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Mit einer Novalis-Biographie von Ludwig Tieck. Mit einer Nachbemerkung des Herausgebers. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Die Sammlung ›Blütenstaub‹ erschien erstmals in August Wilhelm und Friedrich Schlegels berühmter Zeitschrift ›Athanaeum‹. Hierin und in den anderen Fragmenten entfaltet Novalis auf faszinierende Weise sein Lyrikverständnis. Und darüber hinaus bieten diese Schriften Einblicke in die produktivste Denkfabrik der Romantik.
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Seitenzahl: 195
Novalis
Blütenstaub/ Die Christenheit oder Europa
Fragmente und Studien
Herausgegeben von Hans Jürgen Balmes
Fischer e-books
Mit einer Novalis-Biographie von Ludwig Tieck.
Mit einer Nachbemerkung des Herausgebers.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
[Handschriftliche Fassung von Blütenstaub]
1. Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge.
2. Die Bezeichnung durch Töne und Striche ist eine bewundernswürdige Abstraktion. Vier Buchstaben bezeichnen mir Gott – einige Striche eine Million Dinge. Wie leicht wird hier die Handhabung des Universi! wie anschaulich die Konzentrizität der Geisterwelt! die Sprachlehre ist die Dynamik des Geisterreichs! Ein Kommandowort bewegt Armeen – das Wort Freiheit – Nationen.
3. Der Weltstaat ist der Körper, den die schöne Welt, die gesellige Welt – beseelt. Er ist ihr notwendiges Organ.
4. Lehrjahre sind für den poetischen – akademische Jahre für den philosophischen Jünger.
Akademie sollte ein durchaus philosophisches Institut sein – nur Eine Fakultät – die ganze Einrichtung zur Erregung und zweckmäßigen Übung der Denkkraft – organisiert.
Lehrjahre im vorzüglichen Sinn sind die Lehrjahre der Kunst zu leben. Durch planmäßig geordnete Versuche lernt man ihre Grundsätze kennen und erhält die Fertigkeit, nach ihnen behebig zu verfahren.
5. Der Geist führt einen ewigen Selbstbeweis.
6. Ganz begreifen werden wir uns nie, aber wir werden und können uns weit mehr als begreifen.
7. Gewisse Hemmungen gleichen den Griffen eines Flötenspielers, der um verschiedene Töne hervorzubringen, bald diese, bald jene Öffnung zuhält und willkürliche Verkettungen stummer und tönender Öffnungen zu machen scheint.
8. Der Unterschied zwischen Wahn und Wahrheit liegt in der Differenz ihrer Lebensfunktionen.
Der Wahn lebt von der Wahrheit – die Wahrheit hat ihr Leben in sich. Man vernichtet den Wahn, wie man Krankheiten vernichtet – und der Wahn ist also nichts als logische Entzündung oder Verlöschung – Schwärmerei oder Philisterei. Jene hinterlässt gewöhnlich – einen scheinbaren Mangel an Denkkraft, der durch nichts zu heben ist als eine abnehmende Reihe von Inzitamenten (Zwangsmitteln). Diese geht oft in eine trügliche Lebhaftigkeit über, deren gefährliche Revolutionssymptome nur durch eine zunehmende Reihe gewaltsamer Mittel vertrieben werden können.
Beide Dispositionen können nur durch chronische, streng befolgte Kuren verändert werden.
9. Unser sämtliches Wahrnehmungsvermögen gleicht dem Auge. Die Objekte müssen durch entgegengesetzte Media durch, um richtig auf der Pupille zu erscheinen.
10. Die Erfahrung ist die Probe des Rationalen – und so umgekehrt.
Die Unzulänglichkeit der bloßen Theorie in der Anwendung, über die der Praktiker oft kommentiert – findet sich gegenseitig in der rationellen Anwendung der bloßen Erfahrung und wird von dem echten Philosophen, jedoch mit Selbstbescheidung der Notwendigkeit dieses Erfolgs, vernehmlich genug bemerkt. Der Praktiker verwirft deshalb die bloße Theorie ganz, ohne zu ahnden, wie problematisch die Beantwortung der Frage sein dürfte, ob die Theorie für die Anwendung oder die Anwendung um der Theorie willen sei?
