Seiten des Risses intakt blieben, während die oberflächlichen und tiefen Hohlhandbögen lediglich geschoben und gezogen wurden, als das Weichteilgewebe um sie herum riss.
Als er seine gespaltene Hand sah, an der sich die Finger immer noch bewegten, sein Daumen und Zeigefinger sich aber gegensätzlich der restlichen drei Finger spreizten, stieß der Brite ein einziges klagendes Stöhnen aus.
»Hast du zufällig eine Schere bei dir?«, fragte Victor, während er die Schlafzimmertür schloss, um die Ausbreitung bevorstehender Rufe oder Schreie zu dämpfen. »Ich sehe kein Messer an deinem Gürtel.«
Das Grauen wurde zu viel. Der Mann verlor das Gleichgewicht auf seinen schwachen Knien und fiel rückwärts zu Boden. Aber er schrie nicht, da seine Stresshormone wunderbare Arbeit leisteten und seinen Schmerz betäubten. Nur eine kurze Pause. Der Schmerz würde noch schnell genug kommen. Jetzt gerade war er im Schockzustand.
»Ein Taschenmesser vielleicht?« Victor rieb an den Schlaufen der Kabelbinder um beide Handgelenke. »Die sind wirklich nervig.«
Auf seinem Rücken liegend, versuchte der Mann mit seiner linken Hand die zwei Hälften seiner rechten Hand wieder zusammenzudrücken und scheiterte. Blut sprudelte heraus.
Während er sich hinhockte, um sämtliche Taschen und Beutel der Ausrüstung des Mannes zu öffnen, sagte Victor: »Irgendetwas Scharfes wird reichen.«
Der Brite schaffte es, seine verletzte Hand gegen seinen Bauch zu halten und so die beiden Hälften mehr oder weniger zusammenzudrücken.
»Wie sieht’s mit Nagelknipsern aus?«, fragte Victor, als er weder eine Schere noch ein Messer finden konnte.
In der kühlen Luft des Schlafzimmers stieg Dampf aus der Wunde. Mit weit aufgerissenen Augen sah der Söldner zu, wie die Dampfwolke aufstieg, als wäre sie seine Seele, die seinem Körper entwich.
Der Brite hatte zwei Schusswaffen und Munition bei sich, aber nichts Scharfes, womit Victor die Kabelbinder hätte aufschneiden können.
»Ich muss dir etwas beichten«, gestand er, während er den Raum durchsuchte. »Als ich dir über die Herkunft des V-Zeichens erzählt habe, habe ich der Geschichte mit den französischen Armbrustschützen und den englischen Bogenschützen eventuell zu viel Bedeutung beigemessen. In Wahrheit gibt es keine wirklichen historischen Beweise für diese Theorie, außer dass sie oft erzählt wird. Sie gefällt mir, aber ich kann nicht sagen, warum genau. Vielleicht weil es in dieser Geschichte nicht um eine einfache Vulgarität geht, die Anstoß erregen soll, sondern eher um ein Symbol der Herausforderung. Leider zerfällt diese Idee, wenn man bedenkt, dass die Engländer zu dieser Zeit die Eindringlinge waren und die Franzosen nur ihr Land vor Angreifern verteidigten. Ich hoffe, du vergibst mir diese Irreführung.«
Victor sah zu dem Briten herab, der zitternd und wimmernd am Boden lag. Der Mann reagierte nicht. Der Schock ließ seine Augen so schnell und ununterbrochen blinzeln, dass Victor einen Stroboskopeffekt in seiner Sicht vermutete. Sollte der Söldner zufällig Epileptiker sein, könnte dies einen Anfall hervorrufen.
»Aha«, entfuhr es Victor. Dann hockte er sich hin, um die Sonnenbrille des Mannes, die immer noch an seinem T-Shirt hing, an sich zu nehmen. »Das macht dir doch nichts aus, oder?«
Er verstand die fehlende Antwort als Zustimmung und bog und drehte das Gestell, bis ein Glas herausbrach.
Er legte das Glas unter seinen Fuß und übte etwas Druck aus, bis es knackte. Mit den daraus entstandenen scharfen Kanten begann er vorsichtig und mit sägenden Bewegungen, die Kabelbinder zu durchtrennen und sich zu befreien. Erst die rechte Hand, dann die linke.
