Born to Rock - Gordon Korman - E-Book

Born to Rock E-Book

Gordon Korman

0,0

Beschreibung

Leo Caraway, Präsident der Jungen Republikaner und zukünftiger Harvard-Student, hat sein Leben bereits vollständig durchgeplant. Seit er jedoch weiß, dass sein biologischer Vater niemand geringeres ist, als King Maggot McMurphy, der Sänger der erfolgreichsten Punkrockband aller Zeiten, ist Leo überzeugt, dass McMurphys Blut in seinen Adern ihn zu einer tickenden Zeitbombe macht, die nur darauf wartet, zu explodieren, um sein wohl sortiertes Leben zu zerstören. Als es dann tatsächlich zu einer Katastrophe kommt und er sein Havard-Stipendium verliert, entschließt er sich, Kontakt zu McMurphy aufzunehmen. Insgeheim hofft er, ihn dazu zu bewegen, ihm sein teures Studium zu bezahlen. Das Ergebnis der Aktion: Er geht mit der Punkrockband auf Tour und entdeckt dabei überraschende Wahrheiten über seinen Vater, seine Freunde und – am allerwichtigsten – über sich selbst.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 246

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Inhalt

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

PROLOG

Die Sache mit der Untersuchung aller Körperöffnungen ist die: Sie hat nichts mit einem Zahnarztbesuch zu tun. Schön wärs.

Man kann ihr verharmlosende Bezeichnungen geben, etwa »zusätzliche Kontrolle« oder »ergänzende Untersuchung«. Aber Fakt ist, man muss sich vornüberbeugen, wird an den Knöcheln angegrapscht und irgendein Fremder steckt seine Finger in einen sehr privaten Körperteil, in dem niemand herumstöbern sollte.

Versteht mich nicht falsch. Es hinterlässt keine lebens langen Wunden. Man leidet hinterher nicht unter posttraumatischem Stresssyndrom. Aber niemand, der so etwas einmal erlebt hat, ist wieder so, wie er einmal war. Die Erfahrung ist einfach – intensiv.

Ich würde sogar noch weiter gehen. Es gibt zwei Sorten von Menschen auf dieser Welt: Diejenigen, die sich einer Ganzkörperuntersuchung unterziehen mussten, und diejenigen, die es bis jetzt vermeiden konnten. Diese Geschichte erzählt, wie ich in der falschen Kategorie landete.

Sie handelt auch noch von anderen Dingen. Eine Untersuchung aller Körperöffnungen sagt nichts darüber aus, was für ein Mensch du wirst. Als ich noch Vorsitzender der Jungen Republikaner an meiner Highschool, in Harvard angenommen und auf der Überholspur zu einem sechsstelligen Gehalt war, glaubte ich daran, dass man sein Schicksal selbst bestimmen kann. Mittlerweile weiß ich, dass wohl das Gegenteil der Fall ist. Man ist das Ergebnis dessen, was einem passiert. Eine Flipperkugel, die von Stoßfänger zu Stoßfänger prallt und hofft, dass die Flipperhebel nicht allzu viel anrichten. Diese Theorie – und wie ich auf sie kam – wurde Teil meiner unaufhaltsamen Reise in das kleine Zimmer, das die Polizeidirektion Cleveland das Untersuchungszimmer 3 nannte ...

KAPITEL 1

Die Begriffe »Junger Republikaner« und »Ganzkörperkontrolle« kommen nicht oft im Zusammenhang vor. Die Körperöffnungen von Republikanern werden einfach nicht untersucht. Nach Ansicht meiner ältesten Freundin Melinda Rapaport haben wir nicht mal Körperöffnungen.

Aber ich wurde nicht als Republikaner geboren. So etwas ist nicht vererbbar. Glaubt mir, ich kenne mich aus mit Genetik. Ich habe einen 400 Kilo schweren Gorilla namens McMurphy in meiner DNA, der mich unberechenbar macht.

Wir alle haben manchmal verrückte Einfälle, wer weiß woher. Ich für meinen Teil kann genau sagen, woher sie kommen. McMurphy ist schuld. Das ist das Einzige, was meine Mitgliedschaft bei den Republikanern mit Genetik zu tun hat: Ich bin den Republikanern beigetreten, um McMurphy im Zaum zu halten. Und genau genommen stimmt auch das nicht ganz.

Der eigentliche Grund war der Kongressabgeordnete DeLuca. Im Sommer vor zwei Jahren fing Gates an, DeLucas Wiederwahlkampagne zu unterstützen – Gates heißt eigentlich Caleb Drew, aber wir nennen ihn Gates, weil er ganz bestimmt der nächste Bill Gates werden wird. Fleming Norwood war auch mit dabei.

