Jackson Opus - Im Bann des magischen Auges - Gordon Korman - E-Book

Jackson Opus - Im Bann des magischen Auges E-Book

Gordon Korman

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Beschreibung

Achtung, diese Reihe verursacht hypnotisches Lesefieber!

Jackson Opus kann sich nicht beschweren: Es läuft super für ihn! Nicht nur die Lehrer sind plötzlich völlig begeistert von Jackson, sondern auch das hübscheste Mädchen der Schule. In der Schulkantine kriegt er extragroße Portionen, und auf dem Basketballfeld zeigt er sich seit Neustem als wahrer Magier … Als Jax erfährt, was hinter dieser grandiosen Glücksträhne steckt, bleibt ihm erst mal die Luft weg: Er kann hypnotisieren! Ein geheimes Institut, angeblich im Dienste der Regierung, nimmt ihn auf, und er lernt, seine Kräfte gezielt einzusetzen. Doch prompt gerät er in eine finstere Verschwörung und hat alle Hände voll zu tun, seine Freunde, seine Familie, ja, die gesamte Welt zu retten!

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Seitenzahl: 279

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© Random House Australia

DER AUTOR

Gordon Korman, geboren 1963 in Montreal, Kanada, begann schon mit 12 Jahren an seinem ersten Roman zu schreiben, nahm sich dann eine kreative Pause, um zu studieren, und hat seither mehr als 55 Romane für Kinder und Jugendliche veröffentlicht, die vielfach ausgezeichnet wurden. Er lebt heute mit seiner Frau und seinen drei Kindern in New York.

Gordon Korman

JACKSON OPUS

Im Bann des magischen Auges

Aus dem Englischen von Silvia Schröer

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Erstmals als cbj Taschenbuch Oktober 2015© der deutschsprachigen Ausgabe: cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House, München 2015Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten© Gordon Korman 2013Zuerst erschienen 2013 unter dem Titel »The Hypnotists« bei Scholastic Press, New YorkÜbersetzung: Silvia SchröerLektorat: Kerstin KipkerUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotive: © Shutterstock (Angela Hawkey, mandritoiu, idea for life)CK ∙ Herstellung: cbSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-15067-9

www.cbj-verlag.de

Für Aviel und Daniel

1

Der Bus auf der Third Avenue hatte etwas Bösartiges an sich. Fast schon höhnisch stand er da, als Jackson Opus über den Bürgersteig hetzte, Fußgänger anrempelte und brüllte: »Hey! Hey! Warten Sie!«

Er hatte sich dem Bus bis auf zwei Meter genähert, als die Türen sich schlossen, die Luftdruckbremsen zischten und das lange, akkordeonartige Fahrzeug sich nahtlos in den Verkehr einfädelte.

Jax bremste ab. Verloren. Gleich darauf rumste von hinten Tommy Cicerelli in ihn hinein, dem gerade noch genug Puste blieb, um der Pickelcreme-Werbung auf dem Busheck ein paar deftige Schimpfwörter hinterherzubrüllen.

»Wir kommen zu spät«, prophezeite Jax. »Der Trainer wird uns so was von umbringen.«

»Wir können doch nicht zum Endspiel zu spät kommen!«, zeterte Tommy. »Vielleicht kommt gleich noch einer.«

Und tatsächlich erklomm noch ein M33 die Anhöhe. Die Jungs rasten zur Haltestelle … und schauten verzweifelt zu, wie der Fahrer an ihnen vorbeifuhr, ohne sie auch nur des geringsten Blickes zu würdigen.

Tommy drosch mit seiner Trainingstasche auf den Pfosten ein. »Hey, Mann, und wir?«

»Jetzt kommt bestimmt kein Bus mehr«, jaulte Jax auf. »Nicht nachdem zwei hintereinander gekommen sind.«

Aber knapp eine Minute später tauchte doch noch einer auf – auf der Frontscheibe stand deutlich die Liniennummer M33. Sogar vom anderen Ende der Straße aus konnten Jax und Tommy sehen, dass er gerammelt voll war. Der Fahrer konzentrierte sich auf den Horizont und schaute nicht einmal zu der Haltestelle hinüber, an der sie warteten.

»Er lässt uns einfach stehen!«, jammerte Tommy.

Verzweifelt trat Jax auf die Straße und winkte wie verrückt, bis er den Fahrer auf sich aufmerksam gemacht hatte. Während er dort auf der Fahrbahn stand, schoss ihm plötzlich ein Bild durch den Kopf, wie er auf jemanden im Bus wirken musste – ein zwölfjähriges Kind mitten in der Spur einer tonnenschweren röhrenden Maschine. Das Bild war lebendiger als ein Tagtraum. Für einen Augenblick sah er sich tatsächlich selbst durch das Glas der Windschutzscheibe, wie er größer und größer wurde, während der Bus auf ihn zuhielt.

Er rührte sich nicht von der Stelle. Hier ging es um kein normales Spiel, es ging nicht mal um die Play-offs. Hier ging es ums Finale.

Metall kreischte auf Metall und das riesige Fahrzeug kam schlingernd zum Stehen. Jax und Tommy warfen sich ihre Taschen über die Schultern und quetschten sich hinein.

»Opus, du bist ein Held!«, rief Tommy bewundernd.

»Ja, schon gut, aber Held hin oder her. Wenn wir nicht bis halb acht in Uptown sind, bin ich ein toter Held.« Als Jax sich vorbeugte, um seine Monatskarte durchzuziehen, fiel sein Blick auf den Fahrer. Der Mann starrte ihn mit ausdruckslosem Gesicht an.

