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Ein kriminalistisches Gedankenspiel. rasant und hochspannend inszeniert. Journalist Cobb wird mit der dunklen Seite seiner Vergangenheit konfrontiert. Eine von ihm verfasste reißerische Berichterstattung trieb vor einigen Jahren eine junge Familie in den Tod. Jetzt scheint jemand alles daranzusetzen, ihn und seine Tochter auszulöschen – Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ein brutaler Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
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Seitenzahl: 364
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Walter Millns wurde 1963 in London geboren und wuchs in Österreich und in der Schweiz auf. Heute lebt er mit seiner Familie in Schaffhausen. Seit fünfundzwanzig Jahren inszeniert und schreibt er Theaterstücke. Zudem veröffentlicht er skurrile Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften, mit denen er auch in Lesungen auftritt.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Ars vivendi/photocase.de
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-414-8
Originalausgabe
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Für Barbara, Onna und Len
«Wie im richtigen Leben, nicht?»
«Wie?» Cobb hatte durchs offene Fenster der Baustelle eine Bewegung wahrgenommen. Als er hinsah, verschwand eine wuchtige Gestalt im Gewächshaus.
Eine blassblonde Erinnerung.
Cobb schüttelte sie ab und wandte sich Gabathuler zu.
«Eben. Eine Hand wäscht die andere.» Gabathuler grinste und zeigte seine grossen Zähne. «Nicht?»
«Ach so. Ja, ja.»
Cobb hatte alles schnell begriffen. In einem Tank lebten Fische, die ins Wasser machten. Die Exkremente würden weitergeleitet und dienten als Dünger für Nutzpflanzen. So würde die Aquaponik-Anlage funktionieren, wenn sie fertig gebaut war. Fischzucht und Gärtnerei in einem geschlossenen Kreislauf.
Momentan war davon nicht viel zu sehen. Gabathuler ging voraus, Cobb folgte ihm und gab sich Mühe, nicht über die Blachen, Stangen, Metallgitter und Plastikkisten zu stolpern, die den Boden bedeckten.
Der Chef der Gärtnerei begleitete seine Ausführungen mit einer seltsamen Pantomime. «Hier werden wir den Wassertank positionieren.» Er formte mit den ausgestreckten Armen einen rechten Winkel, um anzuzeigen, wo genau man sich den Wassertank vorzustellen hatte. Ein Arm wackelte energisch. «Von hier bis zur gegenüberliegenden Wand.»
Cobb tat, als machte er sich Notizen.
«Und da», Gabathuler beugte sich nach vorne und zeigte mit den Fingerspitzen sämtlicher Finger seiner beiden Hände auf den Boden, gleichzeitig schritt er eine Strecke von rund sieben Metern ab, «da werden wir die Leitung legen, die mehr oder weniger direkt in den Wassertank führen wird, wo die Ausscheidungen der Tilapien in Dünger verwandelt werden.»
«Das sind die Fische», unterbrach ihn Cobb.
«Wie?»
«Diese Tilapien, das sind Fische.»
«Richtig. Aus der Familie der Buntbarsche. Sie eignen sich besonders gut für die Zucht. Sie wachsen schnell, sind nicht sehr anfällig für Krankheiten, und sie gedeihen nicht nur in Süsswasser, sondern auch in salzigem. Allerdings werden wir in unserer Zucht Süsswasser verwenden, wegen der Pflanzen.»
«Natürlich.»
«Womit wir bei der nächsten Station unseres Kreislaufs angelangt wären.» Er schritt ein grosses Quadrat ab. «Hier werden die Nutzpflanzen wachsen.»
«Und wann werden Sie die Anlage in Betrieb nehmen?», fragte Cobb.
Gabathuler stützte die Hände in die Hüfte. «Dank der grosszügigen Spende Ihrer Zeitung sind wir in der Lage, bereits in zwei Wochen die ersten Fische auszusetzen.»
«Das ist sehr erfreulich.» Cobb hob den Fotoapparat hoch und knipste Gabathuler inmitten der Utensilien, mit deren Hilfe er in Kürze Fische züchten würde.
«Ich nehme an, Sie werden zur Eröffnung einen Bericht schreiben?»
Was sich wie eine Frage Gabathulers anhörte, war eigentlich keine. Der Chefredaktor des «Tagblatts», Hans Deupelbeiss, würde eine Ansprache halten. Nicht weil sich Deupelbeiss sonderlich für ökologische Lösungen starkmachte. Sein Interesse galt der Wahl in den Ständerat. Die Stimmen aus dem rechten Lager reichten nicht. Deupelbeiss musste an seinem Profil arbeiten. Etwas Ökologie konnte da nicht schaden. Da die Gärtnerei ein Betrieb der STIGABE war, der «Stiftung Garten für Beeinträchtigte», welche beinahe ausschliesslich Randständige und Menschen mit Beeinträchtigungen beschäftigte, schlug Deupelbeiss zwei Fliegen mit einer Klappe. Die ökologische und die soziale.
Deshalb musste Cobb bereits heute einen Bericht über diese Baustelle verfassen, die dereinst Schaffhausen mit Zuchtfisch versorgen würde. Unterstützt durch das Geld der Zeitung.
Gabathuler stolperte auf Cobb zu und streckte ihm die Hand entgegen. «Schön, dass Sie vorbeikommen konnten.»
«Danke.»
«Und vergessen Sie nicht zu schreiben, dass wir das ansässige Gastgewerbe mit Fisch versorgen werden. Und einen Teil verkaufen wir direkt: Fisch frisch vom Hof.» Gabathuler zeigte seine grossen Zähne, gluckste und begleitete seinen Besucher zum Ausgang. «Nicht?»
Als Cobb den grünen Ford Fiesta öffnete, wünschte er sich den Zeitpunkt herbei, ab dem seine Tochter für sich selbst sorgen konnte. Dann müsste er diesen Mist nicht mehr machen. Am Samstag war ihr achtzehnter Geburtstag. Doch schien der Moment ihrer Selbstständigkeit in unbestimmte Ferne zu rücken. Sie wollte studieren, um Meeresbiologin zu werden.
Ausgerechnet.
In der Redaktion nickte er Elvira Kunz am Empfang zu, trat an den Lift, überlegte es sich anders und nahm die Treppe in den ersten Stock. Im Newsroom nahm kaum jemand Notiz von seinem Erscheinen. Die Köpfe starrten auf die Bildschirme, die Finger verschoben mit Hilfe der Computermaus Textstellen, die via copy ’n’ paste auf die Seiten geladen worden waren.
Ganz hinten im Raum hockte der junge Redaktor Valentin Huber und sah aus dem Fenster. Eulacher, der seitlich von ihm sass, starrte ihn an. Valentin nahm davon keine Notiz. Eulacher starrte immer.
Momentan kaute er auf etwas herum.
Auch wie immer.
Cobb liess sich auf seinen Platz zwischen den beiden fallen. Das Kauen hörte auf.
«Jetzt sitzt er schon seit zehn Minuten so da», sagte Eulacher.
«Vielleicht überlegt er sich etwas», entgegnete Cobb.
«Vielleicht. Dabei könnte er einfach nachsehen.»
Cobb verstand nicht.
«Im Internet», half Eulacher.