Eigentlich schaute ich nur beim Wahlkampfbüro vorbei, um den beiden Gesellschaft zu leisten, aber als ich dort Shelby Rostov mit Briefumschlägen hantieren sah, war es um mich geschehen. Blond, blaue Augen. Nicht einfach nur aufregend – Shelby war die Verkörperung von aufregend. Ich war so perplex, sie kam mir fast bekannt vor: »Hey, bist du nicht das Mädchen aus meinen wildesten Träumen?« Ich schnappte mir auf der Stelle einen Stapel Umschläge und half ihr.

»Frischfleisch?«, fragte sie. Ihr Lächeln war so strahlend, dass ich mich beherrschen musste, nicht zu blinzeln.

»Das Frischeste.« Langeweile brachte mich zu den Republikanern, Liebe ließ mich dort bleiben.

Der Kongressabgeordnete DeLuca war ein Typ, den man gerne unterstützte. Er schien so anders zu sein als andere Politiker. Erst einmal war er ziemlich jung, Ende dreißig, und mit einer Menge Charisma ausgestattet. Wenn er über ein Thema sprach, wollte man ihm unbedingt glauben. Seine Ansichten waren nicht superkonservativ, sie waren vernünftig. Das war auch das Motto seiner Kampagne: Die vernünftige Revolution.

Die einzige scharfe Kritik, die mir für meine Arbeit für den Abgeordneten entgegenschlug, kam von Melinda. Zu behaupten, sie wäre unrepublikanisch, wäre 1000 Prozent untertrieben. Rein äußerlich musste man sie irgendwo zwischen Punk und Gothic einordnen, aber im Innern war sie durch und durch liberal. Ihr Herz blutete für jeden Baum und jeden Kauz. Wenn es eine Kampagne für ethische Gleichbehandlung von Amöben geben würde, wäre sie dabei. Für sie gab es nichts Verachtenswerteres auf dieser Welt als das Profitstreben der Unternehmen, es sei denn, das Geld könnte dafür abgezweigt werden, Tipp-Ex zu kaufen und Christoph Columbus aus den Geschichtsbüchern zu streichen.

»Du bist den Republikanern beigetreten? Leo, was ist los mit dir?«

»Du solltest mal den Abgeordneten DeLuca treffen«, argumentierte ich, »er ist der Hammer.«

»Er ist der Teufel.«

»Wie bitte«, schnaubte ich.

»Oh, Entschuldigung – der Teufel ist natürlich der Typ mit dem spitzen Schwanz, der den Leuten nach der Seele trachtet. Wobei das übernatürliche Wesen Besseres zu tun hat, als sich damit zu beschäftigen, ob ich meine Zunge piercen lasse oder nicht. PS: Bewusstseinskontrolle.«

»Niemand kontrolliert mein Bewusstsein«, verteidigte ich mich.

»Seit ich dich kenne«, sagte sie dramatisch, »habe ich es nie für möglich gehalten, dass du auf die Große Lüge hereinfällst.«

Es hatte keinen Sinn, sich mit Melinda zu streiten, wenn sie einen Satz mit »Seit ich dich kenne« begann. Sie kannte mich länger als jeder andere, ausgenommen meine Eltern. Wir wuchsen zusammen auf, hauten uns gegenseitig Spielzeug über die Schädel, während unsere Mütter Kaffee tranken. So lange ich zurückdenken konn te, hat es immer diese Melinda gegeben. Sie wusste alles von mir, außer das mit McMurphy. Von ihm habe ich niemandem erzählt.

Melindas offizielle Reaktion auf meine Arbeit bei den Republikanern sah folgendermaßen aus: Sie stellte sich DeLucas Kontrahenten als Ehrenamtliche zur Verfügung. Bei den Demokraten? Von wegen. Sie setzte sich für einen Kandidaten namens Vinod Murti ein. Ich erinnere mich nicht mehr, von welcher Partei, aber seine einzigen beiden Themen waren Legalisierung von Marihuana und »yogisches Fliegen«. (Frag nicht.)

Kurz vor dem Wahltag ging Vinod das Geld aus, er verdrückte sich aus Connecticut und ließ seine Anhänger auf einer 1100-DollarRechnung beim hiesigen Veganer-Restaurant sitzen. Unser Mann gewann mit überwältigender Mehrheit.

Ich war total begeistert. Erfolg ist eine berauschende Sache.

Wie dreist Melinda war, konnte man daran sehen, dass sie tatsächlich erwartete, dass ich sie zur Siegesfeier mitnahm, die der Abgeordnete DeLuca für seine Wahlkampfmannschaft auf einem Schiff veranstaltete.

»Auf keinen Fall!«, sagte ich, »du hast seinen Gegenkandidaten unterstützt. Geh doch auf seine Party – vielleicht hat er ja ein Ruderboot gemietet.«

Schon als ich mit ihr diskutierte, wusste ich, wie alles enden würde. Sie würde mitkommen, und zwar an meiner Seite. Punkt. Es waren keine Drohungen, keine Bestechung im Spiel. Sie weigerte sich einfach mein Nein zu akzeptieren. Also kam sie mit.

Sie war zu dem Zeitpunkt schon ziemlich punkig und fiel auf wie ein bunter Hund.

