Windstärke 17 - Caroline Wahl - E-Book

Windstärke 17 E-Book

Caroline Wahl

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ida hat nichts bei sich außer dem alten, verschrammten Hartschalenkoffer ihrer Mutter, ein paar Lieblingsklamotten und ihrem MacBook, als sie ihr Zuhause verlässt. Es ist wahrscheinlich ein Abschied für immer von der Kleinstadt, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hat. Im Abschiednehmen ist Ida richtig schlecht; sie hat es vor zwei Monaten nicht einmal auf die Beerdigung ihrer Mutter geschafft. Am Bahnhof sucht sie sich den Zug aus, der am weitesten wegfährt – auf keinen Fall will sie zu ihrer Schwester Tilda nach Hamburg –, und landet auf Rügen. Ohne Plan, nur mit einem großen Klumpen aus Wut, Trauer und Schuld im Bauch, streift sie über die Ostseeinsel. Und trifft schließlich auf Knut, den örtlichen Kneipenbesitzer, und seine Frau Marianne, die Ida kurzerhand bei sich aufnehmen. Zu dritt frühstücken sie jeden Morgen Aufbackbrötchen, den Tag verbringt Ida dann mit Marianne, sie walken gemeinsam durch den Wald oder spielen Skip-Bo, abends arbeitet Ida mit Knut in der »Robbe«. Und sie lernt Leif kennen, der ähnlich versehrt ist wie sie. Auf einmal ist alles ein bisschen leichter, erträglicher in Idas Leben. Bis ihre Welt kurz darauf wieder aus den Angeln gehoben wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 321

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ida hat nichts bei sich außer dem alten, verschrammten Hartschalenkoffer ihrer Mutter, ein paar Lieblingsklamotten und ihrem MacBook, als sie ihr Zuhause verlässt. Es ist wahrscheinlich ein Abschied für immer von der Kleinstadt, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hat. Im Abschiednehmen ist Ida richtig schlecht; sie hat es vor zwei Monaten nicht einmal auf die Beerdigung ihrer Mutter geschafft. Am Bahnhof sucht sie sich den Zug aus, der am weitesten wegfährt – auf keinen Fall will sie zu ihrer Schwester Tilda nach Hamburg –, und landet auf Rügen. Ohne Plan, nur mit einem großen Klumpen aus Wut, Trauer und Schuld im Bauch, streift sie über die Ostseeinsel. Und trifft schließlich auf Knut, den örtlichen Kneipenbesitzer, und seine Frau Marianne, die Ida kurzerhand bei sich aufnehmen. Zu dritt frühstücken sie jeden Morgen Aufbackbrötchen, den Tag verbringt Ida dann mit Marianne, sie walken gemeinsam durch den Wald oder spielen Skip-Bo, abends arbeitet Ida mit Knut in der »Robbe«. Und sie lernt Leif kennen, der ähnlich versehrt ist wie sie. Auf einmal ist alles ein bisschen leichter, erträglicher in Idas Leben. Bis ihre Welt kurz darauf wieder aus den Angeln gehoben wird.

Nach ihrem gefeierten Debüt ›22Bahnen‹ erzählt Caroline Wahl in ihrem unverwechselbaren Sound nun, wie Ida es mit dem Leben aufnimmt. Ein aufwühlender, intensiver und dabei ungemein tröstlicher Roman über Töchter, Schwestern und Mütter, über vermeintliche Schuld und das Verzeihen – sich selbst und den anderen.

© Frederike Wetzels

Caroline Wahl wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 2023 erschien ihr Debütroman ›22Bahnen‹ bei DuMont, für den sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde. Außerdem wurde ›22Bahnen‹ Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023. Caroline Wahl lebt in Rostock.

CAROLINE WAHL

WINDSTÄRKE 17

Roman

Von Caroline Wahl ist bei DuMont außerdem erschienen:

22Bahnen

Der Abdruck der Zitate erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Universitätsspitals Zürich.www.usz.ch/krankheit/metastasen/

E-Book Auflage 2024

© 2024 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Lili Wood

Satz: mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-7558-1003-2

www.dumont-buchverlag.de

Für Papa

Ich hab dich lieb

TEIL 1

Mit meinem MacBook im Rucksack, meinen Lieblingsklamotten in Mamas marineblauem Hartschalenkoffer, AirPods in den Ohren und der gefalteten Kündigung in der Bauchtasche trete ich aus dem Haus in der Fröhlichstraße 37, das nicht mehr mein Zuhause ist. Der Koffer rollt nicht richtig, der Griff ist nicht ausziehbar, und ich habe das Gefühl, einen Plastikklotz hinter mir herzuschleifen. Tragen ist zu schwer und meine Schulter noch verletzt von der Sache mit dem Schrank. Eigentlich würde ich am liebsten rennen und bereue, dass ich nicht meine große Schwimmtasche genommen habe, die ich immer benutze, wenn ich unterwegs bin. Aber ich musste mich entscheiden, und ich bereue sowieso stets jede Entscheidung, die ich treffe. Ich frage mich, von welchen Reisen der Koffer so abgewetzt ist. Mama hat ihn nie benutzt, seit ich da bin. Tilda war mit Mama und ihrem Vater mal mit dem Auto in Südfrankreich, da war sie zehn oder so. Aber davon wäre er ja nicht so beschädigt. Ich ziehe mein Smartphone aus der Bauchtasche.

Ich: Dieser marineblaue Koffer

Ich: Hat Mama den damals mit nach Frankreich genommen?

Tilda: ?

Ich schicke ihr ein Foto.

Tilda: nein

Tilda: bist du unterwegs?

Tilda: wann kommst du an?

Tilda: ida, du kommst aber?

Tilda mit ihren tausend Fragen macht mich so wütend.

Ich bleibe stehen, bücke mich und schaue mir den Klotz noch einmal genauer an. Die rechte Rolle ist fast komplett abgenutzt. Viele bunte Kratzer auf der harten Schale. Mama hat mir nie von irgendwelchen Reisen erzählt. Ich habe sie auch nie gefragt. Einmal, als ich Schafskäse gebacken habe, wollte sie, wie so oft, nicht mitessen, weil sie keinen Hunger hatte und außerdem Schafszeugs hasste, seit sie mal Schafskopf gegessen hatte. Ich habe gefragt: Wo? Sie hat geantwortet: In Norwegen. Ich habe nicht gefragt: Wann?