«Was genau?»
«Nun ja, ihm war langweilig. Und da habe ich ihm gesagt, es sei nicht alle Tage Watergate.»
«Deshalb ist er beleidigt?»
«Nein. Er hat es nicht verstanden. Und ich: ‹Wer Watergate nicht kennt, weiss nicht, was Journalismus ist.› – Erst da war er beleidigt.»
«Hast du’s ihm erklärt?», fragte Cobb.
«Erst wenn er mich wieder ansieht.» Eulacher kaute weiter und kümmerte sich um seinen Bildschirm.
Cobb stand auf. «Sonst noch jemand einen Kaffee?»
Keine Antwort.
Im Pausenraum setzte sich Cobb an einen Tisch und rührte im Pappbecher. Er hatte es sich abgewöhnt, den Kaffee zu süssen. Die Gewohnheit, darin zu rühren, war geblieben.
Valentin erschien in der Tür. «Hast du eine Kapsel für mich?»
«Ich hab mich bei der Eule bedient.»
Die ganze Redaktion nannte Eulacher «die Eule». Er sah dem Vogel einfach zum Verwechseln ähnlich: runder Kopf, krumme Nase, buschige Augenbrauen und Haarbüschel, die von den Ohren wegstanden.
Valentin bediente sich am selben Ort, wie Cobb es getan hatte. Er setzte sich. «Sag du’s mir.»
«Watergate?»
«Ja.»
«Die beiden Journalisten Woodward und Bernstein deckten einen Abhörskandal auf, der Präsident Nixon die Präsidentschaft kostete.»
«Wann war das?»
«1974 trat Nixon ab.»
«Da war ich noch nicht mal eine Idee.»
«Halb so wild. Die Eule kennt den Skandal und verdient trotzdem ihr Geld damit, Sportresultate auf die Seite zu kopieren.»
Valentin starrte wieder aus dem Fenster. «Cobb, ich weiss nicht, ob das hier das Richtige für mich ist. Während der Ausbildung war alles neu und spannend. Jetzt ist es, als ob ich jeden Tag vor derselben faden Suppe sitze.»
«Was willst du?»
Valentin stand auf, zerknüllte den Pappbecher mit der Hand und liess ihn auf dem Tisch liegen.
Cobb beschloss, dass es an der Zeit war, eine Zigarette zu rauchen. Dazu begab er sich in den vierten Stock. Dort residierte Chefredaktor Deupelbeiss. Von da aus führte eine Tür ins Dachgeschoss zu einem Lagerraum und weiter auf den Balkon.
Hoch über der Fussgängerzone blinzelte er in die Sonne und zog an einer Zigarette. Er mochte den Ort nicht. Die dreissig Zentimeter Beton unter seinen Füssen waren nicht vertrauenswürdig. Der Balkon könnte jederzeit nachgeben und vor die Tore der Redaktion des «Tagblatts» stürzen. Und Cobb mit ihm.
Die Angst war nicht rational, das wusste er. Trotzdem wagte er sich nicht zu weit vor. Eigentlich stand er mit dem Rücken an die Wand des Gebäudes gedrückt und hielt sich mit der freien Hand am Geländer fest. Da, wo es in die Wand überging. Notfalls könnte er sich daran festhalten.
Er sah durch die Fenster in die Zimmer der gegenüberliegenden Gebäude. Die Büros der Versicherungen, Anwaltskanzleien und der Verwaltung lagen verwaist. Einzig schräg gegenüber erschien hin und wieder eine Raumpflegerin, die mit einem Putzwedel über den Boden wischte. Tauben in den Dachrinnen gurrten. Weiter weg ragte ein Kran aus einem denkmalgeschützten Gebäude, welches ausgehöhlt wurde.
Die Gasse war belebt. Er schaute den Menschen zu, die an den Schaufenstern vorbeigingen, hin und wieder stehen blieben und weiterschlenderten. Gelegentlich kreuzten sich Stadtbewohner, grüssten sich oder blieben stehen, um ein paar Worte zu wechseln.
Er entdeckte eine Person, die energisch in Richtung Redaktion marschierte. Marlen, seine Tochter.
Cobb beeilte sich, die Zigarette auszudrücken. Er presste sich gegen die Wand und rutschte in den Türrahmen. Dort kontrollierte er, ob sie ihn gesehen hatte. Sie hatte ihn nicht beachtet und hielt den Blick geradeaus gerichtet. Cobb nahm einen Kaugummi in den Mund und schob einen zweiten nach. Er öffnete die Tür und trat ins Innere. Die Luft im Lagerraum war stickig. Alte Computer lagen auf den Tischen, hinfällige Kaffeemaschinen und Kameragehäuse aus analogen Zeiten.
Der Schlüssel befand sich in einer Canon AE-1. Die ganze Redaktion wusste davon. Mit Ausnahme des Chefredaktors und Elvira Kunz. Die Toilette im vierten Stock war verschlossen und ausschliesslich für Deupelbeiss und Kunz reserviert. Cobb schüttelte die Kopie des Schlüssels aus dem Gehäuse, schloss die Tür zur Toilette auf und wusch sich die Hände mit Seife. Er musste sich beeilen und den Rauchgeruch loswerden. Seine Tochter wusste nicht, dass er wieder damit begonnen hatte. Er tat einen weiteren Kaugummi in den Mund und den Schlüssel zurück in den Fotoapparat.
Vier Stockwerke tiefer betrat er den Newsroom. Redaktoren und Redaktorinnen wirkten vor den Bildschirmen wie Standbilder. Valentin und Eulacher sassen auf ihren Plätzen und hielten die Arme verschränkt.
«Hallo, Paps.» Cobbs Drehstuhl schwang herum, und Marlen blickte ihn an.
«Na?», fragte er.
«Typisch mein Vater. Keine Begrüssung, nichts.»
Eulacher fing zu kauen an und widmete sich den Sportresultaten.
«Meine Tochter ist sicher nicht hier, um mir einen schönen Tag zu wünschen.»
«Dazu ist der Tag schon etwas zu alt, Paps. Du schuldest mir mein Monatsgeld.»
«Kann nicht sein. Die Bank erledigt das mit einem Dauerauftrag.»
«Ist aber nichts reingekommen.»
Eulacher hob den Kopf. «Die Bank führt Daueraufträge nur aus, wenn sie das nötige Geld auf dem Konto findet.»
«Danke für die Belehrung, Eulacher.»
«Nichts zu danken, Cobb.»
Marlen vollführte eine weitere Drehung auf dem Stuhl und verschränkte die Arme. «Ich würde gerne einige Sachen kaufen. Für die Geburtstagsparty am Samstagabend.»
«Sachen?»
«Sachen für Drinks eben. Wodka.»
Cobb wühlte in den Taschen und zog ein paar Noten hervor. Er reichte Marlen zwei Zwanziger. «Den Rest kriegst du übermorgen.»
«Das reicht fürs Erste.» Sie stand auf. «Ab Samstag bin ich volljährig. Dann hast du mir nichts mehr vorzuschreiben.»
«Gilt das auch umgekehrt?»
«Wie?»
«Nichts.»
Marlen gab Cobb einen fahrigen Kuss auf die Wange und ging resolut an Deupelbeiss vorbei, der eben den Newsroom betreten hatte und auf Cobb zusteuerte.
