Bornholmer Flucht - Katharina Peters - E-Book
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Bornholmer Flucht E-Book

Katharina Peters

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Beschreibung

Spurensuche auf Bornholm.

Sarah Pirohl, eine ehemalige Polizistin, hat sich nach Bornholm zurückgezogen. Aber auch hier findet sie keine Ruhe. Als sie nach einem Aufenthalt aus Deutschland zurückkehrt, ist ihr Freund, ein dänischer Journalist, verschwunden. Ist Frederik, der sich oft mit brisanten Fällen befasst, entführt worden? Am nächsten Tag wird in einem ausgebrannten Auto eine Leiche gefunden. Es ist nicht Frederik, doch wer ist der Tote? Und was hat Frederik mit alldem zu tun? 

Eine Ermittlerin in eigener Sache unterwegs – der neue Kriminalroman der Autorin der Bestseller „Ufermord“ und „Todeswelle“.



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Seitenzahl: 439

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Über das Buch

Als Sarah aus einem kurzen Aufenthalt in Berlin nach Bornholm zurückkehrt, ist ihr Freund Frederik verschwunden. Alles sieht danach aus, als sei er entführt worden. Blutspuren weisen auf einen Kampf hin. Am nächsten Morgen wird in einem ausgebrannten Wagen eine Leiche entdeckt. Sarah durchlebt bange Minuten, doch bei dem Toten handelt es sich nicht um Frederik. Wenig später erhält sie eine SMS von einem unbekannten Absender, der sich als Frederik entpuppt: Er sei in Sicherheit, doch niemand dürfe erfahren, wo er sich aufhalte. Sarah weiß, dass Frederik als Journalist, der brisante Themen nicht scheut, schon oft in Gefahr war. Doch als Gerüchte zu kursieren beginnen, dass Frederik gefälschte Berichte über die rechtsextreme Szene verfasst und möglicherweise einen Widersacher getötet hat, beschließt sie zu handeln.

Über Katharina Peters

Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin.Aus der Rügen-Serie mit Romy Beccare sind »Hafenmord«, »Dünenmord«, »Klippenmord«, »Bernsteinmord«, »Leuchtturmmord«, »Deichmord«, »Strandmord«, »Fischermord«, »Schiffsmord«, »Ankermord« und »Ufermord« lieferbar.

Aus der Ostsee-Serie sind »Todesstrand«, »Todeshaff«, »Todeswoge«, »Todesklippe«, »Todeswall« und »Todeswelle« lieferbar.

Zuletzt erschienen von ihr: »Bornholmer Schatten« und »Bornholmer Falle«.

Mehr zur Autorin unter www.katharinapeters.com

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Katharina Peters

Bornholmer Flucht

Kriminalroman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Impressum

Eshters Empfehlung für lange Nächte

Prolog

Das Blockhaus verfügte über einen Keller, den seine Mutter nur selten genutzt hatte. Sie mochte den steilen wackligen Abstieg in die Tiefe nicht, wo es feucht, dunkel und kalt war und auch etwas unheimlich, und hatte die Vorzüge, die der Mann, der ihn einst gebaut hatte, nicht zu schätzen gewusst oder für überflüssig gehalten. Irgendwann hatte sie den Zugang kurzerhand mit einem robusten Brett vernagelt. Doch ein gutes Versteck, von dem niemand etwas ahnte, war zu jeder Zeit hilfreich – ein Rückzugsort, an dem man sich sammelte, auf Vorräte zugreifen und besonnen weitere Schritte planen konnte, um seinen Gegner zu überraschen. Die Bornholmer waren schon immer Strategen gewesen – die Insel hatte in ihrer wechselvollen und stürmischen Geschichte oft genug gegen Übergriffe verteidigt werden müssen. Und in Hasle wohnten seit jeher die tapfersten Bornholmer, wie jeder Däne wusste. Hier hatte in der Mitte des 17. Jahrhunderts der Widerstand gegen die Schweden seinen Anfang genommen, und die Anführer der Rebellion stammten aus Hasle.