Ich stelle mir vor, wie meine Mama, als sie noch keine Mama war, im Bahnhof von Bergen die Treppe heruntergerannt ist, zu einem Zug nach Oslo, vielleicht einem Bjorn oder Ragnar hinterher. Ihr Haar offen, braune Strähnen im Gesicht, ihre braunen Augen damals noch leuchtend voller Lebenslust. Ich stelle mir vor, wie sie »Stopp!« schreit, während sie den Koffer achtlos die Treppe hinunterzerrt, wie Ragnar sie gerade noch in den Zug hineinzieht, wie sie sich dann atemlos gegenüberstehen, an den Händen halten und Mama laut lacht vor Glück. Wenn sie wüsste, was da noch auf sie zukommt. Aber sie weiß es nicht. Zum Glück. Ich frage mich, was aus Ragnar geworden ist. Wahrscheinlich hat er Enkelkinder und lebt mit seiner Frau Lagertha in so einem norwegischen roten Haus am See, wie sie auf den Covern von norwegischen Kriminalromanen stehen, vielleicht mit einer Hollywoodschaukel im Garten. Ob er sich an die Deutsche erinnern kann, mit der er einst einen Sommer verbracht hat? Ich frage mich, wie er reagieren würde, wenn ich ihm sagen würde, dass die achtzehnjährige Andrea nicht mehr lebt. Dass sie tot ist. Wahrscheinlich wäre es ihm egal, so wie einem das eben egal ist, wenn man sich ewig nicht gesehen hat. Egal, dass sie einfach nicht mehr da ist. Arschloch. Egal, dass Andreas Tochter Ida, die er gar nicht kennt und die ihm auch egal ist, aus der Wohnung flüchtet mit diesem alten, nicht richtig rollenden marineblauen Hartschalenkoffer, an den er sich nicht mehr erinnern kann und der ihm auch egal ist, und einfach alles zurücklässt.

Ich denke an die volle Wohnung, die ich zurücklasse, an die hässlichen Möbel, an meine Kiste mit Bildern, an meine Bücher, an Mamas Kleiderschrank, an ihre Klamotten in ihrem Kleiderschrank, an ihre Klamotten, die so lebendig nach ihr riechen, dass die Frau, der sie gehören, eigentlich nicht tot sein kann, nicht tot sein darf. Das süße Parfüm, die leichte Schweißnote, der Alkoholatem, das ist noch da, als würde sie sich im Schrank verstecken und das alles wäre nur ein großer Scherz. Es riecht so sehr nach Mama in ihrem Zimmer, dass ich alles zerschlagen könnte.

Bis zur Schlüsselübergabe muss ich das Zeug losbekommen. Drei Monate habe ich noch, und ich muss Tilda sagen, dass ich heute die Wohnung gekündigt habe.

Während ich die Fröhlichstraße entlanglaufe, google ich, was »Arschloch« auf Norwegisch heißt: Drittsekk. Dann google ich »Entrümpelung«, vor allem weil ich den Blicken in den Fenstern nicht begegnen möchte. Den Blicken der Drittsekker, die sich das Maul zerreißen über die Tochter der toten Alkoholikerin aus dem traurigen Haus, die viel zu leicht bekleidet, in einem kurzen Rock, einer pinken Lederjacke und mit einer großen schwarzen Sonnenbrille trotz des grauen Himmels, einen kaputten, alten marineblauen Koffer hinter sich herzerrt und auf ihrem Handy herumtippt, anstatt freundlich zu grüßen. Immer am Handy, diese Generation. Noch nicht mal bei der Beerdigung war die undankbare Göre. Als ich »Schonen Sie Ihre Nerven und sparen Sie sich Zeit und Geld. Professionelle Entrümpelung. Diskrete und schnelle Haushaltsauflösung« lese, stecke ich das Scheißteil zurück in meine Bauchtasche. Haushaltsauflösung. Auflösung. Dann löst sich alles auf, was noch von ihr da ist. Dann riecht nichts mehr nach ihr. Um die Entrümpelung können Tilda und Viktor sich kümmern. Die haben ja schon Übung darin. Ich blicke noch einmal zurück. Mein Fenster. Unsere hässliche Wohnung in dem hässlichen Haus. Und begreife: Ich werde da wahrscheinlich nie wieder reingehen.

An der Haltestelle schmeiße ich den Umschlag mit der Kündigung in den Briefkasten. Den Satz habe ich heute Morgen auf ein kariertes Blatt gekritzelt. Nach der Nacht war klar, dass ich da nicht bleiben kann. Dass ich sterbe, wenn ich bleibe. Und ich weiß nicht, ob ich sterben will.

Als ich in der Straßenbahn sitze und am Freibad vorbeifahre, schließe ich die Augen. Ich kann das nicht sehen. Es tut weh, weil es der zweite Abschied ist. Und als ich begreife, dass er endgültig ist, drehe ich mich doch noch einmal um, sehe den Eingang. Und es überschütten mich Eiswassereimer mit scharfen Eiswürfeln, die mir meinen Kopf und meine Schultern aufschneiden. Ich atme konzentriert ein und aus, 4–7–8, wie Viktor es mir erklärt hat, während ich Tilda vor mir sehe, der ich durchs Drehkreuz folge. Zuerst der Geruch nach Chlor und Regen und dann der Moment, in dem ich das Becken erblicke, das jedes Mal anders aussieht. Dampf, der aufsteigt, kleine Tropfen, die auf der Oberfläche tanzen, sie durchbrechen. Tilda spannt den Sonnenschirm über unserer Bank auf, wir legen unsere Rucksäcke und Kleidung ab, und ich durchbreche wie die Regentropfen die Wasseroberfläche.

