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BLOOD ON SNOW: Es geht weiter ... Ulf ist Geldeintreiber. Sein Boss ist der Fischer. Der Fischer ist einer DER Drogenhändler Oslos. Als Geldeintreiber wird man nicht unbedingt reich. Doch jetzt hat Ulf einen Weg gefunden. Glaubt er. Zwei Probleme stellen sich: Drogenhändler lassen sich ungern reinlegen. Und schicken sie ihre Killer los, sollte man ganz weit laufen – und sich ein gutes Versteck suchen. Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!
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Das Buch
Ulf ist Geldeintreiber.
Sein Boss ist der Fischer.
Der Fischer ist DER Drogenhändler Oslos.
Als Geldeintreiber wird man nicht unbedingt reich.
Doch jetzt hat Ulf einen Weg gefunden.
Glaubt er. Zwei Probleme stellen sich:
Drogenhändler lassen sich ungern reinlegen.
Schicken sie ihre Killer los, braucht man ein gutes Versteck.
Das Versteck ist der zweite Teil der weltweit erfolgreichen Reihe Blood on Snow. Es gibt ein Wiedersehen mit einigen Figuren, die wir aus dem ersten Band Der Auftrag kennen, doch beide Thriller sind in sich abgeschlossen und eigenständig. Das Versteck erzählt rasant die aberwitzige Geschichte einer Verfolgungsjagd durch halb Norwegen.
Der Autor
Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Die Hollywood-Verfilmung seines Romans Schneemann wird von Martin Scorsese produziert, Blood on Snow. Der Auftrag von Leonardo DiCaprio. In Norwegen war Das Versteck auf der Shortlist des angesehenen Brage-Literaturpreises. In den USA wurde das von Patti Smith eingelesene Hörbuch Der Auftrag für einen Grammy nominiert.
Jo Nesbø lebt in Oslo.
www.jonesbo.comwww.nesbo.de
Jo Nesbø
BLOOD ON SNOW
DAS VERSTECK
Kriminalroman
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
Ullstein
Die Originalausgabe erschien 2015unter dem Titel Mere blodbei Aschehoug, Oslo.
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ISBN 978-3-8437-1181-4
© 2015 by Jo Nesbø© der deutschsprachigen Ausgabe2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Cornelia Niere, MünchenUmschlagabbildung: © Stephen Carroll / Trevillion Images
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Wo beginnt diese Geschichte? Ich wünschte, ich könnte sagen, am Anfang. Aber ich weiß nicht, wo sie beginnt. Die eigentlichen Zusammenhänge meines Lebens kenne ich ebenso wenig wie jeder andere.
Beginnt die Geschichte in dem Moment, als mir klarwurde, dass ich nur der viertbeste Kicker der Klasse war? Als Basse, mein Großvater, mir die Zeichnungen der Sagrada Família zeigte – seine Zeichnungen? Als ich zum ersten Mal an einer Zigarette zog oder zum allerersten Mal Grateful Dead hörte? Als ich an der Uni Kant las und glaubte, ihn zu verstehen? Als ich meinen ersten Klumpen Hasch verkaufte? Oder begann die Geschichte, als ich Bobby küsste – Bobby ist ein Mädchen –, oder als ich das kleine, schrumpelige Wesen sah, das sich die Seele aus dem Leib schrie und den Namen Anna bekommen sollte? Oder erst, als ich im stinkigen Hinterzimmer des Fischers hockte und er mir sagte, was ich zu tun hatte. Ich weiß es nicht. Wir bauen uns unsere Geschichten nach unserer eigenen Logik zusammen, um unserem Leben einen Anstrich von Sinn zu geben.
Im Grunde kann ich auch gleich hier anfangen, mittendrin, ohne es zu wissen, in dem Moment, als das Schicksal eine Pause zu machen und den Atem anzuhalten schien. Als ich einen Augenblick dachte, auf dem Weg zu sein, ja vielleicht schon am Ziel.
Ich stieg mitten in der Nacht aus dem Bus und kniff die Augen zusammen. Die Sonne hing über einer Insel im Meer irgendwo im Norden. Rot und matt. Wie ich. Hinter ihr war noch mehr Meer. Und irgendwo dahinter der Nordpol. Vielleicht war dies der Ort, an dem sie mich nicht finden würden.