»Das ist schon besser«, sagte Victor und stand auf, während er seine Handgelenke massierte. »Du hast ja keine Ahnung, wie gut sich das anfühlt.«
Der Brite – immer noch kreidebleich – nahm Blickkontakt auf. Er schaffte es, ein krächzendes Geräusch von sich zu geben, welches ein Versuch zu sprechen oder der Beginn eines Schreies hätte sein können.
»Wenn du ruhig bist«, unterbrach ihn Victor, »wirst du überleben. Wenn du kein Geräusch machst, gibt es keinen Grund für mich, dich zu töten. Vielleicht liegt etwas in der Luft, aber ich fühle mich ungewöhnlich gutmütig heute. Wer fährt den Land Cruiser? Wer hat die Schlüssel? Ich habe nicht gesehen, wie ihr angekommen seid.«
Der Mann zitterte. Schock, Schmerz und Angst überkamen sein zentrales Nervensystem.
»Versuch, deinen Atem zu kontrollieren«, schlug Victor vor. »Blende den Schmerz aus. Er ist nur ein Signal, das du für einige Minuten ignorieren kannst, wenn du dich wirklich dazu zwingst. Als würde man die Schlummertaste drücken. Bring deinen Geist zu deinem Lieblingsort: eine Eishöhle mit einem Pinguin oder was immer für dich funktioniert. Wer hat die Schlüssel? Gutmütig oder nicht, ich habe keine Zeit hierfür.«
Es kam keine Antwort und auch der Zustand des Söldners änderte sich nicht. Keine Veränderung der Atmung. Keine geschlossenen Augen, die auf eine geistige Anstrengung zur Überwindung des Schmerzes hindeuteten.
»Du musst dich zusammenreißen«, erklärte Victor, schaute auf die zwei Hälften der verletzten Hand und fügte hinzu: »Wortspiel nicht beabsichtigt.«
Ein gellender Schrei hallte durch das Gebäude. Und obwohl Victor nicht verstand, was genau gesagt wurde, verstand er den Grund dahinter sehr deutlich.
Sie hatten Fahim Akrams Leiche gefunden.
Victor hob den Karabiner des Söldners auf, ein kurzläufiges Gewehr, steckte Reservemagazine in seinen Hosenbund und warf sich die Waffe über die Schulter. Am Verschlussgehäuse des Gewehrs war ein One-Point-Gewehrriemen befestigt, so dass es mit dem Lauf nach unten an der rechten Seite von Victors Oberkörper und Hüfte hing. Bequem genug, aber mehr Mühe, als es wert war, wenn er zum Sprint ansetzen musste. Trotzdem wollte er die zusätzliche Feuerkraft bei sich, für den Fall, dass er sie brauchte. Bis dahin hielt er die Pistole des Briten in seiner rechten Hand.
Mehr Rufe und Geschrei drangen von draußen ins Innere.
Diesmal waren es verständliche Wörter: »... er ist drinnen ... bei Sichtkontakt töten ... er kommt hier auf keinen Fall lebend raus ...«
Der Söldner auf dem Boden hörte sie auch.
Er blickte zu Victor hoch und dieser blickte auf ihn herab.
Der Brite wusste, was kommen würde.
»Dass du ruhig bist, hilft mir jetzt nicht mehr weiter. Tut mir leid«, erklärte Victor und eliminierte ihn mit seiner eigenen Pistole.
Victor verließ das Schlafzimmer und ging durch den Flur zu dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite, von dem aus man den Innenhof überblicken konnte.
Er wechselte zu dem Karabiner und eröffnete das Feuer auf die ersten Bewaffneten, die er von seiner erhöhten Position aus sehen konnte: die zwei Wachen am Tor, die überrascht und verwirrt waren von dem plötzlichen Aufruhr.
Fünfmal drückte er den Abzug, um die beiden auszuschalten, dann entfernte er sich vom Fenster, bevor die Söldner im Hof reagieren konnten.
Glas krachte und zersplitterte hinter ihm, als Victor in Richtung Treppe lief.
In den engen Räumlichkeiten des Hauses benutzte er lieber die Pistole des Briten, so dass er seine Ellbogen eng am Körper halten konnte und seine Arme so wenig wie möglich ausstrecken musste. Er wollte nicht, dass seine Feinde seine Waffe vor ihm um die Ecke kommen sahen, um sie so in Sekundenbruchteilen zu warnen, bevor er selbst die Bedrohung überhaupt erkannt hatte.
