17,99 €
Das Bergdorf Åre hoch im Norden Schwedens wimmelt von Skiurlaubern, als die Stockholmer Immobilienentwicklerin Charlotte Wretlind in ihrem Hotelzimmer brutal erstochen aufgefunden wird – das Bett klebrig von Blut. Panik breitet sich in der Gegend aus, Hanna Ahlander und ihr Kollege Daniel Lindskog übernehmen sofort den Fall. Die Spuren führen in ein verlassenes Hochgebirgshotel, das seinen früheren Glanz schon lange verloren hat: Charlotte kannte den Ort seit ihrer Kindheit und wollte das Gebäude abreißen lassen, um es durch ein spektakuläres Luxushotel zu ersetzen. Die Anwohner begegneten ihr mit erbittertem Widerstand. Doch Hanna muss feststellen, dass in diesem Fall nichts so ist, wie es scheint. Und dann geschieht ein zweiter Mord.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 550
Das Bergdorf Åre hoch im Norden Schwedens wimmelt von Skiurlaubern, als die Stockholmer Immobilienentwicklerin Charlotte Wretlind in ihrem Hotelzimmer brutal erstochen aufgefunden wird – das Bett klebrig von Blut. Panik breitet sich in der Gegend aus, Hanna und Daniel übernehmen sofort den Fall. Die Spuren führen in ein verlassenes Hochgebirgshotel, das seinen früheren Glanz lange verloren hat: Die Getötete kannte den Ort seit ihrer Kindheit und wollte das Gebäude abreißen lassen, um es durch ein Luxushotel zu er setzen. Die Anwohner begegneten ihr mit erbittertem Widerstand. Doch Hanna muss feststellen, dass in diesem Fall nichts so ist, wie es scheint. Und dann geschieht ein zweiter Mord …
Von Viveca Sten sind bei dtv außerdem erschienen:
Kalt und still. Der erste Fall für Hanna Ahlander
Tief im Schatten. Der zweite Fall für Hanna Ahlander
Viveca Sten
Ein Fall für Hanna Ahlander
Ein Polarkreis-Krimi
Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt
Für Mischa, den Liebling der ganzen Familie
Zimmermädchen Aada Kuus steht im Bad des Hotelzimmers 633 der Copperhill Mountain Lodge in Åre. Sie hat gerade zwei Badelaken aufgehängt, als sie Geräusche aus der Silver Suite nebenan hört.
Hat dort drinnen jemand gestöhnt …?
Vor Angst?
Es ist spät, nach Mitternacht. Sie wollte gerade ihre Schicht beenden. Doch dann fiel ihr ein, dass Zimmer 633, welches neben der Silver Suite liegt, neue Handtücher braucht. Das musste sie noch erledigen, bevor sie heimgehen konnte; die Gäste checken morgen früh ein.
Jetzt steht sie wie versteinert da, den Blick auf die Badezimmerwand gerichtet, die an die große Suite grenzt.
Eine Frau schreit, laut und hilflos. Eine dunkle Stimme stößt einen Fluch aus, gefolgt von einem dumpfen Poltern, das sich anhört, als würde eine Lampe umkippen und auf den Boden fallen.
Was geht da vor?
Ein Wimmern ist zu hören, und etwas in Aada reagiert. Lähmendes Entsetzen packt sie, wie früher, wenn der Stiefvater betrunken war und ihre Mutter mit Faustschlägen blutig geprügelt hat.
Sie ist wieder sieben Jahre alt.
Die Angst dröhnt im Körper. Das Blut gefriert zu Eis.
Aada begegnet ihrem entsetzten Blick im Spiegel über dem Waschbecken. Jetzt ist alles still, aber sie ist in ihrer Schutzhaltung erstarrt. Die Schultern hochgezogen, der Körper gekrümmt. Die Nerven liegen blank.
Sie atmet stoßweise durch den geöffneten Mund. Müsste sie nicht hinübergehen und klopfen? Oder die Rezeption anrufen?
Alarm schlagen?
Sie weiß weder aus noch ein, bekommt kaum noch Luft. Der Sauerstoff bleibt ihr gleichsam im Hals stecken, die Zunge klebt am Gaumen. Der Verstand sagt ihr, dass sie etwas tun muss, aber ihr Körper will, dass sie sich versteckt. Keiner darf wissen, dass du hier bist, schreit es in ihrem Kopf. Sonst könnte es dir ebenfalls schlecht ergehen.
Aada starrt weiterhin auf einen Punkt an der Fliesenwand, bis ihre Augen brennen.
Das Gefühl, dass sie von hier wegmuss, wächst lawinenartig; schließlich wird es so übermächtig, dass ihre Muskeln tatsächlich gehorchen. Auf zitternden Beinen wagt sie sich zur Tür und greift nach der schwarzen Klinke.
In dem Moment sieht sie ihn.
Gerade als sie hinausgehen will.
Sie hat die Tür erst einen kleinen Spalt geöffnet, die Hand liegt noch auf der Klinke, aber sie weicht sofort zurück, als ein Mann aus der Silver Suite stürmt, in der Hand einen glänzenden, blutigen Gegenstand.
Er hat die Mütze tief ins Gesicht gezogen und trägt einen schwarzen Mundschutz; das Einzige, was sie sehen kann, sind seine brennenden Augen.
Es dauert nur eine Sekunde, dann schließt sie die Tür instinktiv wieder, um sich zu schützen.
Ihre Gedanken überschlagen sich, sie steht wie angewurzelt da. Ist so verängstigt, dass sie sich nicht rühren kann. Schließlich sinkt sie auf die Knie und verbirgt das Gesicht in den Händen. Versucht, das Würgen zurückzuhalten, während sie sich im Schock hin und her wiegt.
Etwas Furchtbares muss in der Silver Suite passiert sein.
Der Mann war voller Blut.
Ist er noch da draußen?
Hat er vor, hereinzukommen, um sie ebenfalls anzugreifen?
Das dunkle, verlassene Hotelgebäude ragt vor einem Hintergrund aus schwarzweißen Fjällbirken auf. Die Fensterscheiben sind schmutzig, die Fassadenfarbe blättert ab und auf dem Grundstück liegt Müll herum.
Was für ein gottverlassener Ort.
Charlotte Wretlind begreift, dass sie eigentlich entmutigt sein sollte, wie sie da vor Storliens Hochgebirgshotel steht. Es ist bald Ostern, aber der Himmel ist bedeckt und das Nachmittagslicht grau. Die Anlage ist in trostlosen Dunst gehüllt.
Doch Charlotte sieht etwas anderes. Sie stört sich nicht an der Schäbigkeit und dem allgemeinen Verfall, an dem Gefühl, dass die Zeit an diesem Ort vorbeigegangen ist. Stattdessen sieht sie das Hotel so, wie es zu seiner Glanzzeit dastand, als sie ein Kind war und die Familie hier die Weihnachtsferien verbracht hat.
Als sie klein war und ihr Körper vor lauter Vorfreude kribbelte.
Sie erinnert sich an die feierliche Stimmung, wenn sie am dreiundzwanzigsten Dezember mit dem Nachtzug aus Stockholm eintrafen und mit dem Pferdeschlitten vom Bahnhof abgeholt wurden. Bei ihrer Ankunft im Hotel stand ein riesiger Weihnachtsbaum in der Eingangshalle, und an der Decke hingen glitzernde Girlanden.
Charlotte erinnert sich an das Gefühl am Heiligabend, wenn sie die imposante Treppe zum Restaurant hinaufgingen. Wie der Saum des langen Samtkleides ihrer Mutter jede Treppenstufe berührte, wie schön sie war mit ihren roten Lippen und dem dunklen, hochtoupierten Haar.
In Charlottes Erinnerung umgibt die Weihnachtstage in Storlien immer noch ein magischer Glanz. Viele Jahre lang hat sie davon geträumt, hier ein neues exklusives Hochgebirgshotel errichten zu lassen, so wie ihr Vater es immer vorgehabt hat.
Jetzt ist es soweit.
Es hat viel Überredung gekostet, ihren Geschäftspartner Henry für das Projekt zu gewinnen, aber nun hat sie endlich einen Kompagnon, der bereit ist, das noch fehlende Kapital zu investieren. Seit Jahrzehnten setzt sie die Projekte anderer in der Finanz- und Immobilienbranche um, aber jetzt ist die Zeit gekommen, ihre eigenen Pläne zu verwirklichen. Sie ist sechsundfünfzig Jahre alt und wird etwas bauen, wofür man sich an sie erinnert.
Ihr Vater wäre so stolz gewesen, wenn er das noch hätte erleben können.
Sie kann es schon vor sich sehen, das neue Hauptgebäude, den Flügel mit einem luxuriösen Spa, die Panoramafenster. Die umbaute Fläche soll um ein Vielfaches größer werden, es wird exklusive Suiten und Restaurants geben, die Spitzengastronomie und höchsten kulinarischen Genuss bieten.
Der Ort soll wieder zum Leben erwachen und die Gäste sollen herbeiströmen, genau wie damals in ihrer Kindheit. Wenn sie hier fertig ist, wird das Hochgebirgshotel in Storlien selbstverständlich die erste Wahl für internationale Premiumgäste sein. Arabische Touristen, chinesische, sie hat schon begonnen, ein schillerndes Marketingkonzept zu entwerfen, um sie hierher zu locken.
Mit einem Lächeln auf den Lippen geht Charlotte zu ihrem Wagen, um nach Åre zurückzufahren. Sie wohnt die ganze Osterwoche im Hotel Copperhill Mountain Lodge und hat vor, ein bisschen Ski zu fahren, wenn sie nicht arbeitet. Zwischen Storlien und Åre liegt nur eine Dreiviertelstunde Autofahrt.