Ich sah mich um. In allen drei anderen Himmelsrichtungen hügelige Landschaft. Rote und grüne Heide. Steine und hin und wieder ein Birkenstrauch. Im Osten fiel das Land sanft und steinig Richtung Meer ab, im Südwesten sah die Küste aus wie mit dem Messer gekappt. Vielleicht hundert Meter über dem Meeresspiegel begann die Hochebene, die sich bis weit ins Landesinnere erstreckte. Die Finnmarksvidda. Großvater hatte immer gesagt, dass die Linie, wie er es immer nannte, hier endete.
Der festgefahrene Kiesweg führte zu einer Gruppe kleiner Häuser, in deren Mitte der Turm einer Kirche aufragte. Ich hatte im Bus geschlafen und war erst hinter dem Ortsschild mit dem Namen Kåsund aufgewacht, unten am Wasser, an einem hölzernen Kai. Warum nicht?, hatte ich gedacht und an der Schnur über dem Fenster gezogen. Das Schild über dem Busfahrer leuchtete auf.
Ich zog meine Anzugjacke an, nahm die Ledertasche und ging los. Die Pistole in der Jackentasche schlug mir gegen die Hüfte. Direkt gegen den Knochen, ich war immer schon zu dünn gewesen. Ich blieb stehen, schob den Geldgürtel unter dem Hemd etwas tiefer, damit die Scheine die Schläge auffingen.
Nicht eine Wolke war am Himmel und die Luft so klar, dass ich das Gefühl hatte, unendlich weit sehen zu können. So weit das Auge reicht, wie es hieß. Die Finnmarksvidda gilt als schön. Aber was weiß ich schon davon? Sagen die Leute so etwas nicht immer über ungastliche Gegenden? Um zu demonstrieren, wie taff sie sind oder weil sie intellektuell und überlegen wirken wollen, wie Leute, die auf unverständliche Musik stehen oder auf rätselhafte Literatur? Ich war da gar nicht anders. Dachte, damit vielleicht andere, meine weniger guten Seiten kompensieren zu können. Oder wollte man so die wenigen Kreaturen trösten, die verdonnert waren, hier zu leben? »Es ist so wunderschön.« Ehrlich: Was war an dieser flachen, kargen und auch noch eintönigen Landschaft schön? Es war die reinste Marslandschaft. Eine rote Wüste. Unbewohnbar und hässlich. Das perfekte Versteck. Hoffentlich.
Die Zweige einer nahen Baumgruppe bewegten sich. Im nächsten Augenblick sprang ein Mann über den Graben auf die Straße. Meine Hand griff automatisch zur Pistole, aber ich riss mich zusammen, das war keiner von ihnen. Dieser Kerl sah aus wie der Joker aus einem Kartenspiel.
»Guten Abend!«, rief er und kam seltsam schwankend auf mich zu. Ich konnte durch seine ausgeprägten O-Beine die Straße sehen, die zum Dorf führte. Ein paar Schritte später erkannte ich, dass das, was er auf dem Kopf trug, keine Narrenkappe, sondern eine Samenmütze war. Blau, rot und gelb, nur die Glöckchen fehlten. Er trug helle Lederstiefel und eine blaue, mit schwarzem Klebeband geflickte Daunenjacke. An manchen Stellen quoll trotzdem die gelbliche Füllung heraus, die eher nach Isolierwatte als nach Federn aussah.
»Entschuldige die Frage«, sagte er, »aber was bist du denn für einer?«
Der Kerl war mindestens zwei Köpfe kleiner als ich, das Gesicht ebenso breit wie sein Grinsen, die Augen standen schräg wie bei einem Asiaten. Er entsprach allen Klischees, die in Oslo über die Samen kursierten.
»Ich bin mit dem Bus gekommen«, sagte ich.
»Das habe ich gesehen. Ich bin Mattis.«
»Mattis«, wiederholte ich langsam, um ein paar Sekunden Zeit zu schinden, bevor ich auf seine nächste, unausweichliche Frage antworten musste.
»Und wer bist du?«
»Ulf«, sagte ich. Ein Name wie jeder andere.
»Und was willst du in Kåsund?«
»Ich bin nur zu Besuch«, sagte ich und nickte in Richtung der Häuser.
»Und wen willst du besuchen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Niemand Spezielles.«
»Bist du von der Jagdbehörde oder ein Wanderprediger?«
Ohne zu wissen, wie die Leute von der Jagdbehörde aussehen, schüttelte ich den Kopf und fuhr mir mit der Hand durch meine langen Hippiehaare. Vielleicht sollte ich sie besser schneiden, das wäre weniger auffällig.