Die ersten zwei Söldner, die das Haus betraten, hatten dies glücklicherweise nicht bedacht und ihre Gewehre verrieten sie, bevor Victor die Schützen überhaupt am oberen Treppenende auftauchen sah.
Sie mussten bereits drinnen gewesen sein, um so schnell die Treppen hochzukommen. Vielleicht waren sie schon vor dem ersten Schuss nichtsahnend hereinspaziert.
Ein zweifaches Betätigen des Abzugs für jeden, und die, die hinter ihnen hinterhereilten, schrien und riefen zur Vorsicht auf. Dem Echo nach waren sie immer noch unten in der Eingangshalle.
Victor kam diese Vorwarnung recht. Er steckte die Pistole weg und wechselte zu dem Karabiner.
Ein kurzer Blick verriet ihm, dass die anderen Söldner das Treppenhaus nicht überwachten, was Victors Meinung nach ein Fehler war. Es machte Sinn, dass sie ihn in einem offenen Flur ohne Deckung nicht unter Feuer nehmen wollten, während er auf der höheren Position stand und auf sie herabschießen konnte. Es sei denn, er plante aus dem Fenster zu springen – was er nicht tat –, dann war das Treppenhaus der perfekte Angriffspunkt.
Jedoch ließ Panik Menschen schlechte Entscheidungen treffen und dafür war Victor immer dankbar.
Er schlich die Treppe hinunter und hielt sich dabei nah an der Wand. Um sein Sichtfeld zu verbessern, löste er sich von ihr, als er sich dem unteren Ende der Ecke näherte, wo die Treppe in die Eingangshalle mündete.
Niemand.
Er stellte sich vor, wie sie in den Innenhof geflüchtet waren, nachdem die anderen zwei am oberen Ende der Treppe tot umgefallen waren. Die Haustür stand einen Spalt offen und die Strahlen des hellen Sonnenlichts umrahmten ihre drei Seiten. Vielleicht hatten sie es so gewollt, oder – und das war wahrscheinlicher – sie hatten sich so schnell zurückgezogen, dass niemand darüber nachgedacht hatte, ob es besser war, die Tür offen zu lassen oder sie zu schließen.
Auf der Schattenseite näherte sich Victor vorsichtig, aber schnell. Es machte keinen Sinn, leise zu sein. Sie wussten, dass er kommen würde, egal wie wenig Geräusche er währenddessen verursachen würde. Er wollte ihnen nicht zu viel Zeit geben, um sich auf seinen Angriff vorzubereiten oder um ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen. Er wollte ihren Puls so hoch wie möglich treiben, was ihre Feinmotorik einschränken würde.
Einen anderen Weg zu nehmen und das Haus zu umrunden, würde zu viel Zeit kosten. Zeit, in der sich seine Feinde erarbeiten könnten, was er vorhatte, und sich dagegen wappnen würden. Sie sollten jetzt nicht anfangen, klar und taktisch zu denken.
Es war besser, sie zu hetzen, während sie noch in Panik waren und zu schlechten Entscheidungen neigten.
Und selbst dann würden sie die Tür mit vier automatischen Waffen absichern.
Eine Granate wäre in dieser Situation perfekt gewesen, aber anders als einige der anderen Söldner hatten die drei Toten keine bei sich getragen. Victor schaute sich in der provisorischen Werkstatt um, die gleichzeitig die Eingangshalle darstellte. Die Werkzeuge waren alle viel zu groß und schwer und er hatte keine Zeit, Schubladen und Werkzeugkisten zu durchsuchen. Er schaute auf den Boden. Ein massiver Haltebolzen lag in seiner Nähe. Zu schwer. Eine zerquetschte Softdrink-Dose war zu leicht. Ein etwa zehn Zentimeter langes, gebogenes Stück Kupferrohr müsste allerdings funktionieren.
Er hob es mit seiner linken Hand vom Boden, stellte sich mit dem Rücken zur Wand und der Schulter gegen den Türrahmen und warf das Rohr auf Hüfthöhe durch die Türöffnung.
Ein kraftvoller, schneller Wurf. Zu schnell, um das Geschoss direkt zu identifizieren, und niedrig genug, um sicherzugehen, dass es über den Boden des Innenhofes hüpfte und schepperte.
Eine Granate wäre zwar perfekt gewesen, aber für einige Sekunden hörte sich das Stück Rohr genauso an.
Victor stieß die Tür auf, während das Rohr noch über die Pflasterung hüpfte, gefolgt von den Blicken der ersten zwei Söldner im Innenhof. Ein dritter und vierter Mann rannten währenddessen bereits so schnell sie konnten davon.