Frederik Thomsen hatte das Haus kurz nach dem Tod seiner Mutter übernommen und nur wenig später den Keller zu einem geheimen Versteck ausgebaut, von dem niemand etwas wusste. Die Gewissheit, innerhalb kurzer Zeit auf Bargeld, Papiere, neue SIM-Karten, Datenspeicher und Ähnliches zugreifen und dann nahezu spurlos verschwinden zu können, hatte ihm immer ein gutes Gefühl vermittelt. Sicherheit, ein Stück davon. Wer sich mit mächtigen Feinden anlegte, brauchte etwas in der Hinterhand.

Der einzige Nachteil bestand darin, dass der Keller kein Versteck war, das er spontan und unbemerkt in einer plötzlich bedrohlichen Gefahrensituation aufsuchen konnte. Der Zugang verbarg sich unter dem wuchtigen Schreibtisch. Zwei Dielenbretter im Fußraum mussten angehoben werden, darunter war eine verschließbare Luke angebracht. Aus der Tiefe führte ein ebenfalls gut versteckter zusätzlicher Ausgang in ein Gebüsch direkt zum Carport. Das klang gut, beruhigend. Doch Frederik benötigte stets einige Minuten für den Abstieg, ungefähr fünf, um genau zu sein, denn schließlich sollte nichts auf das Versteck hinweisen – wenn er die Handgriffe regelmäßig übte, schaffte er das Prozedere in knapp vier.

An dem Morgen, als der Postwagen vorfuhr, hatte Frederik sich gerade einen Kaffee gekocht und blickte zum Fenster hinaus. Seine Redaktion in Kopenhagen wartete auf die letzte Fassung eines Artikels. Er stellte seine Tasse ab und ging zur Tür. Der Postmann hieß Gustav, und er hatte zwei Pakete für ihn und ein paar offizielle Schreiben. Gustav erledigte die Postfahrten im westlichen Teil der Insel, seit Frederik denken konnte. Manchmal sprang eine Aushilfe ein, aber das war ausgesprochen selten. Frederik wechselte ein paar Worte mit ihm und ließ die Tür auf, während er die Pakete ins Wohnzimmer brachte.

Das Letzte, woran Frederik sich überdeutlich erinnerte, war das Geräusch des aufheulenden Motors, als Gustav mal wieder zu viel Gas gab und um die Ecke bog; dann trat Stille ein, der plötzlich ein leises Knacken hinter seinem Rücken folgte. Frederik drehte sich um, als ihn ein Schlag von der Seite traf. Er fiel sofort zu Boden. Der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, war eine Bemerkung von Krølle – einem Mann mit hervorragenden Kontakten und Talenten, der für alle möglichen Auftraggeber tätig wurde sowie Drecksarbeit erledigte und ihn kürzlich in seinem Haus überrascht hatte. »Du solltest etwas für deine Fitness tun«, hatte Krølle in lapidarem Ton bemerkt. Krølle bedeutete Locke und war natürlich nicht sein richtiger Name. Ich hätte auf ihn hören sollen, dachte Frederik, bevor er das Bewusstsein verlor.

Als er wieder zu sich kam, war ihm übel, sein Kopf dröhnte, und er konnte seine Hände nicht bewegen. Sie waren gefesselt, und sein Mund war mit Klebeband verschlossen. Frederik atmete scharf ein, sein Herz begann zu rasen, als ihm klar wurde, was geschehen war. Sie hatten ihn erwischt. Nach all den Jahren war es ihnen nun gelungen, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen und seinen Unterschlupf ausfindig zu machen. Er hatte immer damit gerechnet, dass es eines Tages so weit sein könnte, erst recht, seitdem er mit Sarah Pirohl zusammen war und sie sich gemeinsam dem Kampf gegen ein rechtes Netzwerk verschrieben hatten. Ein Netzwerk, das Sarahs Großvater Friedrich Pirohl, Gründer einer einflussreichen Berliner Wirtschaftskanzlei, entscheidend mitgestaltet und ihr Vater ausgebaut hatte. Dass der alte Pirohl längst tot war und sein Sohn Bernd seit Anfang des Jahres mit einigen seiner Mitstreiter in Untersuchungshaft saß, tat dem Wirken der Gruppe genauso wenig Abbruch wie die weitreichenden Ermittlungen verschiedener Behörden über Ländergrenzen hinweg, einschließlich der Bundesanwaltschaft.