«Wie war’s in der Gärtnerei, Cobb?»
«Ich weiss jetzt, wozu Fischexkremente gut sind.»
«Faszinierend, nicht wahr, Cobb?»
«Ja, faszinierend.»
Von Valentin kam ein abschätziges Schnauben.
«Hängt das Banner mit unserem Logo vor der Gärtnerei?», fragte Deupelbeiss.
«Das muss ich übersehen haben.»
«Cobb, darauf kommt es an. Das Logo ist wichtig.»
«Ich denke, ich soll etwas über nachhaltige Fischzucht schreiben?»
«Ja, natürlich. Aber wir wollen doch nicht, dass übersehen wird, dass das ‹Tagblatt› hinter der Sache steht.»
«Wie läuft’s mit dem Wahlkampf?» Valentin hatte sich dazu entschlossen, sich ins Gespräch einzuklinken.
«Gut. Als Parteiloser an den Start zu gehen ist natürlich ein Risiko, Herr Huber. Aber wenn man bedenkt, wie schlecht Sozialdemokraten und Freisinnige aufgestellt sind, kann ich mir durchaus Chancen ausrechnen.»
«Wird schwierig werden, Stimmen aus der Mitte zu gewinnen.» Valentin lehnte sich zurück.
«Rechts politisiert die SVP. In der Mitte herrscht ein Vakuum. Das werde ich füllen.»
«Indem Sie sich nach links bewegen wie eine Krabbe, die ‹geradeaus› nicht kennt.»
«Wie meinen Sie das, Herr Huber?»
Valentin stand auf. «Ich gehe mir eine Pizza kaufen.»
Deupelbeiss sah auf den Boden, wippte etwas in den Knien und hob den Kopf. «Ich habe etwas für Sie, Herr Huber.»
Valentin blieb stehen.
«Ich weiss nicht, ob es eine Geschichte ist», fuhr Deupelbeiss fort. «Frau Kunz vom Empfang hat mir einen Hinweis gegeben.»
Deupelbeiss benutzte immer den Familiennamen, wenn er von seiner Lebenspartnerin sprach.
«Diese Frau.» Er machte eine Kunstpause. «Ihnen ist sicher schon diese Frau aufgefallen, die Kurierfahrten für uns erledigt.»
«Die Velokurierin?»
«Ja, diese Türkin. Ayla Aydin heisst sie. Frau Kunz hat beobachtet, wie ihr etwas aus der Kuriertasche gefallen ist.»
«Ja?»
«Eine Plastiktüte mit einem Pulver.»
«Und?»
«Es war weiss. Ich frage mich, ob diese Frau auch Drogen ausliefert.»
«Sie möchten, dass ich der Sache nachgehe?»
«Ja, Herr Huber. – Hier.»
Deupelbeiss reichte Valentin einen Zettel mit Namen und Adresse der Velokurierin und verliess den Newsroom.
Valentin sah Cobb an, und Cobb zuckte mit den Schultern, setzte sich an seinen Computer und fuhr ihn hoch. Er beschloss, erst seine Mails zu checken. Während sich das Programm öffnete und die Nachrichten vom Server luden, kramte Cobb nach seinen Notizen. Als er hochsah, entdeckte er eine Freundschaftsanfrage auf Facebook. Er klickte. Auf dem Bildschirm erschien eine Fotografie einer Frau.
Seiner Ex-Frau.
Sie war seit fünf Jahren tot.
Vergnügt klopften die Finger aufs Steuerrad. Sie folgten dem Rhythmus eines Schlagers, der aus dem Autoradio dröhnte. Der Arzt hatte ihm, Erwin Schär, nicht nur die vollständige Fahrtüchtigkeit bescheinigt, er hatte ihm auch zu den Laborwerten gratuliert.
Wie bei einem Fünfzigjährigen. Es würde ihn nicht wundern, wenn er hundert würde. Die Aussicht auf zusätzliche dreissig Jahre Leben liess ihn kräftig durchatmen. Den Refrain sang er aus voller Brust mit.
Der alte Seebär hat die Schnauze noch nicht voll!
Als er durchs Quartier fuhr, stellte er die Musik leiser. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es für Oktober schon ziemlich dunkel war. Der Nebel war vom See hochgekrochen. Langsam liess er das Auto auf den Parkplatz gleiten und löschte das Licht. Bei laufendem Motor hörte er das Lied zu Ende. Nachdem er den Zündschlüssel gedreht hatte, bemerkte er, wie Regentropfen aufs Dach fielen.
Auf dem Weg zur Eingangstür ging dank der Bewegungsmelder die Aussenbeleuchtung an. Eine Lampe flackerte. Schär dachte daran, dass er sie gelegentlich auswechseln müsse, steckte den Schlüssel ins Schloss und trat ein.
Er leerte die Taschen seines beigen Blousons. Schlüssel, Handy, Portemonnaie, Schnupftabak. Dann hängte er das Kleidungsstück an den Kleiderbügel in der Garderobe. Die Schuhe kamen auf die Schuhablage. Der Autoschlüssel fiel in die oberste Schublade einer Kommode. Das Portemonnaie und das Nokia legte er daneben. Er schlüpfte in ein paar alte Scholl-Sandalen, öffnete eine Tür, die links wegging, und wusch sich die Hände.
Mit dem Handtuch rubbelte er sich die Hände trocken, den Handrücken der linken Hand rieb er zusätzlich an der Hose ab, bevor er sich eine Prise Schnupftabak gönnte.
Wind war aufgekommen. Draussen schepperte es. Er ging nachsehen. Ein leerer Abfallcontainer war umgefallen. Die Nachlässigkeit des Nachbarn ärgerte ihn, weil dieser es nach jeder Tour der Kehrichtabfuhr verpasste, seinen Container zurück zum Haus zu rollen. In einer halben Stunde würde er wieder nachsehen. Würde ihn wundern, wenn der Container bis dann weggeräumt worden wäre. Schär war schon mit ganz anderen Nachbarn fertiggeworden.
Er ging durchs Haus und öffnete im Wohnzimmer die Tür, die in den Garten führte. Regen fiel aufs Vordach. Mit einer Taschenlampe leuchtete er hinaus und kontrollierte, ob der Hühnerstall gut verschlossen war. Das Spiel der Schatten irritierte ihn. Murrend nahm er eine Regenjacke vom Haken. Sie hing für solche Fälle unter dem Vordach. Seine Füsse rutschten aus den Sandalen und in die Crocs. Mit hochgezogenen Schultern hastete er über die Steinplatten bis zum Hühnerhaus. Innen gackerte es kurz, als er am Schloss rüttelte.
Ein Blick auf die Uhr. Zeit fürs Abendessen. In der Küche nahm er zwei Eier aus dem Kühlschrank und legte sie auf die Anrichte. Sie kullerten sanft herum. Eine Weile blieb er so stehen und wartete, bis die Eier zur Ruhe gekommen waren. Er fasste einen Entschluss, öffnete den Kühlschrank und legte ein drittes dazu. Heute sollten es drei sein. Um die Cholesterinwerte brauchte er sich nicht zu kümmern, das hatte er schriftlich.