»Dem Typen hast du einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, flüsterte Tommy. »Sogar in New York tritt nicht alle Tage irgendein Idiot vor einen fahrenden Bus.«

Jax wurde rot. »Entschuldigen Sie, Mister. Wir sind nur echt spät dran. Sie müssen uns so schnell wie möglich zur Neunundsechzigsten Straße bringen.«

Die Türen schlossen sich zischend, und der Bus fuhr los Richtung Norden, immer schneller und schneller. An der Vierzehnten fuhr er über eine gelbe Ampel und brauste die Straße hinauf. Mehrmals läutete die Haltewunschtaste, aber der Fahrer fuhr weiter.

»Hey!«, meldete sich eine Stimme. »Sie sind an meinem Block vorbeigefahren!«

Der Fahrer gab keine Antwort. Er kauerte hinter dem großen Steuer, schlängelte sich durch den Abendverkehr und beschleunigte bis zur Geschwindigkeitsbegrenzung und weit darüber hinaus. Hupen ertönten, und Reifen quietschten, als verschreckte Autofahrer ausscherten, um sich in Sicherheit zu bringen. Fußgänger rannten um ihr Leben.

Jax starrte den Fahrer mit großen Augen an. War er durchgedreht? Das war ein Ziehharmonika-Bus und kein Rennwagen! Die Straßen in der Stadt waren überfüllt, Ampeln an jeder Ecke, und der Kerl drückte das Gaspedal voll durch!

»Alter, das ist der beste Bus in ganz New York!«, rief Tommy. »Vielleicht schaffen wir es doch noch rechtzeitig.«

Wortlos sah Jax aus dem Fenster, während die Blocks nur so vorbeirauschten. Ampeln sprangen auf Rot, aber der Fahrer mähte geradewegs über sie hinweg. Querverkehr kam quietschend zum Stehen. Es schepperte, als ein Taxi versuchte, dem rasenden M33 rückwärts auszuweichen, und auf den Kühlergrill eines SUVs prallte.

Die Reaktion der Fahrgäste wechselte von Erstaunen über Wut zu totaler Panik.

»Sind Sie verrückt geworden, Mister?«

»Sie haben da hinten einen Unfall verursacht!«

»Sie sind anderthalb Meilen an meiner Haltestelle vorbei!«

»Sie werden uns alle umbringen!«

»Ich rufe die Polizei!«

Als sie über die Neunundfünfzigste walzten, rumpelte ein langsamer Müllwagen ihnen direkt in den Weg. Der Fahrer riss das Steuer so abrupt herum, dass sein Kopf gegen die Seitenscheibe prallte. Sitzende Fahrgäste wurden von ihren Plätzen geschleudert, und die stehenden schwankten und hielten sich fest, als würde ihr Leben davon abhängen. Schreie ertönten und Handys krachten zu Boden. Jax klammerte sich am Geländer fest, um nicht die Treppen an der Eingangstür hinunterzufallen. Tommy wurde gegen die Tür gequetscht. Der ganze Innenraum vibrierte wie eine Gitarrensaite.

Der Bus schoss in die Lücke zwischen dem Müllwagen und einer Reihe Taxis, ratterte über ein paar auf der Straße liegenden Abeckplatten an einer Baustelle vorbei und fuhr in raketenartiger Geschwindigkeit weiter. Jetzt war das Fahrzeug vollends der König der Straße. Fußgänger und Autos stoben auseinander, um ihm Platz zu machen. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel reichte aus, und schon fasste ein Autofahrer oder eine Autofahrerin den Entschluss, sich besser nicht mit diesem rasenden schweren Brummer anzulegen, der die Straße entlangpflügte und dabei sein am Ziehharmonika-Gelenk befestigtes Hinterteil wie eine Haifischflosse schwang.

Im Inneren war die Hölle los – Wutschreie, Todesangstgebrüll und sogar Gebete konnte man hören. Ein Mann war von seinem Sitz aufgesprungen und versuchte, dem Fahrer das Lenkrad zu entreißen. Aber der hielt ihn mit steifem Arm von sich fern.

Jax und Tommy machten große Augen. Basketball war inzwischen das Letzte, was sie interessierte. Was war hier los? Wie viel Angst mussten sie haben? Beide waren Stadtkinder, schwer zu beeindrucken. Aber sie hatten Geschichten von Leuten gehört, die durchgedreht sind und verrückte Dinge angestellt haben. War es das, was gerade mit dem Fahrer passierte? Und hatten sie einfach Pech gehabt, dass sie genau an dem Tag in den Bus gestiegen sind, an dem irgendein Tropfen sein Fass zum Überlaufen gebracht hatte und er ausrastete?

Das Kreischen der Bremsen war ohrenbetäubend. Bücher und lose Gegenstände flogen durch die Luft. Geschäftsmänner kippten um wie Dominosteine. Jax wurde gegen eine Trennwand geschleudert. Tommy fiel auf ihn drauf. Im letzten Moment riss Jax seine Trainingstasche hoch und verhinderte eine Kopf-an-Kopf-Kollision, die sie beide k. o. geschlagen hätte. In wenigen verheerenden Sekunden war der Bus ruckartig von raketenartiger Geschwindigkeit zu einem vollständigen Halt gekommen.

Die Türen fuhren zischend auf. »Neunundsechzigste Straße«, verkündete der Fahrer freundlich.