Frederik unterdrückte ein Stöhnen. Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn seine Mutter und der deutsche Jurist Siegfried Kolmer, ein Studienkollege vom alten Pirohl und Dänemark-Fan, kein Paar geworden wären? Interessante Frage, die allerdings im Moment völlig sinnlos war. Sein Vater hatte früh begriffen, wessen Geistes Kind Pirohl war, und Frederik zur Vorsicht gemahnt, und nun lebte er nicht mehr. Ein Herzinfarkt hatte ihn vor gut anderthalb Jahren mit voller Wucht erwischt. Erst letztens hatte Frederik darüber nachgedacht, wie schade es war, dass sein Vater die Verhaftung von Pirohl nicht mehr erleben konnte, an der ausgerechnet dessen Tochter Sarah maßgeblich beteiligt gewesen war.

Frederik schob die Gedanken beiseite und blinzelte vorsichtig. Er lag lang ausgestreckt auf dem Boden im Wohnzimmer. Die Übelkeit ließ etwas nach, seine Kopfschmerzen waren immer noch deutlich spürbar. Ein Mann saß an seinem Schreibtisch und machte sich an seinem Computer zu schaffen. Frederik hörte ein dezentes Fluchen. Das Zugangspasswort knackst du nie, dachte er grimmig. Er galt in der Szene sicherlich nicht als der herausragende IT- oder Darknet-Spezialist – da gab es andere, Marvin aus Berlin zum Beispiel –, doch seine Hacker-Fähigkeiten durften in jedem Fall als überdurchschnittlich bezeichnet werden, und sein Passwort fand garantiert niemand heraus. Darauf würde er glatt eine Wette abschließen.

Der Mann am Schreibtisch fluchte lauter. Frederik musterte ihn genauer. Der Typ war groß und schlank, soweit er das von seinem begrenzten Blickwinkel vom Boden aus beurteilen konnte – er trug ausgewaschene Jeans und ein schwarzes Designer-Shirt, dazu Sneaker und Lederhandschuhe, was nicht unbedingt dem klassischen Outfit des gewaltbereiten Nazischlägers entsprach. Aber die Zeiten, da man die gefährlichen Typen an ihren Glatzen und Stiefeln, den Camouflage-Hosen und Tattoos, dem aggressiven Gegröle und den geifernden Schlachtrufen zu erkennen meinte, waren längst vorbei, dachte Frederik – besser gesagt: Sie waren nur die Vorhut, die eine Seite der Medaille. Die eigentlichen Strippenzieher, die Planer und Geldleute blieben stets im Hintergrund. Sie waren smart und intelligent, unauffällig und einnehmend, sie hatten weitreichenden Einfluss, beste Beziehungen und Fachleute auf jedem Gebiet; und wahrscheinlich war es schon immer so gewesen: Während die Glatzen brüllend und prügelnd durch die Straßen zogen und in den Fokus der Aufmerksamkeit gerieten, hatten sie im stillen Kämmerlein längst weitergehende Pläne geschmiedet.

Frederik schluckte mühsam, der Typ am Schreibtisch drehte plötzlich den Kopf zu ihm herum und sah ihn einen Moment aufmerksam an, bevor er den Stuhl herumdrehte. »Wieder wach?«, fragte er in akzentfreiem Deutsch und in freundlichem, ja – nahezu liebenswürdigem Ton. »Du wirst mir helfen, Frederik«, fuhr er fort. »Ich brauche den Zugang zu deinem Laptop.«

Tatsächlich? Am liebsten hätte Frederik mit einem frechen Spruch reagiert. Doch zum einen waren seine Lippen verschlossen, zum anderen flatterte sein Herz vor Angst. Falls der Typ tatsächlich zu den Leuten gehörte, von denen Frederik seit Jahren einen Übergriff befürchtete, dürften seine Überlebenschancen gegen null tendieren. Dafür sprach auch, dass der Eindringling sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, sein Gesicht zu verbergen. Er würde kaum das Risiko einer Identifizierung eingehen.