Die Bootsfahrt war ein Alptraum. Gates konnte die ganze Zeit seinen Blick nicht von ihr abwenden, als hätte ein außergewöhnlich seltenes Äffchen irgendwie den Weg auf unser Schiff gefunden. Auf der gesamten Fahrt zog sie vom Bug bis zum Heck und wieder zurück über den Kongressabgeordneten her. Mit Fleming geriet sie in eine Auseinandersetzung über ihre Spinnennetztätowierung, die damit endete, dass sie ihm den Finger zeigte – vor der Hälfte aller versammelten Republikaner aus Connecticut.

»Ist das etwa deine Freundin, Leo?«, fragte Shelby beeindruckt. Ich versuchte, die Frage mit einem Lächeln abzutun: »Um Gottes willen.«

»Aber sie ist mit dir hier, oder?«

Was sollte ich tun? Es abstreiten?

»Wir sind alte Freunde«, murmelte ich, »ungefähr seit der Kreidezeit.«

Später sah ich Shelby mit Fleming auf dem Achterdeck rummachen. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass es eine Empfehlung ist, von einem Gothic-Punk den Stinkefinger gezeigt zu bekommen, hätte ich mit Melinda vereinbart, dass sie mir einen Fausthieb versetzen soll.

Es war nicht die beste Party meines Lebens. Immerhin war es aber der Abend, an dem DeLuca uns anbot, den Ortsverband der Jungen Republikaner an der East Brickfield Township High School zu sponsern. In diesem Moment, im Glanze seines Wahlsiegs, wären wir mit dem Mann glatt über die Reling in das kalte Wasser des Long Island Sounds gesprungen. Wir waren verraten und verkauft.

Der Witz an der Sache war, dass ich die ganze Zeit Himmel und Erde in Bewegung setzte, um Melinda von DeLuca fernzuhalten. Verständlich, oder? Der angesehene Gentleman aus Connecticut sollte auf seiner eigenen Party nicht auch noch beleidigt werden.

Aber als sich ihre Wege an diesem Abend zwangsläufig kreuzten, war Melinda total höflich und voller Respekt. Sie gab ihm sogar die Hand und gratulierte zu seinem Wahlsieg.

Das war das Komischste überhaupt an Melinda. Wenn man dachte, man hätte sie durchschaut, tat sie genau das Gegenteil von dem, was man erwartete.

Gates glotzte nur noch. Ich glaube, sie jagte ihm Angst ein. Was Shelby betrifft: Ich glaube nicht, dass ich tatsächlich in sie verliebt war. Vermutlich war das nur McMurphy.

 

Warum konnte Melinda mich herumschubsen? Okay, sie war stur und zielstrebig, aber sie war nicht die Mafia. Ich hätte einfach Nein sagen und dabei bleiben müssen. Das habe ich nie hingekriegt. Aus irgendeinem Grund brachte ich es nicht fertig, mich gegen sie durchzusetzen.

Aber hingezogen zu ihr fühlte ich mich auch nicht. Mit ihren schwarzen Klamotten, schwarzen Haaren, schwarzem Lippenstift, schwarzem Nagellack und schwarzen Tattoos war sie nicht gerade mein Typ. Der Nasenring (aus Gold) war das einzige nicht Schwarze an ihr. Sie war nicht nur verrückt nach Punkbands mit Namen wie Purge oder Sphincter 8, sie sah auch noch so aus wie sie.

Versteh mich nicht falsch. Auf der Verrücktheitsskala unserer Highschool kam sie nicht über eine Sieben hinaus. Andererseits war Melinda auch nicht das typische Mädchen von nebenan, außer man lebte vielleicht in der Mockingbird Lane 1311 und hatte die Munsters als Nachbarn.

Vergeblich versuchte ich, ihr die Meinung zu sagen. Ich kannte sie genauso gut wie sie mich. Je mehr sie zum Punk und Gothic wurde, desto weniger konnte sie mir was vormachen. Vegetarier, die sich makrobiotisch ernähren, sind keine echten Punks. Die essen lieber rohes Fleisch.

Aber jedes Mal, wenn ich sie zurechtweisen wollte, erinnerte ich mich an jenen Tag in der fünften Klasse. Unsere Väter fuhren jeden Morgen mit demselben Zug in die Stadt. Und diesmal war mein Dad an der Reihe, den Kaffee zu besorgen. Als er mit den beiden Bechern zurückkam, war Mr. Rapaport auf dem Bahnsteig zusammengebrochen. Herzinfarkt. Er wachte nicht wieder auf. Gegen Ende jener Woche schmiss mein Vater seinen Job an der Wall Street und kaufte einen kleinen Eisenwarenladen bei uns im Ort.

Jedes Mal, wenn ich ihr also die Meinung sagen wollte, hielt ich mich doch zurück und ließ sie in Ruhe. Wohl aus dem Schuldgefühl heraus, dass ich einen Vater habe und sie nicht.

