22 Bahnen - Caroline Wahl - E-Book + Hörbuch
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22 Bahnen Hörbuch

Caroline Wahl

3,7

Beschreibung

Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der genau wie sie immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle. 22 Bahnen ist eine raue und gleichzeitig zärtliche Geschichte über die Verheerungen des Familienlebens und darüber, wie das Glück zu finden ist zwischen Verantwortung und Freiheit. Caroline Wahl findet das Besondere im Alltäglichen und das Tröstliche im Schmerzvollen. Ein berührendes und feinsinniges Buch, mit dem man gern befreundet wäre. BENEDICT WELLS Ich bin durch 22 Bahnen gerauscht und hellauf begeistert. Herzerwärmend, fein, gnadenlos und richtig schön zugleich. ALINA BRONSKY

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Zeit:6 Std. 21 min

Sprecher:Carolin Haupt
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Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, schwimmen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um ihre Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße, in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda wird eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der genau wie sie immer 22Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle …

Mitreißend und mit ganz eigenem Sound erzählt Caroline Wahl von zwei Schwestern, die sich gegen beschissene Voraussetzungen wehren, um ihrem Leben eine andere Richtung zu geben. ›22Bahnen‹ ist ein leuchtender Roman über das Erwachsenwerden, die Liebe und bedingungslosen Zusammenhalt.

© Stefan Klüter

Caroline Wahl wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. ›22 Bahnen‹ ist ihr Debütroman, für den sie 2023 mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis ausgezeichnet wurde. Caroline Wahl lebt in Rostock.

CAROLINE WAHL

22BAHNEN

Roman

E-Book 2023

© 2023 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Eileen Corse/www.eileencorse.com

Satz: Fagott, Ffm

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-8321-8278-6

www.dumont-buchverlag.de

TEIL 1

Hafermilch, Mandelmilch, Cashewmus, tiefgefrorene Himbeeren, Hummus, Kölln Haferflocken, Chiasamen, Bananen, Dinkelnudeln, Avocado, Avocado, Avocado. Ich spiele: Ich darf nicht hochschauen. Circa 30, männlich, schlaksig, rahmenlose Brille, Levi’s-Shirt, rate ich, sage »30,72Euro«, schaue endlich hoch, und als ich den Levi’s-Schriftzug sehe, ist das ziemlich cool und vielleicht sogar der bisherige Höhepunkt meines Tages. Es ist zwar eine jüngere Frau, aber das T-Shirt richtig zu erraten ist schon stark.

4Stunden später lege ich die Gut&Günstig-Variante von Mirácoli-Nudeln, Gut&Günstig-Haferflocken, Dr.Oetker Bourbon-Vanillesoße und Vollmilch auf das Band. »4,06Euro«, sagt Frau Bach, ich zahle, stopfe die Sachen in meinen Rucksack und renne zum Bahnhof.

Straßenbahn, Uni, Übungsaufgaben und Texte kopieren. Ich habe einen strikten Zeitplan, in den ein in 3 von 4Fällen nicht funktionierender Kopierer einfach nicht reinpasst. »Papierstau«. Ich spüre, wie sich beim Anblick dieses Wortes die Wut in mir aufstaut, balle die Fäuste und starre diesen weißen, doofen Klotz an. Zerstörungswut.

Straßenbahn, Übungsaufgaben lösen, Schwimmen, Ida. Der Übungszettel ist machbar, und ich schaffe es, alle Aufgaben während der 69-minütigen Fahrt von der Uni zum Schwimmbad zu lösen. Ich atme den Chlorgeruch tief ein, schmeiße meinen Rucksack auf die Bank neben Ursulas bunten Korb, ziehe das Kleid über meinen Kopf, springe kopfüber ins Wasser, tauche in den tiefen Bereich bis zum Grund, setze mich auf den Boden und schaue mir das Geschehen im Becken von unten an. Viele unkoordiniert zappelnde Kinderbeine, ein paar mehr oder weniger koordiniert zappelnde Seniorenbeine, tauchende Kinderkörper, gemischte Beine am Beckenrand. Insgesamt sieht das Zusammenspiel dieser vielen Bewegungen nach Spaß aus, sofern ich das von hier unten beurteilen kann. Ich stoße mich vom Boden ab, um wie immer meine 22Bahnen zu schwimmen, und als ich bei der 20. oder 22. Bahn nicht sicher bin, ob es die 20. oder 22. ist, ärgere ich mich und schwimme zur Bestrafung noch 5 zusätzliche Bahnen.

Ursula: Vorhin ist ein kleiner Junge auf mich gesprungen. Einfach so.

Ich schaue sie fragend an.

Ursula: Ich bin ganz normal geschwommen. Wie immer entspannt Richtung Beckenrand, und auf einmal sehe ich diesen rothaarigen kleinen Bengel vor mir, wie er 3Schritte zurückgeht, Anlauf nimmt und auf mich drauf springt. Einfach so.

Ich: Krass.

Ursula: Und ich könnte schwören, dass er die ganze Zeit Blickkontakt mit mir hatte, schon bevor er die 3Schritte zurückgegangen ist. Das war kein Versehen.

Ich nicke.

Ich: Der wollte einfach auf dich drauf springen.

Ursula: Ja.

Wir schweigen.

Ich: Zeig ihn mir mal.

Ursula nickt.

Ich: Dann spring ich auch mal auf ihn drauf.

Ursula nickt.

Wir schweigen. Mit Ursula kann man gut schweigen. Sie stellt keine dummen Fragen. Sie redet nur, wenn es etwas zu reden gibt, das relevant ist, wie etwa ein auf sie drauf springender Junge. An manchen Tagen sitzen wir nebeneinander auf ihrer Bank, ohne ein Wort zu wechseln. Wir schließen beide die Augen und lassen uns von der Sonne trocknen. Zum Abschied nicken wir uns dann zu.

Ursula: Wo ist die Kleine?

Ich: Ida kommt doch nur mit, wenn es regnet.

Ursula nickt.

