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Vorab-Leseprobe zum neuen Polarkreis-Krimi von SPIEGEL-Bestsellerautorin Viveca Sten, der am 17. Oktober 2024 erscheint. Ein verlassenes Berghotel am tief verschneiten Polarkreis. Riskante Immobilienspekulation. Tödliche Folgen. Das Bergdorf Åre hoch im Norden Schwedens wimmelt von Skiurlaubern, als die Stockholmer Immobilienentwicklerin Charlotte Wretlind in ihrem Hotelzimmer brutal erstochen aufgefunden wird – das Bett klebrig von Blut. Panik breitet sich in der Gegend aus, Hanna Ahlander und ihr Kollege Daniel Lindskog übernehmen sofort den Fall. Die Spuren führen in ein verlassenes Hochgebirgshotel, das seinen früheren Glanz schon lange verloren hat: Charlotte kannte den Ort seit ihrer Kindheit und wollte das Gebäude abreißen lassen, um es durch ein spektakuläres Luxushotel zu ersetzen. Die Anwohner begegneten ihr mit erbittertem Widerstand. Doch Hanna muss feststellen, dass in diesem Fall nichts so ist, wie es scheint. Und dann geschieht ein zweiter Mord. Lesen Sie außerdem den exklusiven Kurzkrimi »Die Gondel« von Viveca Sten: In letzter Minute besteigt Andrea Franzén im klirrend kalten Bergdorf Åre im Norden Schwedens die Seilbahnkabine, ihre Skier in der Hand. Oben auf dem Gipfel warten ihre Freundinnen auf sie. Doch kurz bevor die Türen der Gondel sich schließen, steigt ein weiterer Fahrgast zu - und auf der Fahrt über eisige Schluchten und tief verschneite Fichtenwälder ist Andrea nicht allein ... Diese XXL-Leseprobe enthält außerdem ein Interview mit Viveca Sten zur Polarkreis-Reihe. Jetzt gratis herunterladen und sofort reinlesen!
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Seitenzahl: 62
Viveca Sten
Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt
Die Sonne ist eine perfekt leuchtende Kugel, die Gold über das Åre-Tal streut, als Andrea Franzén auf Skiern zur Gondelbahn fährt, dem Lift, der sie das letzte Stück hinauf zum Gipfel bringen soll.
Der Zug aus Stockholm hatte mehrere Stunden Verspätung, sie hätte schon früh am Morgen ankommen sollen. Jetzt ist der Rest der Gruppe schon oben auf dem Åreskutan, dem schwedischen Mekka für Skifahrer, und alle warten auf sie.
Es ist Anfang Februar. Das jährliche Mädelswochenende war seit Monaten geplant. Alle anderen sind mit dem Flugzeug angereist, aber Andrea musste in der Anwaltskanzlei, in der sie seit ein paar Jahren als Rechtsreferendarin angestellt ist, Überstunden machen. Es ging um Unterlagen im Zusammenhang mit einer Firmenübernahme, die ihr Chef noch vor dem Wochenende fertiggestellt haben wollte. Deshalb musste sie den Nachtzug nehmen, anstatt zusammen mit den anderen hierherzufliegen.
The story of my life, denkt Andrea, während sie rasch die Skier abschnallt und die Treppen zum Lifthaus hinaufgeht, wo die Warteschlange beginnt. Es fällt ihr schwer, Nein zu sagen, sie ist ein braves Mädchen, immer da, wenn sie gebraucht wird.
Ihr Handy klingelt, es ist ihre Freundin Hanna, die vor einigen Jahren nach Åre gezogen ist. Sie fragt, ob Andrea bald kommt.
Am anderen Ende ist es so laut, dass sie Hanna kaum versteht, aber anscheinend sitzen sie alle im Gipfelrestaurant Toppstugan zusammen und warten auf sie.
»Ich steige jeden Moment in die Gondel«, ruft Andrea ins Telefon. »Ich muss jetzt Schluss machen. Wir sehen uns gleich.«
Sie steckt ihr iPhone wieder ein und wirft einen Blick auf die elektronische Anzeigetafel. Auf dem Gipfel sind heute minus acht Grad, aber ausnahmsweise ist es fast windstill, die Windgeschwindigkeit beträgt nur zwei Meter pro Sekunde. Nach all ihren Besuchen in Åre weiß sie, dass die Hochzone wegen des Windes oft geschlossen ist, aber an diesem Wochenende scheinen sie Glück zu haben.
Die Schlange am Lift ist auch überschaubar, es geht schnell vorwärts und Andrea seufzt erleichtert. Manchmal muss man bis zu einer halben Stunde warten, aber heute dauert es nur wenige Minuten. Die Uhr zeigt halb zwölf, die meisten sind anscheinend schon auf der Piste. Es sind nicht mehr viele Nachzügler da, und sie ist die Letzte in der Warteschlange.
Kurz darauf steht sie an der Einstiegsplattform und sieht die eiförmige rote Gondel langsam an der Deckenschiene herangleiten. Die Türen öffnen sich zum Zusteigen. Routiniert steckt sie ihre Skier in das Gestell an der Außenseite und nimmt die Stöcke in eine Hand. Die klobigen Skistiefel schrammen über den Metallboden, als sie einsteigt und sich auf die Bank mit Blick ins Tal setzt.
Wie es aussieht, bleibt sie einziger Fahrgast in der Gondel, dann kann sie jedenfalls von dem ganzen Stress verschnaufen. Nachdem der Zug endlich in Åre angekommen war, hat sie sich wie eine Verrückte beeilt, hat ihr Gepäck abgegeben, Skier ausgeliehen und sich sofort auf den Weg gemacht, um die Freundinnen nicht warten zu lassen.