Schmerzensschreie und Angstgewimmer erfüllten das lange Fahrzeug. Begraben unter Tommy und mit hämmerndem Herzen, brachte Jax nichts weiter hervor als ein einfaches »Hä?«.

»Neunundsechzigste«, wiederholte der Mann. »Einen schönen Tag noch.«

Jax und Tommy stiegen aus – sie waren nicht die Einzigen. Scharen von keuchenden und vor Erleichterung schnaufenden Fahrgästen flohen in die Sicherheit des Bürgersteigs. Dass die meisten von ihnen sich weit weg von ihrem eigentlichen Ziel befanden, störte sie nicht mehr. Sie hatten dem Tod ins Auge geblickt. Am Leben zu sein, war ein klarer Pluspunkt an diesem Tag.

Als der Bus komplett leer war, fuhr der Fahrer mit einem freundlichen Winken weiter, was von seinen ehemaligen Fahrgästen mit einem Chor aus wütendem Gebrüll quittiert wurde.

Jax hörte Sirenen in der Ferne. Er bemühte sich immer noch, wieder normal zu atmen. »Wie abgefahren war das denn?«

Doch Tommy warf nur einen Blick an ihm vorbei auf die Turmuhr an der Ecke. »Wir können es noch schaffen! Los, lauf!«

2

»Noch später ging’s nicht, was?«, blaffte Coach Knapp der Furchtlosen Westside Bullen, als Jax und Tommy in die Umkleide der Sporthalle kamen.

»Auf der Third Avenue war Chaos«, verteidigte sie Tommy und fing an, seine Straßenklamotten auszuziehen.

»Wir gehen raus zum Aufwärmen«, teilte Knapp ihnen mit. »Zieht eure Trikots an. Wir treffen uns auf dem Feld.«

Jax streifte sein Hemd ab und zog sich sein Trikot über den Kopf. Er warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Seine Augen waren wieder blau auf dem Weg zu blassgrün. Er war sich aber ganz sicher, dass seine ständig wechselnde Augenfarbe im Bus fast violett gewesen war. Stress brachte den Lila-Farbton hervor. Manchmal war es ihm peinlich, dass er durch seine Augen wie ein Stimmungsring sein Innerstes offenbarte. Den meisten Leuten fiel der Farbwechsel nicht auf. Und doch merkten viele, dass etwas anders war. Oft fragte jemand: »Warst du beim Friseur?« oder »Hast du abgenommen?« oder sogar »Hattest du sonst nicht immer eine Brille auf?« Es war echt gewöhnungsbedürftig, ständig angestarrt oder angesprochen zu werden. Vielleicht war Tommy deshalb der ideale Freund – er war farbenblind und sah es nicht.

Wer aber auf jeden Fall etwas sah, als die Zuspätkommer auf dem Spielfeld einliefen, war Rodney Steadman, der Topscorer der Treffsicheren Schädlingsbekämpfenden Scharfschützen. Als Flügelspieler war es Jax’ Aufgabe den besten Spieler der Gothamer Liga zu decken. Obwohl der Sprungball noch nicht mal stattgefunden hatte, starrte Rodney ihn bereits an. Der Spieler mit der Doppelnull hatte bestimmt keine Angst vor dem schmächtigen Jackson Opus. Im Gegenteil: Rodney würde ihn wahrscheinlich schwindlig spielen. Davon ging zumindest Coach Knapp aus. Er hatte Jax die ganze Trainingswoche hindurch aufgebaut mit Motivationssprüchen wie: »Wenn du Steadman unter dreißig halten kannst, haben wir eine Chance« und »Egal, was du tust, lass ihn nicht sehen, dass du Angst hast. Diese Typen riechen Angst, wie ein Hai Blut im Wasser riecht«.

Also, falls man Angst riechen konnte, dann hatte Rodney die Witterung längst aufgenommen, denn Jax’ Augen hatten wahrscheinlich die Farbe von Lollis mit Traubengeschmack. Plötzlich blitzte vor Jax ein Bild auf und er sah sich selbst in seinem Basketballtrikot am Rande des Kreises stehen und auf den Sprungball warten.

Genauso war es gewesen, als er auf die Straße getreten war, um den Bus anzuhalten – ein kurzes Bild von sich selbst, als würde ihn jemand anders anschauen. Bei der Busgeschichte war das eindeutig dadurch ausgelöst worden, dass er Angst gehabt hatte, überfahren zu werden. Aber jetzt gerade hatte er nicht wirklich Angst, oder? Okay, er befürchtete, dass Rodney ihn im Spiel blamieren würde, aber das ließ sich ganz sicher nicht vergleichen mit der Aussicht, zerquetscht zu werden.

Jax hatte diese seltsamen Visionen jetzt schon seit mehreren Monaten – zu lange, um sie als Tagträume abzutun. Halluzinierte er? Vielleicht. Aber sah man bei Halluzinationen nicht Dinge, die nicht da waren? Er sah sich selbst, genau da, wo er gerade war, und genau das tun, was er gerade tat. Es war fast, als würden seine Augen von Kameras gespeist, die auf ihn gerichtet waren.

Jax hatte von etwas gehört, dass man außerkörperliche Erfahrungen nannte. War es das, was hier vor sich ging? Es war ziemlich gruselig, aber seine Internetrecherche hatte ergeben, dass so etwas jedem Zehnten schon mal passiert war. Menschen berichteten davon, dass sie ihren eigenen Körper gesehen haben, als hätten sie über ihm geschwebt, aber das war Jax noch nie passiert. Außerkörperliche Erfahrungen wurden manchmal durch Nahtod-Erlebnisse ausgelöst. Zum Beispiel, wenn man von einem Bus überfahren wird.