Das Schönste ist eigentlich nicht das Tauchen und das Gefühl, schwerelos zu sein wie ein Fisch. Das Schönste am Tauchen ist Tilda. War Tilda. Tilda, die ich immer wieder im Augenwinkel gesehen habe, wie sie ihre Bahnen zog, wie sie danach auf der Bank saß. Wie sie einfach da war. Wie wir zusammen nach Hause gefahren sind, wie wir zusammen Abendbrot gegessen haben. Komisch, dass sich die Kindheit manchmal so schön anfühlt, obwohl sie auch richtig kacke ist. Ich fühle mich leer und voll.

Als Tilda dann nicht mehr da war, bin ich nur noch ins Hallenbad zum Training. Freibad ging nicht, weil zu schmerzhaft. Irgendwann mit 15 oder so habe ich dann wieder das Drehkreuz passiert, aber nur abends, wenn es regnete. Nicht weil ich immer noch so eine Schisserin wie damals war, sondern weil es dort einfach am schönsten ist, wenn es regnet. Ich bin ein paar Bahnen geschwommen, dazwischen immer längere Strecken getaucht – ohne Wettkampf im Kopf –, und wenn ich manchmal eine gute Schwimmerin im Augenwinkel gesehen habe, habe ich mir vorgestellt, dass es Tilda ist. Ich öffne die Augen, heute ist der Himmel grau, und es könnte jeden Moment anfangen zu regnen.

In dem Hartschalenkoffer sind nur Klamotten. Ich habe kein einziges Buch eingepackt, und jetzt sitze ich hier in der Straßenbahn und lasse, um nicht zu sehen, was am Fenster vorbeizieht, ein TikTok-Video nach dem anderen abspielen, ohne sie wirklich anzuschauen, bis die Meldung aufploppt, dass mein Datenvolumen fast leer ist. Ich stecke das Ding in die Bauchtasche und schließe meine Augen. Mir ist kalt und übel, mein Kopf pocht, und mein Bauch tut weh. Ich schließe die Augen noch fester, entspanne Arme und Beine und stelle mir vor zu schwimmen. Einen Wettkampf. Ich konzentriere mich auf meinen Körper, meine Muskeln, meine Arme und Beine, die schneller und stärker sein müssen, als sie es sind. Zieh durch, zieh durch. Das Wasser und ich eine Einheit. Das Rauschen im Ohr, das Ziel vor Augen. Dann: Rechts neben mir eine Schwimmerin, die ich abhängen muss. Eine schwarze Strähne, die aus ihrer roten Schwimmhaube rausschaut. Wer ist das? Das Haar kenne ich. Und den Geruch auch. Hypnotic Poison von Dior, immer ein bisschen zu viel, und eine Note Kreuzkümmel. Das muss Samara sein. Aber Samara schwimmt gar nicht. Samara hasst Schwimmen. Ich habe es ihr beigebracht, als sie zwölf war, im Hallenbad, und sie fand es schrecklich. Wasser sei einfach nicht ihr Element, hat sie gesagt.

Sie sei ein klassisches Erdzeichen, hat sie immer gesagt. »Sternzeichen sind so ein Scheiß«, habe ich immer gesagt.

Samara: Du bist auch ein Zwilling. Zwillinge glauben oft nicht an Sternzeichen.

Ich öffne die Augen und schaue aus dem Fenster, auf die Felder. An ihrer Wohnsiedlung sind wir schon längst vorbeigefahren. Samara wohnt mit ihrer Familie in einem hässlichen Wohnblock. In einer Dreizimmerwohnung. Ganz warm ist es dort. Die Wände sind orange und gelb gestrichen, das Herzstück der Wohnung, Wohn- und Esszimmer, ganz klein und irgendwie kuschlig. Das gemütliche braune Ledersofa mit den glänzenden violetten und blauen Kissen, der rote Perserteppich, der alte Glastisch mit den goldenen Beinen, der silberne Kerzenständer darauf, in dem jedes Mal andere Kerzen drinstecken, und der massive Eichenesstisch mit den weißen gepolsterten Stühlen drumherum. Und die Fensterbank voller Orchideen, in allen Farben und unterschiedlichen Töpfen. In dieser bunten, stets blitzblank geputzten Wohnung passt kein Möbelstück zum anderen, aber alles zusammen wirkt so harmonisch, dass es wenige Orte gibt, an denen ich mich so wohlfühle. Und der Geruch dort, das süße Parfüm der Mutter, Kreuzkümmel, Zimt, Orchideen, Vanille-Duftkerzen und Pfeife. Ich war gerne und oft dort, liebe das Zuhause und die Eltern von Samara und vermisse sie. Seit zwei Monaten war ich nicht mehr da.

Samara ist in dieser Zeit in regelmäßigen Abständen zu mir gekommen, hat ohne Vorankündigung einfach geklingelt, mit einem Sack voller Fake-Tupperware gefüllt mit arabischen Spezialitäten ihrer Mutter und mit einem Berg ausgedruckter Texte aus der Uni. Auf jedem Text stand oben rechts Datum und Titel der Vorlesung oder des Seminars. Die meisten Texte habe ich nicht mal gelesen, als ich noch in die Uni gegangen bin, geschweige denn ausgedruckt. Aus schlechtem Gewissen Samara gegenüber habe ich dann doch ein paar gelesen. Die Texte zur Literaturanthropologie um 1900 waren ganz cool.

Eigentlich wollte ich nie Literatur studieren, das war eine Übergangslösung, bevor ich dann irgendwann in Leipzig angenommen werden würde. Aber sowieso scheint mein ganzes Leben eine Art Übergangslösung zu sein.

Samara ist viel zu gut für mich. Sie wünscht mir per WhatsApp jeden Morgen einen Guten Morgen und jeden Abend eine Gute Nacht. Immer in unterschiedlichen Variationen, mal überschwänglich mit Emojis, mal schlicht, mal auf Französisch und mal auf Englisch. Ich antworte so gut wie nie.

Ich liebe Samara, sie ist das Beste, was mir je passiert ist, und das meine ich ganz unpathetisch. Die Erinnerungen an unsere Freundschaft und das Gedankenspiel, dass es irgendwann wieder so wie früher sein könnte, dass wir irgendwann wieder einen Samida-Wochenendtrip in eine Großstadt, nach Basel oder nach Riga ans Meer machen könnten, sind das Einzige, das mich manchmal vor sehr dummen Entscheidungen bewahrt.