Die Gondel bewegt sich langsam an der Plattform entlang, während Andrea die Skistiefel öffnet. Gerade als die Türen zugehen wollen, steigt ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann ein. Er nimmt ihr gegenüber Platz und lächelt sie einladend an. Andrea lächelt freundlich zurück, obwohl sie überhaupt keine Lust hat, den ganzen Weg nach oben mit einem Fremden zu plaudern. Sie ist immer noch sauer, dass sie den ersten Tag der Mädelsreise verpasst hat, sauer auf sich selbst, weil sie nicht Nein gesagt hat, als ihr Chef sie bat, Überstunden zu machen. Er ist natürlich pünktlich nach Hause gegangen, während sie unter Papierbergen begraben war.
So viel, wie sie schuftet, hat sie ein verlängertes freies Wochenende verdient.
Sie muss lernen, sich durchzusetzen.
Männliche Kollegen, die nach ihr gekommen sind, wurden befördert, während sie immer noch auf der Stelle tritt. Und das, obwohl sie mehr arbeitet als die meisten anderen. Aber es fällt ihr schwer, sich zu behaupten, es liegt ihr nicht, mit ihren Leistungen zu prahlen, so wie gewisse Kollegen.
Sie hat einfach die spitzen Ellbogen nicht, die erforderlich sind, um in der Kanzlei aufzusteigen. Dabei steht sie sofort bereit, wenn die Chefs sie um etwas bitten, aber das scheint nichts zu nützen.
»Wollen Sie ganz allein auf die Piste?«, fragt der Mann und zieht den Reißverschluss seiner Skijacke auf.
Andrea schüttelt den Kopf, sie hat jetzt keine Lust auf Smalltalk, warum soll sie immer die Höfliche und Wohlerzogene sein? Sie murmelt kurz angebunden, dass ihre Gruppe sie am Gipfel erwartet, und wendet den Blick ab. Um sich zu beschäftigen, zieht sie das Handy hervor, sieht aber, dass der Akku so gut wie leer ist. Es ist nur noch ein kümmerliches Prozent übrig. So ein Mist, sie hat vergessen, ihn im Zug zu laden. Jetzt ist er im Begriff, vor ihren Augen zu verrecken.
Und so ist es. Das Display flackert und wird schwarz.
»Schöner Tag heute«, sagt der Fremde, als hätte er nicht bemerkt, dass sie versucht hat, ihn abzuweisen.
Er trägt eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern, man sieht nicht, wohin er schaut. Andrea nickt auf eine Art, von der sie hofft, dass sie Desinteresse signalisiert. Dann nimmt sie den Skihelm ab, sodass ihr die langen blonden Haare auf die Schultern fallen. Ihr ist warm nach all dem Stress und der Helm sitzt ein wenig zu stramm, sie muss den Kinnriemen verstellen.
Als sie aufblickt, sieht sie, dass der Fremde sich vorgebeugt hat.
»Was für schönes Haar Sie haben«, sagt er. »Wie das glänzt.«
Andrea sieht ihr fragendes Gesicht im Spiegel seiner Sonnenbrille. Er meint es sicher nicht böse, will ihr vermutlich nur ein Kompliment machen. Aber es ist schon merkwürdig, so etwas zu jemandem zu sagen, dem man noch nie zuvor begegnet ist.
Trotzdem verhält sie sich ihm gegenüber freundlich, wie sie es immer tut.
»Danke«, erwidert sie höflich.
Gutes Benehmen ist fest in ihren Genen verankert. Gleichzeitig weiß sie, dass genau dieser Charakterzug, immer gefallen zu wollen, ihr Fluch im Büro ist.
»Sie nutzen dich aus«, hat Hanna ihr mehr als einmal gesagt. »Du musst Grenzen setzen, sonst werden sie dich nie respektieren.«
Es ist nur so schwer. Andrea weiß nicht, wie man das macht, sie hat diese Kunst nie gelernt. Ihr Leben lang war sie das brave Mädchen, das nickt und gehorcht.
Und was ist der Dank dafür?
Sie seufzt und schaut durch das ovale Fenster hinaus, lässt den Blick über die verschneiten Fichten schweifen, die sich dort unten mit niedrigen Fjällbirken abwechseln. Deren Geäst ist voller Raureif, der wie Zuckerwatte aussieht. Der Schnee glitzert so hell in der Sonne, dass sie geblendet wird, und ein azurblauer Himmel bildet den Hintergrund für die Bergmassive im Südwesten.
Die Aussicht ist nahezu unendlich.
»Darf ich es anfassen?«
Andrea zuckt zusammen, als die Stimme des Fremden sie aus ihren Gedanken reißt. Sie blinzelt und sieht ihn fragend an.
»Es ist so schön«, fügt er hinzu.
Erst jetzt begreift sie, dass er ihr Haar meint.
Sie weiß nicht, was sie antworten soll. Wie kommt man auf die seltsame Idee, eine völlig fremde Frau so etwas zu fragen?
Gleichzeitig kommt es ihr dumm vor, Nein zu sagen. Er hat sicher nichts Böses im Sinn, weiß wohl einfach nicht, was sich gehört und was nicht.
Obwohl sein Verhalten schon etwas Distanzloses hat, etwas, das sie nicht richtig einordnen kann.
Das ihr Unbehagen bereitet.
»Darf ich?«, fragt er wieder.
Andrea zögert. Sie kann Hannas Stimme geradezu in ihrem Kopf hören: Sag einfach Nein.