Blutroter Rhein - Walter Millns - E-Book

Blutroter Rhein E-Book

Walter Millns

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Beschreibung

Terror beim Schaffhausener Triathlon. Journalist Cadoc Cobb und seine taxifahrende Partnerin Anna Galati werden kurz vor Beginn des traditionsreichen Schaffhauser Triathlon mit gleich mehreren schockierenden Ereignissen konfrontiert: Zwei Männer verschwinden spurlos, eine Leiche wird ans Rheinufer gespült, und eine Terrorwarnung verunsichert das Städtchen. Cobb und Galati glauben nicht an einen Zufall – und beginnen nachzuforschen. Was sie finden, führt sie zu einer Vereinigung, die den gesamten Kanton bedroht.

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Walter Millns wurde 1963 in London geboren, wuchs in Graz und Olten auf. Heute lebt er mit seiner Familie in Schaffhausen. Er schreibt Krimis, Kurzgeschichten, Hörspiele und Theaterstücke, inszeniert und zeichnet. Im Sommer schwimmt er im Rhein, im Winter spaziert er am Ufer entlang.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: lichtsicht/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-248-9

Originalausgabe

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Bist du wütend, zähl bis vier,hilft das nicht, dann explodier.

Wilhelm Busch

1

Anna Galati nahm die Schwimmbrille vom Gesicht und schwenkte sie im Wasser. Frauen und Männer droschen mit den Händen auf die Oberfläche ein. Wenn sie den Beckenrand berührten, rissen sie den linken Arm hoch und starrten auf die Uhr. Der Atem ging keuchend. Dann gab der Computer am Handgelenk einen Befehl, und sie patschten weiter. Nach fünfzig Metern Crawl hechelten sie erneut nach Luft.

Letzte Trainingseinheiten, bevor die Freizeitathleten im Wettkampf gegeneinander antraten. Der Schaffhauser Triathlon stand bevor.

Galati setzte die Schwimmbrille auf und tauchte ab. Die Füsse suchten den Widerstand des Beckenrands. Während sie unter Wasser dahinglitt, drehte sie sich auf den Rücken. Die Hände fassten sich weit über dem Scheitel, die gestreckten Arme berührten leicht die Ohren. Luft verliess Nase und Mund und rauschte als glitzernde Perlen erst den Körper entlang und dann an die Wasseroberfläche. Als sie auftauchte, bewegte sie sich in Rückenlage fort. Die Wellenbewegungen der Rumpfmuskulatur trieben sie vorwärts. Delphinbeinschlag.

Der Himmel war klar. Eine Krähe flog ins Blickfeld und verliess es wieder. Kondensstreifen verblassten. Galati spürte das Geschwurbel der Mitschwimmerinnen und Mitschwimmer. Nach knapp fünfzig Metern schwamm sie unter einer Leine hindurch. Sie drehte sich auf den Bauch und crawlte die restlichen paar Meter bis zum Beckenrand.

Für die nächste Länge nahm sie die Arme zu Hilfe. Sie schnellten zu beiden Seiten aus dem Wasser, um weit vorne gleichzeitig wieder einzutauchen. Der Körper bewegte sich peitschenartig, die Arme zogen ihn vorwärts. Der Kopf blieb tief, die Atmung war kaum zu erkennen. Galati schien übers Wasser zu fliegen. Schwerelos.

Sie stiess wieder ab, schwamm auf dem Rücken weiter und atmete tief. Der Körper versuchte das Sauerstoffdefizit wettzumachen. Sie liess sich treiben und löste die angespannte Muskulatur ihres Nackens, indem sie den Kopf leicht hin und her rollte.

Die Brille hatte sich wieder beschlagen. Galati nahm nur Schatten wahr. Einige lagen flach im Wasser und zogen an ihr vorbei. Ihr Blick blieb an einer Figur hängen, die beinahe senkrecht vor sich hin strampelte. Dicker Bauch und dünne Beine. Wie eine Kröte. Sie schob die Brille in die Stirn und schaute genauer hin. Das Gesicht des Mannes kam bis knapp an die Wasseroberfläche und tauchte wieder ab. Das Strampeln wurde heftiger. Sie hörte den Lärm der Kinder, die sich im Wasser vergnügten, sah Körper in grotesken Verrenkungen vom Sprungbrett springen und Sonnenbadende am Beckenrand dösen. Niemand hatte die Kröte bemerkt.

Ein Ertrinkender geht zweimal unter. Einmal im Wasser und einmal in der Menge. Wer ertrinkt, schreit nicht. Zu wenig Sauerstoff.

Sie näherte sich dem Mann, der versuchte, das Gesicht über Wasser zu halten. Er wirkte jung. Ein Flaumbart verdeckte einen Teil der Narbe, die sich parallel zur Nase von der Stirn bis zum Kinn zog.

Der Mann bemerkte sie und ruderte heftiger. Galati redete auf ihn ein, um ihn zu beruhigen. Es half nichts. Er schwurbelte wilder und tauchte unter. Mit zwei Armzügen war sie bei ihm. Er klammerte sich an ihren Hals. Sie drohten gemeinsam unterzugehen. Grob schob sie den rechten Unterarm zwischen sich und den Mann und presste ihm die Hand aufs Gesicht. Sie drückte es weg und kriegte den linken Arm zu fassen. Er schlug mit dem freien Arm um sich.

Galati drehte ihn auf den Rücken und hielt seine linke Hand zwischen den Schulterblättern fest, während sie ihn unterhalb des Kinns packte. Fesselschleppgriff.

Die Kröte war zu erschöpft, um sich selbst aus dem Wasser zu ziehen. Galati schob, bis wenigstens der Oberkörper auf dem Beckenrand lag. Sie schwang sich aus dem Wasser, packte die Arme des Mannes und riss ihn hoch. Schlaff glitt er auf die Steinplatten, keuchte und spuckte Wasser.

«Solche wie den sollte man einfach absaufen lassen.» Ein fetter Kerl in bunten Badeshorts grinste blöd seinen spindeldürren Kumpel an. Der lachte schief zurück. «Ja, und nicht erst hier. Im Mittelmeer ist genügend Platz.»

Galati drehte sich um. «Wie wär’s, wenn Dick und Doof den Bademeister holen würden?»

«Au fein, der kann ihm gleich noch ein paar Elektroschocks verpassen», sprach der Dicke.

«Ja, mit dem Defi… Debrifi…»

«Defibrillator», kam der Dicke zu Hilfe.

Die Badegäste hatten inzwischen bemerkt, dass sich ein kleines Drama ereignet hatte. Eine beachtliche Traube stand um Galati und den jungen Mann. Vom Bademeister keine Spur. Sie wies einen Jugendlichen an, dafür zu sorgen, dass der Mann seitwärts liegen blieb, und machte sich auf die Suche.