Sie hat sich so lange vorbereitet, träumt seit Jahren von dem Projekt hier. Es hat unendlich viele Stunden an Planung und Besprechungen gekostet. Manchmal musste sie argumentieren und manchmal drohen, um alle erforderlichen Genehmigungen zu erhalten. Am Montag hat sie eine letzte wichtige Besprechung mit der Kommune, um alles zu regeln. Danach wird es um siebzehn Uhr eine Pressekonferenz geben.
Der Vertreter der Kommune, Bengt Hedin, wird dabei sein. Henry fliegt ebenfalls hier herauf. Charlotte runzelt die Stirn. Sie darf nicht vergessen, ihn heute Abend anzurufen, sie muss ihn bei Laune halten.
Als sie sich hinters Steuer setzt, wirft sie unwillkürlich noch einen Blick auf das Gebäude am Berg. Wenn nur ihr Vater hier sein und ihren Triumph miterleben könnte. Aber er ist vor ein paar Jahren gestorben, und ihre Mutter lebt mit weit fortgeschrittener Demenz in einem Heim.
Papa wird sich nie über ihren größten Erfolg freuen können, obwohl sie ihr ganzes Leben darauf ausgerichtet hat, ihm zu beweisen, wie tüchtig sie ist. Aber sie freut sich darauf, die Pläne ihrem geliebten Sohn Filip zu zeigen, der versprochen hat, nächste Woche nach Åre zu kommen.
Sie sehnt sich danach, ihn zu sehen.
Ihr wunderbarer Filip.
Sie macht das hier auch für ihn. Er ist ihr einziges Kind. Sie hat ihn ganz allein großgezogen, nachdem sie sich von seinem Vater Mats scheiden ließ, als Filip noch klein war.
Insgeheim träumt sie davon, dass Filip ihr Lebenswerk übernimmt und sie eines Tages zusammenarbeiten werden. Zwar haben sie sich oft wegen seiner gescheiterten Hochschulausbildung gestritten, aber sie hofft, dass ein paar gemeinsame Tage in den Bergen die Dinge zurechtrücken.
Gerade hat er wieder ein Studium abgebrochen, diesmal an der Königlich Technischen Hochschule in Stockholm, und die Nachricht hat Charlotte gleichermaßen wütend und traurig gemacht. Sie sind vor ein paar Wochen heftig darüber aneinandergeraten, und sie hat Sachen gesagt, die sie zutiefst bereut.
Danach hat er sich auf ihre Textnachrichten kaum mehr gemeldet.
Sie will doch nichts lieber, als ihren Sohn zu unterstützen, aber sie versteht einfach nicht, warum er sich nicht mehr anstrengt.
Charlottes Hände ruhen auf dem Lenkrad.
Sie hasst es, mitansehen zu müssen, wie Filip sein Talent vergeudet. Er hat eine schnelle Auffassungsgabe und ist intelligent, er könnte Großes vollbringen, wenn er die Dinge nur ernst nehmen würde. Deshalb kann sie auch nicht den Mund halten, wenn sie sieht, wie er seine Zeit Tag und Nacht mit Computerspielen verplempert.
Gleichzeitig hasst sie die angespannte Stimmung, die jetzt zwischen ihnen herrscht. Sie ist nie konfliktscheu gewesen, aber es ist etwas anderes, mit seinem einzigen Kind Streit zu haben.
Filip bedeutet ihr alles, sie hält seine schweigsame Abkehr nicht aus.
Wenn er nach Åre kommt, muss sie versuchen, die Dinge wieder einzurenken. Als ersten Schritt der Wiedergutmachung hat sie seine hübsche Freundin Emily mit eingeladen, aber das reicht nicht, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.
Im Wagen ist es warm geworden, Charlotte regelt die Heizung herunter. Das Handy, das sie auf den Beifahrersitz gelegt hat, piepst kurz. Die Buchstaben leuchten ihr im Dunkeln entgegen. Es ist eine Nachricht von Bengt Hedin, dem Vorsitzenden des Boden- und Planungsausschusses der Kommune Åre.
Wir müssen über den Grundstückskauf reden. Die Opposition stellt Fragen, und ich weiß nicht, ob das machbar ist.
Charlotte unterdrückt einen Schrei der Entrüstung. Sie hat viel Geld bezahlt, um sich Hedins Unterstützung zu sichern. Für einen Rückzieher ist es jetzt zu spät, das muss ihm doch klar sein. Er kann es sich nicht wenige Tage vor der Bekanntmachung anders überlegen.
Das gesamte Projekt in Storlien basiert darauf, dass sie Grund und Boden hinzukaufen kann. Es war kompliziert, eine Genehmigung für die erforderlichen Erweiterungsbauten zu erhalten, und außerdem haben ihr die Kommunalbeamten andauernd Steine in den Weg gelegt. Zuerst verlangten sie, dass sie das verfallene Gebäude renovieren solle, und dann wollten sie die neuen Architektenpläne nicht genehmigen. Sie hatten die Stirn zu behaupten, die Gestaltung passe nicht zum Gesamtbild von Storlien.
Nach vielen fruchtlosen Diskussionen, an deren Ende offensichtlich war, dass die Kommune ihre Vision nicht teilte, erkannte sie, dass unorthodoxe Methoden erforderlich sein würden, um ihren Willen durchzusetzen.
Charlotte richtet ihre Aufmerksamkeit wieder aufs Handy. Am Montag soll alles unterschrieben werden, anschließend wird das Storlien-Projekt auf einer Pressekonferenz vorgestellt.
Sie wird auf keinen Fall zulassen, dass Hedin ihr im letzten Moment einen Strich durch die Rechnung macht. Selbstverständlich hat sie genau dokumentiert, welche Geldbeträge er angenommen hat.
Das ist ihre Absicherung für den Fall, dass er kalte Füße bekommt.
Langsam tippt sie eine Antwort, die unmissverständlich ist.
Das ist nicht mein Problem, das ist Ihres. Die Pressekonferenz ist am Montag, daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern.
Charlotte schickt die Nachricht ab. Das muss reichen. Sie legt das Handy zurück und hat gerade einen Gang eingelegt, als das Telefon schon wieder piepst.
Was will er jetzt?
Sie hebt es hoch und sieht, dass es eine SMS von einer unbekannten Nummer ist.
Verschwinde von hier, sonst wird es dir leidtun.
Sie stößt einen müden Seufzer aus.
Es ist nicht die erste Droh-SMS, die sie bekommen hat, seit ihre Pläne in der Umgebung bekannt wurden. Vermutlich auch nicht die letzte. Überall gibt es Ewiggestrige, die Veränderungen ablehnen und wollen, dass alles so bleibt, wie es immer war. Inzwischen gibt es wohl auch eine Facebookgruppe, in der die Leute Gift und Galle über sie und das Hotelprojekt spucken.
Sie muss Stefan am Wochenende anrufen und ihn bitten, die Sache in die Hand zu nehmen. Er ist einer der gewieftesten Lobbyisten in Schweden, ein ehemaliger Landwirtschaftsminister mit Kontakten in die ganze Gesellschaft. Das ist der Vorteil, wenn man ein prominenter Ex-Politiker ist. Er hat von Anfang an bei dem Projekt mitgearbeitet und geholfen, den Weg für den Hotelbau freizumachen.
Und das ist nicht sein einziges Talent.
Sie lächelt bei dem Gedanken an ihre letzte gemeinsame Nacht.
Mit einem Achselzucken beschließt sie, den Netztroll zu ignorieren. Dann biegt sie auf die mit Schneematsch bedeckte Straße. Das Handy piepst schon wieder, aber Charlotte reagiert nicht darauf.
Sie hat nicht vor, sich von irgendwelchen Dunkelmännern einschüchtern zu lassen.
Es ist voll in der Weinbar, wo Polizeikommissarin Hanna Ahlander sich mit ihrer Schwester Lydia zu einem frühen Abendessen verabredet hat. Die Uhr zeigt kurz nach sieben, sie haben gerade Nachtisch und Kaffee bestellt. Beide haben eine milde Form von Covid hinter sich, sonst hätten sie sich kaum in ein Lokal gewagt.
Sie sitzen an einem Tisch ganz hinten in der Ecke. An der langen, ein paar Meter entfernten Theke richtet der Barkeeper ein Tablett mit verschiedenen Kaffees für andere Gäste her.
Lydia streicht ihr blondes Haar zurück und greift nach dem Glas mit italienischem Ripasso. Der große Brillant in ihrem Ehering funkelt im Kerzenlicht. Sie ist erfolgreiche Rechtsanwältin und besitzt ein riesiges Haus in Sadeln, das einige Kilometer außerhalb des Ortszentrums von Åre liegt. Dort war Hanna kurz vor Weihnachten 2019 eingezogen, als sie an ein und demselben Tag ihren Job bei der Citypolizei in Stockholm verlor und von ihrem damaligen Lebensgefährten Christian vor die Tür gesetzt wurde.
Lydia, die zehn Jahre älter ist, war schon immer Hannas sicherer Hafen. Jetzt verbringt sie mit ihrer Familie die Osterferien in Åre, und die beiden Schwestern sind losgezogen, um für eine Weile unter sich zu sein.
»Wie läuft’s bei der Arbeit?«, fragt Lydia und trinkt einen Schluck Wein. »Es war wohl in der letzten Zeit ziemlich ruhig?«
Hanna nickt. Den Winter über war sie vorwiegend mit der Aufklärung von Drogendelikten und ein paar Erpressungen beschäftigt. Normalerweise arbeitet sie zwei Tage pro Woche in Åre und die restliche Zeit auf der Dienststelle in Östersund. Dort ist sie formal angesiedelt, bei der Abteilung Schwerkriminalität, genau wie ihr Kollege und Dienstpartner Daniel.