11. Der Tod ist eine Selbstbesiegung – die, wie alle Selbstüberwindung, eine neue, leichtere Existenz verschafft.
12. Brauchen wir zum Gewöhnlichen und Gemeinen vielleicht deswegen so viel Kraft und Anstrengung, weil für den eigentlichen Menschen nichts ungewöhnlicher – nichts ungemeiner ist als armselige Gewöhnlichkeit?
Das Höchste ist das Verständlichste – das Nächste das Unentbehrlichste. Nur durch Unbekanntschaft mit uns selbst – Entwöhnung von uns selbst entsteht hier eine Unbegreiflichkeit, die selbst unbegreiflich ist.
13. Wunder stehn mit naturgesetzlichen Wirkungen in Wechsel – sie beschränken einander gegenseitig und machen zusammen ein Ganzes aus. Sie sind vereinigt, indem sie sich gegenseitig aufheben. Kein Wunder ohne Naturbegebenheit und umgekehrt.
14. Die Natur ist Feindin ewiger Besitzungen. Sie zerstört nach festen Gesetzen alle Zeichen des Eigentums, vertilgt alle Merkmale der Formation. Allen Geschlechtern gehört die Erde – jeder hat Anspruch auf alles. Die Frühern dürfen diesem Primogeniturzufalle keinen Vorzug verdanken. Das Eigentumsrecht erlischt zu bestimmten Zeiten. Die Amelioration und Deterioration steht unter unabänderlichen Bedingungen. Wenn aber der Körper ein Eigentum ist, wodurch ich nur die Rechte eines aktiven Erdenbürgers erwerbe, so kann ich durch den Verlust dieses Eigentums nicht mich selbst einbüßen – ich verliere nichts als die Stelle in dieser Fürstenschule – und trete in eine höhere Korporation, wohin mir meine geliebten Mitschüler nachfolgen.
15. Leben ist der Anfang des Todes. Das Leben ist um des Todes willen. Der Tod ist Endigung und Anfang zugleich – Scheidung und nähere Selbstverbindung zugleich. Durch den Tod wird die Reduktion vollendet.
16. Wir sind dem Aufwachen nah, wenn wir träumen, dass wir träumen.
17. Die Phantasie setzt die künftige Welt entw[eder] in die Höhe oder in die Tiefe oder in der Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall – ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht – nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten – die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt – sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint’s uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos – aber wie ganz anders wird es uns dünken – wenn diese Verfinsterung vorbei und der Schattenkörper hinweggerückt ist – wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.
18. Darwin macht die Bemerkung, dass wir weniger vom Lichte beim Erwachen geblendet werden – wenn wir von sichtbaren Gegenständen geträumt haben. Wohl also denen, die hier schon von Sehn träumten – sie werden früher die Glorie jener Welt ertragen können!
19. Wie kann ein Mensch Sinn für etwas haben, wenn er nicht den Keim davon in sich hat. Was ich verstehn soll, muss sich in mir organisch entwickeln – und was ich zu lernen scheine, ist nur Nahrung – Inzitament des Organism.
20. Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen – ist er in jedem Punkte der Durchdringung.
21. Das Leben eines wahrhaft kanonischen Menschen muss durchgehends symbolisch sein. Wäre unter dieser Voraussetzung nicht jeder Tod ein Versöhnungstod? – Mehr oder weniger, versteht sich – und ließen sich nicht mehrere höchst merkwürdige Folgerungen daraus ziehn?
22. Wer sucht, wird zweifeln. Das Genie sagt aber so dreist und sicher, was es in sich vorgehn sieht, weil es nicht in seiner Darstellung und also auch die Darstellung nicht [in] ihm befangen ist, sondern seine Betrachtung und das Betrachtete frei zusammenzustimmen, zu Einem Werke frei sich zu vereinigen scheinen.
Wenn wir von der Außenwelt sprechen, wenn wir wirkliche Gegenstände schildern, so verfahren wir, wie das Genie. So ist also das Genie das Vermögen, von eingebildeten Gegenständen wie von wirklichen zu handeln und sie auch wie diese zu behandeln. Das Talent darzustellen, genau zu beobachten – zweckmäßig die Beobachtung zu beschreiben – ist also vom Genie verschieden. Ohne dieses Talent sieht man nur halb – und ist nur ein halbes Genie – man kann genialische Anlage haben, die in Ermangelung jenes Talents nie zur Entwicklung kommt.