Sie fand ihn bei den Sprungbrettern. Er beugte sich eben zu einem Mädchen hinunter. Die Kleine brüllte. Blut rann ihr übers Gesicht und färbte die blonden Strähnen rot. Die Mutter hob ihre Tochter hoch und trug sie zum Hauptgebäude. Damit war der Bikini ruiniert. Der Bademeister folgte. Galati holte die Gruppe ein.

«Entschuldigen Sie.»

Der Bademeister drehte sich zu ihr um. «Würden Sie bitte einen Moment warten. Das Kind braucht ein Pflaster.»

«Sie hat sich am Sprungbrett den Kopf angeschlagen.» Das Gesicht der Mutter war besorgt.

«Sieht schlimmer aus, als es ist», entgegnete der Bademeister.

«Da ist überall Blut, wir brauchen einen Rettungswagen.»

«Ich schlage vor, dass wir es erst mit einem Pflaster versuchen.» Der Bademeister ging weiter.

Galati stellte sich den dreien in den Weg. «Ich habe einen Mann aus dem Wasser gezogen.»

Der Bademeister blieb stehen. «Sein Zustand?»

«Schwer zu sagen.»

Er schob die Mama samt heulendem Kind weiter. «Begeben Sie sich ins Büro. Dort wird man Ihr Kind verarzten.»

«Aber …» Die Frau sah ihn entgeistert an. «Sie ist verletzt.»

«Ja. Deshalb wird man sie verarzten. Ich muss mich um einen Notfall kümmern.»

Die Frau kreischte. «Das hier ist ein Notfall.»

Der Bademeister liess sie stehen und folgte Galati. Die Menschenmenge löste sich eben auf. An dem Ort, wo die Kröte gelegen hatte, war ein nasser Fleck geblieben.

Galati wandte sich an den Jugendlichen, der bei dem Mann geblieben war. «Wo ist er?»

Der Jugendliche rieb sich die Oberarme. «Ich weiss nicht. Zuerst lag er so da. Dann setzte er sich auf und sah uns an. Dann ist er aufgesprungen.» Er deutete flüchtig auf eine Stelle. «Dort ist er noch einmal hingefallen. Einer hat ihn hochgezogen. Ein Blonder. Dann war er weg.»

Der Bademeister kratzte sich am Kopf. «Wird wohl nicht so schlimm gewesen sein.»

«Tut mir leid», sagte Galati.

«Keine Ursache. Besser das, als mich mit der hysterischen Kuh rumschlagen zu müssen.»

«Na dann.»

«Was dagegen, wenn ich Sie zu einem Kaffee einlade?»

«Nein.»

Der Bademeister sprach ein paar Worte ins Funkgerät und ging ins Restaurant. Mit zwei Tassen in der Hand kehrte er zurück.

«Cappuccino?», fragte er.

«Eigentlich Espresso.»

«Die meisten Frauen trinken Cappuccino.»

«Besser als nichts.»

Sie setzten sich an einen Tisch. Galati rührte Zucker in die Tasse.

Der Bademeister nahm einen Schluck. Galati zündete sich eine Zigarette an. «Auch eine?»

«Nein, leider. Während der Arbeit darf ich nicht. – Wäre er abgesoffen?»

«Ja.» Galati dachte zwei Jahrzehnte zurück. Lauer Sommerabend in Olten. Die Aare plätscherte ruhig dahin. Es begann mit ein paar Freunden und einigen Bieren. Und endete damit, dass das Bier alle war und ein Freund fehlte. Sie drückte die Zigarette in den Aschenbecher.

Das Funkgerät knisterte. Der Bademeister hielt es ans Ohr. Er nickte, sagte, dass er vorbeikommen werde, und sah Galati an. «Ich sollte weiter. Über den Vorfall muss ich einen kurzen Bericht verfassen. Wäre es möglich, dass Sie mir Ihre Handynummer hinterlassen? Falls Fragen auftauchen.»

«Klar.»

Der Bademeister legte ihr Zettel und Stift hin. Als sie fertig war, packte er beides zurück in seine Brusttasche. «Ich heisse übrigens Rudi.»

«Anna.»

«War schön, dich kennenzulernen.»

«Danke für den Cappuccino.»

«Keine Ursache. Ging aufs Haus.» Er machte sich fort zum Hauptgebäude.

Galati schwang die Badetasche über die Schulter und stellte sich in die Schlange im Restaurant. Sie nahm einen doppelten Espresso. Zurück am Tisch schaute sie übers Schwimmbecken.

Das Handy vibrierte in der Tasche. Sie wühlte und zog es hervor. Cobb rief an.

«Ja?»

«Es reicht nicht mehr.»

«Was denn?»

«Das Möbel. Wir wollten doch vor Ladenschluss noch das Möbel holen.»

«Die Kommode?»

«Ja. Geht leider nicht. Der Chef hat mir einen Termin reingedrückt.»

«Schade.»

«Nein, scheisse.»

«Sehe ich dich heute noch?»

«Eher nicht.»

«Ja oder nein?»

«Nein.»

«Gut, dann bis morgen.» Sie warf das Handy zurück in die Tasche.

Die Sonne stand tiefer. Das Licht fiel schräg ein und wurde vom Wasser zurückgeworfen. Die Sportler hatten sich verzogen. Einige ältere Damen und Herren hatten die Bahnen übernommen. Die Sprungbretter standen verlassen. Die Jungs und Mädchen stopften Pommes in sich hinein oder rauchten heimlich im Gebüsch.

Galati hatte sich eben eine weitere Zigarette angezündet und gleichzeitig gedacht, dass sie die Raucherei allmählich sein lassen sollte, als ein Mädchen an ihrem Tisch auftauchte.

«Sie sind doch die Bademeisterin.»

«Ich? Nein.»

«Doch, Sie haben den Mann gerettet. Den mit dem dicken Bauch.»

«Ja, das stimmt.»

«Mit dem komischen Gesicht.»

«Ja.»

«Ich habe was.» Sie schob einen Plastiksack auf den Tisch. «Das hat er dabeigehabt.» Sie wühlte darin. «Es ist nicht viel. Aber sein Handy hat er einfach liegen gelassen. Da!» Sie hielt das Handy hoch und fuhr mit dem Finger darüber. «Es ist gesperrt.»

Galati sah hin und wunderte sich kurz über das seltsame Muster aus Farbtupfern und Strichen, welches den Sperrbildschirm überzog. Sie blies den Rauch weg vom Kind. «Am besten bringst du das alles dem Bademeister. Ich denke, der Mann wird das später abholen.»

«Du bist nicht der Bademeister?»

«Nein.» Galati sah Rudi am Beckenrand stehen. «Dort, das ist der Bademeister.»

Das Mädchen setzte sich in Bewegung, blieb stehen und kam an den Tisch zurück. «Warum ist er denn fortgerannt?»

«Wer?»

«Der komische Mann.»