Die Butter brutzelte in der Pfanne. Er schlug zwei Eier auf und liess sie behutsam hineingleiten. Sie geronnen zu perfekten Spiegeleiern. Das dritte rutschte so unglücklich aus der Schale, dass das Eigelb aufplatzte. Er ärgerte sich, zog einen Rührbesen aus der Schublade und verquirlte die Eier. Lieber ein tadelloses Rührei als ein verpfuschtes Spiegelei.
Er setzte sich an den Computer und fuhr ihn hoch. Er begann im Rührei neben sich zu stochern und scrollte gleichzeitig durch die Kommentare. Sein letzter Beitrag war gut angekommen. Er hatte darin beschrieben, wie er vor rund zwanzig Jahren versucht hatte, eine Frau aus Thailand zu heiraten, um mit ihr zusammenzuleben. Wie teuer das gewesen sei, welche Hürden zu nehmen waren, wie die Bürokratie ihm zugesetzt hatte. Und er stellte Vergleiche an zu den sogenannten Flüchtlingen, die heute ins Land kamen und ohne Weiteres Unterstützung erhielten.
Die Kommentarschreiber fanden das ungerecht. Worte der Empörung waren ins Netz gehämmert worden. Dass es an der Zeit wäre, endlich zu handeln, auf den Tisch zu hauen oder gleich selbst gegen die muslimische Unterwanderung vorzugehen. Denn daher wehte der Wind. Die Flüchtlinge waren Vorwand. Mit ihnen sollte die Religion, die Scharia nach Europa gebracht werden.
Mit einem Bissen im Mund schmunzelte er. Er war nie verheiratet gewesen, hatte es nie versucht und hatte nie den Wunsch danach verspürt.
Alles Lüge.
Aus der Brusttasche des Flanellhemdes zog er einen Zettel. Er überflog die Notizen, die er sich im Wartezimmer des Arztes gemacht hatte. Kauend überlegte er, mit welcher Formulierung er seinen neuen Beitrag beginnen sollte, als es an der Tür klopfte. Schnell kritzelte er einen Satz aufs Papier und stand auf.
Vor der Tür war niemand. Der Abfallcontainer befand sich immer noch an dem Ort, wo er nicht hingehörte. Er hatte es nicht anders erwartet. Der Wind hatte den Besen, der vor der Haustür gestanden war, weggetragen und umgeworfen. Er hob ihn auf und entdeckte einen Blumentopf, der zur Seite gekippt war. Der Buchs lag am Boden, Erde auf dem Rasen verstreut. Er stellte ihn wieder auf.
Hatte er vergessen, die Sonnenstoren zurückzukurbeln? Hatte er sie die vergangenen Tage überhaupt benötigt? Der Wind zerrte gefährlich an der Verankerung. Er kurbelte sie zurück. Mit dem Besen in der Hand blickte er in die Runde, entdeckte aber nichts Aussergewöhnliches mehr. Murrend ging er zurück und schloss die Tür.
Der Computer war ausgeschaltet. War er das gewesen? Er drückte einen Knopf. Während der Rechner wieder hochfuhr, begab er sich mit dem leer gegessenen Teller in die Küche, um ihn auszuspülen. Wasser lief als dünner Strahl ins Spülbecken. Er stellte den Teller darunter. Hatte er vergessen, es abzustellen?
Zurück am Computer sah er auf seine Notizen. Er wollte eben zu tippen beginnen, als eine Nachricht auf dem Bildschirm erschien: «Wir haben dich, Arschloch.»
Er hatte keine Gelegenheit, sich darüber Gedanken zu machen. Im Hühnerstall hob ein Gezeter und Gegacker an. Ohne sich die Regenjacke überzuziehen, rannte er hin. Als er die Tür aufriss, flatterten zwei Hühner an ihm vorbei ins Freie. Das Licht der Taschenlampe beleuchtete hastig die Ecken. Zwei weitere Federviecher suchten das Weite. Er richtete den Lichtstrahl höher und wunderte sich über die blonde Frau, die vor ihm stand. Sie hielt einen Baseballschläger in der Hand und holte aus. Ein Huhn wurde von der Stange gefegt. Dann raste das harte Holz auf ihn zu. Er hielt die Hände schützend vor den Kopf. Der Schlag traf die Brust und brach zwei Rippen. Der Kopf konnte warten.
«Hab ich dich.» Straumann wischte seine Hand an einer Serviette ab.
«Was ist?», fragte Marietta.
«Eine Fliege.»
«Bin neugierig, was sie uns zum Dessert auftischen.» Mariettas weiche Finger nahmen eine Serviette, und sie tupfte sich damit die Lippen.
Straumann betrachtete die Gäste. Nicht einer sah so aus, als ob er noch etwas verdrücken könnte. Alle sassen zufrieden auf ihren Stühlen, lächelten, wechselten sparsam Worte und nippten am Wein. Straumann fand, dass es nun günstig wäre, seine Ansprache zu halten. Es musste sein. Er würde laut reden müssen, damit auch seine Mutter das eine oder andere Wort verstand. Auch wenn sie vermutlich die Zusammenhänge nicht ganz kapieren würde.
Er erhob sich. Jemand klimperte mit zwei Gläsern. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet.
«Ich hoffe, ihr habt alle gut gegessen.»
Zustimmendes Gemurmel.
Straumann schielte auf einen Zettel, der etwas feucht in seiner Hand klebte.
«Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich so etwas wie den heutigen Tag erlebe. Also, dass ich das erlebe, was ich am heutigen Tag erlebt habe.»
Er hatte sich verheddert. War ja vorauszusehen gewesen. Straumann war gut darin, Dinge zu überdenken und Schlüsse zu ziehen. Das Reden überliess er lieber anderen. Der Zettel wurde etwas feuchter.
«Einige von euch wissen, was mir dieses Ja bedeutet. Ich bin ab sofort ein glücklich verheirateter Mann. Und ich bin dir dankbar, dass du, Marietta, mich dazu genötigt hast.»
Gelächter.
Unter dem Tisch kläfften die beiden Chihuahuas, die eigens für diesen besonderen Tag frisch frisiert worden waren. Mariettas Lieblinge.
«Ihr alle kennt mich lange genug, um zu wissen, dass ich so etwas für mein restliches Leben nicht geplant hatte. Und die, die mich noch nicht so lange kennen, haben sicher davon gehört. Unter Polizisten lässt sich nichts verheimlichen.»
Lachen.
Moser strich sich über den Bart und nickte. Es war ihm zu Ohren gekommen, dass Straumann seine erste Frau wegen einer Krebserkrankung verloren hatte.
«Nun gut. Es reicht, zu wissen, dass ich glücklich bin, es reicht, zu wissen, dass ich mich darüber freue, dass ihr da seid, und es …»
Er verlor den Faden. Deshalb hob er sein Weinglas in die Höhe.
«Ich proste auf meine Frau, die ich mehr liebe und achte, als ich es mir je hätte vorstellen können.»
Als die Gäste in die Hände klatschten, schreckte Straumanns Mutter auf. Sie war eingeschlafen.