Ohne Genialität existierten wir alle überhaupt nicht. Genie ist zu allem nötig. Was man aber gewöhnlich Genie nennt – ist Genie des Genies.
23. Das willkürlichste Vorurteil ist, dass dem Menschen das Vermögen außer sich zu sein, mit Bewusstsein jenseits der Sinne zu sein, versagt sei. Der Mensch vermag in jedem Augenblicke ein übersinnliches Wesen zu sein. Ohne dies wär er nicht Weltbürger – er wäre ein Tier. Freilich ist die Besonnenheit in diesem Zustande, die Sich-selbst-Findung – sehr schwer, da er so unaufhörlich, so notwendig mit dem Wechsel unsrer übrigen Zustände verbunden ist. Je mehr wir uns aber dieses Zustands bewusst zu sein vermögen, desto lebendiger, mächtiger, genügender ist die Überzeugung, die daraus entsteht – der Glaube an echte Offenbarungen des Geistes. Es ist kein Schauen – Hören – Fühlen – es ist aus allen dreien zusammengesetzt – mehr als alles Dreies – eine Empfindung unmittelbarer Gewissheit – eine Ansicht meines wahrhaftesten, eigensten Lebens – die Gedanken verwandeln sich in Gesetze – die Wünsche in Erfüllungen. Für den Schwachen ist das Faktum dieses Moments ein Glaubensartikel.
Auffallend wird die Erscheinung besonders beim Anblick mancher menschlicher Gestalten und Gesichter – vorzüglich bei der Erblickung mancher Augen, mancher Mienen, mancher Bewegungen – beim Hören gewisser Worte, beim Lesen gewisser Stellen – bei gewissen Hinsichten auf Leben, Welt und Schicksal. Sehr viele Zufälle, manche Naturereignisse, besondre Jahrs- und Tageszeiten liefern uns solche Erfahrungen. Gewisse Stimmungen sind vorzüglich solchen Offenbarungen günstig. Die meisten sind augenblicklich – wenige verziehend – die wenigsten bleibend. Hier ist viel Unterschied zwischen den Menschen. Einer hat mehr Offenbarungsfähigkeit als der andre – einer mehr Sinn, der andre mehr Verstand für dieselbe. Der Letztere wird immer in ihrem sanften Lichte bleiben; wenn der Erstere nur abwechselnde Erleuchtungen, aber hellere und mannigfaltigere hat. Dieses Vermögen ist ebenfalls krankheitsfähig, die entweder Überfluss an Sinn und Mangel an Verstand – oder Überfluss an Verstand und Mangel an Sinn bezeichnet.
24. Wenn der Mensch nicht weiterkommen kann, so hilft er sich mit einem Machtspruche oder einer Machthandlung – einem raschen Entschluss.
25. Scham ist wohl ein Gefühl der Profanation. Freundschaft, Liebe und Pietät sollten geheimnisvoll behandelt werden. Man sollte nur in seltnen, vertrauten Momenten davon reden, sich stillschweigend darüber einverstehn – Vieles ist zu zart, um gedacht, noch mehreres, um besprochen zu werden.
26. Selbstentäußerung ist die Quelle aller Erniedrigung, so wie im Gegenteil der Grund aller echten Erhebung. Der erste Schritt wird Blick nach innen – absondernde Beschauung unsres Selbst – wer hier stehn bleibt, gerät nur halb. Der zweite Schritt muss wirksamer Blick nach außen – selbsttätige, gehaltne Beobachtung der Außenwelt sein.
Der Mensch wird nie als Darsteller etwas Vorzügliches leisten, der nichts weiter darstellen mag als seine Erfahrungen, seine Lieblingsgegenstände, der es nicht über sich gewinnen kann, auch einen ganz fremden, ihm ganz uninteressanten Gegenstand mit Fleiß zu studieren und mit Muße darzustellen. Der Darsteller muss alles darstellen können und wollen. Dadurch entsteht der große Stil der Darstellung, den man, mit Recht, an Goethe so sehr bewundert.
27. Eine merkwürdige Eigenheit Goethes bemerkt man in seinen Verknüpfungen kleiner, unbedeutender Vorfälle mit wichtigern Begebenheiten. Er scheint keine andre Absicht dabei zu hegen, als die Einbildungskraft auf eine poetische Weise mit einem mysteriösen Spiel zu beschäftigen. Auch hier ist der sonderbare Mann der Natur auf die Spur gekommen und hat ihr einen artigen Kunstgriff abgemerkt. Das gewöhnliche Leben ist voll ähnlicher Zufälle. Sie machen ein Spiel aus, das, wie alles Spiel, auf Überraschung und Täuschung hinausläuft.