 

KAPITEL 2

Republikaner an der Highschool. Ich weiß schon, wonach sich das anhört: Ein Haufen adretter Langweiler, die zu klein für Basketball und zu dünn für Football sind. Also beschäftigen sie sich mit Börsenspielen und fiktiven Aktienbeständen und unterhalten sich darüber, welchen Range Rover sie sich später kaufen. Aber mal ehrlich. So schlimm waren wir gar nicht. Wir schauten nicht auf jedermann herab. Wir zogen nur unser Ding durch. Und es war kein Nachteil, dass ich dabei auch McMurphy im Zaum halten konnte.

Ich wusste nicht viel von dem blinden Passagier in meiner DNA, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er kein Republikaner war.

Meistens hing ich mit Gates und Fleming und Shelby rum, denen es inzwischen richtig ernst miteinander war. Zum Glück war ich über sie hinweg, aber ich vermutete, dass McMurphy sie immer noch heimlich anschmachtete, denn nichts verschaffte mir größere Genugtuung als gegen Fleming zu gewinnen. Als mein virtuelles Aktiendepot seines gegen Ende des Schuljahres überflügelte, war ich so außer mir vor Freude, dass man hätte annehmen können, die 56 Millionen wären nicht nur virtuell.

Melinda ließ sich nicht davon abbringen, mich liberalisieren zu wollen. »Reg dich ab, es ist nur ein Schulverein«, wehrte ich mich, »ich bin nicht heroinabhängig geworden.«

Sie hätte es wohl besser gefunden, wenn ich auf Drogen gewesen wäre. »Du bist erst 16 und denkst nur daran, wie viel Geld du in zehn Jahren verdienen wirst. PS: Kann ich jetzt schon kotzen oder erst später, wenn ich zu Hause bin?«

»Was ist so schlecht an Geld?«, wollte ich wissen. »Irgendwann werden wir uns sowieso für einen Beruf entscheiden, warum nicht für einen guten? Wenn ich den ganzen Tag arbeiten muss, soll wenigstens was dabei rumkommen.«

»Oh, allmächtiger Dollar, wir geloben dich zu ehren!« Melinda war Mitglied der Theatergruppe, bis es zum großen Zerwürfnis kam. (Es gibt keine Goths in Bye Bye Birdie und Melinda würde auch keine Caprihosen anziehen, wenn man sie mit einer Axt dazu zwänge.) »Was ist mit Spaß? Und Liebe?«

»Auch reiche Leute verlieben sich.« Mir blieb die Ironie nicht verborgen, dass ich meinen Lebensentwurf gegenüber jemandem rechtfertigte, der mal versucht hatte, sich einen Hühnerknochen durch die Nase zu ziehen.

Sie hörte nicht mal zu. »Was ist mit Ideen? Bis vier Uhr morgens aufbleiben und über einen tollen Film oder ein tolles Buch diskutieren? Was ist mit Kunst?«

»Kunst ist eine fantastische Geldanlage«, sagte ich zu ihr. »Weißt du eigentlich, wie viel ein Renoir heutzutage einbringt?«

Ich weiß gar nicht, warum ich mir so viele Sorgen um sie machte. Sie war der zäheste Mensch, den ich kannte.

Während wir uns unterhielten, versuchte so ein Typ aus der Basketballmannschaft mit seinem Tablett hinter ihr vorbeizugehen. Melinda hatte die Angewohnheit, die Sitzbank in der Cafeteria so weit abzurücken, dass sie allen mit ihren klobigen schwarzen Motorradstiefeln im Weg war.

»Freak«, zischt er leise, als er sich vorbeizwängte. Erstaunlich, dass sie es überhaupt hörte. Ich hatte es kaum verstanden. Ohne das Gespräch über Filme, Bücher und Kunst zu unterbrechen, wuchtete sie ihren Ellenbogen gegen die Unterseite seines Tabletts. Oh, Wunder der Physik: Das ganze Hacksteak mit Kartoffelpüree verteilte sich über ihn.

Der Typ drehte sich um: »Hey ...!« Sie stoppte ihn mit einem einzigen Blick, nicht drohend, nicht mal herausfordernd. Als ob es laut ausgesprochen worden wäre, stellte sie klar: Deine Meinung interessiert einen Scheißdreck.

Laut sagte sie: »Ups, ich hatte einen Krampf, das wollte ich nicht.«

Er entschied, es hinzunehmen, von Kopf bis Fuß mit seinem Mittagessen bekleckert zu sein, wenn er dadurch die unschöne Szene vermeiden konnte, die sich sonst zusammenzubrauen drohte. Schnell erspähte er ein paar Basketballkumpel und eilte zu ihnen.