Galati zog an der Zigarette. «Gute Frage.»

2

Cobb sass auf einer Parkbank auf dem Herrenacker, Schaffhausens grösstem Platz. Eine Gruppe von vier Männern und zwei Frauen stand sich im Schatten eines jungen Baumes die Beine in den Bauch. Margrit Meister fehlte noch, auch sie war Mitglied im Bunde der Munot-Hüter, einer Bürgerwehr, die sich den Schutz der Bevölkerung auf die Fahne geschrieben hatte.

«Cobb, darüber sollten wir berichten», hatte Chefredaktor Deupelbeiss gesagt.

«Das sind Vollidioten», hatte Cobb erwidert.

«Ein Journalist hat unvoreingenommen zu sein.»

Damit hatte Cobb den Auftrag gefasst.

Ob ihm das nun passte oder nicht.

Stefan Rainer, so hatte sich das Pickelgesicht vorgestellt, lief schon wieder vom Platz und linste um die Ecke. Mit hängenden Schultern kam er zurück und schüttelte den Kopf. Im selben Moment flitzte eine ältere Dame mit Helm auf dem Kopf und einem Elektrovelo unter dem Hintern um die Ecke. Sie winkte.

«Juhu!»

Die Meute unter dem Baum entspannte sich. Einige sahen auf die Uhr, andere schauten zu, wie die Frau den Helm abnahm und ihn ans Velo kettete. Sie schloss auch das Velo ab und zog eine weitere Kette aus dem Rucksack. Cobb hatte den Eindruck, dass sie diese um jede einzelne Speiche wand, bevor das Schloss zuschnappte.

«Herr Cobb, wir sind vollzählig», stellte Stefan Rainer fest.

Der Stoff der Hose rieb zwischen den Oberschenkeln, als die Frau näher kam. «Ich bin doch nicht zu spät?»

«Doch, Margrit.» Stefan Rainer legte die Hände hinter den Rücken.

«Waren wir nicht um sieben verabredet?»

«Nein, heute ausnahmsweise um achtzehn Uhr dreissig.»

«Das hat man mir nicht gesagt.»

«Es stand in der Mail. Wir haben Besuch von der Presse.»

«Ach, die Presse ist da. Freut mich.» Sie kam näher und schüttelte Cobb energisch die Hand. «Margrit Meister.»

«Cobb. Vom ‹Tagblatt›.»

Stefan Rainer lächelte. «Na dann, ich würde sagen, machen wir uns auf zur ersten Runde.»

Zustimmendes Nicken.

Cobb erhob sich. «Bevor wir losgehen, würde ich gerne ein paar Fragen stellen.»

«Gerne.»

«In welchem Auftrag sind die …», Cobb sah auf seine Notizen, «Munot-Hüter unterwegs?»

«Darf ich?» Der Deutsche, der sich als Joachim Kohlen vorgestellt hatte, hob die Hand.

«Gerne.» Stefan Rainer nickte.

Joachim Kohlen blickte erst zu Boden, dann hoch zu Cobb. «Wir sind eine Gruppe besorgter Bürger. Die Welt befindet sich im Umbruch. Was wir erleben, ist eine eigentliche Völkerwanderung. Da sind wir uns doch einig.»

Allgemeines Murmeln und Nicken.

«Sich nicht von den Ereignissen überrollen lassen heisst handeln. Viele Bürger fühlen sich im eigenen Land nicht mehr sicher. Das darf nicht sein. Wir geben ihnen Sicherheit zurück. Sich allein auf die Polizei zu verlassen, halten wir für falsch. Dafür stehen wir ein, Abend für Abend.»

Cobb fragte sich, was sein Freund Bärtschi dazu sagen würde. Bärtschi war mit Leib und Seele Polizist.

«Mit welchen Mitteln?», fragte Cobb.

«Wir markieren Präsenz.»

«Das reicht?»

«Bis anhin schon.»

«Das heisst im Klartext, dass Sie bisher noch nie einschreiten mussten.»

Joachim Kohlen schaute in die Runde. «Ja, das heisst es.»

«Das erinnert mich an den Witz mit den beiden Männern, die sich im Zuge gegenübersitzen.» Cobb lächelte.

«Witz?» Das Pickelgesicht wippte auf den Zehenspitzen.

«Ja», fuhr Cobb fort. «Der eine klatscht unaufhörlich in die Hände. Sein Gegenüber fragt ihn, warum er das denn tue. Worauf der Händeklatscher antwortet: Um Elefanten zu vertreiben. Sein Gegenüber: Hier gibt’s doch keine Elefanten. Und der Klatscher: Sehen Sie, es hilft.»

Kaltes Schweigen.

Cobb zuckte mit der Schulter. «Witze waren noch nie meine Stärke.»

Joachim Kohlen fand die Sprache wieder. «Uns ist das Lachen vergangen, Herr Cobb. Willst du erzählen, Stefan, oder soll ich?»

Das Pickelgesicht schüttelte den Kopf.

«Vergangene Woche machte er sich auf, seinen Onkel zu besuchen. Als er die Eingangstür beim Mietblock öffnete, wurde er beinahe von einem Mann umgerannt.»

«Syrer oder Iraker», warf ein kleiner Mann mit einem Rund-um-den-Mund-Bart ein.

«Keine Pauschalisierung, Markus!» Joachim Kohlen warf dem Kleinen einen durchdringenden Blick zu. «Oben in der Wohnung trifft er seinen Onkel an. Schwer verletzt. Schädel-Hirn-Trauma. Der liegt jetzt auf der Intensivstation im Koma. Die Ersparnisse sind weg. Ob er durchkommt, weiss man nicht.»

Das Pickelgesicht wandte sich ab. Der Mann mit dem Rund-um-den-Mund-Bart kam näher und klopfte ihm tröstend auf die Schulter.

Stefan Rainer hatte sich wieder gefangen. Sein Blick wanderte von Gesicht zu Gesicht. «Los geht’s.»

Die Gruppe setzte sich in Bewegung.

Cobb folgte ihr durch die Schaffhauser Innenstadt. Die Leute sassen gemütlich in den Strassencafés und Gartenbeizen. Menschen jeden Alters, verschiedener Hautfarbe und beiderlei Geschlechts lümmelten auf Parkbänken und tratschten. Paare flanierten von Schaufenster zu Schaufenster oder in Richtung Rheinpromenade, Gruppen von Jungs und Mädchen beäugten sich gegenseitig und kicherten, Rentner führten Hunde spazieren.

Keine besonderen Vorkommnisse.

Es wurde dunkel, die Laternen gingen an. Die Munot-Hüter warfen Schatten aufs Kopfsteinpflaster. Der Lärm aus den Gartenbeizen nahm zu, Liebespaare flüsterten leise.

Ein friedlicher Sommerabend.

Nachdem Cobb die Stadt mehrmals abgeschritten hatte, trat er neben Stefan Rainer, um sich zu verabschieden.