Wie üblich setzt ihr Herz beim Gedanken an ihn für einen Schlag aus.
Wie üblich verdrängt sie es.
Jetzt ist er wahrscheinlich zu Hause, zusammen mit Ida und der gemeinsamen Tochter Alice, und bereitet das sonntägliche Abendessen vor. So soll es sein, er ist bei seiner Familie. Wo er hingehört.
Daniel und sie sind nur Arbeitskollegen, mehr nicht.
Hanna wischt sich den Mund mit der Serviette ab und schiebt die verbotenen Gedanken beiseite. Über ein Jahr ist vergangen, seit sie erkannt hat, dass sie tiefere Gefühle für ihren Kollegen empfindet, und jeden Tag versucht sie, darüber hinwegzukommen.
Damals haben sie zusammen im Mordfall des Skifahrers Johan Andersson ermittelt und sind sich dabei sehr nahegekommen. Daniel war ihr vergangenes Jahr eine große Stütze. Es kommt immer noch vor, dass Hanna nachts von schrecklichen Albträumen aufwacht. Die Lösung des Falls war traumatisch, sie hat lange gebraucht, das zu verarbeiten. Die Schuldgefühle, dass sie es nicht geschafft hat, rechtzeitig einzugreifen, wird sie immer mit sich herumtragen.
»Was ist los?«, fragt Lydia.
Ihre Schwester ist wie immer sehr gut darin, die kleinsten Signale zu bemerken. Aber nicht einmal sie darf erfahren, wie Hanna sich fühlt.
Lydia sieht sie forschend an.
»Nichts«, wehrt Hanna ab.
Zum Glück kommt die Bedienung mit den Desserts, und Lydia ist abgelenkt. Hanna stürzt sich auf den Nachtisch, einen knusprigen Apfelkuchen mit Marconamandeln, schön angerichtet auf einem Bett aus Vanillesauce. Lydia hat sich für eine Schokoladenmousse mit Kirschen und Baiser entschieden.
»Geht es um einen Typen?«, fragt Lydia. »Hast du jemanden kennengelernt?«
Hannas große Schwester hat sich nicht nur um sie gekümmert, als Christian aus dem Nichts heraus Schluss gemacht hat. Letztes Jahr hat sie auch dafür gesorgt, dass er das Geld aus dem Verkauf der gemeinsamen Eigentumswohnung mit Hanna teilt.
Ohne Lydia hätte sie nicht einen Öre gesehen. Dann hätte sie es sich nie leisten können, sich was Eigenes zu kaufen.
»Leider nicht«, murmelt Hanna mit vollem Mund und fügt hinzu: »Mhm, ist das Dessert gut. Wie ist deins?«
Lydia lässt nicht vom Thema ab, trotz Hannas Versuch, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.
»Nur weil Christian sich wie ein Schwein benommen hat, heißt das nicht, dass alle Männer so sind«, sagt sie milde.
Hanna sieht Daniels Gesicht vor sich. Den Blick in seinen grünbraunen Augen, der sekundenschnell zwischen warm und ernst wechseln kann, den kurzen rotbraunen Bart, die Wangen, die sich im Rhythmus seines Lachens bewegen.
Er ist es, der sie dazu gebracht hat, sich in Åre heimisch zu fühlen. Sie fahren oft gemeinsam nach Östersund, und in der Regel sind das die besten Stunden der ganzen Woche.
Daniel würde seine Lebensgefährtin nie mit einem Verhältnis hintergehen oder versuchen, sie um Geld zu betrügen. Er ist ein ganz anderer Typ als Christian, ein besserer und anständigerer Mensch.
Aber er ist vergeben, ermahnt Hanna sich.
Die Musik aus den Boxen ist lauter geworden. Das Stimmengewirr im Hintergrund nimmt zu.
»Es wird Zeit, nach vorne zu schauen«, sagt Lydia. »Jemanden kennenzulernen, der es wirklich ernst mit dir meint.«
»Ich weiß«, sagt Hanna leise. »Ich weiß.«
Sie hat nur keine Ahnung, wie das gehen soll.
Nicht, wenn sie nur an Daniel denken kann.
Die Hotelhalle der Copperhill Mountain Lodge ist voller Gäste, als Paul Lehto um neunzehn Uhr an der Rezeption steht. Er bemüht sich, die lange Schlange so schnell wie möglich abzuarbeiten. Die Leute warten in den Sitzgruppen, Unmengen von Reisegepäck sind in der großzügigen Lobby verteilt.
Paul arbeitet schon viele Jahre in diesem Hotel, aber so schlimm wie heute war es noch nie.
Er gibt sich Mühe, sein professionelles Lächeln beizubehalten, obwohl er im Stress ist. Ein Schneesturm in Mittelschweden hat für große Verspätungen aller Züge und Flüge nach Jämtland gesorgt. Und jetzt ist es, als wären sämtliche Ostergäste zur selben Zeit angekommen.
Die Geduld der Wartenden geht langsam zur Neige. Da hilft es auch nicht, dass das Feuer in dem riesigen Kamin munter prasselt, oder dass in allen Ecken brennende Kerzenleuchter und Osterschalen mit Süßigkeiten stehen. Oder dass die Einrichtung, in warmen Erdtönen mit Details aus glänzendem Kupfer gehalten, sorgfältig ausgesucht wurde, um die richtige Atmosphäre zu schaffen.
Die Leute wollen einfach einchecken.
Außerdem brauchen sie einen Sündenbock, an dem sie ihren Frust auslassen können.
Paul merkt, wie seine Gereiztheit steigt, als sich alle vor dem Tresen drängen. Niemand wartet, bis er an der Reihe ist oder zeigt irgendeine Form von Verständnis. Und sie stehen alle viel zu dicht, was den geforderten Abstand zwischen den Personen angeht.
Wir sind nicht schuld an dem Schneechaos, würde er am liebsten sagen, aber er verkneift es sich. Stattdessen atmet er tief durch und versucht daran zu denken, dass er bald Feierabend hat und diese verwöhnten Menschen hinter sich lassen kann. Außerdem bekommt er unter dem Mundschutz kaum Luft. Die Gäste brauchen keinen zu tragen, aber für sämtliche Mitarbeiter ist er Vorschrift, solange sie sich innerhalb des Hotels befinden.
»Die Nächsten, bitte«, sagt er halblaut, ohne den Leuten in die Augen zu sehen.
Ein gut gebauter Mann Mitte dreißig erhebt sich und kommt zum Tresen, gefolgt von einer hübschen blonden Frau mit einem zweijährigen Kind an der Hand.
»Aavik«, sagt der Mann und reckt das Kinn. »Wir warten seit über einer halben Stunde.«
Paul kann ihn instinktiv nicht leiden, aber er streicht sich das dunkle Haar zurück und sucht den Namen im Buchungssystem. Dabei sieht er aus den Augenwinkeln, dass noch jemand auf dem Weg zum Tresen ist.
Es ist eine Frau in den Fünfzigern, die mit schnellen, selbstsicheren Schritten auf ihn zukommt. Obwohl sie Freizeitkleidung trägt, kann Paul sehen, dass ihre Handtasche mehr kostet, als er in einem Monat verdient.
Er weiß, wie sie heißt. Ihr Name ist Charlotte Wretlind, sie war im letzten Jahr oft zu Gast im Hotel. Sie bewohnt die Suite ganz oben, die »Silver Deluxe«, eine der teuersten und elegantesten Suiten des Hotels, mit großen Fenstern in drei Himmelsrichtungen.
»Entschuldigung«, sagt sie aufgebracht, ohne sich um die anderen Gäste zu kümmern. »Ich versuche seit einer Viertelstunde, das Housekeeping zu erreichen, aber es nimmt niemand ab.«
»Ich bin sofort bei Ihnen«, sagt Paul. »Ich muss nur erst das hier erledigen.«
Er müsste sich bei ihr entschuldigen, aber ihr Auftritt geht ihm gegen den Strich. Sieht sie nicht, dass er alle Hände voll zu tun hat?
»Ich war den ganzen Tag draußen, und trotzdem wurde der Abfalleimer im Bad nicht geleert«, beschwert sie sich. »Außerdem fehlt Toilettenpapier.«
Sie scheint kein Wort von dem gehört zu haben, was er gesagt hat. Und sie steht viel zu nah. Als Paul instinktiv zurückweicht, beugt sie sich vor, anstatt den Wink zu verstehen.
Es gelingt ihm, sich zu beherrschen. Dafür blickt der Vater des kleinen Kindes die Frau ärgerlich an.
»Warten Sie, bis Sie dran sind!«
Charlotte Wretlind ignoriert ihn und wendet sich erneut an Paul: »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«
Als sie die Stimme erhebt, schauen einige der anderen Gäste herüber. Pauls Kollegin Iris blickt von ihrem Bildschirm hoch, in den sie gerade einige Daten eingetippt hat.
Paul zögert, er will kein Aufsehen erregen, die Stimmung ist schon angespannt genug. Aber er sieht auch, dass der Vater vor ihm wütend die Stirn runzelt. In Schweden stellt man sich in die Schlange. Der Mann findet, dass die Dame gefälligst warten soll.
Und es ist Pauls Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie genau das tut.
Paul beißt die Zähne zusammen und tippt die letzten Angaben ein, um die Schlüsselkarte zu registrieren. Das Kleinkind vor dem Tresen quengelt. Die Mutter hebt es auf den Arm und versucht es zu trösten, während sie gleichzeitig ihren Mann fragend ansieht.