Melinda wandte sich wieder mir zu: »Was ist mit Musik?«

Die Frage hatte ich erwartet. Melinda war nicht einfach nur ein Fan. Melinda lebte und atmete Musik. Zumindest bezeichnete sie das, was sie hörte, als Musik. Ich für mein Teil war nicht sonderlich auf dem Laufenden, aber ich würde von mir behaupten, dass ich einen ganz guten Geschmack hatte. Der Lärm allerdings, den Melinda hörte, war der schlimmste Alptraum seit den Atombombenversuchen bei Yucca Flats. Sogar die Genrenamen klangen wie ein Vorstrafenregister: Punk, Thrash, Headbanger, Metal, Hardcore. Versteht sich von selbst, dass ich nichts damit anfangen konnte. Aber ich kapierte nicht mal, was daran überhaupt Musik sein sollte.

»Pass auf«, traute ich mich, »dir gefällt das, was dir gefällt. Ich finde andere Sachen gut. Wie oft hast du mir schon Vorträge über Toleranz gehalten? Dann musst du auch meine Eigenheiten tolerieren.«

»Ich würde ja alles akzeptieren – wenn es dein wahres Selbst wäre.«

Wie sollte man mit jemanden diskutieren, der alles besser wusste?

Zum Glück war ich mit jemandem befreundet, der wirklich alles besser wusste. Der gute alte Gates. Es wäre nicht über trieben, zu behaupten, dass er das Internet auswendig konnte. Gates war es auch, der herausfand, dass Melinda unter dem Namen Kafka-Dreams regelmäßig in der Online-Community Graffiti-Wall.usa schrieb. Das Motto von Graffiti-Wall war »Hochladen, Runter-laden, Abladen«, was ganz gut zu Melinda passte, insbesondere der Teil mit dem Abladen.

Trotzdem ...

»Woher weißt du, dass sie es ist?«

Er reichte mir sein PDA, ein alter Casio, den er irgendwie neu verdrahtet hatte, um Radiosignale aus der Andromedagalaxie zu empfangen.

KafkaDreams Wall of Shame

Top (Flop) 5 der allerschlimmsten Dinge:

1. Krieg. Es reicht. PS: Camouflage ist scheiße.

2. Sportler. Nur weil du einen Ball in einen Korb werfen kannst, heißt das nicht, dass dir die Welt zu Füßen liegt. Auf wachen! Riechst du das Fußpilzspray?

3. Homophobie. Ich werde eine Bürgerwehr gründen, die was gegen intolerante Leute hat.

4. Junge Republikaner. Was für ein Haufen Hirnis. PS: So viel Trägheit habe ich seit dem großen Abführmittel-Embargo nicht gesehen.

5. Nur zwei Wörter: Fast Food. Noch zwei: Krankhafte Fettsucht. COUSCOUS IST SUPER!!!

»Wie bist du darauf gestoßen?«, fragte ich Gates.

»Ich habe die Daten gescannt, die über den Schulserver liefen«, erklärte er.

»Alle?«

»Ich habe nach ›Couscous‹ gesucht. Davon hat sie auf der Bootsfahrt gesprochen. Sie meinte, das Buffet dort würde unmittelbar Herzinfarkt verursachen.«

Er hatte recht. Gates hatte immer recht. Das hörte sich haargenau nach Melinda an. Aber warum verschwendete ein vielbeschäftigter Computersuperstar wie er seine Zeit damit? Es sei denn ... »Du bist in Melinda verknallt?«

Er stritt es nicht ab. »Was wäre so schlimm daran?«

»Sie sieht wie ein Vampir aus«, ließ Fleming aus den Tiefen des Wall Street Journals verlauten.

»Geh zurück zu deinen Aktien«, sagte ich zu ihm. Ich durfte Melinda heruntermachen, aber es ging mir auf die Nerven, wenn Fleming das tat.

Gates zuckte mit den Achseln: »Ich glaube, sie könnte sich ganz nett zurechtmachen.«

Fleming spähte hinter seiner Zeitung hervor: »Alter, irgendwann wirst du die Welt regieren. Der Präsident von Microsoft kann nicht mit einem Mutanten verheiratet sein.«

Ich sah Gates an: »Meinst du das ernst ... Melinda?«

»Ja, klar.« Ein albernes Grinsen zerteilte sein Gesicht. »Sie ist so ... aufgeweckt.«

»Melinda Rapaport?« Ich wollte ihn nicht ärgern. Ich versuchte ihn nur zu verstehen. Ich kannte Melinda schon mein ganzes Leben, aber niemals hatte ich sie als Mädchen wahrgenommen. Kein Wunder, bei dem ganzen Gothic-Kram.

Sie passte überhaupt nicht zu Gates, der nicht einfach nur brillant war, sondern eben auch ein ziemlicher Nerd. Ein Typ wie er sollte bei ihrem Anblick eigentlich vor Schreck das Weite suchen. Sogar ihre Postings passten besser zu einem Anarchisten als zu einem Highschoolmädchen.

18. 12.

Jeden Tag gehen wir in die Schule. Warum? Weil wir müssen? Und was wollen sie machen, wenn niemand hingehen würde? Uns ALLE ins Gefängnis werfen? Wir sind ganz schöne Schafe! PS: Määäääh!

17. 1.