«Na dann, ich wünsche weiterhin gutes Gelingen.»

«Tut mir leid, dass wir nicht mehr bieten konnten, aber es liegt nicht in unserer Hand.» Dem Pickelgesicht tat es echt leid.

«So ist das eigentlich jeden Abend.» Margrit Meister lachte. «Ich nehm’s als Fitnessprogramm.»

Der Mann mit dem Bart rund um den Mund hob die Hand.

Stefan Rainer sah ihn an. «Ja, Martin?»

«Sollen wir nicht … was wir geübt haben. Wir könnten der Presse ja davon einen Eindruck geben.»

Zustimmendes Gemurmel.

«Vielleicht könnten Sie Fotos davon schiessen», sagte Martin Fuchs.

«Mit Ihnen als Dirty Harry in der Hauptrolle?», fragte Cobb.

«Wie?», fragte Martin Fuchs.

«Nichts. – Wie nennt man eigentlich Ihren Bart? Der heisst doch irgendwie.»

«Henriquatre», sagte er, und fügte nicht ohne Stolz hinzu: «Benannt nach Heinrich dem Vierten.»

«Nach dem französischen König also?»

«Ja.»

«War das nicht der, der sechsundfünfzig beglaubigte Mätressen vorzuweisen hatte?»

Martin Fuchs trat von einem Bein aufs andere und blinzelte zu Margrit Meister hoch. «Davon ist mir nichts bekannt.»

«War aber so.»

Stefan Rainer scheuchte die Gruppe auf. «Los geht’s.»

Die Gruppe formierte sich zur Übung, die sie als «Erkennen und Neutralisieren» bezeichnete.

Margrit Meister spielte die Frau, die Gefahr lief, belästigt zu werden. Joachim Kohlen näherte sich ihr auf aufdringliche Weise. Die Bürgerwehr umstellte die beiden, während Martin Fuchs abseits blieb und das Handy zückte. Er führte ein fiktives Gespräch mit der Polizei, während Joachim Kohlen unter Protest abgedrängt und festgehalten wurde. Cobb fotografierte die ganze Geschichte, schob sich einen Nikotinkaugummi in den Mund und begab sich auf den Heimweg.

Die Wände der Häuser strahlten noch immer Wärme ab. Vereinzelte Menschen sassen an den Tischen der Spaghetteria, lachten und plauderten. Cobb setzte sich, bestellte ein Glas Wein und lehnte sich zurück. Er hätte jetzt wirklich gerne geraucht. Aber er hatte seiner Tochter das Versprechen gegeben, es sein zu lassen. Er könnte sich dafür in den Arsch beissen.

Marlen hatte ihn in einem unwürdigen Augenblick erwischt. Vor fünf Tagen hatte ihn morgens ein Hustenanfall überrumpelt. Er musste spucken und war mit vollem Mund aufs Klo gerannt. Er hatte versucht, leise zu sein. Aber genau das war ein Fehler gewesen. Marlen hatte die Tür aufgeschwungen, während Cobb den Auswurf loswerden wollte. Die anschliessende Diskussion hatte dazu geführt, dass er die nächste Apotheke aufgesucht hatte, um Nikotinkaugummis zu kaufen. Marlen hatte ja recht. Ab einem gewissen Alter war Rauchen mehr als ein Kavaliersdelikt der Gesundheit gegenüber.

Der Wein war schnell getrunken. Cobb spielte mit dem Glas und sog den Rauch durch die Nase, der von den Nebentischen aufstieg.

Sein Handy klingelte.

Cobb sah aufs Display. Zuerst blinkte ihm eine Warnung entgegen. Der Batteriestand war niedrig. Dann sah er eine unbekannte Nummer. Vielleicht war dem Pickelgesicht noch etwas Wichtiges eingefallen. Cobb nahm ab.

«Hallo, Cobb, altes Haus!» Eine quäkende Stimme.

«Wer ist da?», fragte Cobb.

«Na, ich bin’s. Fink.»

Cobb schloss die Augen.

«Cobb?»

«Ja, was gibt’s, Fink? Immer noch auf der Jagd nach Paparazzi-Dreck?»

«Nicht so schulmeisterlich, Cobb. Du warst mal einer von uns.»

Da hatte er auch wieder recht. Cobb hatte in einem früheren Leben mit aufgebauschten Sensationen und konstruierten Skandalen Geld verdient. Das war vor – Cobb musste rechnen. – Wie lange war das her?

«Wünsch mir eine gute Nacht, Fink, und lass mich in Ruhe.»

«Unser Cobb, noch immer der Alte!»

«Hat mich gefreut.» Cobb drückte den Anrufer weg. Als er bezahlen wollte, klingelte das Handy erneut.

«Lass mich in Ruhe, Fink.»

«Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich hab was, das dürfte dich interessieren.»

Cobb seufzte. «Schiess los.»

«Manchmal frage ich mich, was ihr in der Provinz für ein Süppchen kocht.»

«Komm zur Sache.»

«Hast du’s gesehen?»

«Was?» Cobb zählte Geld auf den Tisch.

«Im Netz.»

«Ich schau mir keine Pornos an.»

«Das ist besser als Porno.»

«So ziemlich alles ist besser als Porno.»

«Terror in Schaffhausen.»

«Wo?»

«In Schaffhausen. Sag ich doch.»

«Ach ja. Wo im Netz?» Cobb gähnte.

«YouTube.»

«Wer?», fragte Cobb.

«Du kannst nichts dazu sagen?», fragte Fink.

«Ich hab’s noch nicht mal gesehen.»

«Dann schau’s dir an und sag mir, was du davon hältst.»

«Das werden irgendwelche Möchtegerns sein.»

«Ich schicke dir den Link.» Fink unterbrach die Verbindung.

Cobb war beim Trinkgeld angekommen. Er stand auf.

Eine Kurzmitteilung ging ein. Cobb wischte über den Bildschirm und fluchte. Der Bildschirm wurde schwarz. Die Batterie war leer.

3

Fabian Perler hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er lehnte am Bahnhofsgebäude und betrachtete die Menschen, die von einem Bus zum anderen hetzten.

Oder auf den nächsten Zug.

Junge Banker wirkten mit Gel im Haar wie farblose Gockel. Frauen trugen Schminke mit Sichtschutz auf müden Gesichtern. Es war eine von Glamour befreite Veranstaltung, die darin bestand, frühmorgens zur Arbeit zu eilen.

Wie er es hasste.

Wie er sie hasste.

Bald sah Fabian durch sie hindurch. Das war die Müdigkeit. Den ganzen vergangenen Tag und die ganze Nacht war er unterwegs gewesen. Er hatte einen Platz für Werkzeug und Proviant gefunden, der Weg war markiert, und das Auto, welches er sich für den Ausflug unter den Nagel gerissen hatte, kokelte jetzt vor sich hin. Er hatte es angezündet.