Mehrere Sagen des gemeinen Lebens beruhn auf einer Bemerkung dieses verkehrten Zusammenhangs – so z.B. bedeuten böse Träume Glück – Totsagen, langes Leben – ein Hase, der über den Weg läuft, Unglück. Fast der ganze Aberglaube des gemeinen Volks beruht auf Deutungen dieses Spiels.
28. Die höchste Aufgabe der Bildung ist – sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen – das Ich ihres Ichs zugleich zu sein. Umso weniger befremdlich ist der Mangel an vollständigem Sinn und Verstand für andre. Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man nie andre wahrhaft verstehn lernen.
29. Nur dann zeig ich, dass ich einen Schriftsteller verstanden habe, wenn ich in seinem Geiste handeln kann, wenn ich ihn, ohne seine Individualität zu schmälern, übersetzen und mannigfach verändern kann.
30. Humor ist eine willkürlich angenommene Manier. Das Willkürliche ist das Pikante daran – Humor ist Resultat einer freien Vermischung des Bedingten und Unbedingten. Durch Humor wird das eigentümlich Bedingte allgemein interessant – und erhält objektiven Wert. Wo Phantasie und Urteilskraft sich berühren, entsteht Witz – wo sich Vernunft und Willkür paaren – Humor. Persiflage gehört zum Humor, ist aber um einen Grad geringer – sie ist nicht mehr rein artistisch – ⟨und viel beschränkter. In heitern Seelen gibt’s keinen Witz. Witz zeigt ein gestörtes Gleichgewicht an – er ist die Folge der Störung und zugleich das Mittel der Herstellung. Den stärksten Witz hat die Leidenschaft. Echt geselliger Witz ist ohne Knall. Es gibt eine Art desselben, die nur magisches Farbenspiel in höhern Sphären ist. Der Zustand der Auflösung aller Verhältnisse – die Verzweiflung oder das geistige Sterben – ist am fürchterlichsten witzig.
Das Unbedeutende, Gemeine, Rohe, Hässliche, Ungesittete wird durch Witz allein gesellschaftsfähig. Es ist gleichsam nur um des Witzes willen – seine Zweckbestimmung ist der Witz.⟩
31. ⟨Geistvoll ist das, worin sich der Geist unaufhörlich offenbart – wenigstens oft von neuem, in veränderter Gestalt wieder erscheint – nicht bloß etwa nur einmal – so im Anfang – wie bei vielen philosophischen Systemen.⟩
32. Wir sind auf einer Mission. Zur Bildung der Erde sind wir berufen. Wenn uns ein Geist erschiene, so würden wir uns sogleich unsrer eignen Geistigkeit bemächtigen – wir würden inspiriert sein, durch uns und den Geist zugleich – ohne Inspiration keine Geistererscheinung. Inspiration ist Erscheinung und Gegenerscheinung, Zueignung und Mitteilung zugleich.
33. Der Mensch lebt, wirkt nur in der Idee fort – durch die Erinnerung an sein Dasein. Vor der Hand gibt’s kein anderes Mittel der Geisterwirkungen auf dieser Welt. Daher ist es Pflicht, an die Verstorbenen zu denken. Es ist der einzige Weg, in Gemeinschaft mit ihnen zu bleiben. Gott selbst ist auf keine andre Weise bei uns wirksam – als durch den Glauben.
34. Interesse ist Teilnahme an dem Leiden und der Tätigkeit eines Wesens. Mich interessiert etwas, wenn es mich zur Teilnahme zu erregen weiß. Kein Interesse ist interessanter, als was man an sich selbst nimmt – sowie der Grund einer merkwürdigen Freundschaft und Liebe die Teilnahme ist, zu der mich ein Mensch reizt, der mit sich selbst beschäftigt ist, der mich durch seine Mitteilung gleichsam einladet, an seinem Geschäfte teilzunehmen.
35. Wer den Witz erfunden haben mag? Jede zur Besinnung gebrachte Eigenschaft – Handlungsweise unsers Geistes ist im eigentlichsten Sinne eine neu entdeckte Welt.