»Entschuldige die Frage«, sagte er wieder, »aber was bist du dann?«
»Jäger«, sagte ich. Mag sein, dass ich wegen der Jagdbehörde darauf kam. Aber diese Lüge war auch nicht schlechter als irgendeine andere.
»Ach? Du willst hier jagen, Ulf?«
»Sieht doch nach einem guten Jagdgebiet aus.«
»Schon, aber du kommst eine Woche zu früh, die Jagdsaison beginnt erst am 15. August.«
»Gibt es hier ein Hotel?«
Der Same lachte laut. Räusperte sich und spuckte eine braune Brühe aus, die geräuschvoll auf den Boden klatschte. Hoffentlich Snus oder Kautabak.
»Eine Pension?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
»Campinghütte oder ein Privatzimmer?«
An dem Telefonmast direkt hinter ihm klebte das Plakat einer Tanzcombo, die in Alta aufspielte. Die Stadt konnte also nicht so weit entfernt sein. Vielleicht sollte ich mit dem Bus lieber dorthin fahren.
»Was ist mit dir, Mattis?«, fragte ich und schlug eine Mücke platt, die mich in die Stirn stach. »Du hast nicht zufällig ein Bett für eine Nacht?«
»Nee, das habe ich im Mai im Ofen verfeuert. Wir hatten einen kalten Mai.«
»Ein Sofa? Oder eine Matratze?«
»Matratze?« Er deutete auf die Heide, die ringsum wucherte.
»Danke, aber ich habe gerne vier Wände um mich herum und ein Dach über dem Kopf. Dann schaue ich mal, ob ich eine leere Hundehütte finde. Gute Nacht.« Ich ging auf die Häuser zu.
»Die einzige Hundehütte, die du in Kåsund findest, ist die da«, rief er in sinkendem, klagendem Tonfall.
Ich drehte mich um. Er zeigte auf das Gebäude am Rand der Siedlung.
»Die Kirche?«
Er nickte.
»Die ist nachts auf?«
Mattis legte den Kopf schief. »Weißt du, warum in Kåsund niemand was stiehlt? Weil es außer Rentieren nichts zu stehlen gibt.«
Mit einem überraschend eleganten Satz sprang der kleine, gedrungene Mann über den Graben und stapfte durch die Heide nach Westen. Meine Fixpunkte waren die Sonne im Norden und die Kirche, denn bei allen Kirchen, wo auch immer auf der Welt, liegt der Turm im Westen. Das hatte mein Großvater einmal gesagt. Ich legte die Hand über die Augen und ließ den Blick über das Gelände vor dem Mann schweifen. Wo zum Henker wollte er hin?
Vielleicht lag es an der Mitternachtssonne oder auch an der Stille, dass der Ort so verlassen wirkte. Die Häuser schienen alle zur gleichen Zeit errichtet worden zu sein, lieblos und ohne Gefühl fürs Detail. Sie waren solide gebaut, wirkten aber eher wie das nötige Dach über dem Kopf denn wie ein Zuhause. Praktisch. Verkleidet mit wetterfesten, pflegeleichten Platten. In den Gärten, in der Regel eingezäunte Heidefläche mit Birken, standen Autowracks ohne Nummernschilder, Kinderwagen, aber keine Spielsachen. Die wenigsten Häuser hatten Gardinen oder Fensterläden. Die kahlen Fensterflächen reflektierten das Sonnenlicht und verwehrten den Einblick. Wie eine verspiegelte Sonnenbrille zu tiefe Blicke in die Seele verhindert.
Die Kirche war tatsächlich offen, aber die Tür klemmte und ließ sich nicht so einfach öffnen wie die anderer Kirchen, die ich kannte. Das Kirchenschiff war klein und nüchtern, und doch von schlichter Schönheit. Die Mitternachtssonne schien auf die Glasmalereien, und über dem Altar hing wie überall ein gequälter Jesus am Kreuz, dahinter ein Triptychon mit der Jungfrau Maria in der Mitte und David gegen Goliath und dem Jesuskind auf den Seitenflügeln.
Neben dem Altar befand sich die Tür zur Sakristei. Ich durchsuchte die Schränke, fand zwei Talare, einen Putzeimer samt Schrubber, aber keinen Messwein, nur ein paar Schachteln mit Oblaten von der Bäckerei Olsen. Ich versuchte vier oder fünf davon herunterzuwürgen. Sie trockneten meinen Mund jedoch wie Löschpapier aus und quollen derart auf, dass ich sie schließlich auf die Zeitung spucken musste, die auf dem Tisch lag. Wenn es die aktuelle Ausgabe des Finnmark Dagbladet war, hatten wir den 8. August 1977. Die Proteste gegen den Ausbau des Altaelva nahmen zu, las ich, und die Finnmark fühlte sich als einziger Bezirk mit einer Grenze zur Sowjetunion nach dem Tod des Spions Gunvor Galtung Haavik sicherer. Außerdem erfuhr ich, wie der Regierungschef des Bezirks aussah und dass das Wetter im Norden endlich einmal besser werden würde als unten in Oslo.