Ich hole das Scheißteil aus der Bauchtasche, öffne den Chat.

Samara: Hier die Zusammenfassung der Vorlesung »Intermedialität« am 14.06.

Samara: Foto ihrer ordentlichen Notizen

Samara: Ich habe es dir auch als PDF via Mail geschickt

Samara: Guten Morgen Ida

Samara: Prof.Kuhn ist so ein Depp

Samara: Mama fragt, ob sie lieber Halva oder Falafel für dich machen soll?

Samara: Hab Halva gesagt

Samara: Du magst ja süß lieber, oder?

Samara: bonne nuit

Samara: Hab dich lieb

So geht das jeden Tag, und es würde mir fehlen, wenn sie damit aufhören würde. Das erste Mal tippe ich eine Antwort. Ich: Hi Samara

Ich: Ich bin jetzt erst mal weg

Samara tippt.

Samara: Wohin gehst du denn???

Ich: Wahrscheinlich zu Tilda

Samara: Wahrscheinlich???

Samara ruft an. Ich geh nicht ran, schließe wieder die Augen und schwimme.

Im Hauptbahnhof schaue ich auf die Anzeigetafel. In 15Minuten fährt ein Zug nach Hamburg. Tilda hat mir gestern Nacht während meines Anrufs via WhatsApp ein Flex-Ticket nach Hamburg geschickt. Ich dachte, ich hätte einen Herzinfarkt, und wusste nicht, wen ich anrufen soll. Klassische Panikattacke, hat Viktor gesagt, und ich finde es immer noch fast ein bisschen unverschämt, eine Nahtoderfahrung so abzutun. Panikattacke, kannte ich bisher nur von Instagram und TikTok.

Ich ärgere mich, dass ich aufgrund des vermeintlichen Herzinfarkts schwach geworden bin und den Kanal zu Tilda von meiner Seite aus geöffnet habe, aber ich dachte wirklich, ich sterbe. Jetzt denkt sie wahrscheinlich, dass ich wirklich Hilfe brauche, und wird mich wieder bombardieren mit Fragen und Ratschlägen. Seit dem Anruf in der Nacht von Mamas Tod habe ich sie keinmal angerufen. Sie war es immer, die angerufen hat oder vorbeigekommen ist. Und ich war es, die nicht rangegangen ist oder die einsilbig geantwortet hat, wenn ich das Gespräch nicht im Vorhinein unterbinden konnte. Lass mich, Tilda. Mir gehts gut. Ich brauch dich hier nicht. Ich weiß noch nicht mal, warum ich so zugemacht habe, warum ich so kacke bin zu ihr. Aber da ist so ein Wutklumpen in meinem Bauch, der Besitz von mir ergreift und Tilda anfaucht. Und ich weiß noch nicht mal, gegen wen oder was, ob der Wutklumpen sich gegen Tilda richtet oder gegen mich oder gegen alles, und es macht mich so wütend, dass ich nicht weiß, gegen wen oder was sich der Wutklumpen richtet, dass ich mir am liebsten mit einem Brotschneidemesser jeden Finger einzeln abschneiden würde. Ganz langsam oder ganz schnell.

Der Wutklumpen will auch nicht nach Hamburg. Ein Teil von mir will schon nach Hamburg. Ein Teil von mir erträgt es nicht mehr, allein zu sein, und sehnt sich danach, sich von Tilda bemuttern zu lassen. Ich denke an Tilda, Viktor und die Kleinen. Ich denke an Arme Ritter mit Vanillesoße, die Tilda mir zubereiten würde. Und ich denke an die Worte, die sie wieder sagen würde: »Du bist nicht schuld«, »Sie war am Ende«, ihre Fragen: »Du hast die Wohnung gekündigt?«, »Was hast du jetzt vor?«, »Wo willst du wohnen?«, »Willst du dein Studium abbrechen?«, und schaue mir währenddessen in der DB-App die Strecken der Züge an, die in Hamburg halten und weiterfahren. Ein ICE fährt bis nach Stralsund. Ostsee. Das klingt doch gut. Fährt aber erst in zwei Stunden.

Seit ich nicht mehr schreibe, hasse ich Warten. Deswegen muss ich die zwei Stunden irgendwie füllen. Im Rossmann kaufe ich ein paar Snacks und Getränke für die Fahrt. Selbstbedienerkassen sind echt klasse. Aufgrund der AirPods und der Musik in meinen Ohren kann ich das Piepen leider nicht hören, scanne deswegen versehentlich nur jedes zweite Produkt richtig ein und packe Mamba, Billy-Tiger-Maisstangen, Cola Zero und ein Überraschungsei in meinen Rucksack. Im Zeitschriftenladen im Bahnhof gibt es nur trashige Liebesromane und Krimis, für die es sich nicht lohnt, über 10Euro auszugeben. Und Bücher klaue ich aus Prinzip nicht. Ich blättere in ein paar Klatschzeitschriften, die Kardashians und ihre Leihmütter, der Saftkur-Wahn der Stars, und gehe zu Gleis 8, setze mich auf die Bank und zünde mir eine Zigarette an. Ein mittelalter Mann neben mir räuspert sich. Er räuspert sich wieder. Wehe, er spricht mich an. So ein Alman hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Er räuspert sich wieder.

Der Mann: Junge Dame. Der Raucherbereich ist da vorne.

Ich fühle mich nicht angesprochen.

Der Mann räuspert sich wieder.

»Hier darf man nicht rauchen«, sagt er viel zu laut und unfreundlich.

Ich drehe mich langsam zu ihm.

Ich: Sorry, what did you say?

Der Mann ist wie erwartet nicht vorbereitet auf einen Sprachwechsel, zeigt dann mit dem Finger auf den Raucherbereich und raucht pantomimisch, »Da! Rauchen!«, ich zucke mit den Schultern, »Sorry, I don’t understand«, und beobachte, wie es in seinem Kopf rattert. Er steht auf, läuft um die Bank herum und setzt sich auf den Platz, der am weitesten von meinem entfernt ist, während er »Scheiß Amis« vor sich hin brabbelt.

Arschloch. Ich zünde mir noch eine Zigarette an, obwohl mir schon schlecht ist.