Ich schmiege meinen Rücken an die von der Sonne aufgeheizte Banklehne und schließe kurz die Augen. Es sind die ersten richtig heißen Tage dieses Jahr. Der Juni war durchwachsen und eher ein April oder Mai. Ich ziehe die Sommerluft tief ein. Sonnencreme, Chlor, Pommes und Ursulas intensives Parfüm füllen meinen Körper. Ich öffne meine Augen und schaue mir den pastelligen Abendsonnenhimmel an, ziehe ihn auch tief ein und fühle mich leicht und warm. Ich überblicke das Becken. Der Nichtschwimmer-Bereich wird zum Großteil von einer rutschenden Jungsgruppe beherrscht, ungefähr in Idas Alter, die vollkommen überdreht in das Becken reinschießt wie ein Maschinengewehr. Auf der anderen Seite 2  miteinander quatschende Mütter mit Kleinkindern auf dem Arm, und kurz vor dem mit einem Seil abgetrennten Schwimmer-Bereich spielt ein Mann mit einem Mädchen und einem Jungen Wasserball. Ich schätze, ein Vater mit seinen Kindern. Die Kinder glucksen vor Freude, und ich frage mich, ob sie oft mit ihrem Vater Wasserball spielen oder ob es etwas Einmaliges ist und die beiden sich deshalb so freuen. Am Beckenrand des Schwimmer-Bereichs hängen Teenager herum, und ich erkenne ein paar Mädchen aus meiner ehemaligen Stufe, die sich bräunen. Angelina, Lena und Jana. Ich hebe die Hand zum Gruß. Angelina winkt mit einem gezwungenen Lächeln zurück. Wir mögen uns, glaube ich, nicht. Mein warmer Körper zuckt zusammen, und ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ivan, denke ich, als ich den großen, weißblonden Typ mit den schwarzen Badeshorts auf dem Block und sein Gesicht mit dem unverwechselbaren, bösen Blick sehe, und schlucke. Ivans schmales, markantes, gebräuntes Gesicht, die eisblauen Augen, darüber die stets leicht zusammengezogenen dichten Augenbrauen, die kleine Zornesfalte dazwischen und die zu einem geraden Strich gezogenen schmalen Lippen. Ivans Gesicht ist nach Idas das zweitschönste Gesicht, das ich kenne. Kannte. Mir wird übel. Ein Seil zieht sich ganz fest um meinen Hals. Ich schlucke ein paarmal, versuche, die Sommerluft tief in den engen Hals einzuziehen, Platz zu machen, blinzele und konzentriere mich. Das muss Ivans großer Bruder sein, denn Ivan kann es ja nicht sein. Ich suche nach seinem Namen, und es macht mich so wütend, dass er mir nicht einfällt. Während ich nach seinem Namen krame, versuche ich, sein Gesicht genauer zu betrachten, was schwerfällt, weil es so weit weg ist, aber es sieht eindeutig anders aus als Ivans. Sein Blick ist noch grimmiger und vor allem undurchdringbarer als Ivans, die Augenbrauen stehen noch enger zusammen, die Zornesfalte ist tiefer, und die Lippen sind zu einem noch geraderen Strich gezogen. Was macht er denn hier? Der wohnt doch in London oder so. Er zieht die Schwimmbrille über die Augen, macht einen eleganten Kopfsprung und krault. Seine geradlinigen, schnellen, kraftvollen Züge setzen sich von dem restlichen Chaos im Becken ab. Wenn er sich vom Beckenrand abstößt, ist er bestimmt 10Meter unter der Wasseroberfläche, bis er auftaucht und in höchstens einer halben Minute den Beckenrand erreicht, von dem er sich dann wiederum in einer Rollwende abtauchend abstößt. Mein Blick folgt jeder seiner Bewegungen, und ich denke an seinen kleinen Bruder, an sein raschelndes leises Lachen, an seine heisere Stimme. Ich lasse den großen Bruder nicht aus den Augen, weil ich Angst habe, ihn zu verlieren. Außerdem hat er wirklich einen schönen Schwimmstil, den man hier selten zu sehen bekommt.

Nach der 22. Bahn taucht er nicht ab, bleibt am Beckenrand, nimmt die Brille ab, dreht sich um, und sein Blick trifft den meinen. Wir schauen uns an. 51Meter liegen zwischen uns, und alles wirkt gedämpft. Irgendwann zieht er die Augenbrauen hoch, ich weiß nicht, was ich machen soll, ziehe meine zusammen und mein Kleid über meinen noch nassen Badeanzug, werfe mir meinen Rucksack über die Schulter, nicke Ursula zu und gehe nach Hause. Auf dem Nachhauseweg fühle ich mich wie in Trance und denke an den großen Bruder, dessen Name mir einfach nicht einfällt. Marlene weiß ihn bestimmt. Sie kommt am Wochenende in die Heimat, weil irgendeine Party stattfindet. Ab morgen schwimme ich 23Bahnen, auch wenn mir die Zahl nicht so geheuer ist.