Marietta zog ihren frisch angetrauten Ehemann auf den Stuhl herunter und gab ihm einen dicken Kuss. Er entschuldigte sich für sein Gestammel. Sie kniff ihn in die Wange und bedankte sich dafür, dass er überhaupt aufgestanden war, um ein paar Worte an die Gesellschaft zu richten.
Sie wuchtete sich hoch. Die beiden Chihuahuas sprangen auf und wedelten mit den Schwänzen. Elegant balancierte Marietta alles, was sie ausmachte, auf zwei dünnen Absätzen zur Theke des Restaurants und pulte mit rot lackierten Fingernägeln in den Resten eines Huhnes, kam mit zwei weissen Stücken Fleisch zurück und fütterte damit die Hunde. Sie entschuldigte sich und stöckelte zu den Toiletten. Unterwegs langte sie noch einmal in die Reste und leckte sich das Fett von den Fingern.
Für Straumann bedeutete Mariettas Fülle Geborgenheit. Die Krankheit liess seine erste Frau ausgemergelt aus dem Leben scheiden. An Marietta hingegen war alles rund, weich und warm. Sie war das Polster, welches die Schläge der Vergangenheit abfederte.
Sie hatte ihn vor zwei Jahren in einem Café angesprochen und ihn gebeten, kurz auf die Hunde aufzupassen. Im Scherz hatte sie ihn dann dazu eingeladen, sie auf einem Spaziergang zu begleiten. Straumann hatte zugesagt. Es wurden mehr Spaziergänge daraus, er lud sie zu sich ins Haus ein, wo er kaum mehr als zwei Zimmer benutzte. Er hatte ihr erst angeboten, bei ihm zu wohnen. Dann hatte er einen Anbau erstellen lassen und ihn Marietta für den Hundesalon zur Verfügung gestellt.
Nie hatte sie ihn nach seinem Tag gefragt, wenn er von der Polizeiarbeit nach Hause kam. Er genoss das. Das Brutale und das Hässliche hatten neben Marietta keinen Platz. Jeder Ärger, jede Sorge versackte in ihrer Fülle und schien nicht mehr zu existieren.
Als das Dessert gegessen war und Kaffee und die Schnäpse aufgetragen wurden, erhob sich Straumanns Mutter, ging zur Garderobe und zog sich an. Marietta folgte ihr und half ihr in den Mantel. Mutter murrte. Straumann liess ein Taxi kommen. Er begleitete seine Mutter nach draussen. Wortlos standen sie nebeneinander und warteten. Als das Taxi heranfuhr, half er ihr auf den Sitz. Bevor er jedoch die Tür schliessen konnte, hielt sie ihn fest.
«Sie ist zu jung», flüsterte sie ihm ins Ohr. «Nicht gut für dich.»
«Mama, nicht jetzt.»
Er nannte dem Taxifahrer die Adresse, befreite sich aus dem Griff seiner Mutter und schloss die Tür. Er sah dem Wagen nach und nahm ein Pfefferminzbonbon in den Mund.
Drinnen war die Stimmung ausgelassen. Als er wieder sass, kam Moser an seinen Platz.
«Das ist von uns», sagte er und drückte Straumann ein Couvert in die Hand. Es enthielt einen Gutschein für einen Wellnesstag in Serfaus.
«Na?», fragte Moser.
«Muss ich nochmals aufstehen und mich bedanken?», fragte Straumann.
«Nein, nein, das ist im Geschenk inbegriffen», antwortete Moser und liess mittels eines Löffels ein Glas erklingen.
Etwa ein Dutzend inzwischen leicht geröteter Gesichter schaute hoch.
«Ich habe die Ehre, euch mitzuteilen, dass Straumann, unser frischgebackener Ehemann, sich darüber freut, dass er mit seiner ebenso frischgebackenen Gattin, Marietta Rossi, Marietta Straumann Rossi, einen Tag lang durchgeknetet, dass er den Tag im Wasser und auf Entspannungsliegen verbringen wird.»
Man klatschte. Straumann winkte ab, und Marietta lächelte breit.
Die letzten Gäste hatten sich verabschiedet, die Rechnung für das Essen war beglichen, und das Hochzeitspaar stand samt Chihuahuas vor der Tür und wartete auf ein Taxi. Ein Mercedes mit Werbeaufdruck hielt an, und der Fahrer öffnete das Fenster.
Marietta bückte sich und hob die Hunde hoch.
«Tut mir leid. Hunde fahren nicht mit.» Der Fahrer wendete und fuhr davon.
Straumann wollte eben ein weiteres Taxi bestellen, als Marietta ihn in die Seite knuffte.
«Spaziergang?»
Straumann tat das Handy weg. «Spaziergang.»
Sie liessen sich Zeit, blieben hin und wieder stehen, betrachteten den Himmel oder warteten, bis einer der Hunde sich an einem Hydranten oder einer Strassenlaterne sattgeschnüffelt hatte. Als sie schliesslich bei der Haustür angelangt waren, kratzte sich Straumann am Kopf.
«Damit alles seine Richtigkeit hat, müsste ich dich jetzt über die Schwelle tragen.»
«Umgekehrt wäre einfacher.»
Straumann und Marietta lachten. Sie nahm den Schlüssel aus der Handtasche und öffnete. Erst jetzt bemerkte Straumann, dass im Eingang und im Wohnzimmer Licht brannte.
«Das Licht brennt», sagte er.
«Vielleicht haben wir vergessen, es auszumachen», antwortete Marietta und stöckelte in die Küche.
Als sie das Haus verlassen hatten, war es heller Tag gewesen. Da hatte kein Licht gebrannt, das wusste Straumann.
Cobb stand vor Anna Galatis Wohnungstür im dritten Stock und klingelte. Keine Schlüssel, so hatten sie es vereinbart. Nach ein paar Augenblicken öffnete Galati die Tür, schmiss Cobb einen Kuss auf die Lippen und zog ihn in die Wohnung.
«In fünf Minuten bin ich bereit», sagte sie und verschwand im Schlafzimmer.
«Du bist dir sicher, dass wir den Zug nehmen?» Cobb ging ins Wohnzimmer und sah aus dem Fenster über den Rhein.
«Wie?»
Cobb wiederholte das Gesagte etwas lauter.
«Ja, den Zug. Ich sitze die ganze Woche im Auto. Ausserdem ist’s unkomplizierter.»
«Warum?»
Galati erschien im Wohnzimmer und zupfte einige Fusseln aus der Trainerhose. «Weil wir dann nicht zurückmüssen, um das Auto zu holen.»
«Klar.»
Der Plan war, gemeinsam von der Wohnung am Lindli über die Brücke nach Feuerthalen zu joggen, dort den Zug zu nehmen und den Rhein hoch nach Diessenhofen zu fahren, wo Galati ins Wasser steigen und die Strecke bis Schaffhausen zurückschwimmen würde. Cobb hatte vor, sie auf dem Landweg zu begleiten.
Galati hob einen kleinen Rucksack vom Boden hoch. «Hast du ein Getränk dabei?»
«Ich hol mir was vom Automaten.»
«Wo?»
«Am Bahnhof.»
«Na, dann mal los!»