Das Bahngleis ist brechend voll, weil der vorherige ICE Richtung Hamburg ausgefallen ist. Ich dränge mich in den Zug, will auf keinen Fall stehen, wenn ich schon mal ein Ticket habe, aber alle freien Plätze sind reserviert. Ich finde einen Vierer, in dem nur zwei Plätze reserviert sind, setze mich ans Fenster und hoffe auf keine nervigen Sitzpartner. Neben mich setzt sich ein junger Mann um die 30. Schwarzer Anzug, er meidet Blickkontakt, hat offensichtlich genauso wenig Bock auf Konversation wie ich. Er fragt noch nicht mal, ob der Platz frei ist, stellt, sobald er sitzt, sein iPad auf und schaut die zweite Staffel Succession. Ich mag die Serie, schaue ein bisschen mit. Er bemerkt es, wir wechseln kurz einen Blick, und es scheint ihn nicht zu stören. Zumindest unternimmt er nichts dagegen. Als ich kurz davor bin, den Mann zu fragen, ob ich meine AirPods mit seinem iPad verbinden darf, kommt eine Frau mit einem Mädchen, sie setzen sich zu uns in den Vierer, und meine Aufmerksamkeit wechselt von einer creepy Familie zur anderen.

Die Mutter: So, Lia, das sind unsere Plätze.

Lia setzt sich mir gegenüber ans Fenster, und wir mustern uns. Sie ist circa fünf Jahre alt, zwei hellblonde geflochtene Zöpfe und große neugierige braune Augen.

Die Mutter: Wir sind nun vier Stunden unterwegs.

Lia und ich schauen zu der Mutter, die den Rucksack moderierend auspackt, als wäre es eine Performance.

Die Mutter: Wir haben hier mehrere Programmpunkte. Du darfst immer nur eine Sache machen. Teil es dir gut auf.

Die Mutter packt eine Metallbrotbox aus und legt sie auf den Tisch.

Die Mutter: Du kannst essen.

Die Mutter packt eine Zeitschrift aus und legt sie auf den Tisch.

Die Mutter: Die GEOlino anschauen.

Die Mutter packt ein Tablet aus.

Die Mutter: Eine Folge Benjamin Blümchen schauen.

Die Mutter packt ein Buch aus. Eins von dieser Insel-Reihe, Little People, BIG DREAMS. Frida Kahlo. Damit die Kinder früh lernen, BIG DREAMS zu entwickeln, und entweder kleine Einsteins, Lindgrens oder Kahlos werden. So ein Scheiß, denke ich.

Die Mutter: Oder ein Buch anschauen.

Die Mutter: Womit willst du anfangen? Oder willst du erst einmal aus dem Fenster schauen?

Lia und ich schauen auf den Tisch, der voller Programmpunkte ist.

Ich packe meine Programmpunkte auch aus: Smartphone, Überraschungsei, Mamba, Cola Zero und die Billy-Tiger-Maisstangen, die mich irgendwie gar nicht mehr ansprechen.

Lia schaut auf mein Überraschungsei und sagt: »Benjamin Blümchen«.

Ich sage nicht: »Ich schaue erst einmal aus dem Fenster«, weil das ja nicht meine Mama ist. Während wir an Wäldern, Bergen und Feldern entlangfahren und Lia eine Folge Benjamin Blümchen schaut, frage ich mich, wo Lia mit ihrer Mutter hinfährt. Zu ihrem Papa, schätze ich, oder zu den Großeltern oder wieder zurück nach Hause.

Lia: Ich will nicht mehr sitzen.

Ich will auch nicht mehr sitzen, aber irgendwie schaffe ich es, die Zugfahrt mit meinen Programmpunkten herumzubekommen. Bis Hannover schaue ich Succession, sogar mit Ton. Der Mann hat, während wir geschaut haben, die Bluetooth-Einstellungen geöffnet und mich fragend angeschaut. Ich habe auf »Idas AirPods« gedrückt. Als er dann irgendwann das iPad einpackt, nickt er mir zum Abschied zu.

Als er weg ist, widme ich mich dem Überraschungsei. Lia, die gerade mit dem Programmpunkt GEOlino beschäftigt ist, schaut mir zu.

Lia: Ich will auch essen.

Die Mutter öffnet die silberne Brotbox, in der sich eine braune Masse befindet, die stinkt.

Lia: Was ist das?

Die Mutter: Linsen-Bulgur-Salat mit Karotten.

Ich öffne die gelbe Überraschungskapsel, in der sich die Disney-Prinzessin Mulan befindet. Cool. Danach schaue ich auf meinem Smartphone ein Reaction-Video zu der neuen Bachelorette-Folge und schäme mich dafür. Daraufhin ziehe ich mir eine Arte-Doku über alte Balletttänzer rein, die traurig sind, dass ihre Karriere vorbei ist.

Kurz vor Hamburg schließe ich dann die Augen und tue so, als würde ich schlafen, während ich mit leiser Musik in den Ohren den Durchsagen lausche. Eigentlich müsste ich es bis zur Endstation schaffen. Die machen jetzt keinen Personalwechsel mehr, und wenn, dann habe ich meinen Halt verpasst und lande in Schwerin, Bützow, Rostock oder Velgast. Immer wieder döse ich ein, vermutlich weil ich zwei Tage lang gar nicht geschlafen habe, denke im Halbschlaf ganz kurz an gestern, an die Stille, an Mamas Zimmer, ihren Kleiderschrank, den Geruch, ihren Geruch und schrecke auf. Ich bin hellwach, will nicht mehr sitzen und erhöhe die Lautstärke maximal.