Der Steinboden der Sakristei war zu hart und die Kirchenbänke zu schmal. Also nahm ich den Talar mit zum Altar, hängte meine Jacke über die kniehohe Umrandung, legte mich auf den Boden und schob mir die Ledertasche unter den Kopf. Etwas Nasses traf mich im Gesicht. Ich wischte es mit der Hand weg und sah auf meine Fingerkuppen. Sie waren rostrot.
Ich sah zu dem Gekreuzigten über mir, aber der Tropfen musste von der Decke kommen. Eine undichte Stelle, Nässe, Farbe von Lehm oder Rost. Ich drehte mich um, auf meine nicht schmerzende Schulter, und zog den Talar über den Kopf, damit es endlich dunkel wurde. Dann schloss ich die Augen.
So. Nicht nachdenken. Einfach alles aussperren.
Eingesperrt.
Ich riss den Talar weg und rang nach Atem.
Verdammt.
Blieb liegen und starrte an die Decke. Als ich nach der Beerdigung nicht schlafen konnte, hatte ich Valium genommen. Ich weiß nicht, ob ich davon abhängig geworden war, aber ohne Valium konnte ich kaum noch einschlafen. Jetzt kam es einfach darauf an, dass ich kaputt genug war.
Ich zog mir den Talar wieder über den Kopf und schloss die Augen. Siebzig Stunden auf der Flucht. Eintausendachthundert Kilometer. Ein paar Stunden Schlaf auf Bus- und Zugsitzen. Ich müsste kaputt genug sein.
Gute Gedanken.
Ich versuchte mir in Erinnerung zu rufen, wie es früher gewesen war. Davor. Aber die Bilder wollten sich nicht einstellen. Stattdessen kam alles andere hoch. Der Mann in Weiß. Der Fischgestank. Das schwarze Mündungsloch einer Pistole. Splitterndes Glas, der Sturz. Ich versuchte, die Bilder zu verjagen, streckte die Hand aus und flüsterte ihren Namen.
Und da kam sie. Endlich.
Ich wachte auf. Lag ganz still da.
Etwas hatte mich berührt. Irgendjemand. Vorsichtig, als wollte er mich nicht wecken, sondern sich nur vergewissern, dass da unter dem Talar wirklich jemand war.
Ich konzentrierte mich darauf, gleichmäßig zu atmen. Vielleicht gab es ja doch noch eine Chance, vielleicht hatten sie noch nicht bemerkt, dass ich wach war.
Ich schob meine Hand zur Seite, bis mir einfiel, dass meine Jacke mit der Pistole über der Umrandung hing.
Anfängerfehler, dachte ich. Und du willst ein Profi sein?
Langsam beruhigte sich mein Puls wieder. Der Körper hatte kapiert, was der Kopf noch verarbeitete: Wären sie das, hätten sie mich nicht sachte angetippt, sondern den Talar weggerissen, sich vergewissert, ob ich der Richtige bin, und mich mit Blei vollgepumpt.
Ich zog den Talar vorsichtig vom Kopf.
Das Gesicht, das auf mich herunterblickte, hatte Sommersprossen, eine Himmelfahrtsnase, ein Pflaster auf der Stirn und helle Wimpern um außergewöhnlich blaue Augen. Über der Stirn ragten widerspenstige rote Haare in die Höhe. Wie alt mochte er sein? Neun Jahre? Dreizehn? Keine Ahnung, mit Kindern habe ich echt keine Erfahrung.
»Du kannst hier nicht liegen bleiben.«
Ich sah mich um. Er schien allein zu sein.
»Warum nicht?«, fragte ich mit belegter Stimme.
»Weil Mama hier saubermachen muss.«
Ich kam auf die Beine, rollte den Talar zusammen, nahm die Jacke von der Umrandung und stellte fest, dass die Pistole noch in der Tasche steckte. Ein stechender Schmerz zuckte durch die linke Schulter, als ich den Arm in die Jacke zwängte.
»Bist du ein Südländer?«, fragte der Junge.