In der Fröhlichstraße grüße ich Herrn Feigel, der Rasen mäht, und nicke der jungen 5-köpfigen Familie zu, die vor ein paar Wochen in das hellblaue Haus neben uns eingezogen ist und gerade im Garten vor dem Haus grillt. Das Wohnhaus, in dem wir leben, ist das einzige Mehrfamilienhaus in der Straße und sieht an diesem Sommerabend neben den Einfamilienhäusern, vor denen fröhlich Rasen gemäht und gegrillt wird, noch trauriger aus als sonst. Wie immer scanne ich die Fenster unserer Wohnung. Die Scheiben in unserer Küche sind beschlagen. Mama hat gekocht. Ich schließe schnell die Haustür auf, trete in den stillen, kühlen Flur und öffne die 1. Tür, vor der eine Matte liegt, auf der »Welcome« steht, obwohl hier eigentlich niemand willkommen ist. Ich rieche Verbranntes und Curry, Curryhuhn, schätze ich, trete in die Küche und stehe im heißen Dampf. Ida hat den Herd bereits ausgemacht. Darauf 2Töpfe, einer mit verbranntem Reis und einer mit einer verkohlten, undefinierbaren Currymasse. Ich öffne die Fenster und bin erleichtert, dass der Feuermelder noch nicht angegangen ist. Das wäre wieder peinlich gewesen. Auf der Küchenablage eine umgekippte Sahne, Mehl, sämtliche Gewürze, die wir besitzen. Eine Schublade steht offen, auf dem Boden der Inhalt der Schublade. Lose Nudeln, Cornflakes, Paniermehl, Haferflocken und ein leeres Weinglas. Sie hat irgendwas gesucht. Vermutlich hat sie nach der gescheiterten Suchaktion wütend ihre Kochsession beendet. Dass das Huhn allein ausgepackt auf dem leeren Esstisch liegt, sieht irgendwie gruselig aus. Ich friere es ein und öffne die Tür ins Wohnzimmer, in dem die Köchin auf dem Sofa liegt. Ihre braunen Haare hängen ihr im Gesicht, ihr Mund ist leicht geöffnet. Das befleckte weiße Sommerkleid erinnert an den Latz eines Kleinkindes. Eines weintrinkenden Kleinkindes. Mama zieht gern Kleider zum Kochen an, weil sie meistens gut drauf ist, wenn sie den Entschluss trifft zu kochen. Diese Curry- und Rotweinflecken werde ich nicht rausbekommen, das Teil muss in den Müll. Das körperbetonte Kleid in Häkeloptik habe ich ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt, und es ist ihr inzwischen sowieso viel zu groß. Ich streiche ihr die Haare aus dem blassen Gesicht und lege ihr ein Kissen unter den Kopf, sage »Du dummes Huhn«, was sie natürlich nicht hört, weil sie tief und fest schläft, verlasse das Wohnzimmer und klopfe an Idas Tür, 2-mal schnell, kurze Pause, 3-mal langsam, und öffne sie. Ida malt. Wie immer. »Mama hat wieder gekocht«, sagt sie leise, ohne von ihrer Zeichnung hochzuschauen.

Ich: Ich weiß. Hast du schon was gegessen?

Ida schüttelt den Kopf.

Ich: Ich mache uns Mirácoli-Nudeln?

Ida: Mirácoli oder Gut&Günstig?

»Mirácoli«, lüge ich.

Ich beseitige das Schlachtfeld in der Küche, koche die Nudeln, rufe Ida, wir essen, Ida will heute nicht reden, wir putzen Zähne, ich bringe sie in ihr Zimmer, sie legt sich in ihr Bett, und ich setze mich auf die Bettkante.

Ich: Morgen soll es regnen.

Ida: Ich weiß.

Ich: Schwimmbad?

Ida: Ja.

Ich: Gut. Dann schlaf gut. Hab dich lieb.

Als ich ihre Tür schließe, höre ich ihr leises »Ich dich auch«.

Endlich liege ich im Shirt mit dem Rücken auf meiner Matratze, die Decke zusammengeknüllt am Fußende, und lasse die abgekühlte Sommernachtsbrise auf mich fallen. Ich bin erschöpft, spüre die schwere Müdigkeit in jeder Faser meines Körpers und würde sofort einschlafen, sobald ich meine Augen schließen würde. Aber ich möchte das Einschlafen so lange wie möglich hinauszögern, weil das hier mit die besten Momente des Tages sind, die ich nicht weggeben möchte. Diese Momente, die nur mir gehören, in denen ich nichts tun, nichts denken muss, in denen ich einfach nur liegen und die abgekühlte Sommernachtsbrise durch die weit geöffneten Fenster auf mich fallen lassen darf. Meine Augen sind auf das Fenster gerichtet, ich sehe die Umrisse der Tannen hinter unserem Haus. Ich konzentriere mich auf die Geräusche und Gerüche, höre das Zirpen der Grillen, ab und zu ein Auto, eine jaulende Katze, sonst nichts. Ich rieche Sommernacht, Rasen, Blumen.

Wenn ich nachts auf meiner Matratze liege und der Wind oder diese Sommernachtsbrise durch die weit geöffneten Fenster auf mich fällt, dann scheint kurz alles gut zu sein. Dann fühle ich mich leicht. Wenn ich nachts auf meiner Matratze liege, dann denke ich, dass ich das Ganze da draußen noch lange aushalten kann. Solange der Wind nachts auf mich fällt, denke ich, kann ich mich tagsüber in den Krieg da draußen stürzen. Gegen meine Mutter, gegen ihre Launen, gegen diese Kleinstadt. Und für Ida.

Der Regen prasselt gegen das Fenster des Seminarraums, und ich will raus.

Herr Grund rechnet an der Tafel eine Aufgabe des letzten Übungszettels nach, und Anna nervt mich mit unnötigen Fragen, weil sie versucht, meine Lösungen des neuen Übungszettels abzuschreiben, und meine Schrift nicht lesen kann. Sie wird die Klausur nicht bestehen. Wie sie es überhaupt in das Vertiefungsmodul und in das Masterkolloquium geschafft hat, ist mir ein Rätsel. Es ist ja nicht so, dass wir so was wie Germanistik oder Kunstgeschichte studieren.

Anna: Tilda, kannst du mir deine Lösungen per Mail schicken? Abschreiben dauert so ewig.

Ich: Ich habe die Lösungen nicht abgetippt.

Anna: Aber du musst sie doch sowieso bei Moodle hochladen.

Muss ich nicht. Ich denke und rechne am liebsten mit Block und Bleistift, auch Forschungsliteratur drucke ich mir meistens aus, oder ich leihe die Bücher. Ich kann am Laptop nicht denken. Meine Bachelorarbeit habe ich auf dem Block geschrieben und bearbeitet und dann im letzten qualvollen Schritt abgetippt. Dass ich eine der wenigen bin, wenn nicht sogar die Einzige, die ihre Übungszettel-Lösungen in sämtlichen Übungsgruppen in Papierform abgeben darf, musste ich mir mit stets überpünktlicher und tendenziell fehlerloser Abgabe erst erarbeiten. Und als ob ich mich wegen Annas Faulheit heute an meinen Laptop setzen, geschweige denn an einen Kopierer anstellen würde, um meine Lösungen einzuscannen. Sie lässt nicht locker und folgt mir, als wir den Seminarraum verlassen und ich mir durch die anderen Studenten den Weg zum Ausgang bahne.