»Wenn Sie unfähig sind, die Sache in Ordnung zu bringen, will ich Ihren Chef sprechen«, sagt Charlotte Wretlind. »Seien Sie versichert, dass ich ihn über Ihr Verhalten in Kenntnis setzen werde.«
Die Drohung ist unmissverständlich. Und Paul hat Angst um seinen Job, trotz all der Idioten um ihn herum. Die Pandemie hat die Hotelbranche hart getroffen, und er weiß, dass er sich glücklich schätzen kann, seinen Arbeitsplatz nicht verloren zu haben.
»Bitte geben Sie mir ein paar Minuten«, murmelt er entschuldigend.
Charlotte Wretlind mustert ihn kühl. Aus den Augenwinkeln sieht Paul, wie Iris die Augen darüber verdreht, dass er mit der Situation nicht eleganter fertig wird. Sie ist aus Stockholm und weiß ohnehin immer alles besser.
Er würde wetten, dass sie es genießt, ihn so in der Klemme zu sehen.
»Hören Sie schlecht?«, fährt Charlotte Wretlind ihn an, jetzt noch lauter. »Ich habe kein Toilettenpapier in meinem Bad. Würden Sie das Problem bitte lösen!«
Jetzt packt den Vater des Kleinkindes die Wut.
»Ich war zuerst hier«, faucht er.
Charlotte Wretlind wedelt ungeduldig mit der Hand. Trotz ihres ganzen Geldes scheint sie keine Manieren zu haben.
»Wie lange gedenken Sie, mich noch warten zu lassen?«, sagt sie zu Paul.
Mit lautem Gebrüll beginnt die Zweijährige auf dem Arm ihrer Mutter zu weinen. Sie windet sich, weil sie herunter will, schlägt beim Absetzen mit den Armen um sich und trifft eine große Vase mit Osterzweigen und aprikosenfarbenen Federn, die mitten auf dem Rezeptionstresen steht.
Bevor Paul reagieren kann, kippt die Vase um und kracht auf den Fußboden.
Die Mutter kann gerade noch mit dem Kind im Arm ausweichen.
»Herrgott noch mal«, schreit sie Paul an. »Wie können Sie so gefährliche Sachen hinstellen? Was, wenn sie auf meine Tochter gefallen wäre?«
»Sie hätte tot sein können«, wirft der Vater ein und tritt eilig vor. »Habt ihr in dem Laden hier den Verstand verloren?«
Paul merkt, wie ihm an den Schläfen der Schweiß ausbricht. Es wird unmöglich, unter dem Mundschutz zu atmen. Er starrt auf die zerbrochene Vase und weiß nicht, ob er sich zuerst darum kümmern soll oder ob es besser ist, den Check-in abzuschließen.
Iris rührt natürlich keinen Finger, um zu helfen.
Ihm ist, als würden ihn alle anstarren.
»Jetzt reicht es aber wirklich«, sagt Charlotte Wretlind. »Ich habe noch nie einen so unprofessionellen Empfang erlebt. Ist das heute Ihr erster Arbeitstag, oder wie?«
Es pfeift in Pauls Ohren. Iris’ höhnisches Lächeln macht es auch nicht besser. Und dann kann er sich nicht mehr beherrschen.
»Ich gebe mein Bestes!«, brüllt er. »Sehen Sie sich um, Sie müssen wie alle anderen warten, bis Sie dran sind, verdammt noch mal!«
Er reißt sich den Mundschutz vom Gesicht und knallt ihn auf den Tresen.
»Glauben Sie, wir würden nicht so schnell arbeiten, wie wir können?«
Es wird totenstill. Nur das Weinen des kleinen Mädchens ist noch zu hören, und die Gäste in der Lobby starren ihn schockiert an. Paul ist sich bewusst, dass er eine Grenze überschritten hat, aber er ist so wütend, dass er zittert. Aus den Augenwinkeln sieht er, dass Erik von der Concierge-Abteilung angelaufen kommt. Der Kollege wirkt auch konsterniert, aber er gleitet hinter den Tresen und legt Paul beruhigend die Hand auf den Arm.
»Reiß dich zusammen«, flüstert er. »Du kriegst eine Verwarnung, wenn der Chef dich so herumschreien hört.«
In dem Moment sind die Schlüsselkarten endlich fertig. Paul reißt die Karten an sich und reicht sie dem Vater, der sie wortlos entgegennimmt.
»Ich kümmere mich um das Gepäck«, sagt Erik schnell.
Er tritt hinter dem Tresen hervor, um die Gepäckstücke der Familie an sich zu nehmen.
»Vergiss nicht, den Mundschutz anzulegen«, ermahnt er Paul, bevor er mit einer schweren Tasche in jeder Hand die Aufzüge ansteuert.
Als Paul aufschaut, steht Charlotte Wretlind immer noch da, mit rasender Wut im Blick.
»Das wird Konsequenzen haben«, zischt sie, bevor sie sich auf dem Absatz umdreht und davonrauscht.
Es ist dunkel geworden vor den Panoramafenstern der Silver Suite. Charlotte sitzt mit einem Glas Rotwein in der Hand auf dem rostfarbenen Sofa und versucht, die Gedanken zu ordnen, die ihr durch den Kopf wirbeln.
Sie runzelt die Stirn, das Benehmen dieses Rezeptionisten war absolut inakzeptabel. Möglich, dass sie ein wenig zu forsch aufgetreten ist, aber selbst dann darf man einem Gast gegenüber nicht derart die Beherrschung verlieren. Das geht so nicht. Der Mann hat vermutlich ein ernstes Aggressionsproblem, und das wird sie seinem Chef berichten, sobald sie Zeit dafür findet.
Eigentlich müsste er gefeuert werden.
Ruhelos dreht sie das Glas zwischen den Fingern. Der blutrote Wein, der im Kelch schwappt, passt zu ihrem Nagellack. Ein unhöflicher Rezeptionist ist das Letzte, worauf sie gerade jetzt ihre Energie richten will, morgen ist ein großer Tag mit allem, was bevorsteht. Normalerweise machen Auftritte vor Publikum sie nicht nervös, aber es ist keine Kleinigkeit, an die Öffentlichkeit zu gehen und über das Storlien-Projekt zu berichten. Ihr PR-Team hat dafür gesorgt, dass ein großes Interesse besteht, alle wichtigen Medienvertreter sind entweder vor Ort oder per Live-Übertragung dabei.
Und morgen trifft Henry in Åre ein und muss umsorgt werden.
Charlotte seufzt innerlich. Henry ist ein ausgezeichneter Geschäftspartner, aber eine richtige Diva. Sie hat ihre ganze Überredungskunst gebraucht, um ihn für das Projekt zu gewinnen. Ohne seine Finanzkraft wären die Pläne nicht umsetzbar gewesen. Henry ist ein Star in der schwedischen Immobilienbranche, und seine Unterstützung hat Türen geöffnet, die andernfalls verschlossen geblieben wären.
Am liebsten hätte sie auch Stefan dabeigehabt, aber er ist mit den beiden Kindern und seiner mürrischen Frau Ulrika verreist.
Charlotte verzieht das Gesicht beim Gedanken an Stefans Frau, der Richterin am Oberlandesgericht. Sie sind sich einige Male bei gesellschaftlichen Events begegnet und haben ein paar höfliche Worte gewechselt, aber mehr auch nicht. Charlotte hat nie verstanden, wie Stefan, der so energiegeladen und charismatisch ist, sich in die Frau verlieben konnte.
Das hat sie ihn natürlich nie gefragt. Ihr diskretes Arrangement war Charlotte viele Jahre lang ganz recht, aber in der letzten Zeit hat sie begonnen, sich nach etwas mehr zu sehnen. Sie ist es leid, Versteck zu spielen, sich nie offen zusammen mit ihm zeigen zu können.
Solange Filip zu Hause gewohnt hat, war es praktisch, die beiden Welten getrennt zu halten, aber jetzt, da die Wohnung abends leer ist, vermisst sie die Zweisamkeit.
Sie lehnt sich auf dem Sofa zurück und ärgert sich über ihre Sehnsucht.
Stefan wird sich nie scheiden lassen, das hat er von Anfang an klargemacht. Vor allem deswegen nicht, weil Ulrikas wohlhabende Familie ihnen die große Wohnung und die luxuriösen Urlaubsreisen finanziert.
Charlotte nimmt noch einen Schluck. Sie fragt sich, was Filip wohl gerade macht. Er hat immer noch nicht auf ihre SMS geantwortet, in der sie ihn gefragt hatte, wann er nach Åre kommt. Das frustriert sie. Hoffentlich kommt er nicht erst auf die letzte Minute. Sie würde ihn so gerne hier haben, wenn die Welt zum ersten Mal von ihrem Storlien-Projekt erfährt.
Sie würde es nie laut sagen, aber sie hofft, dass er stolz auf die Erfolge seiner Mutter ist.
Das Handy piepst, eine SMS von Kommunalpolitiker Bengt Hedin. Sie hat nichts mehr von ihm gehört, seit er versucht hat, sich aus der Sache herauszuziehen. Was gibt es jetzt wieder?
Die neue Nachricht bringt sie auf die Palme.
Der Grundstückskauf muss rückgängig gemacht werden. Ich kann an der Pressekonferenz morgen nicht teilnehmen.
Charlotte bohrt die Fingernägel so fest in die Handfläche, dass die Haut beinahe aufplatzt. Das kann er ihr nicht antun. Nicht jetzt. Rasch tippt sie eine Antwort.
Für einen Rückzieher ist es zu spät.
Sie sitzt einen Moment ganz still. Dann schreibt sie weiter:
Alles, was Sie entgegengenommen haben, ist dokumentiert. Wenn Sie mich ruinieren, mache ich dasselbe mit Ihnen.