Keine Spuren.

Dann hatte er den Zug genommen.

Pünktlich um halb acht tauchte Aaron Weber auf und begann den Stand aufzustellen. Seine Arbeit bestand darin, Passanten abzufangen und ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden, mit dem Ziel, dass sie Mitglied einer wohltätigen Organisation wurden. Dies der offizielle Teil. Fabian hatte nicht deswegen auf ihn gewartet. Inoffiziell koordinierte er das Projekt.

Während er einen Tisch auseinanderklappte, sah sich Aaron Weber um. Als er Fabian entdeckte, schüttelte er unmerklich den Kopf. Die blonden Locken wippten mit. Er wühlte in der Umhängetasche, zog einen zerknitterten Papiersack hervor und faltete ihn auf. Fabian erkannte das Logo.

«Backwerk».

Es war unschwer zu erkennen, dass er im «Backwerk» auf Aaron Weber warten sollte. Dort gab es auch Kaffee. Alles bestens. Er stiess sich von der Wand ab und machte sich auf den Weg.

Brummende Motoren.

Die Haltestelle war jetzt wie leer gefegt. Als hätten die Busse alle Passagiere eingesaugt. Einzig eine junge Frau mit Kinderwagen rannte noch heran. Sie winkte dem Chauffeur zu. Vergebens. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.

Fabian war nahe genug, um dem gelb lackierten Blech einen Tritt zu versetzen. Und das tat er auch. Der Chauffeur bremste ab. Fabian zog die Kapuze über den Kopf und ging weiter. Er liess das «Backwerk» vorerst rechts liegen und bewegte sich eilig fort. Erst als sich der Lärm der Motoren entfernt hatte, machte er kehrt.

Im «Backwerk» nahm er zwei grosse Becher. Der Kaffee tröpfelte hinein. Zwei ältere Damen rissen Stücke von Croissants ab, tunkten sie im Milchkaffee und zerdrückten sie mit zahnlosem Gaumen. An einem Tisch weiter hinten döste ein bleiches Gesicht. Der Abszess auf seinem Arm glänzte. Fabian kannte den Typen. Er verdiente seinen Lebensunterhalt damit, Leuten den Abszess unter die Nase zu halten, um Geld für die Arztkosten zu erbetteln. Das funktionierte ganz gut. Zum Arzt ging er trotzdem nicht.

Mit zwei heissen Bechern in den Händen stellte sich Fabian hinter eine junge Frau in die Reihe. Ihr Frühstück bestand aus einem Stück Pizza, einem Poulet-Sandwich und einem rosa Donut. Sie schwitzte. Er bezahlte und setzte sich ans Fenster. Er blies über den Rand des einen Bechers und trank kleine Schlucke.

Aaron Weber überquerte die Strasse und wich zwei heranfahrenden Bussen aus. Während er am Kaffeeautomaten wartete, beachtete er Fabian nicht. Der hatte den ersten Becher leer getrunken. Aaron Weber liess sich weiter weg auf einen Stuhl fallen. Er legte einen Filzstift auf den Tisch und holte sein Handy hervor. Nach einigen Wischbewegungen schien er gefunden zu haben, was er gesucht hatte. Er nahm die Kappe vom Stift und kritzelte auf den Becher. Hastig trank er den Kaffee aus und stand auf. Er verliess das «Backwerk».

Fabian erhob sich und tat, als ob er Aaron Webers Becher entsorgen wollte. Schnell sah er auf die Notiz und merkte sie sich. Er schob den Becher in seinen und liess beide in den Abfallkübel plumpsen. Nachdem er eine Weile am Fenster gestanden hatte, warf er auch den zweiten Becher weg.

Draussen schien die Sonne grell und bohrte sich in die Augen. Diese schmerzten in den Höhlen. Er blinzelte. Das Gewusel von Menschen und Bussen hatte sich beruhigt. Die frische Luft tat gut, half aber nicht viel gegen die Müdigkeit, die ihn überfiel. Der dünne Kaffee bewirkte einzig, dass er hibbelig wurde. Bevor er Aaron Webers Notiz vergessen würde, tippte er sie als Erinnerung in sein Handy. Er hatte sieben Anrufe verpasst. Seine Mutter hatte versucht, ihn zu erreichen. Sie hatte ihm auch eine SMS geschrieben.

Wir warten auf dich.

Er hatte ihr versprochen, seinen Sohn Benjamin morgens abzuholen. Im Moment war er zu müde. Er tippte zurück, dass er noch unterwegs sei. Dann steckte er das Handy weg. Er ignorierte das Vibrieren und machte sich auf den Heimweg.

Die Sonnenbrille verdeckte die Narbe nur schlecht. Fabian fiel der junge Mann mit dem dicken Bauch und den dürren Beinen auf. Hamdan, der Jordanier, fett wie eine Kröte. Seit Tagen war er immer zufällig genau dort aufgetaucht, wo auch er sich befunden hatte. Aaron Webers Wachhund. Gestern hatte er ihn erfolgreich abschütteln können. Heute nahm er sich gar nicht erst die Mühe.

Im Gegenteil.

Langsam schlenderte er weg vom Bahnhofsplatz. Die Kröte folgte.

Fabian ging die Treppe in Richtung Vordersteig hoch. Anschliessend führte der Weg steil aufwärts weg von der Stadt. Er ging schneller. Sein Verfolger versuchte mitzuhalten. Fabian beschleunigte, bis die Kröte ihn wegen einer Krümmung des Weges nicht mehr sehen konnte. Fabian hüpfte über die Mauer und wartete.

Keuchend zog sein Verfolger vorbei. Die Sonnenbrille konnte den besorgten Ausdruck nicht verbergen. Das Gesicht war schweissnass. Fabian wartete kurz und hopste dann zurück auf den Weg. Er räusperte sich. Die Kröte blieb stehen, sah zurück und rückte die Brille zurecht. Sie wartete, bis Fabian sich für eine Richtung entschieden hatte, und folgte ihm wieder zurück in die Stadt.

Er nahm sich vor, seinem Verfolger die ganze Vorstellung zu bieten. Zuerst führte er ihn durch die Gassen der Stadt. Zu Hause würde er als Erstes die Vorhänge aufziehen und den Teppich ausrollen. Und Scarface mit dem Schmerbauch würde zusehen. Ein bisschen Show musste sein.

4

Polizist Bärtschi war allein, und das war gut so. Das Wartezimmer war eng. An der Wand gegenüber der Tür standen zwei Sessel an den Seiten eines runden Tisches. Darauf lag unberührt die Zeitung. Zwei Schritte genügten, um von der einen Wand zum Fenster zu gelangen. Zwei Schritte wieder zurück. Bärtschi hatte bestimmt schon hundert Meter zurückgelegt.