Aber durch Lampenfieber vor einem Spiel? Das war ja wohl total lahm.

Jax blickte Rodney finster an, tat so, als wäre er nicht eingeschüchtert, und sagte: »Was glotzt du so, Mann? Du hast Schiss – so sieht’s aus.«

Diese Taktik ging nach hinten los. Rodney sah nicht weg. Der beste Spieler der Liga wusste, dass er von solchen Typen wie Jackson Opus nur wenig zu befürchten hatte.

Ein scharfer Pfiff aus der Pfeife holte ihn zurück aufs Spielfeld. Der Sprungball, der das Spiel eröffnete, war in der Luft, und die beiden Center sprangen danach. Die Scharfschützen sicherten sich den Ball und natürlich ging der Pass an Rodney. Jax stellte sich vor seinen Gegner, federte leicht auf den Fußsohlen. Seltsamerweise konzentrierte sich der Spieler mit der Doppelnull aber mehr auf den Verteidiger als auf den Ball. Er schien abgelenkt, dribbelte langsam und zu hoch, ganz klar über dem Hosenbund.

Jax ging dazwischen und nahm ihm den Ball ab. Er war von seiner Leistung so überrascht, dass er sich den Zeh auf dem Boden anstieß und hinfiel. Zum Glück schnappte Tommy sich den Ball und passte ihn quer über das Spielfeld zu Dante Marsh, dem Kapitän der Bullen, der einen Korbleger machte und den ersten Punkt im Spiel erzielte.

Die Bullen waren den hoch favorisierten Scharfschützen weit unterlegen, und doch wurde es ein ebenbürtiges Spiel, bei dem die Führung immer wieder hin und her wechselte. Es lag nicht daran, dass die Westside Bullen so gut oder die Scharfschützen so schlecht spielten – mit einer Ausnahme: Rodney Steadman. Er schien sich in Zeitlupentempo zu bewegen und war eindeutig nicht bei der Sache. Zwar landete er ein paar Treffer. Aber zur Halbzeit, wenn der beste Spieler der Liga normalerweise längst im zweistelligen Zahlenbereich unterwegs war, hatte er mickrige vier Punkte gemacht, und sein Team klammerte sich an eine 32:31-Führung.

»Was ist mit Steadman los?« Dante rang nach Luft und trank in großen Schlucken. »Er spielt, als würden seine Füße in Treibsand stecken!«

»Ja«, fügte der Aufbauspieler Gus Mayo hinzu. »Wir haben Glück, dass wir ihn an einem schlechten Tag erwischt haben.«

»Mit Glück hat das nichts zu tun«, widersprach Tommy. »Mein Kumpel Jax hier schaltet ihn komplett aus.«

»Ja, astreine Arbeit, Opus«, mischte Trainer Knapp sich ein. »Du scheinst echt mitzukriegen, was in seinem Kopf abgeht.«

Und Jax stimmte zu. Die Frage war nur: Wie? Wie gelang es ihm, den Spieler zu neutralisieren, der die ganze Saison über Hackfleisch aus der Verteidigung gemacht hat?

Als die Spieler sich fürs dritte Viertel bereit machten, legte Tommy seinen Arm um Jax. »Vier Punkte! So viel macht Steadman normalerweise, während er sich die Schnürsenkel bindet. Hat dir jemand ein vierblättriges Kleeblatt in deine Cornflakes geschmuggelt, oder was?«

Jax war beleidigt. »Eben hast du davon gesprochen, dass ich ihn komplett ausschalte!«

»Ich musste doch zu meinem besten Kumpel halten«, erklärte Tommy. »Aber wir beide wissen genau, dass du nicht so gut bist. Er sieht dich an, als wärest du LeBron.«

»Ich kapier’s nicht«, gab Jax zu. »Eigentlich sollte er mich zermalmen und ausspucken. Stattdessen sorgt er dafür, dass ich richtig gut dastehe.«

»Irgendwie starrt er dich an«, bemerkte Tommy. »Wahrscheinlich steht er auf Pickelgesichter.«

»Vielen Dank auch!«

»Hey, ich find’s klasse«, fügte Tommy schnell hinzu. »Solange du Steadman nicht punkten lässt, kannst du von mir aus Miss Amerika sein.«

Der Trainer der Scharfschützen erinnerte seinen Star daran, dass er sich in den Angriff einzubringen hatte. Und Rodney gehorchte, warf öfter und zog zum Korb. Und wenn er das tat, kam es einem so natürlich und mühelos vor, dass Jax sich unwillkürlich fragen musste, warum der Topscorer es nicht jedes Mal so machte, wenn er im Ballbesitz war. In vollem Tempo konnte Jax Rodney Steadman nicht aufhalten. Keiner konnte das – jedenfalls nicht in der Gotham Liga.

»Vielleicht hast du doch nicht so viel Schiss, wie ich dachte«, sagte Jax mit einem verdrießlichen Lächeln.

Rodney starrte ihn an, als würde er versuchen, ein besonders verwirrendes Rätsel zu lösen.

Aber egal, ob der beste Spieler nun Angst hatte oder nicht, etwas hielt ihn jedenfalls zurück. Erst weit im letzten Viertel schaffte er es, in den zweistelligen Zahlenbereich vorzudringen. Bis dahin hätte das Selbstbewusstsein der Bullen in ihre Konkurrenzfähigkeit nicht höher sein können. Es ging nicht mehr länger darum, einen Kantersieg zu vermeiden. Zu gewinnen war nun eine reale Möglichkeit.