Die Antwort kommt umgehend.
Drohen Sie mir?
Charlotte überlegt, dann lässt sie die Finger wieder übers Display huschen.
Das können Sie auslegen, wie Sie wollen. Wir sehen uns morgen.
Ein forsches Klopfen an der Tür unterbricht sie. Charlotte blickt hoch, sie erwartet keinen Besuch. Seufzend legt sie das Handy beiseite und steht auf, um zu öffnen. Draußen steht der große Kerl von der Rezeption, der vorhin so unverschämt war.
Für ihn hat sie jetzt überhaupt keine Zeit. Und ihre Wut über sein Benehmen ist nicht verraucht.
»Ja?«
»Verzeihen Sie die Störung«, beginnt der Mann, der dem Namensschild an seiner Brust zufolge Paul heißt. »Ich wollte nur … um Entschuldigung bitten für das, was vorhin passiert ist.«
Charlotte hebt die Augenbrauen. Ach, jetzt fällt es dem Herrn ein, sich zu entschuldigen.
»Es war nicht meine Absicht, so unbeherrscht zu reagieren«, fügt er hinzu.
»Das hätten Sie sich vielleicht überlegen sollen, bevor Sie mich vor den anderen Gästen derart unverschämt behandeln.«
Trotz der schwachen Beleuchtung entgeht ihr sein Widerwillen nicht. Der Frust steht ihm ins Gesicht geschrieben. Sie nimmt ihm keine Sekunde lang ab, dass er sein Verhalten bereut; wahrscheinlich hat ihn ein Kollege überredet, zu ihr zu gehen und um Entschuldigung zu bitten, weil sein Benehmen wirklich inakzeptabel war.
»Es tut mir leid«, fügt er mit steifem Unterkiefer hinzu.
Er starrt sie auffordernd an, als wollte er sie zwingen, seine Entschuldigung anzunehmen.
»Ich habe es gehört.«
Charlotte schweigt.
Wenn er glaubt, ein paar leere Phrasen brächten alles wieder in Ordnung, irrt er sich. Mit so wenig Selbstbeherrschung sollte er diesen Job nicht ausüben.
In ihrem Hotel wäre er seinen Posten auf der Stelle los.
Die Stille zwischen ihnen wiegt schwer.
»Ist noch was?«, fragt Charlotte, um das Gespräch zu beenden.
Sie will die Tür schließen, die morgige Pressekonferenz muss noch vorbereitet werden. Als sie den Kopf wendet, fällt ihr Blick auf den Stoffbeutel mit Schmutzwäsche, den sie herausgelegt hat, damit das Housekeeping ihn mitnimmt.
Sie greift nach dem Beutel und hält ihn Paul hin.
»Ach, würden Sie die Wäsche mitnehmen, wo Sie schon einmal hier sind?«
Der Rezeptionist sieht fast beleidigt aus.
»Das ist nicht meine Aufgabe.«
Charlottes Ärger flammt erneut auf.
»Sie arbeiten doch hier im Hotel, oder?«
Er kommt einen Schritt näher, öffnet und schließt die Fäuste, als sei er kurz davor, erneut die Beherrschung zu verlieren.
»Vorsicht«, sagt er leise.
Charlotte starrt ihn an.
»Was soll das heißen?«
»Sie haben mich schon verstanden.«
Obwohl Charlotte sich nicht einschüchtern lassen will, weicht sie ein wenig zurück. Ihre Suite liegt ganz am Ende des Korridors, dort, wo sie stehen, kann sie niemand sehen.
»Ich habe jetzt keine Zeit mehr für Sie«, sagt sie und greift nach der Türklinke.
Aber Paul stellt einen Fuß auf die Schwelle, sodass sie die Tür nicht zuziehen kann.
»Sie glauben, Sie können Leute behandeln, wie es Ihnen passt, nur weil Sie Geld haben. Aber über mich bestimmen Sie nicht.«
Charlotte schluckt. Sein Gesicht ist nur wenige Handbreit von ihrem entfernt. Paul ist groß und kräftig, mit einem dicken Hals, in den sich der Hemdkragen eingräbt.
»Wenn Sie nicht sofort gehen, werde ich Ihren Chef informieren«, sagt sie und versucht, sich größer zu machen.
Sie will stark klingen, überlegen, damit er zurückweicht.
Es dauert einen Moment, aber schließlich dreht er sich um. Charlotte will gerade die Tür schließen, als sie einen gemurmelten Fluch hört.
»Blöde Oberschichtzicke.«
»Wie bitte?«
Das rutscht ihr so heraus, aber sie bereut es sofort. Die Situation ist schon unangenehm genug. Anstatt darauf zu reagieren, hätte sie ihn einfach gehen lassen sollen.
Paul antwortet nicht, er geht weiter den Korridor hinunter. Aber als er ein Stück entfernt ist, sieht sie, wie er langsam den Kopf dreht. Sein Gesicht strahlt eine solche Verachtung aus, dass sie unwillkürlich zurückweicht.
Der Zorn fegt Charlottes Selbstbeherrschung hinweg; dieser Kerl muss auf seinen Platz verwiesen werden.
»Glauben Sie ja nicht, dass Sie nach dem Auftritt hier Ihren Job behalten!«, schreit sie ihm hinterher.
Aber als sie die Tür schließt, fühlt sie sich höchst unwohl.
Sie ist eher ängstlich als wütend.
Myriaden weißer Sterne funkeln über Åre, als Hanna die letzten Schritte bergauf zu ihrem kleinen Haus in Solbringen geht, dem Wohngebiet schräg gegenüber dem Dorf, nördlich der E14. Der Himmel ist in ein tiefes Samtblau übergegangen, während sie mit Lydia in der Weinbar gegessen hat. Anschließend ist Hanna noch auf einen Kaffee mitgefahren nach Sadeln, wo Lydia wohnt.
Das ist typisch Åre, denkt sie, dieses Wetter, das blitzschnell wechselt. An ein und demselben Tag kann es schneien und zwischendurch ein halbes Dutzend Mal wieder aufreißen. Ganz egal, wie viele Wetter-Apps man checkt, es trifft nie richtig zu.
Sie sucht nach dem Schlüssel, um die Haustür aufzuschließen.
Ihr neues Heim ist nicht besonders groß. Ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer plus Küche, aber Hanna gefällt es. Endlich hat sie ein eigenes Zuhause, nach fast einem Jahr in Lydias luxuriösem Chalet. Sie ist ihrer Schwester dankbar für die Gastfreundschaft, aber auf eigenen Füßen zu stehen ist eine ganz eigene Form der Freiheit. Außerdem hat sie eine kleine Sauna und einen echten Kamin, den sie oft anheizt.
Als sie den Schlüssel im Schloss umdreht, hört sie ein Miauen zu ihren Füßen. Eine grauweiße Katze streicht um ihre Beine. Hanna bückt sich, um sie zu streicheln, und ihr fällt auf, dass sie aussieht wie eine Norwegische Waldkatze, das Fell ist dicht und lang und sie hat Haarbüschel zwischen den Zehen.
»Hallo, meine Süße«, sagt sie und krault das Tier hinter den Ohren. »Wo kommst du denn her, um diese Zeit?«
Die Katze fängt laut an zu schnurren. Jetzt sieht Hanna, dass es ein Kater ist, aber er trägt kein Halsband. Sie sieht sich um und überlegt, ob er wohl jemandem gehört. Es ist viel zu kalt, als dass ein Haustier eine ganze Nacht draußen bleiben könnte.
»Wo sind denn dein Herrchen und Frauchen?«
Sie richtet sich auf und sucht mit den Augen die Nachbarschaft ab.
Der Kater schnurrt noch lauter.
Vorsichtig tritt sie zur Seite und öffnet die Tür.
»Du musst jetzt nach Hause«, sagt sie.
Ehe sie es sich versieht, ist der Kater zwischen ihren Beinen durchgeschlüpft und ins Haus gelaufen. Hanna geht eilig hinterher und bekommt ihn im Wohnzimmer zu fassen. Sie nimmt ihn auf den Arm, geht zum Eingang, zögert.
Es erscheint ihr nicht richtig, den Kater hinaus in die Kälte zu schicken, wenn er nicht weiß, wohin. Außerdem scheint er Hunger zu haben.
Sie setzt ihn auf dem Fußboden ab und geht in die Küche, sucht im Kühlschrank und findet etwas Kochschinken, den sie auf einen Teller legt.
Es ist genau, wie sie es sich gedacht hat, der Kater fällt über das Fressen her, er wirkt richtig ausgehungert. Sie stellt ihm auch eine Schale mit Wasser hin, das er eifrig aufschlabbert.
Da er kein Halsband trägt, weiß sie nicht, wie er heißt, aber irgendwie sieht er aus wie ein Morris.
»Dann musst du wohl heute Nacht hierbleiben«, sagt sie. »Morgen versuchen wir, dein Herrchen oder Frauchen zu finden.«
Morris schaut hoch, und Hanna könnte schwören, dass Dankbarkeit in seinem Blick liegt.
Als Charlotte aufwacht, ist es in der Hotelsuite vollkommen dunkel. Sie braucht ein paar Sekunden, um sich zurechtzufinden. Sie hat fest geschlafen und draußen ist es tiefschwarz, dann muss es immer noch Nacht sein.
Sie liegt auf dem Rücken im Doppelbett und blinzelt, um besser sehen zu können.
Was hat sie geweckt?
Normalerweise schläft sie wie ein Stein, eine segensreiche Fähigkeit in anstrengenden Zeiten. Sie hat immer einen gesunden Schlaf gehabt, egal, was gerade los ist.