Zwei Schüsse des Karabiners stanzten blutige Löcher in das Hemd des nächsten Söldners, der neben dem Land Cruiser hockte. Zwei weitere Schüsse taten dasselbe mit dem anderen, als Victor etwas zur Seite zielte. Und bevor einer der beiden auch nur Zeit hatte, als Reaktion zu zucken, folgten Kopfschüsse.
Der dritte bekam drei Schüsse in die Wirbelsäule, während er rannte.
Der vierte Bewaffnete – Maqsoodi – schaffte es durch eine Tür in eines der kleineren Gebäude, bevor Victor ihn vollständig im Visier hatte.
Es war der Lagerraum mit den amerikanischen Schalldämpfern und Akrams Leiche.
Victor widerstand seinem Instinkt, den Abzug zu betätigen und eine Kugel zu verschwenden. Ein Amateur würde einfach hoffen, dass sie traf. Aber Victor wusste, dass die Kugel den Bruchteil einer Sekunde zu lange brauchen würde, um die Entfernung zurückzulegen. Es gab nur wenige Dinge, die Victor weniger leiden konnte, als Munition zu verschwenden.
Das Kupferrohr kam an einem Reifen des zweiten Toyotas zum Stillstand, währen die drei Leichen nacheinander zu Boden fielen.
Sie hatten gute Positionen gehabt, von denen aus jeder von ihnen einen anderen Winkel zur Tür hatte. Dadurch bestand kein Risiko, in die Schusslinie eines anderen zu gelangen. Egal wie schnell sich Victor bewegen und wie präzise er schießen konnte, es wäre unmöglich gewesen, auf den Innenhof zu treten und zu überleben, wenn sie alle in seine Richtung schauten.
Er folgte Maqsoodi schnellen Schrittes, aber ohne sich zu beeilen, denn seine Beute würde keinen Ausweg haben.
Victor hörte die Tür im Inneren zuschlagen, bevor er den Lagerraum erreichte. Als er eintrat, sah er, dass Maqsoodi in Akrams Blut ausgerutscht war und eine Spur zu einer der zwei Türen des Hauptraums führte.
Jetzt, mit dem begrenzten Platz, ließ Victor den Karabiner zurück und nahm die Five-Seven vom Türrahmen, wo er sie zuvor abgelegt hatte. Sie fühlte sich gut an in seiner Hand.
Als er den nun unterbrochenen See aus Blut umging und den blutigen Fußspuren zur Tür folgte, schossen Kugeln sechs saubere Löcher durch diese. Kein Zersplittern. Nur kleine Holzstaubwolken glitzerten, als sie durch die Sonnenstrahlen schwebten.
Sie trafen die Wand zu Victors Rechten. Ziemlich knapp an ihm vorbei. Maqsoodi war so gut, dass er Victors ungefähre Position allein am Klang seiner leisen Schritte ausmachen konnte. Jedoch nicht gut genug, um zu realisieren, dass er, wenn er sein Ziel nicht traf, im Gegenzug seine eigene exakte Position preisgeben würde.
Die Löcher in der Tür waren auf Brusthöhe und die Löcher in der Wand in einer Linie mit Victors Augen. So wusste er, dass der Afghane in dem anderen Raum hocken oder knien musste.
Er machte eine schnelle Berechnung und schoss dann drei seiner eigenen Kugeln durch die Tür.
Die daraus resultierenden Löcher waren viel größer und unsauberer, denn die 5,7mm Pistolenkugeln hatten zwar nur einen etwas größeren Durchmesser, waren aber dafür um etwa drei Viertel langsamer.
Nichtsdestotrotz effektiver.
Ein lautes Stöhnen ertönte von der anderen Seite der Tür.
Kein Todesschrei, das wusste Victor. Also ließ er sich bäuchlings auf den Boden fallen, bevor Maqsoodi seinerseits eine Reihe von Geschossen abfeuerte.
Eine nutzlose Handlung, aber wie die Panik führte auch der Schmerz zu solch ineffektiven Reaktionen.
Kugeln rissen in einem wilden Muster durch die Tür – vielleicht zwanzig Stück. Die Rückstoßkontrolle des Afghanen musste durch seine Verletzungen eingeschränkt sein, oder vielleicht spiegelte es auch seinen derzeitigen Geisteszustand wider: verzweifelt und aufgebracht.