»Ich denke, du hast keinen Bock auf Schmerzen, oder?« Der Mann setzte ein ernstes Gesicht auf. »Ich meine – richtige Schmerzen?«

Frederik deutete ein Kopfschütteln an.

»Das dachte ich mir.« Der Eindringling lächelte und entblößte blitzweiße Zähne. »Weißt du, wir beobachten dich schon eine ganze Weile, und du tust das Gleiche – auf deine Art. Das muss ich kaum näher erläutern, oder? Nun möchten wir genauer wissen, woher du deine Informationen beziehst und wen du an ihnen teilhaben lässt. Das dürfte dich kaum verwundern.«

Nein, dachte Frederik. Und sobald du alles hast, wonach du suchst, wirst du mich töten. Wenn Sarah nach Bornholm zurückkehrt, wird sie meine Leiche vorfinden.

Der Typ stand langsam auf. Im Hosenbund steckte eine Pistole. Er trat zu ihm, ging in die Hocke und fasste ihn scharf ins Auge. »Du hast es in der Hand«, erklärte er leise. »Mach mir keinen Ärger, und wir finden eine gute Lösung – für dich und Sarah.«

Eine gute Lösung. Das klang nicht sonderlich beruhigend.

»Solltest du Ambitionen hegen, den Helden zu spielen, wirst du es bitter bereuen. Dann wirst du zusehen, was wir mit deiner Freundin anstellen.«

Ein Schauer kroch über Frederiks Rücken.

»Sie kommt demnächst zurück, nicht wahr? Du wartest schon sehnsüchtig auf sie.« Lächeln. »Wir sind gut informiert, das dürfte dich aber kaum überraschen.« Kurze Pause. »Also – ich helfe dir jetzt hoch, und du wirst kooperieren. Und dann sehen wir weiter.«

Frederik nickte. Der Typ fasste nach seinen Armen und setzte ihn auf. Ein träger Schwindel erfasste ihn für einen Moment. Er atmete tief durch, schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder. Der Mann lächelte. »Du gehörst garantiert zu den Typen, die ihr Passwort im Kopf haben, oder?«

Was denn sonst?, dachte Frederik. Meinst du, ich schreibe es auf einen Zettel, den ich unter die Tastatur packe? Er nickte. Es umfasste zwanzig Stellen.

»Du wirst es aufschreiben.«

Frederik nickte erneut. Er wandte den Kopf und blickte in Richtung der Badezimmertür.

»Pinkeln kannst du später.« Der Typ ging zurück zum Schreibtisch, holte Papier und Stift und drückte Frederik den Kuli in die Hand.

Es war etwas mühselig, mit gefesselten Händen zu schreiben, aber es funktionierte. Die Schrift wirkte ungelenk, war aber gut lesbar, und Frederik brauchte nur wenige Augenblicke, um das Passwort zu notieren. Man hätte ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen können, und er wäre in der Lage, es fehlerfrei aufzusagen oder zu notieren.

Der Typ pfiff anerkennend. »Okay. Falls das korrekt ist, kannst du pinkeln gehen, während ich mir deine Videoüberwachung genauer ansehe.«

Natürlich, dachte Frederik. Verdächtiges Material musste entfernt werden. Das war der erste Schritt.

Einen Moment später saß der Mann wieder am Schreibtisch und tippte mit konzentrierter Miene die Zahlen-Buchstaben-Sonderzeichen-Folge ein. Ein leises Pling ertönte. »Sehr schön.« Er lächelte und drehte sich um. »Alles klar – na los, geh schon aufs Klo.«

Frederik erhob sich mühsam.