»Anruf von Tilda«, sagt Siri, ich sage: »Nein«, und die Musik spielt weiter. Wieder sagt Siri: »Anruf von Tilda«, ich sage wieder: »Nein«. Dann sagt Siri: »Anruf von Viktor«, ich nehme das Smartphone aus der Bauchtasche, lehne ab, damit ich nicht wieder Nein sagen muss, und warte auf neue Anrufe, die ich ablehnen kann. Tilda ruft noch einmal an, dann ploppen mehrere Nachrichten auf. Sie fragt: »kommst du?«, »wann kommst du?«, »ida?«, »???«, Viktor fragt: »Soll ich dich am Bahnhof abholen?«, ich antworte: »Nein. Sorry. Ich schalte den Flugmodus an«, und schalte den Flugmodus an. Wahrscheinlich sollte ich das Smartphone schnellstmöglich loswerden. Viktor schafft es bestimmt, mich zu finden, indem er sich in mein Handy oder MacBook hackt. Oder Tilda rechnet aus, mit welcher Wahrscheinlichkeit ich in welchen Zug gestiegen bin. Sie weiß, dass ich kein Geld für einen Zug habe. Sie weiß, dass ich pleite bin. Als sie letztes Mal da war, vor zwei Wochen oder so, hat sie den Briefkasten geleert, und da waren ein paar Mahnungen und die fristlose Kündigung vom Café drin. Tilda hat mir daraufhin sofort per PayPal 600Euro überwiesen, obwohl sie weiß, dass ich kein Geld von ihr annehme. Ich habe ihr 620Euro zurücküberwiesen. Es ist schon schlimm genug, dass sie monatlich Geld auf unser Familienkonto einzahlt und ich deswegen nie ganz unabhängig von ihr sein kann, sein konnte. Tilda weiß, dass meine Schufa und ich am Arsch sind, und hofft, dass ich vernünftig bin und einfach das Zugticket benutzen werde. Und sie wird herausfinden, in welchem Zug ich sitze. Das geht bestimmt über diesen blöden QR-Code. Aber letztlich ist das ja auch egal. Sie kann ja wissen, wo ich bin, ich will sie einfach nicht sehen. Ich will allein sein. Wenn ich an das Mitleid in ihren Gesichtern denke, an Tildas Tatendrang, mit dem sie mir helfen will, die Pläne, die sie schmiedet, die Listen, die sie schreibt, an Viktors Zurückhaltung, würde ich MacBook und Smartphone am liebsten beim nächsten Halt auf die Gleise werfen. Ich will sie so gerne sehen, dass es schmerzt. Auch die Kleinen.

Wegen des Flugmodus kann ich jetzt auch nichts mehr auf meinem Handy schauen. Ich könnte was auf meinem MacBook schauen, aber das kann ich nicht öffnen, weil die Tasten mich anbrüllen. Also sitze ich da, mit dem Kopf am kühlen Fenster, mit geschlossenen Augen und versuche, die Gedanken auszuschalten. Ich will an nichts denken. Ich will nur an das Draußen denken. Öffne die Augen und schaue die Bäume an und den Himmel, der schön aussieht, weil die Wolken sich so dramatisch vor dem Hellblau aufbauschen. Aber was soll ich noch anderes über den Himmel und die Bäume denken, außer dass sie schön sind. Ich denke an Mamas Grab, das jung ist und auf dem keine Blumen sind. Oder vielleicht sind auf Mamas Grab auch Blumen. Vielleicht war Ragnar oder ein anderer Verflossener dort, oder vielleicht hatte eine Oma, die täglich das Grab ihres Mannes besucht, Mitleid mit diesem leeren Grab dieser viel zu früh Verstorbenen. Ich weiß nicht, ob Blumen auf Mamas Grab sind, ich war ja noch nicht da. Aber ich denke, dass keine Blumen auf Mamas Grab sind.

Schlaftabletten wären jetzt geil. Ich hätte Mamas Vorrat mitnehmen und einfach durchschlafen sollen bis zur Endstation, bis mich irgendjemand weckt. Aber von den Dingern bekomme ich ab und zu Horroralbträume, und ich will mein Unterbewusstsein in seinem jetzigen Zustand nicht herausfordern.

»In wenigen Minuten erreichen wir die Endstation Stralsund. Bitte alle aussteigen. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Abend«, sagt ein viel zu gut gelaunter Zugbegleiter. Zu gut gelaunte Zugbegleiter sind manchmal niedlich, aber meistens absolute Endgegner, denke ich, und vor allem denke ich: Fuck. Fuck, ich hätte die Zeit nutzen sollen, um mir zu überlegen, was ich in Stralsund mache. Ich höre Möwen, als ich aussteige, und mag die Luft, die frische Brise, die hier weht. Aber irgendwie fühlt sich das noch nicht weit genug weg an, und ich bin noch nicht bereit, jetzt irgendeine Entscheidung bezüglich meines wunderschönen Abends zu treffen. Ich schaue auf die Anzeigetafel, sehe einen Zug, der bis Ostseebad Binz fährt. Rügen. Eine Insel. Perfekt. Regionalbahn auch gut.

Es nieselt und ist dunkel, als ich ankomme. Ich höre wieder Möwen. Diesmal sind sie noch lauter, und auch die Brise ist frischer als in Stralsund.

Vor dem Bahnhof frage ich eine alte Frau, in welcher Richtung das Meer ist, und schleppe den marineblauen, immer noch nicht richtig rollenden Hartschalenkoffer in die Richtung, in die sie zeigt. Als ich das Rauschen höre, kann ich endlich durchatmen. Ich ziehe den Koffer in den Sand und setze mich auf ihn, atme das Meer ein in meinen Körper und atme den Geruch von Mamas Zimmer, die Flucht aus der Wohnung, die lange, qualvolle Zugfahrt aus, höre fast, wie diese schwere Kackluft zu Boden platscht. Und dann höre ich nur noch das Meer. Ich höre, sehe und rieche das Meer und überlege, schon jetzt reinzugehen. Aber ich muss auch einmal vernünftig sein. Ich habe zwar bis jetzt hauptsächlich Rentner auf dieser Insel gesehen, aber falls jemand den Koffer und meinen Laptop klauen würde, hätte ich gar nichts mehr auf dieser Welt. Alles, was ich geschrieben habe, wäre weg. Ich wäre dann quasi eine besitzlose, heimatlose Meerjungfrau. Weil mir die Vorstellung gefällt, überlege ich, doch reinzugehen, stehe aber auf und suche eine Jugendherberge. Schnell finde ich ein Schild, dem ich folge, und als ich junge Menschen vor einem Gebäude sehe, überlege ich, doch wieder zum Meer zu gehen. Ich mag junge Menschen eigentlich nicht. Die sind mir zu optimistisch. Und Jugendherbergen und Hostels mag ich auch nicht. Alle optimistischen jungen Menschen sind da so krass kommunikativ und auf Spaß aus. Aber ein Airbnb kann ich mir nicht leisten. Ich setze mein »Wehe, du sprichst mich an«-Gesicht auf, gebe mein restliches Geld für zwei Nächte in einem Mehrbettzimmer aus und habe das Glück, in ein Sechsbettzimmer zu kommen, in dem nur zwei Betten belegt sind, deren Gäste nicht da sind. Ich dusche kalt, ziehe mich um und spüre, wie mich die Müdigkeit beziehungsweise Übermüdung in den Schlaf zerrt. Vielleicht ist das die langfristige Lösung meiner Schlafprobleme: zwei Tage wach bleiben, bis die betäubende Müdigkeit einfach stärker ist als die lauten Gedanken in meinem Kopf, die mich nicht einschlafen lassen wollen, die mir Bilder zeigen, die ich vergessen will, die Geschichten erzählen, die ich vergraben will, und die mich vor allem anbrüllen, dass ich es versaut habe, dass ich mehr hätte tun müssen.