Als die Schießerei stoppte, kam Victor blitzschnell auf seine Füße und trat die Tür ein. Es war schwer, die Schüsse einer automatischen Waffe zu zählen, aber wenn er mit seiner Einschätzung richtig lag, dann würde Maqsoodi gerade –
Seine Waffe nachladen.
Er saß auf dem Boden und lehnte mit dem Rücken gegen eine Kiste, gefüllt mit den tadellosen Schalldämpfern, die Fahim so begeistert vorgezeigt hatte. Seine Beine waren vor ihm ausgestreckt. Er musste aus seiner vorherigen hockenden Position zurückgefallen sein. Mit einer Hand versuchte er hastig, ein neues Magazin nachzuladen. Der Karabiner lag auf seinem Schoß, ein leeres Magazin neben ihm, und da er die andere Hand wegen der Einschusslöcher an Schulter und Arm nicht zur Stabilisierung der Waffe benutzen konnte, fummelte er kläglich daran herum, das neue Magazin in das Gehäuse einzusetzen.
Jetzt, da Victor im Raum war, erstarrte Maqsoodi. Es war unmöglich, das Gewehr rechtzeitig zu laden und schussbereit zu machen, es sei denn durch göttliche Fügung. »Du hättest die Pistole nehmen sollen«, bemerkte Victor.
Maqsoodi schaute ihn völlig verwirrt an, bevor es ihm klar wurde und er zu seiner Pistole in seinem rechten Oberschenkelholster herunterblickte, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Die Waffe war nur Zentimeter von seiner funktionsfähigen Hand entfernt. Aber bei schlechten Entscheidungen und ineffektiven Reaktionen haben auch Schmerz und Panik die Angewohnheit, ansonsten intelligente Menschen das absolut Wesentliche vergessen zu lassen.
Für einen kurzen Moment sackten sein Kopf und seine Schultern vor Selbstverachtung nach unten.
Als er wieder zu Victor aufblickte, sagte er: »Warte –«
Ein einfacher Kopfschuss erwies sich als die effizienteste Art, dem Afghanen zu erklären, dass es keinen Grund für weitere Diskussionen gab.
Victor verabscheute die Verschwendung von Worten noch mehr als die Verschwendung von Munition.
Das Oberhaupt der Bratva zog es vor, mit so wenig Aufsehen wie möglich zu reisen. Aufgrund seiner Statur war Geheimhaltung unmöglich, also war die bestmögliche Lösung Diskretion. Eine gepanzerte Limousine holte Maxim Borisyuk von seiner Datscha außerhalb Moskaus ab, gefolgt von einem bescheidenen vierköpfigen Sicherheitsteam. Sein persönlicher Leibwächter reiste mit ihm in der Limousine, genau wie Luda Zakharova, die das alltägliche Geschäft der Bruderschaft so effizient leitete, dass ihre Beteiligung nur selten erforderlich war.
Obwohl es für einen relativ kurzen Flug übertrieben war, erwartete Borisyuk auf einem privaten Flugplatz ein Langstreckenjet. Der Jet war die neueste Ergänzung der Flugzeugflotte der Bratva-Mantelgesellschaften, gekauft für eine einzige Aufgabe, die nun erledigt war. Und obwohl Borisyuk unfassbar reich war, konnte er den missbilligenden Blick seiner Mutter spüren, die Verschwendung immer gehasst hatte. Angesichts der Tatsache, dass das Flugzeug ohne Zwischenstopp von Russland bis nach Nordamerika fliegen konnte, hätte seine Mutter – wäre sie noch am Leben – ihn nicht nur mit ihren Augen durchbohrt, sondern ihm auch eine saftige Ohrfeige verpasst.
Da Diskretion von Wichtigkeit war, blieb das vierköpfige Sicherheitsteam auf der Rollbahn, während Borisyuk mit seinem Leibwächter und gefolgt von Zakharova die Treppen hinaufstieg. Die Flugzeugbesatzung kannte ihn mittlerweile gut genug, um auf kriecherische Begrüßungen und aufgesetzten Smalltalk zu verzichten. Also hießen sie ihn höflich, aber seriös an Bord willkommen.
Der kalte Wind zerzauste die Haarsträhnen, die sich hartnäckig an seine Kopfhaut klammerten, während der Rest längst ausgefallen war. Er strich sie glatt, sobald er im Flugzeug war.