»Aber die Tür bleibt auf.«

Frederik erleichterte sich, was mit gefesselten Händen nicht ganz einfach war. Ähnliches galt fürs Händewaschen. Das Wasser rauschte. Eine bessere Chance wird nicht mehr kommen, dachte er. Nie wieder. Er überlegte nur einen winzigen Moment, dann griff er nach der Nagelfeile auf der Ablage unter dem Spiegel und verbarg sie so unauffällig wie möglich in der rechten Hand.

»Mach hin«, tönte es plötzlich dicht hinter ihm. Der Typ stand in der offenen Tür und fixierte ihn. »Du musst mir ein paar Sachen zeigen, bevor ich den Kram einpacke und wir uns auf den Weg machen.« Frederik nickte. Eine einzige Chance. Und nur diese. Sonst bin ich tot. Wie ein Mantra sagte er die Worte immer wieder auf.

»Außerdem werden wir ein paar Zeilen für deine Freundin hinterlassen. Damit sie weiß, was Sache ist«, fuhr der Mann fast im Plauderton fort. Er zog einen Zettel aus der Gesäßtasche seiner Jeans: »Die Idee lebt und wird ständig weiterentwickelt. Zeit ist nur ein Faktor. Du wirst uns helfen.« Er blickte wieder hoch. »Klingt gut, oder? Auf jeden Fall bedeutsam. Offenbar ist es wichtig, dass dein Schatz genau diese drei Sätze vorfindet, wenn sie kommt. Warum auch immer.« Er zwinkerte und steckte den Zettel wieder ein. »Wir werden es erfahren.«

Plötzlich packte er Frederik mit grobem Griff am Oberarm und bugsierte ihn aus dem Bad in Richtung Schreibtisch. »Komm schon, wir haben nicht ewig Zeit.«

Frederik hätte die Feile beinahe fallen gelassen, er stolperte ungeschickt und ging auf die Knie. Als der Typ sich über ihn beugte und ihn wieder hochziehen wollte, schloss Frederik kurz die Augen, verdrehte sein Handgelenk und stieß im Aufrichten abrupt und mit ganzer Kraft zu. Nur diese eine Chance. Er traf den Hals des Mannes und versenkte die Feile bis zum Griff. Es knirschte. Dann herrschte einen Augenblick Totenstille. Der Typ atmete schwer, starrte ihn aus aufgerissenen Augen an, taumelte zwei Schritte rückwärts, fasste mit bebenden Händen nach der Feile und riss sie heraus. Das Blut schoss schwallartig aus der Halsschlagader. Eine einzige Chance, dachte Frederik erneut, während er wie hypnotisiert auf den roten Strom blickte. Der Typ sank langsam auf die Knie und kippte schließlich nach vorne.

Frederik ließ sich zu Boden gleiten, ein Zittern fuhr durch seinen Körper, während sein Angreifer bebte und röchelte und starb. Ich lebe, dachte er und riss sich den Klebestreifen vom Mund. Übelkeit stieg so abrupt in ihm hoch, dass er es kaum bis zum Klo schaffte. Ich lebe, dachte er Minuten später erneut. Er starrte auf die Leiche des Mannes, der Geruch nach frischem Blut war fast unerträglich. Frederik ging in die Küche und suchte nach einem scharfen Messer. Es war ein mühsames Unterfangen, den Kabelbinder zu zerschneiden, und er trug etliche Wunden davon.