»Kommt darauf an, was ein Südländer ist.«
»Na einer, der weiter aus dem Süden kommt.«
»Alle kommen weiter aus dem Süden als ihr hier.«
Der Junge legte den Kopf schief. »Ich bin Knut. Ich bin zehn. Wie heißt du?«
Ich hätte beinahe etwas anderes gesagt, hielt mich dann aber doch an die Version vom Vortag.
»Ulf.«
»Und wie alt bist du, Ulf?«
»Alt«, sagte ich und streckte den Nacken.
»Mehr als dreißig?«
Die Tür der Sakristei öffnete sich. Ich drehte mich um. Eine Frau kam heraus, blieb stehen und sah mich an. Ich dachte spontan, dass sie für eine Putzfrau verdammt jung war. Und stark aussah. Auf dem Arm und der Hand, die den Eimer hielt, traten die Adern hervor. Wasser schwappte. Sie hatte breite Schultern, aber schmale Hüften. Die Beine waren unter einem altmodischen schwarzen Faltenrock verborgen. Ihre langen tiefschwarzen Haare schimmerten im Licht, das durch die hohen Fenster fiel. Eine einfache Haarspange hielt die Haare zusammen.
Sie setzte sich wieder in Bewegung. Kam auf mich zu. Die Sohlen ihrer Schuhe schlugen hart auf den Boden. Als sie nah genug war, sah ich, wie fein ihr Mund gezeichnet war. Auf der Oberlippe war die Narbe einer Hasenscharte zu erkennen. Ihre blauen Augen wirkten fast unnatürlich bei der dunklen Haut und den beinahe schwarzen Haaren.
»Guten Morgen«, sagte sie.
»Guten Morgen. Ich bin heute Nacht mit dem Bus gekommen. Aber es gab keinen Ort, an dem ich …«
»Schon in Ordnung«, sagte sie. »Die Tür des Herrn steht immer offen.« In ihrer Stimme war keine Wärme. Sie stellte Eimer und Schrubber ab und streckte mir die Hand hin.
»Ulf«, sagte ich und wollte einschlagen.
»Den Talar«, sagte sie und gab mir zu verstehen, dass ich meine Hand wegnehmen sollte. Ich sah auf das Bündel, das ich in der anderen Hand hielt.
»Ich habe keine Decke gefunden«, erwiderte ich und reichte ihr den Talar.
»Und nichts anderes zu essen als unser Abendmahl«, sagte sie, rollte den Talar auseinander und inspizierte den schweren weißen Stoff.
»Tut mir leid, ich bezahle natürlich dafür …«
»Es sei Ihnen gegönnt, mit oder ohne Segen. Aber spucken Sie beim nächsten Mal bitte nicht auf unseren Regierungschef.«
Ich weiß nicht, ob ich da ein Lächeln sah, aber die Narbe auf ihrer Oberlippe dehnte sich etwas. Dann verschwand die Frau ohne ein weiteres Wort wieder in der Sakristei.
Ich nahm die Tasche und stieg über die Altarumrandung.
»Wohin willst du?«, fragte der Junge.
»Raus.«
»Und warum?«
»Warum? Weil ich hier nicht wohne.«
»Mama ist nicht so sauer, wie sie wirkt.«
»Sag ihr einen schönen Gruß.«
»Von wem?«, erklang ihre Stimme. Die Frau kam zum Altar zurück.
»Ulf.« So langsam gewöhnte ich mich an den Namen.
»Und was wollen Sie hier in Kåsund, Ulf?« Sie wrang den Aufnehmer über dem Eimer aus.
»Jagen.« Ich hatte das Gefühl, dass es ratsam war, sich in einem kleinen Nest wie diesem an ein und dieselbe Geschichte zu halten.
»Schneehühner«, sagte ich ins Blaue. Gab es so weit im Norden überhaupt noch Schneehühner? »Alles halt, was kreucht und fleucht«, fügte ich hinzu.
»Es ist ein schlechtes Maus- und Lemmingjahr«, entgegnete sie.
Ich musste lachen. »Okay, ein bisschen größer hatte ich mir meine Beute schon vorgestellt.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich meine nur, dass es dieses Jahr nicht so viele Schneehühner gibt.«
Es entstand eine Pause, der Knut schließlich ein Ende machte.