Er blieb stehen und hob die Zeitung hoch. Seine Augen flogen über Titel und Fotos. Die Informationen gelangten nicht in sein Gehirn. Der Schmerz bildete eine Sperre. Er strahlte von links oben in seinen Kiefer aus. Von da pulsierte er über die Gesichtshälfte.

Am Nachmittag musste er auch noch zum Schiesstraining. Er war froh, wenn der Tag vorüber war.

Vor einigen Tagen war da bloss eine kleine Irritation gewesen. Bärtschi hatte an eine Zahnfleischentzündung gedacht. Seine Frau Susan hatte gemeint, es könne sich auch um eine Aphthe handeln. Sie hatte ihm eine kleine dunkle Flasche gegeben. Als er den Deckel aufgeschraubt hatte, bemerkte er, dass daran ein feiner Pinsel festgemacht war. Damit hatte er die irritierte Stelle betupft.

Zwei Tage lang hatte er sich eingebildet, dass die Behandlung gegen den Schmerz helfe. Dann hatte er auf dem Nachhauseweg eine Apotheke betreten und sein Leiden geschildert. Er hatte eine medizinische Mundspülung erhalten, eine Packung Panadol und den Rat, einen Zahnarzt aufzusuchen.

Einen Teufel würde er.

Das Schmerzmittel hatte drei Tage lang Linderung gebracht. Dann hatte auch das ein Ende. Stärkeres musste her. Susan hatte ihm Ponstan in die Hand gedrückt. Sie hatte ihn darauf hingewiesen, dass er sich nun in die Liga der rezeptpflichtigen Medikamente hochgearbeitet habe. Wann er daran denke, einen Zahnarzt aufzusuchen.

Er dachte nicht daran.

Bärtschi konnte arbeiten. Das Ponstan unterdrückte auch die anhaltenden Rückenschmerzen. Also hatte kein Grund zu wirklicher Sorge bestanden. Alles hatte funktioniert wie immer. Einzig beim Essen war er vorsichtig geworden.

Als er vergangenen Abend vor dem Fernseher gesessen war, hatte sich der Schmerz kalt und dumpf den Kiefer hoch gebohrt. Zuerst hatte Bärtschi gedacht, dass er es verpasst hätte, eine Tablette zu nehmen. Susan war anderer Meinung gewesen.

Die Nacht war zu einer unkoordinierten Abfolge verschiedener Aktivitäten geworden. Statt zu schlafen hatte er Whiskey getrunken, getrocknete Nelken gekaut, die Backe gewärmt, sie wieder gekühlt und eine doppelte Portion Ponstan eingeworfen. Davon war ihm flau im Magen geworden. Und schwindlig im Kopf.

Er war froh gewesen, als die Morgendämmerung angebrochen war. Um Punkt acht Uhr wählte er die Nummer des Zahnarztes. Er erhielt einen Termin kurz vor zwölf Uhr. – Nein, früher gehe es nicht.

Da war er jetzt. Bärtschi unternahm einen weiteren Versuch, in der Zeitung zu lesen. Er setzte sich sogar in den Sessel, liess dann das Papier sinken und hielt sich mit der Linken die Backe. Die Zahnarztgehilfin erschien in der Tür. Sie blickte auf das Blatt, welches am Klemmbrett festgemacht war.

Sie lächelte, ohne zu strahlen. «Herr Bärtschi?»

«Ja.»

«Wir können.» Sie ging voraus den Gang entlang. Bärtschi stellte fest, dass auch bei einer adretten Frau Gesundheitsschuhe halt bloss waren, was sie waren. Gesundheitsschuhe. Sie blieb stehen. Er sah durch die offene Tür auf den Zahnarztstuhl.

«Bitte nehmen Sie Platz, Herr Bärtschi. Herr Dr. Dubois wird sich bald um Sie kümmern», sagte sie. «Sie können schon einmal spülen.»

Bärtschi betrat das Zimmer. Weiss gestrichene Wände. Er setzte sich quer auf den Stuhl und liess die Beine baumeln. Eine blaue Flüssigkeit lief in ein Glas. Er hob es an die Lippen und gurgelte vorsichtig. Zu seiner Linken waren auf einer schwenkbaren Anrichte metallene Werkzeuge ausgelegt. Jedes einzelne war wie dafür geschaffen, sich in seine Zähne, sein Zahnfleisch und seinen Kiefer zu bohren. Folterinstrumente, die sich zu den Nerven vorarbeiteten, um unbarmherzig darin zu wühlen.

Er spie die Flüssigkeit aus und legte die Beine hoch. Er fühlte sich ausgeliefert. Die Tür in seinem Rücken schloss leise.

«So, Herr Bärtschi.» Dr. Dubois schüttelte ihm die Hand, drehte sich zum Lavabo und desinfizierte die seinen. Die Akustik im Raum änderte sich etwas. Die Tür war wieder aufgegangen und geschlossen worden. Die Arztgehilfin legte Bärtschi einen Latz auf die Brust und befestigte ihn mittels einer feinen Kette um den Hals.

Nachdem Dubois die Hände ausgiebig gerieben hatte, drehte er sich wieder seinem Patienten zu. «Herr Bärtschi, wo liegt das Problem?»

Bärtschi zeigte die Stelle links am Oberkiefer. «Hier tut es weh.»

«Sie waren schon lange nicht mehr zur Kontrolle, Herr Bärtschi.»

«Es war nie nötig.»

«Trotzdem, hin und wieder sollte ich Sie sehen. Es lohnt sich.»

Bärtschi dachte sich, dass es sich vor allem für einen lohne, nämlich für den Zahnarzt. «Halten Sie keine Vorträge, Herr Dubois, tun Sie Ihren Job.»

«Dann schauen wir uns die Sache einmal an.» Dr. Dubois streifte sich Gummihandschuhe über. «Links oben?»

«Ja, hier.»

Der Zahnarzt nickte der Assistentin zu. Sie ordnete weitere metallene Instrumente auf die Anrichte. Bärtschi vermutete, dass jetzt die richtig harten Sachen bereitgelegt wurden, solche, die der Patient im Voraus nicht sehen durfte. Dubois nahm sich eines und setzte sich neben ihn. Der Stuhl bewegte sich, und Bärtschi lag vollständig auf dem Rücken ausgestreckt. Das Licht einer grellen Lampe blendete ihn. Der Zahnarzt näherte sich mit dem Werkzeug, und Bärtschi öffnete den Mund.

«Den Kopf bitte etwas weiter nach hinten», wies Dubois ihn an.

Bärtschi tat den Kopf in den Nacken und starrte ins Licht. Der Arzt bewegte das Werkzeug behutsam in Bärtschis Mund. Bärtschi zuckte zusammen. Ein kalter Schmerz fuhr gleichzeitig in die Stirn und hinunter zur Hüfte. Der Zahnarzt nahm das Werkzeug aus dem Mund.