Anna: Und kann ich sie kopieren? Wir können schnell zur Unibib. Dann geb ich dir einen Kaffee aus.

Ich: Kopier doch hier.

Anna: Schau dir mal die Schlange an. Es funktioniert nur noch ein Kopierer. In den anderen hat irgendein Psycho Wasser reingeschüttet.

Ich: Echt? Ich muss leider los. Nimm die Blätter mit oder mach ein Foto.

Anna: Dann nehme ich sie mit. Ich mag DIN A4 lieber als Foto.

Anna sagt oft so dämliche Sachen.

Ich: Mach ein Foto. Ich will sie morgen abgeben.

Anna schnaubt, bleibt stehen, fotografiert meine Lösungen, obwohl sie DIN A4 lieber mag als Foto.

Anna: Kommst du heute Abend mit zum Science-Slam?

Ich: Nee, hab schon Pläne, sorry.

Anna: Was denn für Pläne?

Ich: Schwimmbad.

Anna zeigt zur Fensterfront im Eingangsbereich des Gebäudes.

Anna: Es schüttet?

Ich: Schwimmen kann man ja trotzdem.

Anna: Du bist echt komisch, Tilda.

Ich zucke mit den Schultern, verabschiede mich und renne zur Haltestelle. Die Straßenbahn ist wegen des Regens brechend voll, und ich muss stehen. Ich hasse es, wenn ich in der Straßenbahn stehen muss. Dann kann ich die Fahrtzeit nicht optimal nutzen, weil Lesen und Rechnen schlecht funktioniert. Heute versuche ich es gar nicht erst und stehe einfach nur rum, schaue aus dem Fenster in den Regen und verschwende Zeit. Ich sehe die Stadt mit Cafés, Restaurants und Geschäften, die Balkone darüber mit bunten Stühlen und Pflanzen und frage mich wie so oft, wie die Altbauwohnungen von innen aussehen und wer darin wohnt. Die Straßenbahn leert sich allmählich, ich setze mich, hole das Buch Brownian Motion and Stochastic Calculus von Karatzas und Shreve aus meiner Tasche, lege es mir auf den Schoß und schaue weiter aus dem Fenster. Ich sehe die Stadt, wie sie zur Vorstadt wird, wie die Geschäfte, Restaurants und Cafés weniger und die Mehrfamilienhäuser zu imposanten Einfamilienhäusern mit eingezäunten Gärten werden. Ich sehe die Vorstadt, wie sie zu einer Wohnsiedlung wird, wie die Villen zu tristen, weißgrauen Reihen- und großen Mehrfamilienhäusern werden. Und dann sehe ich Felder. Viele Felder, die am Fenster vorbeiziehen. Die meiste Zeit der Fahrt sehe ich Felder, dazwischen Kleinstädte, die immer gleich aussehen, bis ich dann endlich meine Kleinstadt sehe, die aussieht wie die anderen Kleinstädte zuvor, und aussteige.

Ich kaufe bei Edeka noch schnell Suppengemüse und Muschelnudeln für die Hühnersuppe, renne die Fröhlichstraße entlang, die bei dem Regen nicht so fröhlich aussieht wie bei Sonnenschein. Als ich die Wohnungstür öffne, sitzt da eine umso fröhlichere Ida in ihrer pinken mit blauen Delfinen bedruckten Lieblingsleggins, in meinem roten, ihr viel zu großen Shirt und den weißen Fake-Chucks, die ich ihr letztens bei Deichmann gekauft habe, mit ihrem Snoopy-Rucksack und Regenschirm auf dem Schoß auf der Schuhkommode. Ich liebe ihren Kleidungsstil, vor allem weil sie eigentlich so ein schüchternes Mädchen ist. Wenn ich mit ihr im Bus oder in der Straßenbahn sitze oder wir im Schwimmbad sind, redet sie kaum mit mir, und wenn doch, dann flüstert sie fast. Und wenn ich sie zum Lachen bringe, hält sie sich die Hände vor den Mund. Als ich ihr im Schwimmbad letztens vorgeschlagen habe, ein anderes Mädchen, das allein vom Block gesprungen ist, anzusprechen, hat sie kurz laut aufgelacht und sich dann schnell wieder gefangen. Ida hat keine engen Freunde aus der Grundschule, mit denen sie sich in ihrer Freizeit trifft, aber sie wird auch nicht geärgert oder ausgeschlossen. Beim Elternsprechtag hat mir Frau Schwöbel gesagt, dass Ida eine sehr ruhige Schülerin ist, aber sich im Unterricht durchaus beteiligt und von ihren Mitschülern akzeptiert wird. Überrascht habe ich Frau Schwöbel gefragt, was Ida denn in der großen Pause macht, und die Antwort hat mich noch mehr verwundert: »Sie ist mit ihren Mitschülern zusammen. Meistens mit Karlotta und Finja. Sie spielen Fangen oder Ball.« Ich dachte irgendwie, dass sie still auf einer Bank sitzen und malen würde. Und ebenso wie Idas Pausenbeschäftigung wundern mich ihre Outfits, die so bunt und laut sind.

Ich: Na, meine Fashionista.

Mit ihrem runden strahlenden Gesicht, dem blonden Lockenköpfchen und ihren braunen, großen Augen sieht sie aus wie das Teletubbies-Sonnenbaby.

»Es schüttet«, sagt das Sonnenbaby.

Ich tätschele ihr Lockenköpfchen, lege Gemüse und Nudeln auf die Kommode, nehme den Regenschirm, öffne ihn und renne durch die Haustür in den Regen Richtung Schwimmbad. Ida lacht, schmeißt die Tür zu und rennt mir hinterher. Es gibt nichts Schöneres, als Ida lachen zu hören.