»Okay, Jungs«, feuerte Trainer Knapp sie an, als sie die letzten zwei Minuten mit einer Führung von 63:62 antraten. »Macht einfach weiter so und wir gehen hier als Sieger raus.«

Aber beim Basketball ist ein Vorsprung von einem Punkt hauchdünn. Rodney übernahm mit einem Sprungwurf aus drei Metern Entfernung wieder die Führung. Die Bullen legten nach, aber der Spieler mit der Doppelnull schlug wieder zu und erhöhte seine Gesamtpunktzahl auf vierzehn. Die Scharfschützen lagen mit einem Punkt vorn, und was vielleicht noch schlimmer war, ihr bester Spieler schien endlich warm zu werden.

»Was machst du da, Mann?«, zischte Tommy. »Warum lässt du ihn punkten?«

»So spiele ich sonst auch«, keuchte Jax. »Das davor hat keinen Sinn gemacht!«

Trainer Knapps Gesicht war hochrot. »So tu doch jemand etwas!«

Die Verteidigung der Scharfschützen wurde enger, und für einen Moment sah es aus, als würde die Zeit ablaufen, während die Bullen den Ball hin und her passten und auf eine Gelegenheit warteten, durch eine Lücke zum Korb zu ziehen.

»Wiiiiiiiirf!!«, brüllte der Trainer.

Der Schrei versetzte Gus in Aktion. Er setzte zu einem Verzweiflungswurf an, der von der Hand abprallte, die der Spieler der gegnerischen Mannschaft zur Abwehr hochgerissen hatte, in einem kraftlosen Bogen gegen das Brett eierte und in den Korb fiel. 67:66 für die Bullen. Es blieben noch genau fünf Sekunden.

Da keine Auszeiten mehr verblieben, schnappte Rodney Steadman sich den Ball nach dem Einwurf und rannte das Spielfeld hoch, den Siegeswurf in seinen Händen. Jax wusste sofort, dass er nicht passen würde. Die ganze Saison über waren die Scharfschützen erfolgreich gewesen, weil sie ihr Schicksal in die Hände des Spielers mit der Doppelnull gelegt hatten, und genau das taten sie auch heute Abend.

Die Uhr tickte. 4 … 3 … 2 …

Einen Schritt hinter der Freiwurflinie setzte Rodney zum Wurf an. Jax, der einen halben Schritt hinter seinem Mann auf der Strecke geblieben war, wusste, dass es nur einen Weg gab, um ihn aufzuhalten. Mit einem Hechtsprung warf er sich gegen den Schützen, genau in dem Moment, als die Uhr auf null sprang. Wäre das hier Football, dann wäre es ein Tackle wie aus dem Bilderbuch gewesen.

Aber es war kein Football. Foul.

Der Anschreiber setzte die Zeit um 0,1 Sekunden zurück und Rodney bekam zwei Freiwürfe. Die Bullen waren verzweifelt. Es war Jax’ einzige Möglichkeit gewesen, doch die Aktion hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Rodney war nämlich nicht nur der beste Spieler der Liga, sondern auch der König der Freiwürfe. Der erste Freiwurf würde das Unentschieden bringen, der zweite den Sieg.

Der Spieler mit der Doppelnull stellte sich an der Freiwurflinie auf und machte sich bereit, sein Team zum Meister zu krönen. Jax konnte nichts weiter tun, als seinen Platz einzunehmen und zuzuschauen, wie die Welt unterging. Rodney warf ihm einen Blick zu, als wollte er sagen: Netter Versuch, aber jetzt reicht’s.

Und ausgerechnet in diesem Moment kam die Vision. Jax sah sich selbst an der Linie neben dem Center der Scharfschützen stehen.

Jetzt? Warum hatte er ausgerechnet jetzt eine Vision? War die Aussicht zu verlieren wirklich so furchtbar?

Er schüttelte den Kopf, um ihn freizubekommen, und tat das Einzige, was er in dieser Situation tun konnte.

»Wirf daneben!«, murmelte er. »Wirf daneben!«

Der Ball flog hoch. Ein lautes Klonk war zu hören, als er das Metall traf und abprallte.

Beide Teams schnappten so vernehmlich nach Luft, dass kaum noch welche in der Sporthalle verblieb. Das änderte alles! Jetzt war das Beste, worauf die Scharfschützen hoffen konnten, Verlängerung. Und dafür musste Rodney immer noch einen Freiwurf versenken.

»Mach schon! Wirf daneben!«, flüsterte Jax wieder. »Wirf daneben, wirf daneben, wirf daneben!«

Die letzten beiden Worte hatte er so eindringlich hervorgestoßen, dass alle auf dem Spielfeld, Rodney eingeschlossen, zu ihm hinüberschauten.

Er wurde rot und nuschelte: »Entschuldigung.«

Er ließ den Kopf hängen und sah es deshalb nicht: Rodney Steadman, der beste Spieler der Liga, warf einen Airball, der den Korb so weit verfehlte, dass er fast außerhalb der Sporthalle landete. Endstand: 67:66 für die Furchtlosen Westside Bullen, die neuen Meister der Gotham Liga.

Eltern und Freunde stürmten auf das Spielfeld. Die Bänke leerten sich. Limo spritzte in alle Richtungen, als die Sieger sich gegenseitig die Flaschen über ihre Köpfe kippten. Der Freudentaumel war der reinste Wahnsinn – ein jubelnder Orkan aus Schulterklopfen und Highfives.