«Tja, eine Entzündung. Und ein Abszess. Ich denke, wir sollten die Stelle röntgen.»

«Ja.» Bärtschi war froh, dass die Tortur unterbrochen wurde.

«Und während wir auf das Bild warten, setze ich Ihnen eine Spritze.»

Bärtschi hatte sich sagen lassen, dass Spritzen beim Zahnarzt nicht besonders wehtäten. Er versuchte es sich einzureden, während der Kopf des Röntgenapparates geschwenkt wurde und auf seine Backe zielte. Zahnarzt und Assistentin verliessen kurz den Raum. Bärtschi hörte ein leises Klicken, dann erhielt er wieder Gesellschaft. Die Assistentin machte die Spritze bereit und verschwand. Dubois wies Bärtschi an, den Mund zu öffnen.

Das Gesicht des Zahnarztes kam näher, als er eine geeignete Stelle suchte, an der er die Spritze setzen konnte. «Ich werde versuchen, vorsichtig zu sein.»

Dubois setzte die Spitze der Nadel an. Bärtschi spürte einen feinen Stich im Gaumen. Dubois begann den Kolben niederzudrücken. «Normalerweise ist der Schmerz, der dabei entsteht, wenn im Mundraum eine Spritze gesetzt wird, nicht erwähnenswert. Allerdings hat sich im Abszess bereits recht viel Flüssigkeit angesammelt. Das kann mitunter wehtun.»

Und so war es denn auch. Bärtschi hatte wiederholt mit der Hand gefuchtelt, und Dubois hatte die Zeremonie ebenso oft unterbrochen. Als er fertig war, wischte sich Bärtschi eine Träne weg, die ihm in die Augen geschossen war.

Bärtschi hörte sein Handy klingeln. Dubois nickte. Man müsse sowieso kurz warten, bis die Spritze wirke. Bärtschi sah aufs Display. Straumann hatte ihn zu erreichen versucht. Sein Kollege bei der Polizei. Er rief zurück.

«Straumann, was gibt’s?»

«Frank Perler ist ausgebrochen.»

«Sag das noch einmal, Straumann.»

«Frank Perler ist aus dem Gefängnis ausgebüxt.»

«Scheisse.»

«Ich dachte, du solltest das wissen.»

«Natürlich sollte ich das wissen. Wie ist er ausgebrochen?»

«Dazu habe ich keine Angaben.»

«Gut, Straumann, ich mache hier noch schnell fertig. Dann bin ich im Büro.»

«Wo bist du jetzt?»

«Beim Zahnarzt.»

«Ach, deshalb.»

«Deshalb was?

«Du nuschelst.»

«Bis später, Straumann.»

«Tschüsch, Bärtschi.»

«Arsch.» Bärtschi steckte das Handy weg.

Während des Telefonates hatte Dubois die Röntgenbilder an den Leuchtkasten geheftet. «Hier sehen Sie die Stelle. Da der Weisheitszahn. Der Kanal hier gefällt mir nicht. Und hier …», Dubois kreiste mit der Spitze eines Kugelschreibers über dem Bild, «… hier ist deutlich zu erkennen, dass bereits Knochensubstanz abgebaut worden ist.»

«Ja, Herr Dubois. Können wir das auf morgen verschieben? Ich habe Wichtiges zu erledigen. Ich muss jetzt gehen.»

«Herr Bärtschi, bestellen Sie sich ein Taxi.»

«Es ist nicht weit zur Arbeit.»

«Das Taxi fährt Sie in die Notaufnahme.»

5

Sie hatte ihn beim Rheinfall ins Wasser geschubst, mitten im Winter nach einem Mordopfer getaucht und Bärtschi vor dem sicheren Tod bewahrt.

Aber hin und wieder war Galati einfach die Partnerin mit dem Dickschädel.

Die Kommode musste in den Ford Fiesta.

Cobb hob sie an, und eine Schublade rutschte heraus. Er fing sie mit dem Fuss auf.

«Au!»

«Geht’s?», fragte Galati.

«Ja, ja, geht schon.» Cobb richtete das Möbel wieder auf.

«Sollten wir nicht zuerst die Schubladen herausnehmen?»

«Nein, nein, geht schon.» Cobb hob die Schublade auf und schob sie an ihren Platz zurück.

«Vielleicht können wir das Möbel auseinandernehmen. Ich kann fragen, ob sie Werkzeug haben.»

«Nein, nein, das Ding passt schon rein.»

«Bin gleich wieder da.» Galati rollte den Transportwagen zurück ins Brockenhaus beim Güterbahnhof.

Cobb schob die Kommode näher an den Ford Fiesta. Das Heck stand offen. Er trat etwas zurück und fand, dass die Kommode in der Breite schon passen würde. Eine Decke schützte Karosserie und Möbel vor Kratzern, die Rücksitze waren nach vorne geklappt. Er brauchte die Kommode bloss anzuheben und hineinzuschieben. Schubladen nach oben, damit sie nicht wieder herausfielen. Die Hände umklammerten die hölzernen Füsse und hoben sie an. Er hörte ein kratzendes Geräusch. Die Decke war mit dem Möbel mitgerutscht. Er schob ein Knie unters Holz und versuchte mit der rechten Hand, an die Decke zu gelangen. Dazu musste er die Hand zwischen Karosserie und Möbel hindurchzwängen. Er kriegte die Decke zu fassen und zerrte an ihr, bis ein Zipfel zum Vorschein kam. Er wechselte die Hand und versuchte dasselbe auf der anderen Seite.

«Moment!»

Cobb spürte, wie das Möbel leichter wurde. Galati war zurück und hob es an. Cobb bückte sich und zog die Decke glatt.

«Bleib so, Cobb, ich schiebe.»

Cobb blieb geduckt, während die Kommode über ihn hinweg schliff. Er hörte Galati ächzen und kroch unter dem Möbel hervor.

«Warte, ich ziehe ein bisschen.» Er langte vorne durch die offene Tür und zog, bis das Ding an den Vordersitzen anstand. «Weiter geht nicht.»

Galati hörte zu schieben auf. Gemeinsam traten sie etwas vom Wagen weg.

«Sieht aus wie eine Schlange.»

«Wie?» Cobb verstand nicht.

«Na ja, die offene Hecktür. Wie der Rachen einer grünen Schlange, die etwas zu verschlucken versucht, was ein bisschen zu gross ist.»

«Das passt schon. Ich habe ein Seil mitgenommen.»

«Wo ist es?»

«Unter der Kommode.»

«Ach ja?»

«Ja.»

Cobb langte unter dem Möbel hindurch und zog das Seil hervor. Das eine Ende band er innen am Bügel des Schlosses fest, den anderen Teil wickelte er um das Gelenk des Scheibenwischers.