Das Treppenhaus hallte, als die beiden die drei Stockwerke hinunterrannten. Galati immer zwei Stufen aufs Mal. Draussen würdigte sie ihr Taxi keines Blickes und rannte voraus. Sie schaffte es, gerade noch rechtzeitig vor einem heranfahrenden Auto die Strasse zu überqueren. Cobb musste stehen bleiben und drei Fahrzeuge abwarten.
Galati war bereits weit vorausgejoggt. Cobb gab sich nicht einmal Mühe, sie einzuholen. Er wusste, in einigen hundert Metern würde sie stehen bleiben und die Schuhbändel neu binden.
Und so war es dann auch. Mitten auf der Brücke holte er sie ein, lehnte sich ans Geländer und sah ins Wasser hinunter. Sonnenlicht reflektierte darin, und Cobb blinzelte.
«Ist das nicht ein bisschen kalt?»
«Das Wasser? Natürlich ist es kühl. Darum geht’s ja.»
«Die Manie, sich abzuhärten, ist eigentlich eher eine männliche Eigenschaft.»
«Was wisst ihr Männer von männlichen Eigenschaften?»
«Ein Mann ist knallhart, zu allem entschlossen, furchtlos und ausserdem stärker und schneller als jede Frau.»
Galati lachte, knuffte Cobb in die Seite und rannte los.
Die Steigung entlang der Hauptstrasse hoch nach Feuerthalen brachte Cobb arg ins Keuchen. Er wünschte, er würde wirklich nicht mehr rauchen, auch nicht heimlich. Galati hatte die letzte Zigarette geraucht, als sie mit Kater und Kopfweh auf dem Balkon ihrer Wohnung gestanden war. Sie hatte sich gezwungen, die ganze Zigarette zu Ende zu bringen, obwohl ihr bei jedem Zug schlechter geworden war. Dann hatte sie sie in den Aschenbecher gedrückt und sich im Klo übergeben. Das war das Ende einer bald dreissigjährigen Freundschaft gewesen.
Cobb hatte sich zuvor mit elektronischen Zigaretten zu trösten versucht. An besagter Party, die Galati einen üblen Morgen beschert hatte, hatte er eine Zigarette geraucht. Und weil er das so gut mochte, gleich noch eine zweite. Der Club der Raucher hatte ihn wieder.
Am Automaten warf Cobb einige Münzen ein und wählte eine Cola.
Galati wühlte in ihrem Rucksack und steckte die Kreditkarte in den Billetautomaten. «Hast du ein Billet?»
«Nein.»
«Ich kauf dir auch gleich eines.»
«Danke. – Schluck?»
«Nein, keine Cola jetzt. Das stösst mir sonst auf.»
Cobb schraubte den Verschluss auf die Flasche. Der Zug fuhr in den Bahnhof.
Die beiden stiegen ein.
Cobb sah aus dem Fenster und rätselte, wie viele Armzüge Galati wohl zu tätigen hätte, bis sie die Strecke, für die der Zug eine knappe Viertelstunde benötigte, hinuntergeschwommen war.
Dies tat sie als Vorbereitung auf ihr grosses Ziel, welches darin bestand, in absehbarer Zeit den Ärmelkanal zu überqueren.
Kaum waren sie in Diessenhofen aus dem Zug gestiegen, ging’s im Laufschritt durch das Städtchen und dann an den Fluss. Obwohl das Tempo so gehalten war, dass die beiden noch miteinander hätten reden können, war sich Cobb sicher, dass ihm dazu der Atem fehlte. Also schwieg er, und Galati war auch ruhig. Sie schien sich innerlich auf die Schwimmstrecke und das kalte Wasser vorzubereiten.
Bei der Klinik Katharinental war es so weit. Sie zog ihre Trainingssachen aus und stopfte sie in den Rucksack.
«Du trägst ihn mir nach, gell?»
«Nicht die Bohne. Ich trage ihn neben dir her.» Cobb nahm den Rucksack in Empfang.
«Kommt darauf an.»
«Worauf?»
«Ich bin wohl die einzige zuverlässige Konstante.»
«Wie?» Cobb wog den Rucksack in der Hand.
«Ich nehme es locker und werde ein Tempo anschlagen, das mich etwa drei Kilometer die Stunde voranbringt. Je nach Wasserstand fliesst der Rhein mit fünf bis zehn Kilometern pro Stunde.»
«Und wie ist er, der Wasserstand?»
«Keine Ahnung. Ein normal trainierter Mensch joggt mit einer Geschwindigkeit von rund zehn Kilometern pro Stunde.»
«Na ja.» Cobb schwang den Rucksack auf den Rücken.
«Du hast also etwas zwischen zügigem Gehen, langsamem Trotten oder einem forschen Tempolauf vor dir.»
«Wird schon gehen.»
«Wir sehen uns.»
«Steigst du jetzt ins Wasser?»
«Wenn du weg bist.»
«Warum?»
«Ich gebe dir Vorsprung. Du wirst ihn brauchen.»
Betont locker schlenderte Cobb den Weg in Richtung Badi. Er setzte sich auf einen Stein am Ufer, zündete sich eine seiner heimlichen Zigaretten an, als er Galati zügig in die Mitte des Flusses crawlen sah. Schnell steckte er das Feuerzeug ein, nahm einen tiefen Zug und stand auf.
Mit der brennenden Zigarette in der Hand versuchte er, mit Galatis Schwimmtempo mitzuhalten. Dann sah er ein, dass es so nicht funktionierte. Er liess die Heimlichkeit los und verfiel in einen leichten Laufschritt. Als er sie eingeholt hatte, wechselte er zu forschem Gang. Eine Weile knirschte der Kies unter seinen Füssen im Takt mit Galatis Schwimmzügen.
Der flache Weg entlang des Rheins wechselte jäh zu einer Steigung. Cobb versuchte das Tempo beizubehalten, gab Vorlage und erklomm den Hügel. Oben zog es in den Waden. Er blieb stehen und lauschte. Wasser gluckste weiter unten. Galati war vorausgeschwommen.
Als Cobb sich umsah, entschied er sich gegen die Naturstrasse, die vom Rhein wegführte. Stattdessen nahm er einen schmalen Waldweg, der zum Wasser ging. Der Rucksack baumelte hin und her, als er Boden zu gewinnen versuchte. Ohne anzuhalten, streifte er ihn von den Schultern und drückte ihn mit dem rechten Arm an sich.
Das Baumwollshirt klebte am Rücken. Bäume und Sträucher versperrten die Sicht auf den Fluss. Nach Galatis rhythmischen Schwimmbewegungen zu lauschen war ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Cobbs Atem ging zu laut.
Mit einem Mal war der Weg versperrt. Waldarbeiter hatten gewütet. Ganze Bäume lagen auf dem Weg, rechts floss der Rhein, und links ging es eine Böschung hoch. Cobb dachte kurz daran, umzukehren, entschied sich anders, hangelte sich die Böschung hinauf und rutschte wieder auf den Weg.
Als er beim Schaaren auf die Wiese gelangte, sah er Galati weit weg hinter der Flussbiegung verschwinden. Er hätte aufgeben können. Doch dazu war er zu stolz. Obwohl er wieder rauchte, war er seit drei Monaten regelmässig joggen gegangen. In seinen Augen galt er als fitter Raucher.
Galatis Handy klingelte im Rucksack. Cobb nestelte darin herum. «Hallo?»