Das Problem mit Schwächlingen ist, dass sie zu schwach sind, um zu schnallen, was für Schwächlinge sie sind.

10. 2.

Das Leben ist zu kurz, um nett zu Leuten zu sein, die du hasst. Die Uhr tickt, während du lächelnd irgendeinem Arschloch zuhörst. Ziemlich bald wirst du unter einem großen Stück Marmor begraben sein, auf dem geschrieben steht:

Hier ruht ein Idiot, der sein Leben damit verplempert hat, nett zu Leuten zu sein, die es nicht wert waren.

Aufgeweckt? Verrückt traf es wohl eher. Gates sollte mal seinen Kopf untersuchen lassen! Mein Blick fiel auf den letzten Beitrag.

22. 3.

Sieben Jahre seit Dad gestorben ist. Habe immer noch sein Gesicht vor Augen, aber kann mich anscheinend nicht mehr an seine Stimme erinnern.

Immer, wenn ich dachte, ich wüsste über sie Bescheid, passierte irgendwas, das mich daran erinnerte, dass Melinda genauso gut von einem anderen Planeten hätte stammen können.

»Weißt du, wer in dich verknallt ist?«, fragte ich sie am nächsten Tag beim Mittag.

Sie sah mich an, als ob ich ihren Hund erschossen hätte. »Komm mir nicht blöd, Leo. Du hast gesehen, was mit Leuten passiert, die sich mit mir anlegen.«

»Willst du nun wissen, wer es ist, oder nicht?«

»Na ja, offenbar willst du es mir unbedingt erzählen«, sagte sie, »also schieß los.«

Und als ich den Namen aussprach, wusste sie nicht mal, wer Gates war. Sie erinnerte sich wohl an Caleb Drew – aber niemand nannte ihn mehr so, seit seine Wurstfinger zum ersten Mal einen Laptop angefasst hatten.

»Dieser Typ?« Sie war verärgert. »Hör auf mich zu verarschen.« »Ehrlich, der Typ steht auf dich! Das ist die Wahrheit!«

»Aber er ist einer von euch«, betonte sie. »Der Partei des Von–den-Armen-nehmen-und-den-Reichen-geben. PS: Er kennt mich ja noch nicht mal.«

Ich wollte nicht zugeben, dass Gates ihre geheime Internet-Identität herausgefunden hatte. Sie würde ja denken, er wäre ein Stalker oder so was. »Er bewundert dich von Weitem. So was kommt vor ...«

»Ich würde niemals mit einem Republikaner ausgehen«, sagte sie resolut.

»Also, wenn er dich fragt, sag einfach Nein und halt keine politische Grundsatzrede«, bat ich sie. »Er ist ein guter Kerl, auch wenn er einen lausigen Frauengeschmack hat.«

»Hey, ich fühle mich geschmeichelt. Er hat mich mehr als einmal angeschaut, obwohl ich gar keine Festplatte habe.«

Und jetzt ein weiteres Beispiel für ihre Dreistigkeit: Während sie gerade dabei war, einen Freund von mir runterzumachen, besaß sie die Frechheit, mich zu fragen, ob ich nicht ihrem Freund Owen Stevenson Nachhilfe in Algebra geben könnte.

»Vergiss es«, sagte ich ihr. »Wenn dir Gates’ Gefühle egal sind, sind mir Owens Algebranoten erst recht egal.«

Auf einmal fuchtelte sie voller Empörung mit ihrem schwarzen Fingernagel einen Zentimeter vor meinem linken Auge herum: »Du bist homophob!«

»Ich habe kein Problem damit, dass Owen schwul ist«, verteidigte ich mich. »Ich habe ein Problem damit, dass er glaubt, schlauer als alle anderen zu sein.«

»Er ist hochbegabt«, beharrte sie. »Und das meine nicht nur ich, sondern auch der Staat Connecticut.«

»Und warum braucht er dann Nachhilfe?«

»Mathe ist seine Schwachstelle.«

Ich schnaubte verächtlich: »Und Englisch, Geschichte, Erdkunde, Naturwissenschaften ...«

»Stimmt nicht!«

»Er ist nicht mal gut darin, schwul zu sein. Wann hast du ihn das letzte Mal mit einem festen Freund gesehen?«

»Wann haben wir dich das letzte Mal mit einer festen Freundin gesehen?«, feuerte sie zurück. »Schätze, du bist dann wohl auch kein guter Hetero.«

Ich verkniff mir, Melinda darauf hinzuweisen, dass ich vielleicht mit Shelby Rostov hätte zusammenkommen können, wenn sie mir nicht auf der Bootsfahrt dazwischengefunkt hätte.

»Du weißt, wie es bei Owen ist.« Sie ließ nicht locker.