36. Was Schlegel so scharf als Ironie charakterisiert, ist, meinem Bedünken nach, nichts anders – als die Folge, der Charakter der echten Besonnenheit – der wahrhaften Gegenwart des Geistes. Der Geist erscheint immer nur in fremder, luftiger Gestalt. Schlegels Ironie scheint mir echter Humor zu sein. Mehrere Namen sind einer Idee vorteilhaft.
37. Jetzt regt sich nur hie und da Geist – wenn wird der Geist sich im Ganzen regen? – wenn wird die Menschheit in Masse sich selbst zu besinnen anfangen?
38. Der Mensch besteht in der Wahrheit – gibt er die Wahrheit preis, so gibt er sich selbst preis. Wer die Wahrheit verrät, verrät sich selbst. Es ist hier nicht die Rede vom Lügen – sondern vom Handeln gegen Überzeugung.
39. Von einem liebenswerten Gegenstande können wir nicht genug hören, nicht genug sprechen. Wir freuen uns über jedes neue, treffende, verherrlichende Wort. Es liegt nicht an uns, dass er nicht Gegenstand aller Gegenstände wird.
40. Wir halten einen leblosen Stoff wegen seiner Beziehungen, seiner Formen fest. Wir lieben den Stoff insofern er zu einem geliebten Wesen gehört, seine Spur trägt oder Ähnlichkeit mit ihm hat.
41. Ein echter Klub ist eine Mischung von Institut und Gesellschaft – er hat einen Zweck, wie das Institut – aber keinen bestimmten, sondern einen unbestimmten – freien – Humanität überhaupt. Aller Zweck ist ernsthaft – die Gesellschaft ist durchaus fröhlich.
42. Die Gegenstände der gesellschaftlichen Unterhaltung sind nichts als Mittel der Belebung. Dies bestimmt ihre Wahl – ihren Wechsel – ihre Behandlung. Die Gesellschaft ist nichts als gemeinschaftliches Leben – Eine unteilbare denkende und fühlende Person. Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.
43. In sich zurückgehn bedeutet bei uns, von der Außenwelt abstrahieren. Bei den Geistern heißt analogisch das irdische Leben eine innre Betrachtung – ein in sich Hineingehn – ein immanentes Wirken. So entspringt das irdische Leben aus einer ursprünglichen Reflexion – einem primitiven Hineingehn, Sammeln in sich selbst – das so frei ist als unsre Reflexion. Umgekehrt entspringt das geistige Leben in dieser Welt aus einem Durchbrechen jener primitiven Reflexion – der Geist entfaltet sich wiederum – der Geist geht zu sich selbst wieder heraus – hebt zum Teil jene Reflexion wieder auf – und in diesem Moment sagt er zum ersten Mal – Ich. Man sieht hier, wie relativ das Herausgehn und Hineingehn ist. Was wir Hineingehn nennen, ist eigentlich Herausgehn – eine Wiederannahme der anfänglichen Gestalt.
44. Ob sich nicht etwas für die neuerdings so sehr gemisshandelten Alltagsmenschen sagen ließe? Gehört nicht zur beharrlichen Mittelmäßigkeit die meiste Kraft? und soll der Mensch mehr als einer aus dem Popolo sein?
45. Wo echter Hang zum Nachdenken, nicht bloß zum Denken dieses oder jenes Gedankens, herrschend ist – da ist auch Progredibilität. Sehr viele Gelehrte besitzen diesen Hang nicht. Sie haben schließen und folgern gelernt wie ein Schuster das Schuhmachen, ohne je auf den Einfall zu geraten oder sich zu bemühen, den Grund der Gedanken zu finden. Dennoch liegt das Heil auf keinem andern Wege. Bei vielen währt dieser Hang nur eine Zeitlang – er wächst und nimmt ab – sehr oft mit den Jahren – oft mit dem Fund eines Systems, das sie nur suchten, um der Mühe des Nachdenkens ferner überhoben zu sein.
46. Irrtum und Vorurteil sind Lasten – indirekt reizende Mittel für den Selbsttätigen, jeder Last Gewachsenen – für den Schwachen sind sie positiv schwächende Mittel.
47. Das Volk ist eine Idee. Wir sollen ein Volk werden. Ein vollkommner Mensch ist ein kleines Volk. Echte Popularität ist das höchste Ziel des Menschen.