«Hier Palumbo.» Die Stimme einer Frau.
«Ja?» Cobb wartete.
«Mit wem spreche ich?»
«Cobb. Am Handy von Anna Galati.»
Schweigen. Dann: «Cobb?»
«Ja.»
Wieder Stille. Endlich: «Ist Anna zu sprechen?»
Cobb sah sich um. «Nein. Momentan …» Wie sollte er erklären, dass Galati ihm im kalten Rhein davonschwamm. «Sie wird zurückrufen.»
«Vielen Dank. – Cobb?»
«Ja, Cobb.»
«War schön, Sie kennengelernt zu haben.»
Ein Steg aus Holzbrettern schlängelte sich durchs Naturschutzgebiet. Er legte an Tempo zu. Er hatte das Gefühl, über den Holzsteg zu fliegen. Links und rechts wuchs Schilf. Die Sonne liess die Ähren erglühen. So etwa musste sich ein Runner’s High anfühlen.
Dunkles Grollen und rosa Lefzen holten Cobb aus seiner Trance zurück. Er blickte in den Schlund eines mit Muskeln bepackten Albinos. Eine überlange Leine hielt den Hund zurück. An ihr erschien ein junger Mann. Cobb fuhr es kurz durch den Kopf, dass nicht alle Hundehalter wie ihre treuen Freunde aussehen. War dieses Viech kurz und gedrungen, war Herrchen eher hochgewachsen.
«Der tut Ihnen nichts», sagte der Hundehalter.
«Woher wollen Sie das wissen?» Cobb erwartete, dass er wütend klingen würde. Aber wegen des Schocks hatte sich seine Stimme im Hals verkantet.
«Der hat noch nie jemandem etwas zuleide getan.»
Cobb räusperte sich. «Einmal ist immer das erste Mal.»
Ohne weiter darauf einzugehen, nahm der Mann den Hund kurz. Und ging an Cobb vorbei. In seinem Bemühen, dem Tier nicht zu nahe zu kommen, trat Cobb neben das Brett und holte sich einen nassen Fuss.
Er hatte sich eben an das schmatzende Geräusch des Turnschuhs gewöhnt, als er wieder jäh abbremste. Vor ihm lag eine tote Ente. Das Blut, welches die Holzplanke bedeckte, war noch frisch. Er bückte sich und entdeckte Beissspuren. Jeder Knochen des Vogels schien gebrochen. Ein Flügel lag grotesk verdreht am Boden. Er war nackt, die Federn fehlten.
Mit einem grossen Schritt stieg Cobb über das Tier hinweg, und mit weichen Knien lief er Anna Galati hinterher.
Schmerzen. Cobb hatte den Wecker abgestellt und wollte sich nicht wieder bewegen. Die Muskeln waren ineinander verkeilte Betonklötze. Er blieb auf dem Rücken liegen und hoffte darauf, dass sich jeder Teil seines Körpers an den ihm zugewiesenen Ort schmiegte.
Einer der Klötze fing auf unangenehme Weise zu leben an. Die Wade machte sich selbstständig und zog sich zusammen. Cobb schüttelte das Bein, sprang aus dem Bett und hüpfte umher.
Anna Galati drehte sich im Bett um. «Ruhe, ich schlafe noch.»
«Krampf!»
«Was?»
«Die Wade. Ich habe einen Krampf.»
«Dann musst du sie dehnen.»
«Wie denn?»
Galati seufzte, kroch unter der Decke hervor, lehnte mit den Händen gegen eine Wand und streckte das rechte Bein nach hinten, wobei die Ferse am Boden blieb. «So.»
Als wäre sie die Darstellerin eines Filmes, der nun rückwärts lief, kroch sie wieder zurück unter die Decke.
Cobb tat wie geheissen. «Danke.»
Keine Antwort. Galati schlief weiter. Cobb war sich nicht sicher, ob sie wirklich wach geworden war.
Als die Wade endlich Ruhe gab, stakste er ins Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Das warme Wasser tat gut. Es half, solange es auf seinen Körper prasselte. Er trocknete sich ab. Die Zehen blieben unerreichbar und nass.
Den Kaffee trank er im Stehen, weil er die Strapazen vermeiden wollte, die daraus entstünden, wenn er sich auf einen Stuhl setzte und wieder hochkommen musste.
Entgegen seinem Vorsatz, nur mehr die Treppen zu benutzen, stieg er in den Lift und fuhr drei Stockwerke tiefer. Auf dem Weg dem Rhein entlang in die Stadt lockerte sich der eine oder andere Muskel. Er traf vereinzelte frühe Jogger und Spaziergänger, ansonsten war die Rheinpromenade ruhig. Die Möwen sassen wie gewohnt auf den Pfählen, an denen die Weidlinge angebunden waren. Wenn eine zu schreien anfing, stimmten die anderen mit ein. Ihre schwarzen Brüder und Schwestern hockten in den Bäumen und krähten sich dort die Hälse wund.
Die Stadt war beinahe menschenleer. Wer keiner Arbeit nachging, die nach Sonntagsdienst verlangte, lag zu Hause im Bett oder freute sich auf ein Frühstück.
Cobb überlegte kurz, ob er bei sich zu Hause nachsehen sollte. Marlen hatte vergangene Nacht ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert. Seine Tochter hatte versprochen, hinterher aufzuräumen. Er malte sich aus, was er antreffen würde, und beschloss, erst abends nach der Arbeit die Wohnung zu betreten.
Die Bäckerei hatte offen. Cobb kaufte ein Thonsandwich und eine Cola. Im «Spettacolo» erstand er einen Kaffee. Damit liess er sich mit viel Gestöhne auf einer Bank auf dem Fronwagplatz nieder. Die Klötze in seinem Körper richteten sich nur ungern neu aus.
Mit einer Zigarette in der Hand entspannte er sich langsam. Das Gehirn wurde wattig, die Glieder schwer.
Was würde ihn heute erwarten?
Redaktionsarbeit, die darin bestand, Berichte über Anlässe, die am Wochenende stattgefunden hatten, auf die Seiten der Zeitung zu verteilen. Im nationalen und internationalen Teil würde er Themen vertiefen, welche die Sonntagsblätter aufgegriffen hatten, die meisten würden jedoch von den Agenturen bearbeitet bei ihm eintreffen.
Er musste unbedingt Valentin auf die Sache mit der Facebook-Anfrage seiner Ex-Frau ansetzen. Wem war daran gelegen, ihm damit einen Schrecken einzujagen?
Der Empfang der Redaktion war nicht besetzt. Cobb drückte den Liftknopf, entschied sich dann anders. Mit Hilfe der Hände hangelte er sich die Treppen hoch. Der grösste Teil der Computer im Newsroom stand verwaist da. In der vertrauten Ecke sass Eulacher, tippte, die Augenbrauen dicht zusammengezogen, stöhnte, lehnte sich zurück und starrte auf den Bildschirm.
«Morgen, Eulacher.»
«Scheisse.» Eulacher tippelte mit den Fingern auf der Maus herum. Das tat er immer, wenn er Formulierungen suchte.
«Versuch es mal mit dem Synonym-Lexikon.»
«Kot, Exkrement, Kacke.»