Charlotte richtet den Oberkörper auf.
Obwohl es vollkommen still um sie herum ist, hat sie das dringende Gefühl, dass etwas nicht stimmt.
Sie ist nicht allein, irgendjemand ist in der Suite.
Ein Rinnsal aus Angst zieht sich durch ihren Körper, ein schmaler Fluss, der an den Rippen beginnt und sich um den Magen windet und bis in den Unterleib fortsetzt. Ihr Blick prallt gegen die Wände des dunklen Raums.
Sie bekommt Gänsehaut.
Reiß dich zusammen, ermahnt sie sich. Wie soll das denn wohl möglich sein?
Die Tür ist abgeschlossen, und sie hat den Sicherungsknopf gedrückt, bevor sie zu Bett gegangen ist.
Hat sie das wirklich?
Sie tastet nach der Lampe auf dem Nachttisch, um sie anzuschalten. Aber bei der Vorstellung, hell angestrahlt zu werden und einen Fremden hier im Raum zu entdecken, zieht sie den Arm zurück. Die Dunkelheit kommt ihr sicherer vor. Als wäre das hier nur ein böser Traum, aus dem sie bald erwachen wird.
Die Situation ist nicht real. Morgen wird sie darüber lachen.
Charlotte lauscht noch eine Weile angespannt. Dann atmet sie tief durch, um ihre Ruhe wiederzufinden. Es hat keinen Sinn, sich aufzuregen. Außerdem braucht sie ihren Schlaf. Sie kann nicht mit vor Übermüdung geröteten Augen vor die Presse treten.
Sie will gerade zurück unter die Bettdecke gleiten, als sie es wieder hört.
Ein seltsames Geräusch, kaum wahrnehmbar, aber es kommt zweifellos aus dem Wohnzimmer.
Als wenn ein Fuß auf den rostroten Teppich gesetzt wird.
Hier ist wirklich jemand.
Ist dieser bedrohliche Rezeptionist in die Suite eingedrungen? Will er sie bestrafen, weil sie seine Entschuldigung nicht angenommen hat?
Panik steigt in Charlotte auf.
Sie rafft die Bettdecke an den Körper. Wie üblich schläft sie nur im Slip, aber jetzt wünschte sie, dass sie etwas anhätte, irgendwas, um sich zu bedecken. Durch ihre Nacktheit fühlt sie sich umso ausgelieferter, aber der Morgenmantel liegt am Fußende des Bettes auf dem Boden.
Wo ist ihr Handy?
Ihr wird der Hals eng, als es ihr einfällt. Das Handy liegt zum Aufladen im Wohnzimmer, neben dem Laptop, den sie auf dem Sofa zurückgelassen hat, als sie endlich mit allen Mails fertig war.
Ein strenger Geruch steigt ihr in die Nase, und sie merkt, dass ihr der kalte Schweiß ausgebrochen ist. Sie versucht, leise zu atmen, obwohl ihr Herz wie wild hämmert.
Das Geräusch ist wieder zu hören, ein schwerer Schritt, und dann noch einer. Der Fremde ist auf dem Weg zu ihrem Schlafzimmer.
Plötzlich fliegt die Tür auf, und bevor sie reagieren kann, wird sie vom grellen Lichtkegel einer Taschenlampe angestrahlt.
Weiße Blitze explodieren auf der Netzhaut, sie ist vollkommen geblendet. Die Gestalt da drüben ist nur ein unförmiger Schatten, ein Schemen, nicht identifizierbar.
Die Angst ist lähmend.
Charlotte weiß, dass sie schreien müsste, den ungebetenen Gast anbrüllen müsste, dass er verschwinden soll, aber sie bekommt keinen Ton heraus. Stattdessen liegt sie wie versteinert da, während der Schatten näher kommt.
Sie kann sich weder rühren noch um Hilfe rufen.
Bitte, tun Sie mir nichts, will sie flüstern, aber es kommt nur ein Stöhnen über ihre Lippen.
Für ein paar Sekunden steht der Fremde regungslos vor ihr. Obwohl sie nichts sehen kann, spürt sie die aggressive Wut, so stark, dass sie beinahe mit Händen zu greifen ist.
Der Geruch von Alkohol steigt Charlotte in die Nase.
Sie starrt wie hypnotisiert auf die Taschenlampe, versucht, sich auf den Lichtstrahl zu konzentrieren, um die Fassung zu bewahren.
Dann löst sich ihre Erstarrung.
Sie schlägt mit dem Arm aus und fegt die Lampe vom Nachttisch. Die landet polternd auf dem Boden, und vor Todesangst schreit Charlotte aus Leibeskräften.
Vor ihren Augen blitzt etwas Silbernes auf.
Warum?, kann sie noch denken, bevor die scharfe Messerklinge in ihre Kehle schneidet, so mühelos, als wäre ihr Hals aus feuchtem Lehm.
Ihr Rachen füllt sich mit metallischem Geschmack, etwas Warmes, Klebriges flutet ihren Mund. Es quillt aus ihrem Inneren und macht das Atmen schwer.
Sie will nach Filip rufen, aber sie schafft es nicht, das Wort zu formen.
Dann wird alles schwarz.
Die Therapiepraxis befindet sich an der Ecke der roten Backsteinvilla, in der die Psychologin mit ihrer Familie wohnt, aber sie hat einen separaten Eingang im Untergeschoss. Licht scheint hinter den lavendelfarbenen Vorhängen, als Polizeikommissar Daniel Lindskog früh am Montagmorgen vor dem Haus parkt.
Das Haus liegt im Außenbezirk von Järpen; er hat sich absichtlich eine Praxis ausgesucht, die nicht direkt in Åre ansässig ist.
Es gibt eine gute Erklärung dafür, denkt Daniel und stellt den Motor ab. Seine Lebensgefährtin Ida ist die Einzige, die von seinen Besuchen dort weiß, er hat es niemand anderem erzählt.
Nicht einmal Hanna, obwohl sie sich jeden Tag sehen.
Sie kennt ihn fast ebenso gut wie Ida, er kann mit ihr über beinahe alles reden.
Aber nicht über das hier.
Das ist privat.
Wie immer empfindet Daniel einen gewissen Widerwillen, aus dem Auto zu steigen, obwohl er Jovanka Horvat im vergangenen Jahr regelmäßig aufgesucht hat. Er kann nicht genau sagen, ob Scham oder Unlust der Grund ist. Es sollte nichts von beidem sein. Er will sich nicht dafür schämen, dass er eine Therapie braucht, nicht, wenn das Ziel ist, ein besserer Mensch zu werden, ein besserer Vater für die kleine Alice, das Kind, nach dem er sich so lange gesehnt hat.
Dass es anstrengend ist, in der Vergangenheit zu graben, ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt, dass sein Vater ihn im Stich gelassen hat, als er klein war. Tatsächlich betrachtet er sich fast als Waise, seit seine Mutter Francesca vor fast zehn Jahren bei einem Verkehrsunfall in Sundsvall ums Leben kam. Sein Vater lebt noch, aber Daniel hat ihn seit achtundzwanzig Jahren nicht mehr getroffen. Nach seinem zehnten Geburtstag hörten die sporadischen Besuche bei seinem Vater und dessen neuer Familie in Umeå auf.
Daniels Halbgeschwister, eine Schwester und ein Bruder, die acht beziehungsweise fünf Jahre jünger sind als er, hat er seitdem auch nicht mehr gesehen.
Ihm ist bewusst, dass die Sitzungen bei Jovanka gut für ihn sind. Mit ihrer Hilfe hat er gelernt, sein aufbrausendes Temperament und die wiederkehrenden Wutanfälle, die ihn sein Leben lang geplagt haben, in den Griff zu bekommen. Im letzten Jahr hat er kein einziges Mal die Beherrschung verloren, und das ist eine große Erleichterung.
Wenn er nicht beschlossen hätte, eine Therapie zu machen, wäre die Beziehung zu Ida inzwischen vermutlich zerbrochen. Wie sich das Verhältnis zu Alice entwickelt hätte, daran will er nicht mal denken. Jetzt ist seine Tochter gut anderthalb Jahre alt, und Daniels größte Sorge ist, dass sie ebensolche Angst vor ihm haben könnte, wie seine Mutter sie vor ihrem Vater hatte, dem cholerischen Großvater. Dessen Temperament Daniel geerbt hat, obwohl sie sich nie kennengelernt haben.
Er hat sich geschworen, niemals so zu werden. Deshalb geht er immer noch zu Jovanka.
Dennoch ist es anstrengend, Dinge an die Oberfläche zu holen, die so lange begraben waren. Er ist es nicht gewohnt, über seine innersten Gefühle zu sprechen, dadurch kommt er sich einsam und ausgeliefert vor.
Manchmal steckt ihm das Weinen im Hals, dann klingt seine Stimme gepresst und er kann kaum sprechen. Manchmal beginnt er vor Unbehagen zu schwitzen. Er hat es immer gehasst, die Kontrolle zu verlieren, immer verabscheut, wenn die Gefühle ihn übermannen.
Oft hat er Jovankas Nummer gewählt, um den Termin im letzten Moment abzusagen, sich dann aber doch gezwungen hinzugehen.
Erst in den letzten Wochen haben sie begonnen, über sein kompliziertes Verhältnis zum Vater zu sprechen, der ihn und seine Mutter verlassen hat, als Daniel zwei Jahre alt war. Wenn sein Ziel ist, Alice ein besserer Vater zu werden, muss er auch diesen Teil aufarbeiten.
Das ist Jovankas feste Meinung.