48. Jede Stufe der Bildung fängt mit Kindheit an. Daher ist der am meisten gebildete, irdische Mensch dem Kinde so ähnlich.
49. Der transzendentale Gesichtspunkt für dieses Leben erwartet uns – dort wird es uns erst recht interessant werden.
50. Jeder geliebte Gegenstand ist der Mittelpunkt eines Paradieses.
51. Das Interessante ist, was mich nicht um mein Selbst willen, sondern nur als Mittel, als Glied, in Bewegung setzt. Das Klassische stört mich gar nicht – es affiziert mich nur indirekte durch mich selbst – Es ist nicht für mich da als klassisch, wenn ich es nicht setze als ein solches, das mich nicht affizieren würde, wenn ich mich nicht selbst zur Hervorbringung desselben für mich bestimmte – anrührte, wenn ich nicht ein Stück von mir selbst losrisse und diesen Keim sich auf eine eigentümliche Weise vor meinen Augen entwickeln ließe – eine Entwickelung, die oft nur einen Moment bedarf – und mit der sinnlichen Wahrnehmung des Objekts zusammenfällt – sodass ich ein Objekt vor mir sehe, in welchem das gemeine Objekt und das Ideal, wechselseitig durchdrungen, nur Ein wunderbares Individuum bilden.
52. Formeln für Kunstindividuen finden, durch die sie im eigentlichsten Sinn erst verstanden werden, macht das Geschäft des artistischen Kritikers aus – dessen Arbeiten die Geschichte der Kunst vorbereiten.
53. Je verworrner ein Mensch ist / man nennt die Verworrenen Dummköpfe / desto mehr kann durch fleißiges Selbststudium aus ihm werden – dahingegen die geordneten Köpfe trachten müssen, wahre Gelehrte – gründliche Enzyklopädisten zu werden. Die Verworrnen haben im Anfang mit mächtigen Hindernissen zu kämpfen – sie dringen nur langsam ein – sie lernen mit Mühe arbeiten – dann aber sind sie auch Herrn und Meister auf immer. Der Geordnete kommt geschwind hinein – aber auch geschwind heraus – er erreicht bald die zweite Stufe – aber da bleibt er auch gewöhnlich stehn. Ihm werden die letzten Schritte beschwerlich, und selten kann er es über sich gewinnen – schon bei einem gewissen Grade von Meisterschaft sich wieder in den Zustand eines Anfängers zu versetzen. Verworrenheit deutet auf Überfluss an Kraft und Vermögen – aber mangelhafte Verhältnisse – Bestimmtheit – auf richtige Verhältnisse, aber sparsames Vermögen und Kraft.
Daher ist der Verworrne so progressiv – so perfektibel – dahingegen der Ordentliche so früh als Philister aufhört.
Ordnung und Bestimmtheit ist allein nicht Deutlichkeit. Durch Selbstbearbeitung kommt der Verworrene zu jener himmlischen Durchsichtigkeit – zu jener Selbsterleuchtung – die der Geordnete so selten erreicht.
Das wahre Genie verbindet diese Extreme. Es teilt die Geschwindigkeit mit dem Letzten und die Fülle mit dem Ersten.
54. Das Individuum interessiert nur. Daher ist alles Klassische nicht individuell.
55. Genialer Scharfsinn ist scharfsinniger Gebrauch des Scharfsinns.
56. Der wahre Brief ist, seiner Natur nach, poetisch.
57. Witz, als Prinzip der Verwandtschaften, ist zugleich das Menstruum universale.
Witzige Vermischungen sind z.B. Jude und Kosmopolit – Kindheit und Weisheit – Räuberei und Edelmut – Tugend und Hetärie – Überfluss und Mangel an Urteilskraft, in der Naivität – und so fort in infinitum.
58. Der Mensch erscheint am würdigsten, wenn sein erster Eindruck – der Eindruck eines absolut witzigen Einfalls ist – nämlich Geist und bestimmtes Individuum zugleich zu sein. Einen jeden vorzüglichen Menschen muss gleichsam ein Geist zu durchschweben scheinen, der die sichtbare Erscheinung idealisch parodiert. Bei manchen Menschen zeigt oft dieser Geist der sichtbaren Erscheinung den Hintern.
59. Gesellschaftstrieb ist Organisationstrieb. Durch diese geistige Assimilation entsteht oft aus gemeinen Bestandteilen eine gute Gesellschaft um einen geistvollen Menschen her.