Anstatt sich in den Sitz zu setzen, ließ er sich vielmehr in ihn hineinfallen. Borisyuk wusste, dass der Tag, an dem man sich nicht mehr selbst niederließ und der Schwerkraft die Arbeit überließ, der Tag war, an dem man alt wurde.
In seinem Sitz wurde ihm schwarzer Tee mit Zitrone gebracht und Zakharova, die ihm gegenübersaß, bekam ihren bevorzugten japanischen Whisky auf Eis.
Der Abflug verlief geschmeidig. Borisyuk freute sich auf eine entspannte Reise, auf der er seinen Tee trinken und sich ein oder zwei Italowesternfilme ansehen konnte. Der Schmuggel von Raubkopien amerikanischer Fernseh- und Kinofilme war in den späten Achtzigerjahren eines seiner profitabelsten Geschäfte gewesen. Neue Medien waren in Sowjetrussland schwer zu bekommen, und so waren viele der Bänder, die er beschaffen konnte, von Sendungen und Filmen aus früheren Jahrzehnten. Borisyuk hatte damals eine Vorliebe für alte Western entwickelt, für die Freiheit eines Landes, in dem man nicht im Schatten einer übermächtigen Autokratie lebte. Er liebte auch die Schießereien. Sie waren so unrealistisch für jemanden, der schon zu viele erlebt hatte, und doch besaßen sie einen unbestreitbaren Charme. Stilvoll und unterhaltsam, ohne den Gestank von Eingeweiden und den entsetzlichen Terror.
Zakharova allerdings wollte reden.
Jeder andere seiner Angestellten würde seinen Andeutungen folgen und ihn in Ruhe lassen. Und genau deswegen schätzte er ihre Beiträge so sehr. Sie hatte nie Angst vor ihm gehabt. Sie hat nie um sein Wohlgefallen geworben. Er war es gewesen, der so sehr versucht hatte, sie in sein Unternehmen zu bringen, und sie ließ es ihn nie vergessen.
»Willst du deine Agenda jetzt oder bei der Ankunft erhalten?«, fragte sie ihn, nachdem sie beide ihren ersten Schluck genommen hatten.
»Ist niemals eine Option?«
Sie setzte ihr Glas ab und wartete auf eine erwachsenere Antwort.
Der Tee war zu heiß, um ihn vernünftig zu genießen, also pustete Borisyuk auf die Oberfläche, bevor er den nächsten Schluck nahm.
»Bei der Ankunft«, antwortete er schließlich. »Die Höhepunkte jetzt, wenn du so freundlich wärst.«
Zakharova bewahrte ein Tablet in ihrer Tasche auf, welches sie Borisyuk gegeben hätte, hätte er die gesamte Agenda gefordert. Natürlich kannte sie sie auswendig und listete einige Namen der Leute auf, die er treffen sollte.
»Hört sich anstrengend an.«
»Es sind weniger Meetings, als du gewohnt bist.« Sie führte ihr Glas wieder an ihre Lippen. »Tut mir leid, wenn sich mein Mitgefühl in Grenzen hält.«
Er hatte sie immer als jung wahrgenommen. Und sie war es auch gewesen, als sie angefangen hatte, für ihn zu arbeiten. Während sie beide älter wurden, hatte sie nie diesen Lebensfunken verloren, der ihn überhaupt erst davon überzeugt hatte, sie einzustellen. Im Hinblick darauf, dass er über siebzig war, musste sie mindestens fünfzig sein. Er hatte sich alt gefühlt mit fünfzig. Er erwartete nicht, noch am Leben zu sein, wenn Zakharova sein Alter erreichen würde, aber er stellte sie sich genauso energetisch wie immer vor.
»Du hast diesen Blick«, sagte sie, ohne von ihrem Tablet aufzublicken.
»Welchen Blick?«
»Verloren in einem Moment, nostalgisch und doch bittersüß.«
»Ich dachte, ich würde dich irgendwann einmal heiraten.«
Uralter japanischer Whisky versprühte in alle Richtungen.
Zakharova stöhnte frustriert und genervt auf, während sie ihren tausend Dollar teuren Hosenanzug hastig mit Servierten abtupfte. »Du musst nicht so zufrieden mit dir selbst aussehen.«
»Ich versuche es wirklich sehr, das verspreche ich dir.«
Sie hatte nie geheiratet, aber im Laufe der Jahre waren ihm bei gesellschaftlichen Anlässen, bei denen sie beide eingeladen waren, viele Verehrer vorgestellt worden. Warum er selten einen von ihnen ein zweites Mal traf, sagte sie ihm nicht, und er wollte auch nicht fragen. Es ging ihn nichts an.