Cobb blieb stehen und applaudierte.
Eulacher legte die Unterarme auf den Schreibtisch. «Seit der Chef gewählt werden will, lässt er nichts aus. Er wünscht sich eine gemischte Klasse in der Redaktion.»
«Mädchen und Buben.»
«Nein. Der Chef will eine möglichst bunte Schar Schüler hierhaben. Wirklich bunt. Die sollen die Redaktion einen Tag lang kennenlernen. Inklusive Farbfotografie mit dem Chef. Weil der Chef macht jetzt auf multikulturell. Und er möchte einen Artikel vorab. Der Chef will das morgen in der Zeitung haben. Und Mittwoch klettern hier die Bälger herum. Am Donnerstag, mit der Grossauflage, flattert das in alle Haushaltungen: Der Chef mag alle, auch die, die er eigentlich nicht leiden kann.»
«Politik, Eulacher, Politik.»
«Scheisse. Ich kann Kinder nicht ausstehen, egal, welcher Hautfarbe.»
«Kaffee?», fragte Cobb.
«Nein, eine Pistole.»
Cobb fragte nicht, ob Eulacher die Waffe gegen sich, die Kinder oder Deupelbeiss einsetzen wollte. Er zog es vor, ihn in seiner übellaunigen Stimmung allein zu lassen.
Im Pausenraum setzte er sich unter Stöhnen auf einen Stuhl und blätterte die Sonntagszeitungen durch. Drei Stück lagen da, zwischen jeder füllte er sich die Tasse neu.
Valentin betrat den Raum. Cobb konnte nicht beurteilen, was verknitterter aussah, das Sandwichpapier, aus welchem er eine Ciabatta herauszog, oder Valentins Gesicht. Der junge Redaktor nahm einen Bissen, kaute und kaute, schluckte endlich, zauberte eine Flasche Eistee aus der Jackentasche und trank daraus.
«Harte Nacht gehabt?», fragte Cobb.
Valentin biss ab und nickte.
«Wenn schon. Sonntagsdienste sind zum Dösen da.» Cobb stellte die Tasse in den Ausguss und bewegte seinen Körper vorsichtig zur Tür.
«Ich hab was.»
Cobb verstand nicht recht. «Was?»
Valentin trank Eistee und wiederholte. «Ich hab was.»
«Hast was?»
«Wegen der Kuriersache, auf die mich Deupelbeiss angesetzt hat.»
«Ach die. Ich versteh ihn nicht.»
«Deupelbeiss?», fragte Valentin.
«Ja. Dass er einen Journalisten ausgerechnet auf eine Türkin ansetzt, traue ich ihm unter normalen Umständen zu. Aber jetzt, wo er sich im Wahlkampf befindet und in die Mitte rücken will, kann ich mir keinen Reim darauf machen.»
«Vielleicht ist er unvoreingenommener, als wir alle denken.»
«Denk, was du willst.»
«Kann ja sein, dass er ohne Rücksicht auf seine politische Karriere –»
«Er tut nichts ohne Rücksicht auf seine politische Karriere.» Cobb öffnete die Tür.
«Willst du nicht wissen, was ich habe?»
«Na gut. Was hast du?»
«Ich habe gegoogelt.»
«Oh, Google.»
«Da bin ich auf was gestossen.»
«Fakten?», fragte Cobb und lehnte sich an die Wand.
«Ihr Vater zum Beispiel. Er betreibt eine Kebab-Bude in der Stadt.»
«Ja?»
«Ich war vergangene Nacht dort.» Valentin zerknüllte das Sandwichpapier.
«Bist du dort abgestürzt?»
«Nein. Später. Ich war im ‹Kammgarn› und im ‹TapTab›.»
«Gut. Die Kebab-Bude. Weiter?» Cobb wurde es langweilig.
«Eben. Ich sass eine ganze Stunde dort drin. Es kamen genau drei Leute rein, die was kauften.»
«Was kauften sie?»
«Was wohl? Kebab, Dürüm, Mineralwasser, Bier.»
«Du weisst es nicht genau.»
«Ist auch egal, was die Leute kauften. Wichtig ist, dass er mit derart wenig Kundschaft nicht überleben kann.»
«Der Vater.»
«Seine Bude.»
«In einer Stunde drei Kunden. Und du hast das dann auf die gesamte Öffnungszeit hochgerechnet und stellst jetzt deine Vermutungen an.»
«Cobb, da ist was dran.»
«Vermutungen, Kleiner, Vermutungen. Ein Journalist arbeitet mit Fakten. Du bist doch einigermassen fit. Fahr ihr nach.»
«Ihr?»
«Wem sonst?»
«Die Zeit hab ich nicht. Deupelbeiss will Resultate sehen.»
«Ihm liegt offensichtlich was an der Geschichte. Also wird er dir Zeit zugestehen. Frag ihn.»
Valentin sah auf die Tischplatte, hinüber zur Kaffeemaschine und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. «Genau das werde ich tun. Danke für den Tipp.»
Cobb stiess sich von der Wand weg und setzte sich mit Mühe wieder hin. «Vor zwei Tagen habe ich via Facebook eine Freundschaftsanfrage erhalten. Von meiner Ex-Frau.»
«Ist die nicht tot?»
«Ist sie.»
«Ein Fake-Account.» Valentin spielte mit dem zerknüllten Sandwichpapier.
«Lässt sich herausfinden, wer so etwas macht?»
«Weiss nicht. Käme auf einen Versuch an. Soll ich?»
«Gerne.»
«Gut.»
Zurück am Arbeitsplatz ging Cobb die Artikel durch, welche die Lokalreporter in die Redaktion gemailt hatten. Es waren fast ausschliesslich Schüler, Studentinnen oder Rentner, die über mehr oder minder wichtige Anlässe berichteten. Die sprachlichen Fähigkeiten variierten beträchtlich. Cobb verbesserte Zeitformen, Satzstellungen und Tippfehler.
Eine Kurzmeldung der Thurgauer Kantonspolizei erregte seine Aufmerksamkeit. In Steckborn wurde seit drei Tagen ein Rentner vermisst. Nachbarn war aufgefallen, dass seine Hühner das Quartier bevölkerten. Deshalb war die Polizei gerufen worden. Von dem Mann fehle jede Spur. Cobb scrollte nach unten und las den Namen des Rentners.
Erwin Schär.
Ein Name, den er nie wieder hatte hören wollen. Lesen auch nicht.
Galati streckte sich und blinzelte in den hellen Tag. Sie fühlte sich ausgeschlafen und hungrig. Und sie hatte Zutrauen gewonnen. Die Sache mit dem Ärmelkanal schien mehr und mehr machbar. Der Rhein war vierzehn Grad kalt gewesen. Und sie war darin geschwommen, ohne aufgeben zu müssen. Sie hatte danach sogar eine Viertelstunde auf Cobb gewartet. Im Badeanzug. Glücklicherweise hatte die Sonne geschienen.
Im Kühlschrank lag ein Stück gebratene Pouletbrust vom Vortag. Sie landete in der Mikrowelle, in Stücke geschnitten und auf eine Schale Reis gebettet. Galati warf einen Blick auf das Display des Telefons. Nichts. Die Welt liess sie in Ruhe.