»Wenn die Raubtiere nicht genug Mäuse und Lemminge haben, nehmen sie Schneehühner.«
»Ach so«, sagte ich und spürte, dass mir der Schweiß ausbrach. Ich musste mich mal waschen. Auch mein Hemd und meinen Geldgürtel. Meine Anzugjacke. »Ich werde schon was finden, was ich jagen kann. Das Problem ist wohl eher, dass ich ein bisschen zu früh dran bin. Die Jagdsaison beginnt ja erst nächste Woche. Aber so hab ich Zeit, mich ein bisschen einzuschießen.« Ich hoffte, dass der Same mich richtig informiert hatte.
»Ach, das mit der Saison«, sagte die Frau und wischte den Platz, an dem ich gelegen hatte, so fest, dass die Gummileiste des Schrubbers quietschte. »Wann Saison ist, bestimmt ihr da unten im Süden. Wir jagen, wenn wir Nahrung brauchen. Und lassen es, wenn wir keine brauchen.«
»Apropos brauchen«, sagte ich. »Können Sie mir sagen, ob ich hier im Ort irgendwo eine Bleibe finde?«
Sie hörte auf zu wischen und stützte sich auf den Schrubber. »Sie müssen nur irgendwo anklopfen, dann geben die Leute Ihnen auch ein Bett.«
»Egal wo?«
»Ja, ich denke schon. Aber im Moment sind natürlich nicht so viele zu Hause.«
»Ach ja?« Ich sah zu Knut. »Sommerferien?«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Sommerweide. Wer Rentiere hat, ist jetzt mit Zelt oder Wohnwagen auf den Weiden oder an der Küste unterwegs. Weiter im Süden. Die anderen sind noch beim Seelachsfischen. Außerdem findet gerade das jährliche Treffen in Kautokeino statt.«
»Verstehe. Gibt es eine Chance, bei Ihnen ein Bett zu bekommen?« Als ich ihr Zögern bemerkte, fügte ich gleich hinzu: »Ich bezahle natürlich gut.«
»Ich glaube, niemand hier würde Sie bezahlen lassen. Auf jeden Fall nicht gut. Aber mein Mann ist nicht zu Hause. Das ziemt sich eher nicht.«
Ziemen? Ich warf einen Blick auf ihren Faltenrock. Die langen Haare.
»Verstehe. Gibt es vielleicht ein Haus, das nicht so … zentral liegt? Wo man ein bisschen Ruhe und Frieden finden kann. Und eine hübsche Aussicht hat.« Ein Ort, von dem aus man sehen kann, wenn sich jemand nähert, meinte ich.
»Tja«, erwiderte sie. »Da Sie wegen der Jagd gekommen sind, könnten Sie eigentlich in die Jagdhütte gehen. Die steht jedem zur Verfügung. Sie liegt ein bisschen abseits, ist klein und eng, aber Ruhe finden Sie da ganz sicher. Und Aussicht haben Sie auch, in alle Himmelsrichtungen, das steht außer Frage.«
»Hört sich perfekt an.«
»Knut kann Ihnen den Weg zeigen.«
»Ist nicht nötig, ich finde sie bestimmt auch so …«
»Nein!«, sagte Knut. »Bitte!«
Ich sah ihn an. Sommerferien. Alle weg. Die Langeweile musste schon verdammt groß sein, wenn er mit seiner Mutter putzen ging. Jetzt war endlich mal was los.
»Okay«, sagte ich. »Gehen wir?«
»Ja!«
»Ich frage mich allerdings«, sagte die dunkelhaarige Frau und drückte den Aufnehmer in den Eimer, »womit Sie schießen wollen. Sie haben in der Tasche ja wohl kaum ein Gewehr.«
Ich starrte auf meine Tasche und musste der Frau recht geben.
»Das habe ich im Zug vergessen«, sagte ich. »Ich habe angerufen, und sie haben versprochen, es mir im Laufe der nächsten Tage mit dem Bus zuzustellen.«
»Und womit wollen Sie sich dann einschießen?«, fragte sie lächelnd. »Bis die Saison beginnt.«
»Ich …«
»Sie können die Flinte von meinem Mann leihen. Wartet doch draußen, bis ich fertig bin. Es dauert nicht lange.«
Eine Schrotflinte? Na ja, warum eigentlich nicht. Sie hatte das nicht als Frage formuliert, also nickte ich einfach und ging zur Tür. Das hastige Keuchen hinter mir ließ mich langsamer werden. Der Junge trat mir fast in die Fersen.