»Er muss die ganzen Honour Courses nehmen. Er kann es sich nicht aussuchen.«

Da hatte sie recht. Mit sechs Jahren erzielte Owen bei einem Intelligenztest einen IQ von 180, was seine Lehrer und das Bildungsministerium von Connecticut tief beeindruckte. Mit der Einstufung als Genie kam der arme Junge aber einfach nicht zurecht. Dass die 180 vielleicht nur ein Zufallstreffer gewesen waren, zog niemand in Betracht. Owen war schlau genug, aber er konnte niemals die hohen Erwartungen erfüllen, die an ihn gestellt wurden. Ihm wurde nicht erlaubt, die Honour-Sachen aufzugeben, denn Connecticut glaubte immer noch an seinen ungeschliffenen Diamanten. Der Diamant selbst hatte dabei kein Mitspracherecht.

»Das ist nicht fair«, gestand ich ein.

»Du kannst ihm helfen«, versuchte sie mich zu überreden. »Du bist super in Mathe – McAllister-Stipendium, frühe Zusage von Harvard ...«

Ich ließ mich breitschlagen. Trotzdem war ich nicht dumm, ich wusste, dass sie es mir aufgequatscht hatte. Sie bahnte sich einfach ihren Weg. Ich war im Abschlussjahr, steckte bis zum Hals in Prüfungen und setzte Harvard aufs Spiel, wenn ich meine Noten nicht behaupten konnte. Trotzdem verbrachte ich meine Freizeit damit, dem Unbelehrbaren Nachhilfe zu geben.

Owen gestattete es mir, mit ihm zusammenzuarbeiten. Wie generös. Aber natürlich gab ich ihm keine Nachhilfe. Wir lernten zusammen.

»Ich hab gehört, dass du Probleme mit Vektoren hast.«

Owen musterte mich von oben bis unten. »Das Hemd passt nicht so gut zu dir. Du solltest einen Kragen tragen, damit dein Adamsapfel nicht so stark betont wird.«

Falls mein Adamsapfel wirklich groß war, schwoll er noch auf die doppelte Größe an, wenn ich mit Owen zu tun hatte. »Lass uns einfach weitermachen«, grunzte ich.

»Okay«, stimmte er zu. »Sag mir, was du nicht verstehst.«

So lief das die ganze Zeit. Nicht ich unterrichtete ihn, er gab mir Nachhilfe.

Scheinbar hatte ich eine Denkblockade bei Vektoren. Seit drei Wochen erklärte ich ihm alles von vorne bis hinten und von der Seite. Aber ich hätte genauso gut Suaheli sprechen können.

Jeden Tag fragte mich Melinda: »Wie läufts?«

Und wenn ich antwortete: »Nicht gut«, gab mir ihr Blick deutlich zu verstehen, dass sie mein Versagen auf Schwulenfeindlichkeit zurückführte.

Wir lernten weiter. Ich kann nicht behaupten, dass er mir nichts beibrachte. Meine Stimme war zu hoch, meine Hosen hätten sportlicher sein können; mit solchen Fingergelenken würde ich niemals Handmodel werden. Nur über Vektoren erfuhr ich nichts, was bedeutete, dass er nichts über Vektoren erfuhr.

Dann endlich der Durchbruch. Ich wusste, Owen liebte alte Flipper. Also nahm ich als Beispiel zur Berechnung von Vektoren den Weg einer Flipperkugel. Jede Richtungsänderung der Kugel hat eine bestimmte Länge und Richtung und daraus ergibt sich die Position der Kugel.

Hört sich bekannt an? Das war meine Flipperkugeltheorie. Natürlich habe ich das Prinzip nie außerhalb der linearen Algebra angewandt – bis ich die Wahrheit über McMurphy erfuhr.

Und er begriff es. Ich wusste, dass er es verstanden hatte, als er meinte: »Das sieht doch ganz gut für dich aus.«

Ich schnaubte vor Wut: »Hey Mann, ich weiß das alles schon.«

»Merkst du, was wir erreichen können, wenn wir zusammenarbeiten?«

»Du bist verrückt«, teilte ich ihm mit.

Aber Melinda war zufrieden. Und obwohl mir ihr Lob hätte egal sein können, ließ ich es mir auf der Zunge zergehen. Ich schaute sogar bei Graffiti-Wall.usa vorbei, um zu überprüfen, ob KafkaDreams meine Leistungen erwähnte. Folgender Eintrag kam dem am nächsten:

Spiele mit der Möglichkeit, dass die Leute vielleicht doch nicht alle totale Idioten sind. Könnte aber auch PMS sein.

Aus Sicherheitsgründen schrieben die Abschlussklassen den großen Algebratest gemeinsam in der Cafeteria. So fand ich mich an einem Tisch mit Connecticuts 180-IQ-Mann wieder.

Es hätte mir egal sein können. Ich hatte einen mehr als ausreichenden Beitrag für Melindas Freund geleistet. Aber als ich Owen dann wieder einmal auf verlorenem Posten sitzen sah, konnte ich meinen Blick nicht von seinem Prüfungsbogen abwenden. Tatsächlich war er bei Frage 12 angekommen: Vektoren.