Jax erlebte das alles aus zwei verschiedenen Perspektiven. In einer befand er sich mitten drin auf der Bank der Bullen, hüpfte und brüllte mit seinen Teamkameraden und Trainern. Und dann hatte er noch ein Bild von sich selbst im Kopf, wie er im Zentrum des Tumults stand – als wäre er nicht Teil des Ganzen, sondern als würde er von der Mittellinie aus zuschauen.

Es war nicht nur die Vision, die ihn schockierte, sondern die Andeutung von Gefühlen, die in ihr mitschwang. Inmitten des Durcheinanders sprudelte er über vor lauter Freude über den großartigsten, unwahrscheinlichsten Sieg, den David gegen Goliath je in der Geschichte der Gotham Liga vollbracht hatte.

Wie konnte es also sein, dass er, gleich daneben in seiner Halluzination, ein bisschen traurig darüber war?

3

Der Bentley war eine edle, schnelle, leistungsstarke Maschine, was aber im Nachmittagsverkehr von Manhattan keinen Unterschied machte. Es war ein paar Tage nach dem Final-Spiel der Gotham Liga und Ashton Opus steckte auf der Achtundzwanzigsten Straße fest. Mehr um Spannung abzulassen als irgendetwas anderes, drückte er auf die Hupe. Die Autofahrerin vor ihm konnte weder vor noch zurück, und ebenso ging es dem Fahrer vor ihr, und so weiter und so fort durch den gesamten Verkehrskollaps hindurch. Begriff denn niemand, dass er zu seinem Sohn musste?

Viele frustrierende Blocks später hielt er vor dem Ärztehaus, gerade in dem Moment, als seine Frau Monica eilig die Subway-Station verließ.

»Hast du noch etwas gehört?«, keuchte sie atemlos vom Rennen.

»Ich bin auch gerade erst angekommen.« Jax’ Eltern hasteten in das Gebäude und ließen den Bentley im Halteverbot stehen. Mr Opus machte sich keine Sorgen, dass das Auto einen Strafzettel bekommen oder abgeschleppt werden könnte. Ein Dreihunderttausend-Dollar-Wagen flößte eine Menge Respekt ein. Er gab vor, jemand Einflussreichen in dieser Stadt zu gehören, und Leute mit Einfluss zahlten keine Strafzettel. Doch wie der Zufall es wollte, hatte Jax’ Vater sehr wenig Einfluss. Er war einfach nur der Verkaufsleiter in einem Bentley-Autohaus.

»Ich kann es nicht glauben!«, flüsterte seine Frau, als sie den Fahrstuhl in den dreizehnten Stock nahmen. »Warum sollte Jax sich bei einem Arzttermin danebenbenehmen? Ich verstehe nicht mal, was er eigentlich ausgefressen hat!«

Als sie in der Augenarztpraxis ankamen, war das Wartezimmer leer, bis auf ihren Sohn, der sich in Begleitung des Sicherheitsdienstes befand. Die Praxis war bis auf Weiteres geschlossen und Dr. Palma hatte man nach Hause gebracht.

»Es war nicht meine Schuld, Mom«, verteidigte sich Jax. »Der Arzt war’s. Er ist ausgeflippt! Ich habe nichts gemacht! Ehrlich!«

Jax’ Eltern sahen zum Sicherheitsdienst, der mit den Schultern zuckte. »Fragen Sie nicht mich. Bis ich hier oben war, rannten bereits alle durchs Wartezimmer, die Patienten suchten das Weite, und die Sprechstundenhilfen saßen auf dem Arzt.«

»Steckt Jax in Schwierigkeiten?«, fragte Mrs Opus besorgt.

»Niemand erstattet Anzeige«, antwortete der Mann. »Aber an Ihrer Stelle würde ich mich nach einem neuen Augenarzt umsehen. Man hat mir nur gesagt, dass ich bei dem Jungen warten soll, bis seine Eltern auftauchen. Das sind Sie doch, oder?«

Die Opus fackelten nicht lange und schoben ihren Sohn aus dem Gebäude hinaus in ein Café in der Nähe. Über einer dampfenden Tasse heißer Schokolade versuchte Jax die Ereignisse des Nachmittags wiederzugeben. »Er hat mir mit diesem blauen Licht in die Augen geschaut und plötzlich hat er sich einfach nicht mehr bewegt. Ich meine, richtig lang. Also habe ich ihm gesagt, dass ich noch Hausaufgaben machen muss, und ihn gefragt, ob es ihm etwas ausmachen würde, sich zu beeilen. Ich war nicht unhöflich – ich habe sogar Bitte gesagt. Aber da ist er ausgerastet, ist im Zimmer rumgerannt wie ein Irrer und hat dabei Sachen umgeworfen. Als er mit Augentropfen auf mich zukam, habe ich Angst gekriegt und gerufen: ›Lassen Sie mich in Ruhe‹. Na ja, und da ist er total durchgedreht. Er wollte niemanden in meine Nähe lassen. Jedes Mal wenn eine Arzthelferin ins Untersuchungszimmer kam, hat er sie gepackt und zu Boden geworfen. Und da haben sie den Sicherheitsdienst gerufen.« Er warf einen Blick auf seine Eltern, seine Augen verblassten gerade von Lila zu Königsblau. »Ich glaube, er ist einfach übergeschnappt.«