Das Becken ist fast leer, nur 2 ältere Männer ziehen ihre Bahnen. Ida ist, sobald sie das leere Becken sieht, wie in Trance. Sie zieht ihre 5Tauchringe aus dem Rucksack, wirft sie ins Becken, springt mit Anlauf ins Wasser und fängt an zu tauchen. Nach 23Bahnen setze ich mich auf Ursulas Bank und schaue Ida zu. Sie ist unermüdlich, wirft die Ringe immer weiter und holt manchmal sogar 2 in einem Zug. Irgendwann platziert sie den Ring ungefähr in der Mitte des Beckens, schwimmt zu den Blöcken, holt mehrmals tief Luft und taucht bis zu dem Ring circa 25Meter. Als sie mit dem Ring auftaucht, schaut sie mich an, und als ich ihr meinen hochgereckten Daumen zeige, strahlt sie, und ich strahle dann auch. Bis ich einen Blick spüre. Aus den Augenwinkeln sehe ich eine Person auf dem Block sitzen und ahne bereits, um wen es sich handelt. Unsere Blicke treffen sich, und wir starren uns an. Ich will eigentlich wegschauen, aber wenn er nicht wegschaut, dann darf ich ihn auch weiter anstarren. Erkennt er mich? Wir waren in derselben Schule, und er weiß bestimmt, dass ich mit seinem Bruder befreundet war. Zumindest hat er mich auf der Beerdigung gesehen. Da ist irgendwas in seinem Gesicht, das mich nicht loslässt. Vielleicht dieses überhebliche, belustigte Funkeln in seinen Augen und das kaum bemerkbare Zucken seines Mundwinkels, das ich nur erahnen kann. Er grinst, steht auf, zieht die Schwimmbrille über die blauen Augen, macht einen Köpfer und krault ohne Pause seine 22Bahnen. Wie gestern folgt mein Blick seinen Bewegungen, und ich frage mich, was er hier machen könnte. Bestimmt hat es irgendwas mit dem Haus zu tun, und morgen ist er wieder in Seoul oder Dublin, wobei ich ein wenig hoffe, dass er noch ein bisschen bleibt.

Sogar Ida vermag er mit seinem Schwimmstil aus ihrer Tauchtrance zu reißen. Sie schwimmt zu mir an den Beckenrand und flüstert: »Schau mal, Tilda! Der schwimmt schneller als du.«

Ich: Wer?

Ich beobachte ihn, wie er aus dem Wasser steigt, unter der kalten Dusche steht und in einer Kabine verschwindet. Eine Minute später kommt er in einer weiten Jeans, einem weißen, lockeren Shirt und Adiletten aus der Kabine. Er sieht, dass ich ihn immer noch anstarre, grinst und hebt die Hand zum Abschied. Benommen hebe ich meine Hand. Ida planscht und taucht weiter, bis sie sich irgendwann erschöpft neben mich setzt und flüstert: Kennst du den Schwimmer?

Ich: Nein.

Während ich die Hühnersuppe koche, sitzt Ida am Esstisch und macht Hausaufgaben, Mama liegt auf dem Sofa im Wohnzimmer und macht nichts. Das Licht in der Küche ist an, weil es draußen wegen des schlechten Wetters schon ziemlich dunkel ist, und man hört Regentropfen gegen die Scheibe und Fensterbänke klopfen. Als ich die Grießklößchen forme, auf die Ida besteht, »wenn es schon Krankenessen gibt«, spüre ich, wie ich entspanne und wie ich diesen Moment mit Ida in der Küche, diese ruhige Gemütlichkeit, während es draußen regnet, genieße. Ich forme den letzten Kloß, drehe mich um und lehne mich an die Küchenzeile, betrachte Ida, wie sie konzentriert an einem Aufsatz schreibt, rieche die Hühnersuppe und beschließe, noch einen Vanillepudding zu kochen. Es ist so schön gemütlich.

Ich: Es ist so schön gemütlich.

Ida schaut nicht auf und brummelt: Mhm.

Ich: Soll ich noch einen Vanillepudding kochen?

Ida schaut auf und sagt laut und deutlich: Ja.

Viktor. Als ich auf der Matratze liege und durch das Fenster zu den Tannen schaue, fällt mir sein Name endlich wieder ein. Der Name passt heute noch besser zu ihm als damals. Ein Viktor lacht nicht. Ein Viktor ist ernst. Ein russischer Kampfschwimmer heißt Viktor. Ich erinnere mich auch, wie Herr Weber uns im Gymnasium einander vorgestellt hat. Ich war in der 8. und er in der 12. Natürlich kannte ich ihn schon vorher und wusste auch seinen Namen, weil jeder ihn kannte und seinen Namen wusste. Schon damals war er groß und schön und vor allem sagenumwoben. Ich schließe die Augen und sehe ihn vor mir, wie er mit seinem Rucksack um eine Schulter mit großen Schritten und verschlossenem Blick durchs Gebäude schreitet und die Mädchen aller Stufen ihm verwegene Blicke zuwerfen, die er nicht erwidert. Man erzählte sich Geschichten über ihn, dass er krass gut programmieren könne, dass er im Darknet zu Hause sei, dass er hochbegabt und/oder autistisch sei und dass er Studentinnen in der Stadt date. Er gehörte zu keiner Gruppe so richtig dazu, aber alle hatten Respekt vor ihm und akzeptierten seine Anwesenheit. Ab und zu sah ich ihn auf meinem Nachhauseweg bei den Kiffern im Park, ein anderes Mal mit den pickligen Computernerds beim Kiosk und dann wieder mit den Jungs aus dem Sport-LK Basketball spielen. Ich wartete damals ungeduldig auf Herrn Weber, meinen Mathelehrer, den Frau Neugebauer für mich aus dem Lehrerzimmer holte. Herr Weber war cool, er gab mir seit der 6. Klasse immer Buchkopien, Aufgaben und Klausuren von höheren Stufen, und je schneller ich sie löste, desto schneller stieg ich auf. Inzwischen war ich aus mathematischer Perspektive quasi in der 11. Klasse. Als Herr Weber endlich mit einem neuen Stapel an Blättern auf mich zukam und sich dann Viktor direkt vor mich stellte, als ob ich nicht da wäre, wurde ich wütend.

Viktor: Herr Weber, ich muss kurz über die Klausur morgen sprechen …

Ich tippte Viktor auf die Schulter, er drehte sich um und musterte mich.