Daniels Verstand sagt ihm, dass sie recht hat. Es ist nur so schwer, mit der Vergangenheit umzugehen. Da kommen allzu viele traurige Erinnerungen hoch. Früher hat er gedacht, dass es eine Erlösung sein würde, in Therapie zu gehen. Aber zeitweise war es ein geradezu quälender Prozess, der ihm viel mehr abverlangt hat, als er ahnen konnte.
Nach einer Sitzung bei der Psychologin ist er müde und deprimiert, dann muss er auf dem Rückweg nach Åre einen Umweg fahren, um sich wieder zu sammeln. Manchmal sitzt er noch eine Weile im Auto auf dem Parkplatz, bevor er bereit ist, seiner Familie oder den Kollegen wieder unter die Augen zu treten.
Die Uhr am Armaturenbrett zeigt eine Minute vor sieben, Jovanka lässt ihn extra früh in die Praxis kommen, wegen seines Berufs.
Daniel holt tief Luft, löst den Sicherheitsgurt und steigt aus dem Auto.
Als Tiina Nilsson am Montagmorgen in den Keller kommt, ist die Tür zur Waschküche nur angelehnt. Sie stößt sie mit dem Fuß auf und stellt den Korb mit der Schmutzwäsche auf dem abgenutzten Steinfußboden ab. In einer Stunde muss sie in Duved in der Schule sein, sie will noch rasch eine Maschine anschalten, bevor sie losgeht.
Tiina massiert sich mit der linken Hand die rechte Schulter. Der Schmerz kommt und geht, will aber nicht verschwinden. Sie arbeitet seit vielen Jahren als Schülerbetreuerin in der Grundschule und sollte die jüngeren Kinder nicht hochheben. Aber sie liebt ihren Job, die Kinder in der Schule und die Zusammenarbeit mit dem Kollegium.
Sie drückt den Lichtschalter. Das kalte Neonlicht enthüllt die Haufen auf dem Waschtisch. Jedes Mal, wenn Tiina das Chaos sieht, denkt sie, dass sie es bis zum Wochenende beseitigt haben wird, aber immer kommt was dazwischen. Ogge kommt auch nicht auf die Idee, sich darum zu kümmern. Sie leben jetzt seit fünfzehn Jahren zusammen, damals war Tiina fünfunddreißig und die Mädchen, Anna und Andrea, waren fünf und acht, aber er macht zu Hause kaum einen Handschlag.
Das Einzige, worum er sich kümmert, ist die Familienhündin Zelda, die er über alles liebt.
Tiina greift nach dem Korb, um die Schmutzwäsche in die Maschine zu stopfen. Da merkt sie, dass in der Trommel schon Wäsche liegt. Merkwürdig, sie kann sich nicht erinnern, gestern Abend gewaschen zu haben.
Sie drückt auf den Knopf, um das Bullauge zu öffnen. Als sie den Inhalt herauszieht, sieht sie, dass es Ogges Sachen sind. Er hat seine Hose, Unterwäsche und Pullover hineingeworfen, alles zusammen, obwohl es verschiedene Farben sind, die getrennt gewaschen werden sollten.
Jetzt ist das weiße T-Shirt schmutziggrau geworden. Eine Sportsocke fehlt, aber die vorhandene hat ihre weiße Farbe ebenfalls eingebüßt.
Tiina steht mit dem feuchten Unterhemd in der Hand da. Ogge muss in der Nacht gewaschen haben, obwohl er so spät nach Hause gekommen ist. Sie hat schon geschlafen, wollte nicht aufbleiben und auf ihn warten.
Ein bisschen komisch ist das schon. Ogge kümmert sich sonst nie um seine Schmutzwäsche. Warum sollte er jetzt damit anfangen?
Egal, sie hat keine Zeit, noch länger darüber nachzudenken. Nicht, wenn sie noch frühstücken will. Schnell hängt sie seine Sachen in den Trockenschrank und füllt die neue Schmutzwäsche in die Maschine.
Dann schaltet sie das Licht aus und geht wieder nach oben.
Etwas Warmes und Schweres drückt Hanna fest in die Matratze, als der Wecker klingelt. Sie liegt auf dem Bauch, ein Bein angewinkelt, und es fühlt sich an, als hätte jemand einen dicken, warmen Zementsack direkt auf ihrem Po abgestellt.
Ihre Muskeln schmerzen von der unbequemen Stellung, sie ist ganz durchgeschwitzt.
Schlaftrunken versucht sie, den Wecker abzustellen, während sie sich gleichzeitig schüttelt, um sich von dem fremden Gewicht zu befreien. Das Klingeln verstummt, stattdessen ist nun ein lautes, vorwurfsvolles Miauen zu hören, als Hanna sich auf den Rücken dreht und Morris von ihr herunterrutscht.
Als sie unter der Bettdecke hervorschaut, steht der Kater so dicht vor ihr, dass seine Nase fast ihr Gesicht berührt. Sobald sie Blickkontakt haben, fängt er laut an zu schnurren. Morris dreht sich auf dem Bett im Kreis und tritt auf der Stelle, offensichtlich erfreut, dass sie endlich wach ist.
Mit langsamen Bewegungen steigt sie aus dem Bett und geht in die Küche, wo sie Morris eine Dose Leberwurst hinstellt und Wasser in die Schale gießt. Sie richtet ein provisorisches Katzenklo her, das sie mit Zeitungspapier auslegt, damit er zurechtkommt, während sie auf der Arbeit ist.
Am Nachmittag muss sie sein Herrchen oder Frauchen finden. Hier kann er nicht bleiben. Auf Dauer ist das kein Zuhause für eine Katze.
Dann macht sie sich ein Brot und setzt sich mit einer Tasse Tee an den Küchentisch. Wegen des Osterfests ist es eine kurze Arbeitswoche, deswegen hat sie sich erlaubt, etwas länger zu schlafen. Heute hat sie keine Besprechungen, sie wird sich vor allem um einen Haufen laufender Fälle kümmern. Ab Donnerstag hat sie fünf Tage frei, um mit Lydia, ihrem Mann und den Kindern zusammen zu sein. Hanna ist ganz vernarrt in den dreizehnjährigen Fabian und die elfjährige Linnea, und am Ostersamstag wollen sie zusammen feiern.
Morris hat gefressen und streicht zufrieden um Hannas Beine. Ehe sie es sich versieht, hat sie gefühlte sieben Kilo Katze auf dem Schoß. Sein Schnurren klingt so glücklich, dass sie es nicht übers Herz bringt, ihn hinunterzusetzen, obwohl sie voller Katzenhaare ist.
Sie bleibt fast zehn Minuten so sitzen, bevor sie schließlich aufsteht, um zur Arbeit zu fahren.
Wenig später auf der Polizeiwache hat die Kaffeemaschine in der Teeküche neben dem Eingang gerade aufgehört zu röcheln, als Hanna Daniel zur Tür hereinkommen sieht.
Wie üblich versetzt es ihr einen Stich, als er vor ihr steht. Heute hat er einen moosgrünen Pullover an, der die grünbraune Farbe seiner Augen unterstreicht. Die Sonne, die durchs Fenster hereinfällt, streut Goldsprenkel auf sein braunes Haar.
»Kaffee?«, fragt sie und hält ihm die Tasse hin, um ihre Verwirrung zu überspielen.
»Das ist ja ein Service.« Daniel schenkt ihr ein warmes Lächeln und nimmt die Tasse entgegen. »Aber war der nicht für dich?«
»Ich mache mir einen neuen.«
Sie plaudern über dieses und jenes, während der Automat die Bohnen für Hanna mahlt. Sie haben beide vor, in den nächsten Tagen von Åre aus zu arbeiten. Es ist angenehm, sich die Autofahrt nach Östersund sparen zu können, schließlich dauern Hin- und Rückfahrt gut zweieinhalb Stunden.
»Wie sieht’s diese Woche bei dir aus?«, fragt Daniel, als die Maschine fertig ist. »Hast du vor dem langen Wochenende noch viel zu erledigen?«
Hanna trinkt einen Schluck Kaffee, bevor sie antwortet.
»Es geht. Heute will ich versuchen, ein paar Zeugenaussagen zu überprüfen, es geht um diese Drogenbeschlagnahmung in Staa im Januar, falls du dich erinnerst?«
Daniel nickt, während sie auf ihre Büros zugehen. Beide sitzen auf der rechten Seite des Flurs, drei Türen voneinander entfernt.
»Was hältst du davon, wenn wir nachher im Broken was essen?«, fragt Daniel. »Ich bin heute nicht dazu gekommen, mir eine Lunchbox fertig zu machen.«
Normalerweise isst Hanna gern in dem beliebten Restaurant zu Mittag, aber Daniel hat wohl vergessen, was zur Osterzeit im Dorf los ist.
»Du, ich und ungefähr tausend Touristen?«, erwidert sie und zieht eine Augenbraue hoch. »Da müssen wir eine Ewigkeit auf einen Tisch warten.«
Daniel lacht und hebt die Kaffeetasse an den Mund.
»Daran hab ich nicht gedacht.«
»Da bleibt wohl nur eine Wurst am Tankstellenimbiss, wenn du nicht eine Stunde in der Schlange stehen willst«, sagt Hanna lächelnd. »Aber dorthin komme ich mit, wenn du willst?«
Es ist still auf dem Gang vor der Silver Suite, als Ivar vom Gebäudemanagement vorsichtig an die Tür klopft. Es ist halb elf, da sollte es in Ordnung sein, hineinzugehen und den Temperaturregler zu überprüfen, über den sich der Gast beschwert hat. Es ist ein sonniger Tag, und um diese Uhrzeit sind die meisten Hotelgäste draußen auf der Piste.