Das Interessante ist die Materie, die sich um die Schönheit bewegt. Wo Geist und Schönheit ist, häuft sich in konzentrischen Schwingungen das Beste aller Naturen.
60. Der Deutsche ist lange das Hänschen gewesen. Er dürfte aber wohl bald der Hans aller Hänse werden.
Es geht ihm, wie es vielen dummen Kindern gehn soll – er wird leben und klug sein, wenn seine frühklugen Geschwister längst vermodert sind und er nun allein Herr im Hause ist.
61. Das Beste an den Wissenschaften ist ihr philosophisches Ingrediens – wie das Leben am organischen Körper. Man dephilosophiere die Wissenschaften – was bleibt übrig – Erde, Luft und Wasser.
62. Menschheit ist eine humoristische Rolle.
63. Unsre alte Nationalität war, wie mich dünkt, echt römisch – natürlich weil wir auf eben dem Wege wie die Römer entstanden – und so wäre der Name Römisches Reich wahrlich ein artiger, sinnreicher Zufall.
Deutschland ist Rom, als Land. Ein Land ist ein großer Ort mit seinen Gärten. Das Kapitol ließe sich vielleicht nach dem Gänsegeschrei vor den Galliern bestimmen.
Die instinktartige Universalpolitik und Tendenz der Römer liegt auch im deutschen Volk. Das Beste, was die Franzosen in der Revolution gewonnen haben, ist eine Portion Deutschheit.
64. Gerichtshöfe, Theater, Hof, Kirche, Regierung, öffentliche Zusammenkünfte – Akademien, Kollegien etc. sind gleichsam die speziellen, innern Organe des mystischen Staatsindividuums.
65. Alle Zufälle unsers Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen. Wer viel Geist, hat macht viel aus seinem Leben – jede Bekanntschaft, jeder Vorfall wäre für den durchaus Geistigen – erstes Glied einer unendlichen Reihe – Anfang eines unendlichen Romans.
66. Deutsche gibt es überall. Germanität ist so wenig wie Romanität Gräzität oder Britannität auf einen besondern Staat eingeschränkt – es sind allgemeine Menschencharaktere – die nur hie und da vorzüglich allgemein geworden sind. Deutschheit ist echte Popularität und darum ein Ideal.
67. Der edle Kaufmannsgeist, der echte Großhandel, hat nur im Mittelalter, und besonders zur Zeit der deutschen Hanse, geblüht.
Die Medicis, die Fugger waren Kaufleute, wie sie sein sollten – unsre Kaufleute im ganzen, die Hopes und Teppers nicht ausgenommen, sind nichts als Krämer.
68. Eine Übersetzung ist entweder grammatisch oder verändernd oder mythisch. Mythische Übersetzungen sind Übersetzungen im höchsten Stil. Sie stellen den reinen, vollendeten Charakter des individuellen Kunstwerks dar. Sie geben uns nicht das wirkliche Kunstwerk, sondern das Ideal desselben. Noch existiert, wie ich glaube, kein ganzes Muster derselben. Im Geist mancher Kritiken und Beschreibungen von Kunstwerken trifft man aber helle Spuren. Es gehört ein Kopf dazu, in dem sich poetischer Geist und philosophischer Geist in ihrer ganzen Fülle durchdrungen haben. Die griechische Mythologie ist zum Teil eine solche Übersetzung einer Nationalreligion. Auch die moderne Madonna ist ein solcher Mythus.
Grammatische Übersetzungen sind die Übersetzungen im gewöhnlichen Sinn. Sie erfodern sehr viel Gelehrsamkeit – aber nur diskursive Fähigkeiten.
Zu den verändernden Übersetzungen gehört, wenn sie echt sein sollen, der höchste, poetische Geist. Sie streifen leicht in die Travestie – wie Bürgers Homer in Jamben – Popens Homer – die französischen Übersetzungen insgesamt. Der wahre Übersetzer dieser Art muss in der Tat der Künstler selbst sein und die Idee des Ganzen beliebig so oder so geben können – er muss der Dichter des Dichters sein und ihn also nach seiner und des Dichters eigner Idee zugleich reden lassen können.
In einem ähnlichen Verhältnisse steht der Genius der Menschheit mit jedem einzelnen Menschen.
Nicht bloß Bücher, alles kann auf diese drei Arten übersetzt werden.
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