»Ich habe Herrn Weber gerufen«, sagte ich, drängte mich an ihm vorbei und übergab dem grinsenden Lehrer meine gelösten Aufgaben und nahm ihm den neuen Stapel aus der Hand.

Herr Weber: Na, das ist ja schön. Dass sich meine beiden Überflieger mal kennenlernen. Viktor Wolkow, Tilda Schmitt.

Ich: Hallo.

Viktor: Hallo.

Er streckte mir tatsächlich seine große Hand hin, ich ergriff sie, und peinlich berührt spürte ich, wie mir die Röte ins Gesicht schoss.

»Tschüss«, sagte ich und ging.

Rosé-Wein, Rosé-Wein, Rosé-Wein, Werther’s-Karamellbonbons, Malboro Gold XL, Spaghetti, Hackfleisch, Malboro Gold XL, Tomatenmark. Marlene, rate und hoffe ich, sage »26,30Euro«, schaue hoch und mustere meine beste Freundin. Ihre hellblonden, glatten Haare, die letztes Mal noch sehr lang waren, reichen jetzt nur noch bis zur Schulter und haben einen leichten Rosastich. Sie trägt ein Oversize-Vintage-Jeanshemd mit Ledershorts. Ich kann meine sich hochziehenden Mundwinkel nicht bändigen.

Marlene: Also Mitarbeiterin des Monats wirst du nicht. Ist es nicht deine Pflicht, jeden Kunden zu begrüßen? Musstest du so was nicht unterschreiben? Steht das nicht in deinem Arbeitsvertrag? Na ja, egal. Wie lange musst du noch arbeiten? Heute Abend ist der Rave. Bist du ready?

Begrüßung à la Marlene.

Ich: Hi Marlene. Welcher Rave?

Ich war davon ausgegangen, dass wir heute Abend alle entspannt auf dem Grundstück abhängen, ein bisschen trinken, ein bisschen rauchen, so wie früher. Bei dem Gedanken an einen tanz- und zeitintensiven Rave spüre ich meinen müden Körper umso mehr und gähne.

Marlene: Alter, deswegen bin ich doch dieses Wochenende in Germany. Ich habe dir schon so oft davon erzählt. Leon, Kilian und so starten auf dem Grundstück einen Rave. Alle kommen.

Ich: Ich dachte, die sind in Berlin?

Marlene: Ja, du Depp. Ist halt Heimspiel für die. Die bringen ihre Berliner Freunde mit, von denen auch welche auflegen.

Ich: Cool.

Marlene: Boah, wie ich deine hemmungslose Begeisterung vermisst habe. Du kommst mit. Du hast überhaupt keine Wahl. Hab Leon schon gesagt, dass du mitkommst. Der freut sich.

Ich: Marlene, ich weiß nicht …

Am liebsten würde ich ihr einfach die Wahrheit sagen, aber irgendwie wollen die Worte nicht raus. Mama trinkt wieder mehr, ich will Ida abends nicht allein mit ihr lassen. 13Worte.

Ich: Mama …

Marlene: Ich verstehe ja, dass die Entscheidung fürs Mathestudium schon so ein gewisses Nein zum Leben war, aber ich werde nicht dabei zusehen, wie du dich komplett abkehrst von allem. Ich bin jetzt ein Wochenende hier in Deutschland, und das bedeutet: Spaß, Spaß, Spaß. Wir fahren jetzt gleich zu mir, dann ziehen wir uns um, trinken unseren Wein, machen uns ’ne Bolo, und dann gehts ab zum Rave. Du liebst doch Tanzen, Hasi. Du brauchst das. Das sehe ich dir an. Du siehst ganz leer aus. Blutleer. Ja, blutleer siehst du aus. Richtig ausgesaugt. Leon und seine ganzen heißen Hipster-Freunde aus Berlin sind da. Das wird ein großes Ding.

Ich habe Marlene während ihres Monologs die ganze Zeit aufmerksam beobachtet, und ich bin mir sicher, dass sie keinmal Luft geholt hat. Sie wäre eine gute Taucherin. Vergeudetes Talent.

Der Mann hinter Marlene räuspert sich.

Der Mann hinter Marlene: Geht das hier mal weiter?

Marlene dreht sich genervt um: Jetzt haben Sie mal ein bisschen Verständnis. Ich habe meine beste Freundin seit Weihnachten nicht gesehen. Das sind über 7Monate. Da darf ich wohl mal kurz mit ihr quatschen, oder? Kasse 1 und 2 sind auch offen.

Damit hat er nicht gerechnet. Ohne etwas zu erwidern, dreht er sich kopfschüttelnd um, brabbelt vor sich hin und stellt sich tatsächlich an Kasse 2 an. Was habe ich diesen Terrorzwerg vermisst.

20Minuten später sitzen wir in ihrem Fiat 500.

Marlene: Brudi freut sich auch, dass du kommst.

Ich: Du wiederholst dich. Wie gehts ihm?

Marlene: Ach. Bisschen abgehoben ist er schon. Hat den Master endlich durch und ist jetzt in so einem Künstlerkollektiv am Holzmarkt. Aber sonst ist er wie immer. Viel unterwegs. Viel am Rumträumen.

Ich nicke.

Marlene: Wenn ich mit ihm spreche, fragt er immer nach dir.

Ich zucke mit den Schultern und schweige.

Jedes Mal will sie über Leon und mich reden, weil wir ja so ein Traumpaar sind und uns endlich mal aufraffen sollen. Das ist unangenehm. Eigentlich sollte es ihr auch unangenehm sein. Er ist schließlich ihr Bruder. Und ich will ihr nicht sagen, dass ich uns nicht für ein Traumpaar halte und nicht in ihn verliebt bin, und sage deswegen: Ich habe den großen Bruder von Ivan im Schwimmbad gesehen.