»Offensichtlich«, begann sie und trocknete ihre Hände, »hast du einen lächerlichen Scherz gemacht, den ich nicht verstehe.«
»Kein Scherz«, versicherte er ihr. »Es wäre meiner Tochter zuliebe gewesen. Größtenteils.«
»Ich tue jetzt mal so, als hätte ich die Pause vor größtenteils nicht gehört.«
»Wir verbringen bereits fast jeden Tag zusammen.«
»Was wahrscheinlich die schlechteste Rechtfertigung für eine Heirat ist, die ich je gehört habe.«
Mit trockenen Händen und so viel Whisky wie möglich aus ihrem Anzug getupft, deutete sie dem Steward, ihr noch einen zu bringen.
»Was hättest du gesagt?«
»Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Das ist mein Ernst. Ich würde es gern wissen.«
Sie visierte ihn mit einem eisigen Blick von Missbilligung an. »Ich weigere mich, auf einen rein hypothetischen Antrag zu antworten.«
»Das ist also ein Nein.«
»So ist es«, sagte sie und nickte. »Wenn du nicht mutig genug bist, mich wirklich zu fragen, ob ich dich heiraten möchte, dann ist meine Antwort von vornherein ein automatisches und ausdrückliches Nein. Feigheit ist ausgesprochen unattraktiv.«
»Du wirst dich erinnern, dass ich darüber nachgedacht habe. Einst.«
»Du bist alt genug, um mein Vater zu sein.«
»Ich versichere dir, dass ich keine unangemessenen Absichten hatte.«
»Du machst es nur schlimmer, nicht besser.«
Borisyuk lachte. »Frauen sind unmöglich.«
»Diese Einstellung erklärt, warum du immer noch Junggeselle bist.«
»Vielleicht«, gestand er und kehrte dann zum Geschäftlichen zurück. »Wann in dieser ganzen Aufregung werde ich Vasili treffen?«
»Wenn es nach mir ginge, würdest du ihn gar nicht treffen.«
»Ich frage mich, was du an ihm nicht leiden kannst.«
»Ich kann es nicht leiden, dass du ihn magst«, antwortete sie.
»Eifersucht steht dir nicht, Liebling.«
Sie schnaubte. »Und Ablenkung ist unter deiner Würde, Maxim.«
»Sag es mir.«
»Er ist ein Auftragskiller.«
»Wir haben viele Auftragskiller.«
»Er ist keiner von uns.«
»Ebenso wenig wie die Hälfte der Leute, mit denen du mich in London verabredet hast.«
Sie hielt seinem Blick einen langen Moment stand, und wie immer machte sie es ihm unmöglich, in ihrem Gesichtsausdruck etwas zu lesen, das sie ihm nicht zeigen wollte. »Es war unklug, ihn auszuleihen.«
»Kasakov ist begeistert von seiner Effektivität. Aber das ist nicht der Grund dafür, warum du ihn nicht leiden kannst, oder?«
»Deine Vorliebe für ihn lässt dich schwach aussehen.«
»Ich verstehe. Ist das alles?«
»Er lässt dich alt wirken.
»Ich bin alt.