An der Tür hängt kein Nicht stören-Schild. Dann ist die Suite wohl leer. Ivar öffnet mit seiner Schlüsselkarte. Sicherheitshalber ruft er halblaut hinein:
»Hallo? Darf ich reinkommen?«
Niemand antwortet. Gut, dann ist der Gast wohl ausgeflogen, obwohl auf dem Sideboard ein Handy liegt, das geladen wird.
Ivar will gerade eintreten, als sein Blick auf den Teppichboden fällt. Auf dem sind überall dunkelrote Flecken. Es sieht aus, als hätte jemand Rotwein im ganzen Raum verschüttet und wäre dann durch die Pfützen gelaufen.
Doch da ist noch etwas anderes. Ein dumpfer Geruch, der ihn innehalten lässt. Es riecht unangenehm, ranzig, fast wie … Blut.
Er betrachtet wieder die Flecken auf dem Teppich. Dann blickt er aus den Augenwinkeln zur Schlafzimmertür, die einen Spalt offensteht. Dort drinnen ist es völlig dunkel, anscheinend sind die Rollos noch heruntergezogen.
Die Stille wächst, wird kompakt und beängstigend.
Vorsichtig geht er hin und stößt die Schlafzimmertür mit dem Fuß auf. Es dauert einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben.
Dann entdeckt er den Körper auf dem Fußboden vor dem Doppelbett.
Die toten Augen starren blicklos an die Zimmerdecke. Am Hals ist eine tiefe Schnittwunde mit klaffenden Hauträndern zu sehen. Der Rest des Körpers ist von Messerstichen durchbohrt, und das Laken ist durchtränkt von Blut, das vom Bett auf den Fußboden gelaufen ist und dort Lachen gebildet hat.
Wohin er auch schaut, alles ist klebrig rot.
Es dauert, bis Ivar die Situation richtig bewusst wird. Dann stolpert er hinaus und erbricht sich auf dem Gang.
Als Daniel an der Türschwelle zu Hannas Büro auftaucht, hält er immer noch das Telefon ans Ohr gepresst.
»Wir müssen sofort rauf zum Copperhill.«
Sein Blick ist hart und ernst.
»Wie es aussieht, ist dort heute Nacht jemand erstochen worden. Ein Hotelgast wurde tot in seinem Zimmer aufgefunden.«
Hanna greift nach ihrer Jacke und eilt Daniel, der schon auf dem Weg zum Auto ist, im Laufschritt hinterher. Während sie vom Parkplatz zurücksetzen, fasst er die Informationen zusammen, die von der RLC, der regionalen Einsatzleitstelle in Umeå, an die Abteilung Schwerkriminalität in Östersund gegeben und von dort an ihn weitergeleitet wurden.
»Der Notruf kam um 10.53 Uhr.«
»Wer hat angerufen?«
»Der Hotelchef. Ein Hausmeister hat in einer der Hotelsuiten eine leblose Frau gefunden, übersät von Messerstichen.«
Hanna fehlen die Worte. Eine brutal ermordete Frau, die in ihrem eigenen Blut liegt, das ist einer der schlimmsten Anblicke, die man sich vorstellen kann. Sie hat diese Art von Tatorten schon gesehen, als sie in Stockholm in der Abteilung für Gewalt in engen sozialen Beziehungen gearbeitet hat.
Danach hatte sie jedes Mal Albträume.
»Der arme Kerl steht sicher unter schwerem Schock«, murmelt sie.
Ihr geht bereits durch den Kopf, was jetzt alles erledigt werden muss. Das bevorstehende Osterwochenende kann sie jedenfalls vergessen.
Daniel tritt das Gaspedal durch. Auf der Reichsstraße sind höchstens achtzig Stundenkilometer erlaubt, aber im Moment ist kein anderes Auto zu sehen.
»Was ist mit den Kriminaltechnikern?«, fragt Hanna. »Sind die unterwegs?«
»Ja, aber sie kommen aus Östersund.«
Hanna weiß, was das bedeutet.
»Dann dauert es mindestens eine Stunde, bis sie hier sind.«
In Norrland müssen die meisten Polizeikräfte viele Stunden im Auto verbringen, nur um einen Tatort zu erreichen. Der Polizeidistrikt Jämtland umfasst außerdem noch Härjedalen.
Hanna hat die stille Hoffnung, dass man Carina Grankvist als leitende Kriminaltechnikern geschickt hat. Sie haben im Fall des ermordeten Skifahrers zusammengearbeitet, und Carina ist geradeheraus und unkompliziert. Auch sie ist formal der Dienststelle Östersund zugeordnet, genau wie Daniel und Hanna, aber sie wohnt in Mattmar und hat es von dort näher zum Tatort. Von ihrem Zuhause bis nach Åre sind es nur fünfzig Kilometer.
»Wissen wir sonst noch etwas über die Tote?«, fragt Hanna. »Wie sie heißt? Wer sie ist?«
Daniel schüttelt den Kopf.
»Das werden wir erfahren, wenn wir dort sind.«
Das dunkelbraune Gebäude der Schokoladenfabrik Åre erscheint auf der rechten Seite. Es liegt genau gegenüber der Abzweigung hinauf zum Copperhill. Das ist die Straße, die auch nach Sadeln führt, der Siedlung, in der Lydias Haus steht.
Hanna kennt die Strecke in- und auswendig, ist sie oft im Dunkeln und bei Tageslicht gefahren.
Als sie von der E14 abbiegen, wird die Straße schmal und steil. Sie schlängelt sich den Berg hinauf, gleicht eher einem Alpenpass in der Schweiz als einer schwedischen Landstraße. Auf der einen Seite hängen gefrorene Wasserfälle an der Felswand, auf der anderen Seite ist die Aussicht frei und schwindelerregend.
Als sie das Zentrum von Björnen erreichen, biegt Daniel scharf nach rechts ab. Ein kleines Schild weist ihnen den Weg: Copperhill Mountain Lodge steht da in schwarzen Buchstaben.
Nach einer Reihe von engen Kurven taucht das spektakuläre Gebäude vor ihnen auf. Das Hotel thront hoch oben auf dem sogenannten Förberget. Hanna hat dort schon mit Lydia und ihrer Familie gegessen, aber nie im Hotel übernachtet. Das ist bei einem Polizistengehalt nicht drin.
Das milchige Vormittagslicht lässt sie blinzeln, das mulmige Gefühl im Bauch wächst, je näher sie dem Tatort kommen.
Weit unten zieht sich der Åre-See wie ein weißer Eisstreifen in Richtung der Berge im Westen. Auf der anderen Seite des Sees liegt das Renfjäll im Schatten.
Daniel findet eine freie Parklücke und fährt rasch rückwärts hinein. Zwei Streifenwagen sind bereits vor Ort, sie stehen ein Stück entfernt. Ansonsten ist der Parkplatz fast voll, die Ostertage gehören zu den richtig großen Feiertagen der Saison.
»Was für ein beschissenes Timing«, sagt Hanna. »Der erste Tag der Schulferien, hier müssen jede Menge Gäste sein.«
Daniels Gesichtsausdruck ist düster, als er die Fahrertür öffnet.
»Das ist eine Tragödie«, konstatiert er. »Für das Opfer, für das Hotel und für die ganze Umgebung.«
21. Dezember 1973
Die schwarz-weiße Uniform liegt vor Monica auf dem Bett ihres Mädchenzimmers, so sauber und frisch gestärkt – sie wagt kaum zu glauben, dass sie ihr gehört. Es ist drei Tage vor Heiligabend, heute tritt sie ihre erste Schicht im Hochgebirgshotel in Storlien an.
Sie kann es immer noch nicht fassen, dass es wahr ist. Dass sie eine Anstellung als Serviererin im glamourösesten Hotel der Berge gefunden hat, in dem die Gäste den Filmstars in den Illustrierten gleichen, die sie heimlich liest.
Sogar der König kommt dort gelegentlich zu Besuch.
Monica überläuft ein Schauer bei dem Gedanken, dass sie einen Blick auf ihn erhaschen könnte. Er ist siebenundzwanzig Jahre alt, unverheiratet und Europas attraktivste Majestät. Es ist bekannt, dass er gerne mal im Hotel vorbeischaut, wenn er oben auf seiner Hütte weilt.
Mit zitternden Händen zieht sie sich an und überprüft das Ergebnis im Spiegel. Das Kleid sitzt perfekt an ihrer zierlichen Figur. Sie ist nur eins sechzig groß, aber der neue BH wirkt Wunder. Sie hat ihr braunes Haar hochgesteckt, um älter auszusehen, aus demselben Grund sind die Augen mit extra viel Kajal geschminkt.
Als sie fertig ist, geht sie die Treppe hinunter und zeigt sich ihrer Mutter, die im Wohnzimmer sitzt und Radio hört.
»Was sagst du?«, fragt Monica nervös.
Mama wirft ihr einen missbilligenden Blick zu.
»Mit so einem kurzen Rock willst du zur Arbeit?«
Monica hat den Saum heimlich umgenäht, um besser auszusehen. Erwachsener.
»Der muss so sein«, sagt sie leichthin, während sie ihre dicken Wintersachen anzieht, um sich auf den Weg zu machen.
Von ihrem Zuhause sind es nur zwanzig Minuten Fußweg zum Hotel. Monica ist außer Atem vor Aufregung, als sie dort ankommt. Das Gebäude ist wunderschön erleuchtet, der Eingang üppig dekoriert mit Fichtenzweigen und dunkelroten Samtrosetten. Zu beiden Seiten der Treppe stehen große Weihnachtsbäume, und in schmiedeeisernen Haltern brennen Fackeln auf dem ganzen Weg bis zu den imposanten Doppeltüren.