Ich schaue sie an, ihr Gesicht ist blass, und sie hat Gänsehaut auf der Schläfe. Die hat sie immer bei extremen Gefühlsregungen. Wenn sie tieftraurig, übertrieben euphorisch, verliebt oder eben auf Drogen ist. Ihre Hände krallen sich um das Lenkrad, und ihr Blick ist starr geradeaus gerichtet. Wir schweigen, so wie wir die letzten Jahre geschwiegen haben. Manchmal frage ich mich, warum wir nie darüber gesprochen haben und wann wir den Entschluss getroffen haben, nicht darüber zu sprechen. Ich weiß noch, dass wir bei der Beerdigung kein Wort miteinander gewechselt haben. Wir standen in einer der letzten Reihen, haben geweint und uns festgehalten, sind danach zu Marlene gegangen, haben uns in ihr Bett gelegt, geweint und uns festgehalten, haben irgendwann aufgehört zu weinen, und lagen einfach nur da und haben uns festgehalten, sind eingeschlafen, aufgewacht und haben dann weitergelebt, wie man das eben so macht, wenn jemand stirbt. Vielleicht wissen wir einfach nicht, was wir sagen sollen, weil jedes Wort das falsche und keines das richtige ist. Aber vielleicht gibt es auch keine falschen und richtigen Worte, und wir sollten endlich darüber reden, denke ich und schweige. Wir fahren die Landstraße an den Feldern entlang. Und ich weiß, dass ich eigentlich anfangen müsste zu reden. Auf dem Feldweg sind irritierend viele Jogger, was irgendwie verkehrt aussieht. Auf diesem Feldweg sind Marlene und ich damals so oft im Morgengrauen betrunken nach Hause gelaufen, singend, lachend, redend, tanzend, kotzend in Richtung Marlenes Elternhaus in der teuren Wohnsiedlung, am Bäcker vorbei. Manchmal hat es schon nach frischen Brötchen gerochen. Das war schön.

Marlene: Kilian hat mir auch erzählt, dass er da ist. Wahrscheinlich verkauft er das Haus. Das steht jetzt schon ewig leer.

Jetzt schweigen wir beide. Fast 5Jahre ist es her.

Marlene: Schau mal auf die Rückbank, das habe ich für dich gedruckt. Für heute Abend.

Ich breite das Knäuel vor meinem Gesicht aus, ein großes weißes Shirt mit einem pinken Hasen drauf.

Marlene: Für meinen Hasi, der viel zu braune Beine hat. Mit deinen Boots sieht das bestimmt sehr nice aus.

Ich mag es. Der pinke Hase scheint mich direkt anzuschauen. Er schaut irgendwie fragend, erwartungsvoll, aber ich weiß nicht, was er von mir will. Ich schaue stirnrunzelnd zurück, aber er reagiert nicht.

Marlene öffnet die dunkelgrüne Holztür, und ich atme beim Eintreten den altbekannten Duft nach Zedernholz, Kaffee und den undefinierbaren Eigengeruch, den jede Familie eben hat, ein. Ich frage mich, wie unsere Wohnung für fremde Leute riecht, ob sie vielleicht ein bisschen muffelt. Marlenes Familie wohnt in einem renovierten Fachwerkhaus. Ich liebe ihr Zuhause. Der Wohnbereich ist lichtdurchflutet wegen der großen Fensterfront des Anbaus, die in den grünen Garten weist. Manchmal, wenn man auf dem Sofa im Wohnzimmer direkt an der Front liegt, es draußen windet und die Sonne zumindest ein bisschen scheint, dann hat man das Gefühl, im Wald zu sein, mit den ganzen Lichtspielen an der Wand. Und vor allem ist alles so stilvoll und gemütlich eingerichtet; Marlenes Mutter Lisa hat Freude an Inneneinrichtung, und das merkt man. Jedes Mal ist etwas ein bisschen anders. Ich sehe einen dunkelvioletten Perser unter dem großen Kiefernesstisch.

Ich: Neuer Teppich?

Marlene: Nicht nur das. Sie hat alle Vorhänge im Haus ausgetauscht und schon wieder ein neues Sofa bestellt. Ich frage mich, was sie mit diesen ständigen Veränderungen eigentlich kompensiert. Wahrscheinlich auch eine Art Midlife-Crisis.

Ich: Ich denke, dass es ihr einfach Spaß macht und dass sie es richtig draufhat. Sie könnte das beruflich machen.

Unser Wohn- und Essbereich ist lieblos und spartanisch eingerichtet. Die meisten Möbel sind älter als ich und passen nicht zusammen. Die Stühle und der Tisch in der Küche sind abgenutzt, unter das rechte Tischbein ist ein Pappuntersetzer geklemmt, damit der Tisch nicht so stark wackelt. Das schwarze Ledersofa im Wohnzimmer ist zum Glück gut abwaschbar im Gegensatz zu dem senfgelben Teppich darunter, der mit seinen vielen Flecken, die ich auch mit diversen überteuerten Reinigungsmitteln nicht rausbekommen habe, vor allem Geschichten von Mamas Ausrutschern erzählt.

Marlene: Sag ihr das, dann freut sie sich. Wir machen uns nur über sie lustig.

Ich: Ihr seid fies. Wo sind Lisa und Markus? Tennis spielen?

Marlene: Ja, und danach essen, so wie jeden Freitag.

Ich öffne die Tür zu meinem Lieblingsraum und bin erleichtert, als ich sehe, dass die riesengroße dunkelgrüne Landhausküche noch nicht ausgetauscht wurde. Früher habe ich dieses Zimmer geliebt, weil es so lebendig war und sich hier meistens alle getroffen haben. In der Ecke steht auch noch der quadratische weiße Tisch, an dem wir nach der Schule immer zu Mittag gegessen haben und um den inzwischen schwarze mit weißem Fell bedeckte Schalenstühle gruppiert sind.

Eine Tür führt in einen Raum, der größer ist als unser Wohnzimmer, in dem neben mit Vorräten gefüllten Regalen ein 2. Getränkekühlschrank und eine Gefriertruhe stehen. Marlenes Vater Markus hat eine Metro-Karte, und deswegen gab es hier früher auch so verrückte Sachen wie Kratzeis oder riesengroße Haribo-Boxen voller Schnüre oder Wassermelonenkaugummis, die es sonst eigentlich nur in Kiosks zu kaufen gibt.

Ich stelle den Wein in den Kühlschrank, und Marlene bereitet die Bolognese vor.