Mr Opus kratzte sich am Kopf. »Es wird dich keiner für den Nervenzusammenbruch eines anderen verantwortlich machen können.«

Mrs Opus legte eine Hand auf die Schulter ihres Sohnes. »Liebling, es tut mir so leid, dass du so etwas durchmachen musstest.«

»Warum musste ich überhaupt zum Augenarzt?«, beschwerte sich Jax. »Ich sehe gut.«

Seine Mutter sah verlegen aus. »Du weißt doch, wie die Farbe deiner Augen wechselt. Ich wollte nur sichergehen, dass dein Sehvermögen dadurch nicht beeinträchtigt ist.«

Wütend sah Jax sie an. »Ja, warte nur, bis du hörst, was er dazu gesagt hat. Er hat gesagt ›Das kann nicht sein‹. Wenn du mich schon zum Augenarzt schickst, hättest du wenigstens einen raussuchen können, der was von seinem Job versteht.«

»Natürlich kann es sein!«, rief seine Mutter. »Es liegt in der Familie deines Vaters. Stimmt’s, Ashton?«

Mr Opus wandte den Blick ab. »Na ja, es liegt nicht wirklich in der Familie, aber es gibt da ein paar Geschichten. Der Cousin meines Großvaters – der hatte es auch, wurde mir gesagt.«

»Und sein Sehvermögen war bestimmt ganz normal«, fügte seine Frau triumphierend hinzu.

»Ja, doch.« Ihr Mann klang ausweichend. »Sein Sehvermögen. Völlig uneingeschränkt.«

»Aber?«, ermunterte Jax ihn und spürte, dass es da noch etwas gab.

»Na ja, was weiß ich?«, sagte Mr Opus. »Ich habe den Kerl nie getroffen. Er starb, als ich ein Baby war. Es sind nur dumme Familiengerüchte, damit die alten Damen etwas zum Tuscheln hatten. Lasst uns jetzt nach Hause gehen.«

»Erst musst du mir diese sogenannten Gerüchte erzählen«, beharrte Jax.

»Es ist nicht der Rede wert. Es heißt, er sei verrückt gewesen.«

Jax wurde blass. »Wegen seinen Augen?«

»Natürlich nicht!«, rief seine Mutter. »Entschuldige, dass wir das überhaupt angesprochen haben. Wie kannst du so etwas denken?«

»Na ja«, gab Jax zu, »ich habe … neuerdings Probleme. Ich habe … Dinge gesehen.«

Sein Vater schaute alarmiert hoch. »Was für Dinge?«

»Meistens mich selbst«, versuchte Jax zu erklären. »Als wäre ich ein anderer und würde mir selbst zuschauen. Es dauert immer nur ein, zwei Sekunden, aber langsam mache ich mir deswegen Sorgen.«

Seine Eltern tauschten beunruhigte Blicke aus.

»Ich glaube«, sagte Mr Opus endlich nachdenklich, »dass wir alle uns irgendwann selbst sehen. Es ist keine echte Vision, aber wir reden uns ein, es sei eine.«

Jax schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Dad. Ich hatte gehofft, dass es aufhört, aber es kommt immer wieder. Heute in der Arztpraxis ist es auch passiert – kurz bevor Palma durchgedreht ist.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Mrs Opus. Sie war Chiropraktikerin und der festen Überzeugung, dass es für alles ein Heilmittel gab. »Wir werden dem Ganzen auf den Grund gehen.«

4

Neben den gerahmten Diplomen aus Harvard, Oxford und der Universität von Wien hing ein signiertes Schwarz-Weiß-Foto von Sigmund Freud, dem Vater der modernen Psychoanalyse. Dr. Gundenberg war der beste Kinderpsychiater in ganz New York und der teuerste zudem. Niemand zuckte auch nur mit der Wimper, wenn einer seiner Patienten in einem Bentley vorfuhr. Jax’ Mutter hatte zwar zu Jax gesagt, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche, aber allein die Tatsache, dass die Familie gewillt war, so viel Geld zum Fenster rauszuwerfen, um für ihren Sohn einen Seelenklempner zu bezahlen, zeigte, dass sich irgendwer sehr wohl jede Menge Sorgen machte.

Egal, wie viel Dr. Gundenberg tatsächlich in Rechnung stellen würde, Jax war überzeugt davon, dass es die reinste Abzocke war. Mehrmals hatte Jax versucht, seine Visionen zu beschreiben. Aber alles, worüber der Psychiater reden wollte, waren seine Träume.

»Aber Dr. Gundenberg«, protestierte er, »mit meinen Träumen habe ich keine Probleme. Meine Träume sind toll. Der Ärger geht erst los, wenn ich wach bin.«

»In deinen Träumen liegt der Schlüssel zu deinem Unterbewusstsein, junger Mann.« Dr. Gundenberg schien zwar kein Ausländer zu sein, aber trotzdem redete er mit einem künstlichen Akzent. Anscheinend glaubte er, ein besserer Psychiater zu sein, wenn er nicht nur Freuds größter Fan war, sondern zudem klang wie er.

»Ja, aber kann das Unterbewusstsein einem vorgaukeln, sich selbst aus zehn Metern Entfernung zu sehen?«, beharrte Jax.

Dr. Gundenberg beugte sich vor, sodass er Jax direkt ins Gesicht schaute. Das Licht spiegelte sich auf seiner Stirn, die sich über seinen kahlen Schädel bis hin zu seinem gestärkten Kragen zog. »Zweifelsohne ist es physikalisch völlig unmöglich, sich in einer Position zu befinden, von der aus man sich selbst aus der Entfernung beobachten kann.«

Jax wehrte sich. »Wollen Sie sagen, dass ich lüge?