Ich wollte schreien. Ich dachte an die drei Wochen Vorbereitungszeit. Unzählige Stunden, die ich damit verbracht hatte, zu diesem Typen durchzudringen. Und dann endlich der Durchbruch. So dachte ich jedenfalls. Er hat alles vergessen! Er hat wirklich alles vergessen!

Also machte ich den schicksalhaften Schritt. »Owen ...«, zischte ich, »die Flipperkugeln! Denk an die Flipperkugeln!«

Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter.

KAPITEL 3

Zum Glück mochte mich Mr. Borman, der stellvertretende Direktor. Das war einer der großen Vorteile einer Mitgliedschaft bei den Jungen Republikanern: ein guter Ruf bei unseren Lehrern. Sie dachten, ich würde es weit bringen, was dann wiederum ein gutes Licht auf die Schule werfen würde.

Aber reden in der Examensprüfung – das machte keinen guten Eindruck.

»Von Owen Stevenson abschreiben.« Er schaute mich missbilligend über seine Lesebrille hinweg an. »Warum erzählst du nicht, was passiert ist?«

Ich sagte die Wahrheit. »Ich habe nicht von Owen abgeschrieben. Ich habe ihm Nachhilfe gegeben. Es war kein Täuschungsversuch, Mr. Borman. Er kennt den Stoff.«

Der stellvertretende Direktor schob ein paar Blätter beiseite und warf mir einen manipulativen Blick zu.

Ein wenig verwirrt fuhr ich fort: »Mit Vektoren hat er sich schwergetan, aber letzten Endes hat er es kapiert. Ich habe ihm nichts vorgesagt. Ich wollte nur seinem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen und habe ihm ein Stichwort gegeben.«

Er beugte sich vornüber und sah mich mit warnendem Blick an. »Du sagst also, dass Owen geschummelt hat und nicht du.«

»Nein«, beharrte ich. »Niemand hat geschummelt. Es war nur ...«

»Ich glaube, ich weiß, was Schummeln ist«, unterbrach mich Mr. Borman. »Du hast selbst gesagt, dass Owen keine Ahnung von Vektoren hatte. Er hat dich dazu gezwungen, ihm die Lösung zu geben. Das ist ein Verstoß gegen die Schulregeln.«

»Aber so war es nicht«, protestierte ich. »Er hat mich nicht nach der Lösung gefragt. Wenn überhaupt, dann ...« Ich verstummte. Vor allem wollte ich mich wegen dieser Sache nicht in Schwierigkeiten bringen.

»Du solltest besser auspacken, Leo«, warnte mich Mr. Borman. »Es gab einen Verstoß gegen die ethischen Regeln und irgendjemand ist daran schuld. Du bist ein begabter junger Mann mit glänzenden Zukunftsaussichten. Wenn du es nicht warst, ist jetzt der Zeitpunkt, es zu sagen.«

Eine Alarmglocke schrillte in meinem Kopf. Mr. Borman war gar nicht daran interessiert, mir wegen dieser Nichtigkeit das Leben schwer zu machen. Er hatte es auf Owen abgesehen.

Es war irgendwie nachvollziehbar: Ich meine, dieser Junge kam mit einer meterdicken Akte des Bildungsministeriums von Connecticut daher, die ihn zu einer Art Messias machte, ein Arsch voll Papierkram inklusive, weil der Bundesstaat sein kleines Juwel gewissenhaft bis zur Volljährigkeit gefördert hat.

Und es hätte sich alles gelohnt, wenn Owen tatsächlich ein Genie gewesen wäre. Aber in der Highschool war diese IQ-Sache schon Schnee von gestern und es zeigte sich, dass er nicht viel schlauer als der Rest von uns war.

»Sehr vorbildlich, einem anderen Schüler Nachhilfe zu geben und eine führende Rolle zu übernehmen«, fuhr Mr. Borman fort, »aber du bist erwachsen. Deine Handlungen definieren deinen Charakter. – Was du sagst, was du tust, dein Umgang.«

Mir war klar, es gab eine Menge Gründe, Owen nervig zu finden, und die meisten hätte ich unterschrieben. Aber Mr. Borman konnte Owen nur deshalb nicht leiden, weil Owen schwul war.

Das war der Moment, in dem ich ihn spürte – den blinden Passagier in meinem genetischen Bauplan. Zwar waren es meine Gesichtsmuskeln, die sich verhärteten, aber ausgelöst durch McMurphys Dickköpfigkeit.

Seit eineinhalb Jahren war ich nun schon ein Junger Republikaner und redete über solche Sachen wie Charakter, während mich eigentlich nur beschäftigte, in Harvard angenommen zu werden und wie Shelby Rostov wohl in BH und Höschen aussieht. Hier, schien McMurphy mir sagen zu wollen, ging es nun um die wahre Bedeutung von Charakter. Konnte ich noch in den Spiegel schauen, wenn ich mich vom Vizedirektor dazu benutzen ließ, einem anderen Schüler etwas in die Schuhe zu schieben?