»Ulf?«
»Ja.«
»Kannst du Witze erzählen?«
Ich saß auf der Südseite der Kirche und rauchte eine Zigarette. Keine Ahnung, warum ich rauche. Ich bin nicht abhängig. Also, mein Blut lechzt nicht nach Nikotin. Das ist nicht der Grund. Es geht um irgendetwas anderes. Vielleicht die Handlung als solche. Rauchen beruhigt mich. Wahrscheinlich könnte ich mir ebenso gut einen Grashalm in den Mund stecken. Bin ich abhängig von Drogen? Nein, ich denke nicht. Bestimmt nicht. Ich bin vielleicht Alkoholiker, aber sicher bin ich mir auch da nicht. Ich bin gerne high, in den Wolken, blau – so viel steht fest. Und Valium nehme ich auch ganz gerne. Wobei das eigentlich so nicht stimmt: Ich hasse es, kein Valium zu nehmen. Total. Es ist wirklich die einzige Droge, von der ich wieder loskommen muss.
Ich habe angefangen, Hasch zu verkaufen, um damit meinen eigenen Verbrauch zu finanzieren. Das ist eine ganz simple und einleuchtende Rechnung; man kauft so viel Gramm, dass man den Preis drücken kann, vertickt zwei Drittel davon zu einem etwas höheren Preis und hat – schwupps – seine eigene Ration gratis. Von dort ist es kein großer Schritt mehr, daraus einen Fulltime-Job zu machen. Schwierig war eigentlich nur die grundsätzliche Entscheidung, etwas zu verkaufen. Das erste Mal. Der Weg dorthin war lang und umständlich, mit ein paar Abstechern, die ich mir echt hätte sparen können. Aber irgendwann stand ich im Schlosspark und raunte den Passanten, deren Haare meinem Empfinden nach lang genug waren, meinen kurzen Verkaufspitch zu (»Gras?«). Aber wie bei vielen Dingen im Leben ist das erste Mal eben so. Auf jeden Fall bin ich wie ein Idiot getürmt, als ein Typ mit Crewcut und blauem Hemd stehen blieb und um zwei Gramm bat.
Dabei wusste ich, dass er kein Drogenfahnder war. Die haben immer die längsten Haare und coolsten Klamotten. Ich hatte Schiss, es könnte jemand vom Fischer sein. Bis mir klarwurde, dass dem Fischer solch kleine Nummern wie ich vollkommen egal sind. Es wurde erst gefährlich, wenn man sich breitmachte und in seinen Amphetamin- und Heroinmarkt drängte. Wie Hoffmann. Für Hoffmann war es übel ausgegangen. Den gab es nicht mehr.
Ich schnippte die Kippe zwischen zwei Grabsteine.
Irgendwann ist man bis zum Filter runtergebrannt, und dann ist unwiederbringlich Schluss. Und das ist doch eigentlich der Sinn der Sache, bis zum Filter runterzubrennen und nicht schon vorher zu verglühen. Aber was heißt schon Sinn? Inzwischen war das mein Ziel, der Sinn ist mir eigentlich egal. Nach der Beerdigung hatte ich allerdings auch dieses Ziel in Frage gestellt. Jedenfalls an manchen Tagen.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Sonne. Wollte spüren, wie sie meine Haut wärmte. Einfach nur genießen. Hedon. Griechischer Gott. Oder wie es hier auf geweihtem Boden wohl heißen müsste: Abgott. Eigentlich ziemlich arrogant, alle anderen Götter als Abgötter zu bezeichnen. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Ein ganz schön diktatorischer Ansatz. Merkwürdig nur, dass die Christen das selbst nicht so sahen. Dass sie den Mechanismus nicht erkannten, den Automatismus, das sich selbst Erfüllende, Verstärkende, das ihren Aberglauben zweitausend Jahre überdauern ließ. Und dass eine Erlösung einzig denen vorbehalten sein sollte, die das Glück hatten, im richtigen Augenblick der Menschheitsgeschichte und noch dazu in den richtigen Ecken unserer Erde geboren worden zu sein, wo es die frohe Botschaft und den kurzen Pitch »Paradies« überhaupt nur gab.
Es wurde kühler. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben.
»Das ist meine Oma.«
Ich öffnete die Augen. Es war keine Wolke. Die Sonne malte einen Heiligenschein um die roten Haare des Jungen. War die Frau da drin wirklich seine Großmutter?