»Noch älter.«
»Du hast nicht gesagt, dass du denkst, ich würde schwach aussehen oder älter wirken. Was haben sie über mich gesagt?«
»Nichts«, antwortete Zakharova. »Niemand würde sich das trauen.«
»Außer dir.«
»Es ist ein Gefühl«, erklärte sie einen Moment später. »Die Art, wie sie sich dir gegenüber verhalten.«
»Wegen Vasili?«
»Nicht ganz, aber teilweise. Es ist ein weiteres Zeichen dafür, dass du verweichlichst.«
»Das Geschäft lief nie besser.«
»Vielleicht ist das das Problem. Vielleicht sind wir für einige zu sehr wie ein Unternehmen und nicht genug wie Kriminelle.«
»Wer es vorzieht, für wenig Geld Revierkämpfe zu führen, kann zu den alten Methoden zurückkehren.«
»Ich bestreite nicht die Vorzüge deiner Führungsqualitäten«, sagte sie und lehnte sich vor. »Ich erzähle dir bloß, wie ich die vorherrschende Stimmung wahrnehme.«
»Verstanden.«
»Du hättest nicht dafür sorgen sollen, dass dein Flugzeug ihn aus Kabul abholt.«
»Jetzt kommen wir zur Wahrheit«, begann Borisyuk mit der Andeutung eines Lächelns. »Du magst diesen Jet nicht.«
»Ich schätze deine Witze in dieser Situation nicht.«
»Wohingegen es mich nicht stört, dass wir ein Flugzeug verschrotten mussten.«
»Und das gesamte Unternehmen, auf das es registriert war.«
»Im Endeffekt wird es keinen Unterschied machen.«
»Für andere schon. Und das gilt nicht nur für die Geheimdienste, die das Kommen und Gehen aus Afghanistan verfolgen.«
»Sprich weiter.«
»Wie jeder König«, begann sie, »regierst du, weil deine Adligen es so wollen. Und diese Adligen wollen nur dann einem König untertan sein, wenn diese Herrschaft ihnen nützt. Wenn sie sehen, dass du unnötige Risiken eingehst, sehen sie, dass du sie in Gefahr bringst.«
Borisyuk sortierte seine Gedanken. Er hatte selten das Bedürfnis, sich vor irgendjemandem zu erklären, und doch hatte er kaum ein Geheimnis vor Zakharova. »Der Kontaktmann – unser Mann – hätte ihn fast umgebracht.«
»Das erklärt nicht, warum du dich dafür interessierst.«
»Ich muss mir keine Gedanken darüber machen, was er denkt. Ich frage mich zu keinem Zeitpunkt, was in ihm vorgeht, denn er verbirgt nichts vor mir. Er hat keinen Ehrgeiz. Zumindest nicht, wie du oder ich ihn definieren würden. Er hat eine Schuld bei mir zu begleichen, und das ist alles, was er will.«
»Du kannst unmöglich einem Killer vertrauen.«
»Wer redet denn von Vertrauen? Ich muss ihm nicht vertrauen. Ich sage ihm, was er zu tun hat, und er tut es. Ich mag die Einfachheit meines Arrangements mit ihm. Wenn ich mit ihm spreche, weiß ich, dass ich genauso ehrlich zu ihm sein kann wie mit jedem anderen, aber er wird im Gegenzug genauso ehrlich zu mir sein. Das kann ich über keine andere Person sagen.« Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht lesen, aber er verstand ihr Schweigen. »Ich sehe, ich habe dich verletzt. Und das ist mein Punkt. Meine Ehrlichkeit verletzt dich, obwohl es keinen Grund dafür gibt. Ich werfe dir keine Untreue vor.«
»Dann sollte ich wohl zumindest darüber glücklich sein.«
»Lass uns bitte nicht so tun, als würdest du mir jeden deiner Gedanken erzählen, nichts zurückhalten und alles über dich und dein kleines Leben mit mir teilen, ganz frei und offen.«
»Und dieser Killer tut das?«
»Nein, natürlich nicht. Ich sage ihm, wen er töten soll, und er tut es. Das ist das gesamte Ausmaß. Das Maß an Ehrlichkeit, die er an den Tag legt, ist der Art der Beziehung, die ich zu ihm habe, vollkommen angemessen.«
»Es sei denn, er hat dich die ganze Zeit über zum Narren gehalten.«
»Ich halte mich nicht für einen Narren, aber wenn ich mich täusche, werden wir bald von meinem Leichtsinn erfahren.«
»Was soll das heißen?«
»In London werden wir die Loyalität dieses Killers auf Herz und Nieren prüfen.«
In den fünf Jahren vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Libyen lieferten die Länder der Europäischen Union Waffen im Wert von fast einer Milliarde Dollar in das Land. Diese Lagerbestände wurden bald nach dem Sturz des Regimes geplündert, und die Waffen wurden von zahlreichen, oft sehr unterschiedlichen Gruppen von Rebellen, Milizen und Söldnern beansprucht. Zwar war das riesige Netzwerk von Vladimir Kasakov über das ganze Land verstreut, doch er kaufte, stahl und handelte mit einem Großteil dieser Waffen, um sie dann an Warlords in Mali weiterzuleiten. Mit den andauernden Kämpfen zwischen Regierungskräften und denen, die versuchten, sie zu stürzen, waren die Käufer dort bereit, viel Geld für moderne Gewehre und schwere Waffen zu bezahlen, die die Ukrainer für einen Bruchteil des Preises erworben hatten.