»In dieser Praxis gibt es keine Lügen. Selbst, wenn du die Unwahrheit sprichst, offenbaren sich mir dadurch tiefere Wahrheiten.«

»Welche denn zum Beispiel?«

Der Arzt rieb seine Endlos-Stirn. »Wenn du dich dazu entschließt, dich aus der Perspektive eines anderen zu sehen, ist das vielleicht ein Hinweis darauf, dass du nicht weißt, wer du bist.« Er beugte sich noch weiter vor. »Antworte nicht. Dein Bewusstsein ist nicht in der Lage, das Gesamtbild zu sehen. Hör jetzt zu …«

Also hörte Jax zu … und hörte zu, aber Dr. Gundenberg sagte nichts. Der Psychiater war verstummt, sein riesiger kahler Schädel befand sich knapp zwanzig Zentimeter vor Jax und nahm ihm die Sicht auf die Diplome und den größten Teil des Raumes.

Genau hier, in der Praxis, in die er gekommen war, um seine Visionen loszuwerden, hatte er wieder eine. Diesmal handelte es sich um eine Nahaufnahme, und sie war so deutlich, dass er sogar seine Augen sehen konnte – weit aufgerissen vor Zorn und von der Farbe eines Amethyst-Kristalls. Das brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Vierhundert Dollar die Stunde, um mitten in der Heilung von dem Problem überfallen zu werden, wegen dem er da war! Und was hatte dieser Typ anzubieten? Heiße Luft.

»Es passiert!«, keuchte Jax. »Jetzt gerade! Ehrlich!«

Der Arzt antwortete nicht, gab keinen Ton von sich, zuckte nicht einmal. Hörte er überhaupt zu? In seiner Verzweiflung versuchte Jax mit allen Mitteln die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen. »Ich spring jetzt aus dem Fenster, Doc.« Immer noch nichts. »Oder noch besser, Sie springen aus dem Fenster.«

Wortlos stand Dr. Gundenberg von seinem Sessel auf und marschierte los.

Jax sah rot. »Hey, erinnern Sie sich noch an mich? Ich bin der zahlende Kunde. Ich bin immer noch hier, wissen Sie …«

Mit offenem Mund sah er zu, wie der Psychiater die Jalousien hochzog, das Fenster öffnete und ein Bein über das Fensterbrett schwang.

Der Schrei aus Jax’ Kehle war fast nicht menschlich. »Was machen Sie da?« Er sprang hinüber, packte den Mann am Arm und hielt ihn wie in einem Schraubstock eisern fest. Von einem Moment auf den anderen war aus diesem langweiligen, total überteuerten Termin nichts Geringeres als ein Gerangel um Leben und Tod geworden. Und der Tod hatte die besseren Karten!

Der Arzt widersetzte sich, versuchte angestrengt den kritischen Punkt zu erreichen, an dem er fallen würde.

»Wir sind im vierunddreißigsten Stock!«

Aber Dr. Gundenberg interessierte das anscheinend nicht. Er war entschlossen, einen Riesensatz zu machen.

Jax stemmte sich mit den Turnschuhen gegen den Teppichboden und versuchte den Psychiater vom Rand wegzuzerren, er zog mit aller Kraft an der Schulter des Mannes, an seinem Ärmel, seinem Ärmelaufschlag – an allem, woran er ihn vielleicht in der Praxis halten könnte. Doch Dr. Gundenberg streifte sein Jackett ab, befreite sich aus dem Griff seines Patienten und rollte seinen Körper über das Fensterbrett.

Es war zu spät. Gleich würde er fallen. Jax kniff die Augen zu, um die Gedanken an den rasanten Sturz aus seinem Kopf zu verbannen, die Bilder des schnell näher kommenden Asphalts …

»Nein!«, brüllte er. »Stopp!«

Da trat Dr. Gundenberg zurück in seine Praxis und klopfte den Schmutz von seinem makellosen weißen Hemd. Er nahm sein Jackett von seinem zitternden Patienten entgegen und setzte sich zurück in seinen Sessel, als wäre nichts passiert.

»Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, flüsterte Jax beinah tonlos.

»Natürlich«, antwortete der Arzt. »Aber ich sehe, dass unsere Zeit um ist. Wir machen nächste Woche weiter.«

»Falls Sie sich bis dahin nicht umgebracht haben.«

Der Psychiater sah schockiert aus. »Jackson, wie kannst du so etwas auch nur denken?«

Jax starrte ihn nur an. War es tatsächlich möglich, dass der Mann sich nicht an seinen furchtbaren Selbstmordversuch erinnerte? Konnte einem so etwas einfach entfallen?

Erst Dr. Palma und nun das. Es gab nur eine Schlussfolgerung, die Jax daraus ziehen konnte. Er war immer davon ausgegangen, dass nur er ein Problem mit Halluzinationen hatte. Aber jetzt machten Menschen um ihn herum verrückte Sachen. Irgendwie musste es da einen Zusammenhang geben.

Hatten seine seltsamen Visionen etwas damit zu tun, dass die anderen sich seltsam benahmen?

»Hast du es nie gemerkt, Opus?«, fragte ihn Tommy am nächsten Tag in der Schule. »In deiner Nähe benehmen sich alle ein bisschen seltsam. Das ist schon seit der Vorschule so.«