Galati lotste Cobb aus dem Parkfeld und stieg ein. Sie setzte sich quer hin, langte nach hinten und hielt die Kommode fest. Cobb fuhr vorsichtig aus dem Parkplatz und auf die Hauptstrasse. Durch die offene Hecktür dröhnte der Motor. Bei jeder Bodenunebenheit rumpelte das Holz.

Galati sah zu Cobb, der in der Jackentasche nestelte. Er drückte mit einer Hand einen Nikotinkaugummi durch die Folie und schob ihn in den Mund. Er kaute energisch und sah in den Rückspiegel, obwohl da nichts als ein Möbel zu sehen war.

Sie fuhren die Rheinstrasse entlang, als Cobbs Handy klingelte. Er blickte kurz aufs Display. Ein Wagen überholte. Galati sah, wie eine Hand aus dem Seitenfenster winkte.

«Cobb, ich denke, du solltest ranfahren.»

«Warum? Wir sind bald da.» Er steckte das Handy weg und liess es ausklingeln.

«Polizei.»

«Scheisse.» Cobb blinkte, fuhr nach dem Bootshaus auf den Parkplatz und blieb sitzen. Zwei uniformierte Beamte stiegen aus dem Wagen und näherten sich. Cobb kurbelte die Scheibe herunter.

«Ja?»

«Guten Morgen. Ich würde gerne Ihren Führerausweis sehen.» Der Polizist machte keine Anstalten, sich zu bücken. Seine Kollegin blieb etwas abseits stehen, um einen besseren Überblick über die Situation behalten zu können.

«Anna, da vorne liegt meine Tasche.»

«Was?»

«Der Führerausweis.»

Galati reichte Cobb die Tasche, und Cobb streckte dem Beamten den Führerausweis hin.

«Können Sie sich sonst ausweisen?»

«Wie?»

«Identitätskarte.»

Cobb schob den Pass nach.

«Besitzen Sie auch eine Aufenthaltsbewilligung?»

«Ja, hier.»

«Fahrzeugausweis?»

Cobb öffnete das Handschuhfach und gab dem Polizisten auch den Fahrzeugausweis.

«Einen Moment bitte.» Der Beamte ging zurück zum Wagen, während die Polizistin wachsam stehen blieb.

Cobb trommelte aufs Lenkrad. «Kann ich eine Zigarette haben?»

«Habe keine dabei.» Galati stieg aus und ging ums Auto. Sie rüttelte an der Kommode. Cobb folgte, prüfte das Seil und vertrat sich unter der strengen Aufsicht der Polizistin die Beine. Sie löste den Haargummi und band den blonden Zopf neu. Was da in der Uniform steckte, mochte ein sportlicher Körper sein. An einem Gürtel baumelten Pistole, Schlagstock und sonstige Utensilien in Hüllen aus dickem schwarzen Leder.

Der Gürtel ihres Kollegen wogte hin und her, als er näher kam. So wie er die Arme hielt, schien es, als ob sein Deodorant in den Achselhöhlen brennen würde, wenn er denn eines benutzte. Zwei grosse dunkle Flecken zierten das Uniformhemd.

Er reichte Cobb die Papiere. «Die sind in Ordnung.»

«Dann ist ja gut.»

«Sie wissen, dass das nicht erlaubt ist.»

«Was denn?»

«Dieses Auto ist für den Transport grösserer Gegenstände nicht geeignet. Sie gefährden damit die Sicherheit im Strassenverkehr.»

«Wir fahren nicht mehr weit, wir sind praktisch schon angekommen.» Cobb zeigte auf die gegenüberliegende Strassenseite auf den Wohnblock, dessen Balkone auf den Rhein gingen. Dort hatte Galati eine Wohnung gemietet.

«Sie fahren damit nirgends hin. Und was die Fahrt bis hierher anbelangt, muss ich Sie leider büssen.»

«Was?»

Der Polizist zückte einen Block. «Eine Busse.»

Er füllte einen Zettel aus und riss ihn ab. Cobb steckte ihn ein.

Der Beamte blieb etwas abseits bei seiner Kollegin stehen. Gemeinsam schauten sie zu, wie Cobb und Galati die Kommode ausluden. Erst als das Möbel auf dem Asphalt stand und Galati mit dem Auto davongefahren war, stiegen auch sie ein und machten sich vom Acker.

Cobb stand an der Rheinpromenade und versuchte, nicht an Zigaretten zu denken. Er klopfte mit den Fingern auf das Holz des Möbels. Spaziergänger starrten ihn an. Er starrte zurück.

Endlich tauchte Galati wieder auf. «Los geht’s.»

Cobb seufzte.

«Cobb, es sind keine fünfzig Meter.»

«Es sind sicher hundert.»

«Egal. Du vorne, ich hinten.»

Cobb ging rückwärts voraus und stolperte gefährlich über die Bordkante des Trottoirs. Er öffnete mit dem Ellbogen die Eisentür, die zum Zugangsweg führte. Dann verschwanden die beiden hinter den Büschen.

«Brauchst du eine Pause, Cobb?»

«Nein, nein, geht schon.»

«Sicher?»

«Ja, ja.»

Für die Eingangstür benutzte Cobb wieder den Ellbogen. Das Handy klingelte, und er ignorierte es. Sie trugen die Kommode weiter bis zum Lift und stellten sie ab. Die Tür öffnete sich. Cobb schob. Das Möbel war zu gross.

«Ich hole Werkzeug.» Galati verschwand nach oben.

«Scheisskiste.» Cobb trat ans Holz.

Gegen Mittag stand die Kommode frisch verschraubt an ihrem neuen Platz im Wohnzimmer im dritten Stock.

«Wie gefällt sie dir?», fragte Galati.

«Passt gut.»

«Find ich auch.»

«Hätte auch gut bei mir reingepasst.»

«Cobb, das hatten wir schon.»

«Wir hätten uns den Mietzins teilen können.»

«Ja, und das Bett, die Zahnbürste und den Staubsauger. Aus dem Alter bin ich raus. Dass wir eine Beziehung haben, heisst nicht, dass nicht jeder …»

«… sein eigenes Leben führen soll», beendete Cobb den Satz.

«Genau.»

«Gut.»

Cobb trat auf den Balkon und sah über den Rhein. Es war zweifellos ein schöner Ort. Und ja, sie hatte recht. Vielleicht war es wirklich besser, in getrennten Wohnungen zu leben. Galati hatte begonnen, die seine aufzuräumen. Er wusste nicht, ob ihm das gefiel. Ihre Aktionen hielten ihm vor Augen, dass er hin und wieder Dinge an die Orte zurückstellen könnte, von wo er sie genommen hatte. Andererseits wusste er immer sehr genau, wo welcher Gegenstand zu finden war. Meistens. Es kam vor, dass er den Autoschlüssel suchte oder das Handy oder dass eine Rechnung, die dringend zu bezahlen war, als Betreibung ins Haus flatterte. Egal.

«Kaffee oder Wasser?», fragte Galati.