Marlene: Also jetzt erzähl du mal, was gibts Neues? Ich rede die ganze Zeit.

Ich: Nicht viel und bei dir?

Marlene: Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich mich im Master auf Game-Design spezialisieren möchte? Bin da in einem Uniprojekt so reingerutscht, und jetzt mag ich’s mega. Will dann auf jeden Fall ein Auslandssemester in den USA oder so machen.

Ich: Klingt cool.

Marlene: Und bei dir? Wie läufts?

Ich: Gut, muss jetzt demnächst meine Masterarbeit schreiben. Suche gerade noch ein Thema.

Marlene: Crazy, und dann bist du schon fertig. Und dann?

Ich zucke mit den Schultern. Ich hasse diese Frage. So sehr.

Ich: Dann suche ich mir einen Job.

Marlene: Wo?

Ich antworte: »Ich denke hier in der Umgebung«, und weiß, dass mit dieser Antwort wieder eine Diskussion starten wird.

Marlene hält mit der Zubereitung der Bolognese inne und setzt sich zu mir.

Marlene: Tilda, das geht nicht.

Ich: Marlene, muss das jetzt sein?

Marlene: Nach dem Studium ziehst du weg, hast du gesagt.

Ich: Ich habe gesagt, vielleicht ziehe ich nach dem Studium weg. Ich wusste nicht, dass es mit Mama dann so schlimm ist.

Marlene: So schlimm?

Ich: Es wird auf jeden Fall nicht besser.

Marlene: Aber irgendwann musst du die beiden verlassen und dein eigenes Ding machen. Ida packt das schon. Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben.

So eine bescheuerte Aussage.

Ich: So eine bescheuerte Aussage, Marlene. Wir reden jetzt nicht darüber, in Ordnung? Das führt zu nichts.

Sie schnaubt, steht auf und widmet sich wieder dem Essen.

Ich frage nach Jim, ihrem neuen Freund oder was auch immer er genau für sie ist, weil das bestimmt die Stimmung umgehend heben wird und sie bereits während der halben Autofahrt nicht aus dem Schwärmen herausgekommen ist.

Marlene: Hab ich dir erzählt, dass er mir letztens, als ich mit einer Abgabe so gestresst war, ein Hanfbad vorbereitet hat? Mit Musik, Joint und Chips. Megacute, oder?

Ich stelle mir vor, dass mir jemand, wenn ich gestresst bin, ein Hanfbad vorbereiten würde, und frage mich, ob es sehr unverschämt wäre, den Bad-Gang dann zu verweigern.

Ich: Megacute.

Nachdem wir gegessen haben, gehen wir hoch und machen uns fertig. Ich ziehe das Shirt an, lege mich aufs Bett, und Marlene führt mir Outfits vor. Am Ende entscheiden wir uns für ein schwarzes Slip Dress, unter dem sie ein weißes Shirt trägt.

Während Marlene sich schminkt, schaue ich mir die Fotos und Videos auf ihrem Handy an, sie erzählt mir die Geschichten dazu. Ich sehe einen Sonnenaufgang am Hafen, einen Sonnenuntergang von einer Dachterrasse aus, ihre Kunstarbeiten, Ausstellungen, Flohmärkte, ihre Freunde beim Tanzen, ihre Freunde beim Essen, ihre Freunde beim Malen, ihre Freunde beim Küssen, ihre Freunde beim Schlafen, ihre Freunde beim Nacktbaden. Ich bleibe hängen bei einem Bild, auf dem Marlene und ihre Freunde in einem Lavendelfeld vor einem alten Bauernhaus mit hellblauen Fensterläden versammelt sind. Eine junge Frau sitzt in der Hocke und malt auf einem Zeichenblock, Marlene liegt daneben, ihr Kopf ist auf dem Bauch von einem Mann gebettet, der einen Joint in der Hand hält und in die Ferne schaut, zwei Frauen und ein Mann sitzen bei ihnen auf der Decke im Schneidersitz mit einer Flasche Wein in der Hand und lachen.

Ich: Wo war das?

Ich zeige ihr das Bild.

Marlene: In Céreste, in der Provence vor zwei Wochen, da haben wir uns eine Woche so ein Haus gemietet, gechillt, voll viel Kunst gemacht, viel zu viel Wein getrunken, M und so genommen.

»Krass«, sage ich, krass, denke ich und frage mich, ob ich auch so ein Leben führen könnte, wenn das mit Mama und Ida nicht wäre. Ich glaube nicht und weiß nicht, wieso.

»Geil«, sagt Marlene und bleibt stehen, als wir wie früher mit einer Weinflasche übers Feld zum Grundstück laufen und der orange, dunkelrot, rosa, hellblaue Himmel alles gibt, um uns zu beeindrucken. Marlene legt sich auf die Wiese am Feldwegrand, ich lasse mich neben sie fallen, sie nimmt meine Hand, drückt sie, ich erwidere den Druck, und wir schauen uns das Farbenspiel an.

Marlene: Pause.

Wir waren damals 16 oder so, als wir das Pause-Wort für uns entdeckten, nachdem wir diese Adam-Sandler-Komödie Klick geschaut hatten. Immer wenn ein Moment so schön war, dass wir die Zeit anhalten wollten, wurde das Zauberwort gesagt. Und wenn wir dann die Augen schlossen und uns ganz fest vorstellten, dass die Zeit stehen bleibt, hat es auch ein bisschen funktioniert.

Ich schließe die Augen und sage: »Pause.«

Ich denke an den leuchtenden Himmel, an uns beide, wie wir mit unseren Kleidern und Boots im Gras liegen, Hand in Hand, stelle mir fest vor, dass die Zeit stehen bleibt, und es funktioniert immer noch ein bisschen.

Ich: Ich hab dich vermisst.

Marlene: Ich hab dich vermisst.

Marlene: Wann waren wir das letzte Mal auf Killis Stück?

Ich: Vor 3Jahren, an seinem Geburtstag.

Marlene: Verrückt. Früher waren wir gefühlt jeden Abend dort. Irgendwie weird, an den Ort zurückzukehren, wo wir so viel Scheiß gemacht haben.