Als ich um 13Uhr aufwache, ziehe ich sofort Badeanzug, großes Shirt, Bauchtasche an und gehe zum Meer. Es ist kalt, und der Himmel ist grau. Ich renne zum Strand, damit mir warm wird. Als ich das Meer nun im Hellen sehe, widerstehe ich dem Drang, Tilda ein Foto zu schicken. Sie liebt das Meer genauso wie ich, aber ich traue mich nicht, den Flugmodus rauszunehmen. Tilda ist richtig sauer, das weiß ich.

Ich ziehe das Shirt aus, lege es auf meine Bauchtasche, renne Richtung Wasser, das so kalt ist wie erwartet, und kraule in die Wellen, sobald ich tief genug drin bin. Ich konzentriere mich auf meinen Körper, meine Muskeln, meine Arme und Beine, die schneller und stärker sein müssen, als sie es sind. Im Meer schwimmen ist ganz anders als im Schwimmbad. Es ist schwierig, einen Rhythmus zu finden. Aber es ist auch krass schön, ins Offene, Weite zu schwimmen, gegen die Wellen, die sich nie so bewegen, wie man denkt. Zieh durch, zieh durch. Das Wasser und ich eine Einheit, ich ein Teil vom Meer, ein erschreckend kleiner Teil vom Meer. Die Gedanken und der Schmerz laufen aus meinem Körper raus. Ich spüre, dass ich nicht mehr lange kann, dass Arme, Beine und Atmen schwer und die Wellen größer werden, und ich weiß, dass jetzt der Zeitpunkt ist zu wenden. Ich kann meine schwindenden Kräfte ganz gut einschätzen, aber ich schwimme trotzdem weiter. Ein klitzekleines Stück noch. Ich höre ein Pfeifen und schwimme weiter, weiß nicht, was das in mir ist, das mich nicht wenden lässt, wende und kämpfe mich zurück zum Strand. Meine Beine zittern, als sie den Boden berühren. Eine junge, stämmige Frau kommt mir entgegen. Rotes DLRG-Shirt, Pfeife um den Hals, braune Locken.

Die junge Frau: Bist du verrückt?

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.

Die junge Frau: Du kannst doch nicht so weit rausschwimmen. Das ist lebensgefährlich.

Ich: Ich bin Schwimmerin.

Die junge Frau: Das ist dem Meer ganz schön egal.

Ich: Chill, das ist die Ostsee.

Die junge Frau folgt mir und steht neben mir, als ich Shirt und Bauchtasche aufhebe. Sie ist jünger als ich, hat wahrscheinlich gerade erst ihr Abi gemacht.

Ich: Bekommst du Geld fürs Pfeifen?

Sie: Taggeld. 22Euro.

Ich: 22Euro pro Tag?

Sie: Ja, aber Unterkunft bekommen wir bezahlt.

Sie überlegt.

Sie: Ich kann dir die Nummer von meinem Chef geben, wenn du Lust hast mitzumachen. Schwimmen kannst du ja.

Ich: Nee, ich kann deinen Chef nicht anrufen, bin im Flugmodus.

Sie: Du bist weird. Komm morgen zur Wache, dann ist Mike da.

Ich: Mal schauen.

Ich winke ihr, als ich mich auf den Weg zurück Richtung Hostel mache, weil mir eiskalt ist, und höre nicht, wie sie ruft: »Wie heißt du eigentlich?«

Irgendeinen Job muss ich mir suchen. 22Euro pro Tag ist zu wenig. Als Kellnerin oder so könnte ich locker am Abend 100 verdienen. Dann hätte ich, wenn man die Übernachtung abzieht, 80 pro Tag. Wenn ich zwei Wochen hierbleiben würde, wären das um die … Wenn ich zehn Tage hierbleiben würde, wären das um die 800. Dann wären das bei 14Tagen schätzungsweise bestimmt über 1k. Ich hasse Mathe. Mein Konto ist leer, und ich muss mir ein Polster anlegen. Ich laufe die Strandpromenade entlang, biege irgendwann in eine Seitenstraße ein, bleibe vor einer Bar stehen, die »Zur Robbe« heißt, weil ich den Namen mag. Obwohl mir so kalt ist, dass ich zittere, setze ich mich auf die Bank, die unter dem Schild steht, rauche eine und beschließe, doch erst einmal ins Hostel zu gehen, mich aufwärmen und umziehen. Als ich aufstehen will, merke ich, dass mir schwindelig ist. Ich habe seit gestern nichts gegessen außer einem Überraschungsei, Mamba und den Billy-Tiger-Maisstangen, und die Zigarette gibt mir den Rest. Während ich da sitze und darauf warte, dass mein Kreislauf zurückkommt, kommt stattdessen ein alter Mann aus der Tür neben der Bank, der genauso aussieht, wie ich mir den Besitzer von der Robbe vorstelle. So wie ein Seemann. Um die 70, groß gewachsen, sonnengegerbte braune Haut, blaue Augen, weißgraues Haar unter einer braunen Schiebermütze, kariertes Hemd, verwaschene Jeans und natürlich: Gummistiefel.