»Was?«
Er streckte den Arm aus. »Das Grab, auf das du die Zigarette geschnippt hast.«
Ich sah an ihm vorbei. Aus dem Blumenbeet vor einem schwarzen Stein stieg Rauch auf. »Tut mir leid, ich hatte eigentlich auf den Weg gezielt.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ach ja? Und wie willst du Schneehühner treffen, wenn du nicht mal einen Weg triffst?«
»Gute Frage.«
»Ist dir inzwischen ein Witz eingefallen?«
»Nein, ich habe ja gesagt, es kann länger dauern.«
»Es sind doch schon …«, er sah auf die Uhr, die er nicht hatte, »… fünfundzwanzig Minuten vergangen.«
Das stimmte sicher nicht, aber mir wurde langsam klar, dass der Weg zur Jagdhütte ganz schön lang werden konnte.
»Knut! Geh dem Mann nicht auf die Nerven.« Seine Mutter war aus der Kirche getreten und ging auf das Tor zu.
Ich stand auf und folgte ihr. Sie hatte einen kraftvollen Gang, und ihr leicht geschwungener Rücken erinnerte mich an den Hals eines Schwans. Der Kiesweg führte von der Kirche zu den wenigen Häusern von Kåsund. Die Stille war irgendwie bedrückend. Bis jetzt hatte ich außer diesen beiden keine anderen Menschen gesehen. Sah man einmal von dem Samen ab, der mir in der Nacht begegnet war.
»Warum haben so viele Häuser keine Gardinen?«, fragte ich.
»Weil Læstadius uns gelehrt hat, dass wir das Licht Gottes ins Haus lassen sollen«, antwortete sie.
»Læstadius?«
»Lars Levi Læstadius. Kennen Sie seine Lehre wirklich nicht?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte mal was über den schwedischen Pfarrer aus dem letzten Jahrhundert gelesen, der mit dem Lotterleben der Leute hier oben aufgeräumt hatte, aber seine Lehre kannte ich nicht. Ich hatte eigentlich auch gedacht, dass dieses antiquierte Zeugs längst ausgestorben war.
»Du bist kein Læstadianer?«, fragte der Junge. »Dann musst du in der Hölle brennen.«
»Knut!«
»Aber das sagt Großvater immer! Und der muss es wissen, er war doch Wanderprediger in der ganzen Finnmark und in Nord-Troms!«
»Großvater sagt aber auch, dass du deinen Glauben nicht an jeder Straßenecke herausposaunen sollst.« Sie sah mich entschuldigend an. »Knut ist manchmal ein bisschen forsch. Sind Sie aus Oslo?«
»Born and raised.«
»Familie?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sicher?«
»Was?«
Sie lächelte. »Sie haben gezögert. Vielleicht geschieden?«
»Dann musst du auf jeden Fall in der Hölle brennen!«, rief Knut und bewegte die Finger wie züngelnde Flammen.
»Nicht geschieden«, sagte ich.
Sie musterte mich von der Seite. »Also ein einsamer Jäger, weit entfernt von zu Hause. Was tun Sie sonst so?«
»Expedient«, sagte ich. Eine Bewegung ließ mich aufblicken, und ich sah gerade noch ein Männergesicht hinter einer Gardine verschwinden. »Aber ich habe meine Stellung gekündigt und suche etwas Neues.«
»Etwas Neues«, wiederholte sie.
Es klang wie ein Seufzer.
»Und Sie putzen?«, fragte ich, um das Gespräch in Gang zu halten.
»Mama ist Küsterin«, sagte Knut. »Großvater sagt immer, wenn sie ein Mann wäre, könnte sie auch die Pfarrstelle übernehmen.«
»Ich dachte, Pfarrerinnen wären mittlerweile erlaubt?«
Sie lachte. »Eine Pfarrerin in Kåsund?«
Der Junge machte wieder seine Flammenbewegungen mit den Fingern.
»Da wären wir.« Sie ging auf ein kleines Haus ohne Gardinen zu. Im Garten stand neben einer Schubkarre mit zwei rostigen Felgen ein auf Ytong-Steinen aufgebockter Volvo ohne Räder.
»Das ist Papas Auto«, sagte Knut. »Und das Mamas.« Er zeigte zur Garage, in der ein Käfer geparkt war.
Wir betraten das unverschlossene Haus, und sie bat mich im Wohnzimmer zu warten, während sie die Flinte holte. Ich blieb mit Knut stehen. Das Zimmer war spartanisch eingerichtet, aber hübsch, sauber und ordentlich. Solide Möbel, allerdings weder Fernseher noch Stereoanlage. Keine Topfpflanzen. Und die einzigen Bilder an der Wand waren ein Hochzeitsfoto und ein Gemälde von Jesus mit einem Lamm auf dem Arm.
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