Ich: Hallo.

Er erschrickt leicht und dreht sich zu mir um. Lustig. Er sieht nicht aus wie jemand, den irgendwas erschreckt.

Alter Mann: Wir öffnen erst um 18Uhr.

Ich: Suchen Sie vielleicht eine Kellnerin oder so?

Er mustert mich kritisch. Mein Gesicht wahrscheinlich aschfahl, das Haar nass, ich trage lediglich ein T-Shirt über meinem nassen Badeanzug, Bauchtasche, keine Schuhe, eine verglühende Zigarette auf dem Boden vor mir.

Alter Mann: Warst du schon mal in der Robbe?

Ich: Nein.

Alter Mann: Hast du schon mal in einer Kneipe gearbeitet?

Ich: Nein. Aber in einem Café.

Ich: Und ich bin ja nicht blöd.

Er überlegt, schaut mir dabei grimmig in die Augen. Ich halte seinem Blick stand.

Alter Mann: Dann komm heute Abend zum Probearbeiten. Um 17 Uhr gehts los. 13Euro Stundenlohn plus Trinkgeld.

Ich: Okay.

Alter Mann: Wie heißt du?

Ich: Ida.

Er streckt mir seine große Hand entgegen und sagt: »Knut.«

Ich unterdrücke ein Lachen und ergreife seine Pranke. Knut verzieht keine Miene.

»Was zieht man als Kellnerin an?«, frage ich die beiden Lehramtsstudentinnen in meinem Zimmer. Hannah und Nela sind während der Semesterferien hier für einen Kitesurf-Kurs. »Sportlich und schlicht«, sagt Nela. Ich ziehe einen schwarzen Midirock, ein weißes Croptop, Bauchtasche und Sneaker an. Hannah zeigt Daumen hoch. Weil mir das zu farblos ist, ziehe ich meine pinke Lederjacke noch drüber und renne dann zur Kneipe, damit ich nicht gleich am ersten Tag zu spät komme.

Knut zeigt mir als Erstes die Robbe, was sehr schnell geht. Die Robbe ist innen recht dunkel. An der hinteren Wand längs eine große Theke, im Raum viele abgenutzte Holztische und -stühle und vorne in der Ecke ein ovaler Stammtisch. An der Wand hängen alte Fotos in Schwarz-Weiß. Ich sehe die vereiste Küste von Rügen (1921) und eine Bäuerin und einen Bauer mit Pfeife im Mund auf einem Heuwagen sitzen (1911). Beide schauen mich direkt an. Sie lächeln nicht, aber sie wirken nicht unzufrieden. Knut zeigt mir, wo die Schnäpse stehen, wo das Bier gelagert wird, welche Getränke am häufigsten bestellt werden: Bier und Schnaps. Cocktails gibts keine, nur ein paar Longdrinks.

Knut: Weißt du, wie man die macht?

»Ja«, lüge ich. Im Café gab es keine Longdrinks, nur Kuchen und Kaffee. Ich habe die Arbeit dort gemocht, das Zubereiten von Kaffeespezialitäten, das Beobachten der Gäste und vor allem die Jagd nach dem Trinkgeld. Man musste sich bei jedem Gast anders verhalten, um möglichst viel Trinkgeld zu bekommen. Und ich habe immer richtig viel Trinkgeld bekommen. Mein Chef hat mich geliebt, ich sei viel besser als meine Mutter, hat er mal gesagt, der Arsch. Und dann kündigt er mir einfach, sobald ich mal ein paar Wochen nicht da bin, weil besagte viel schlechtere Bedienung aka meine Mutter gestorben ist. Fünf Jahre habe ich in dem Dreckscafé gearbeitet, mit 16 oder so die frei gewordene Stelle von Mama übernommen, als sie nicht mehr in der Lage war zu arbeiten. Da habe ich dann auch mein eigenes Konto eröffnet neben dem Familienkonto.

Knut: 20–25 cl Alkohol.

Ich: Ja, weiß ich.

Bis die Robbe öffnet, muss ich die Tische abwischen, Bier in den Kühlschrank räumen und Gläser spülen.

Ab 18Uhr kommen hauptsächlich Einheimische, wenig Touristen. Die meisten trinken Bier. Ich räume Gläser und Flaschen ab, spüle sie, bringe neue volle Gläser und Flaschen und kassiere ab.

Um 21Uhr betritt eine vierköpfige Männergruppe die Kneipe. Sie sehen lustig aus, wie sie da hintereinander reinkommen, weil sie überhaupt nicht zusammenpassen. Die Zusammensetzung der Gruppe erinnert mich an so schlecht gecastete Highschool-Serien, in denen Schüler aus den unterschiedlichsten Cliquen gezwungenermaßen zusammen nachsitzen müssen. Der Erste ist klein und kräftig, trägt diese Engelbert-Strauss-Arbeitskleidung, hat dreckige Hände und schaut ganz grimmig, der Zweite sieht aus wie ein Schnöselsegler inklusive Segelschuhen, zurückgegeltem blonden Haar, Helly-Hansen-Jacke, engem Poloshirt darunter und Ray-Ban-Sonnenbrille trotz der Dunkelheit, und die letzten beiden, die cool kids, die Beliebten, sehen aus, als wollten sie gleich einen Werbespot für Carhartt, Veltins oder O2 drehen.

Ich denke an Samara und mich. Wir sahen auch immer so aus, als würden wir zu verschiedenen Partys gehen. Yin und Yang hat uns Tilda schon damals genannt. Samara wirkt auf den ersten Blick ruhig, sie ist sehr ordentlich, fast schon neurotisch ordentlich, hat glattes schwarzes Haar, und ihre Lieblingsfarbe ist Schwarz. Inzwischen hat sie so einen coolen minimalistischen Berliner Style, der hauptsächlich aus schwarzen und manchmal weißen Kleidungsstücken besteht. Ich bin laut und chaotisch, habe blonde Locken, liebe bunte Farben, die knallen, und mag es, wenn meine langen Kleider im Wind wehen.