Ich lebe, und nun? Wie geht es weiter? Er schlich langsam zurück ins Wohnzimmer. Sein Smartphone lag auf dem Schreibtisch. Er nahm es zur Hand, zögerte und legte es zurück. Polizei, und dann? Er hatte den Mann getötet, und es würde nicht allzu schwierig sein, seine Notlage darzulegen. Doch was passierte dann? Seine Mitstreiter würden nicht ruhen, bis sie sich an ihm gerächt und einen anderen Weg gefunden hatten, um ihre Pläne zu verwirklichen – in zwei Tagen, drei Wochen oder Monaten, in einem Jahr. Das spielte keine Rolle. Frederik wischte sich über den Mund. Er zitterte. Abgrundtiefe Verzweiflung stieg in ihm empor. Er wusste nicht, wie lange er stumm ins Leere geblickt hatte, als er einen Signalton hörte – ein leises Pling von einer eingehenden Nachricht. Das Handy des Toten. Es steckte in seiner Jeans. Frederik schüttelte die Lähmung ab, hockte sich neben den Mann und zog das Handy aus der Gesäßtasche – mitsamt dem Zettel und der Botschaft für Sarah.

Das Handy war ein Uraltmodell ohne PIN oder Touch‑ID. Eine Nachricht leuchtete auf dem Display auf: »Alles nach Plan?«

Frederik überlegte nur einen Augenblick. »Ja. Brauche noch etwas Zeit für den IT‑Kram«, antwortete er dann.

»Okay. Alles wie vereinbart.«

Alles wie vereinbart, wiederholte Frederik stumm. Plötzlich wusste er, was zu tun war. Er steckte das Handy ein und tastete die Taschen des Toten mit fahrigen Fingern nach einem Autoschlüssel ab – ohne fündig zu werden. Schließlich entdeckte er ihn zusammen mit Papieren, Geld und Kleinkram in einer Bauchtasche, die über dem Schreibtischstuhl hing.

Frederik erlaubte sich ein letztes Zögern, ein ängstliches Innehalten und Abwägen. Dann öffnete er den Zugang zum Geheimkeller und machte sich an die Arbeit.

1

»Die Idee lebt und wird ständig weiterentwickelt. Zeit ist nur ein Faktor. Du wirst uns helfen.«

Den Zettel hatte Sarah bei ihrer Rückkehr aus Deutschland in Frederiks Blockhaus in Hasle vorgefunden. Von ihm selbst fehlte jede Spur. Dass ihr Vater sich etliche Stunden zuvor in der JVA Karlsruhe mit genau diesen Worten von ihr verabschiedet hatte, nachdem sie sein Ansinnen, ihn und seine Leute zu unterstützen und mit Informationen zu versorgen, brüsk zurückgewiesen hatte, war natürlich kein Zufall, sondern ein perfider Plan, der sie mitten ins Herz treffen sollte. Auch bei ihren letzten Ermittlungen, die Frederik tatkräftig unterstützt hatte, war schließlich ein weitreichender rechtsextremistischer Hintergrund aufgedeckt worden – und einiges mehr. Nun hatten sie ihn entführt, und es gehörte nicht allzu viel Fantasie dazu, sich auszumalen, wie es nach Ansicht ihres Vaters weitergehen sollte.

Sarah konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, bis sie sich aus ihrer Schockstarre gelöst hatte und bereit war zu handeln. Sie hatte das Haus bei einem ersten Rundgang nach Hinweisen durchsucht und schließlich die Polizei alarmiert – genauer gesagt, rief sie Mikkel Bentsen an, den Kommissariatsleiter aus Rønne. Seine Stimme klang verschlafen. »Hvad skete der?«, fragte er. Was ist passiert? Es war weit nach Mitternacht. Das fiel Sarah erst jetzt auf.

»Frederik ist verschwunden. Offenbar entführt.«

Stille. Leises Rascheln. »Jeg er på farten.« Ich bin unterwegs.

Sarah schloss für einen Moment erleichtert die Augen. Keine Nachfrage, ob sie sicher sei oder das Ganze nicht bis zum nächsten Morgen warten könne. Nein, das konnte es nicht. Bentsen stand eine Viertelstunde später mit ernster Miene vor der Tür. Sarah drückte ihm eine Tasse Tee in die Hand und wich seinem Blick aus – sie hatte Angst, die Kontrolle zu verlieren und in Tränen auszubrechen. Das wäre an sich kein Problem gewesen, doch es war keine Zeit mehr für persönliche Befindlichkeiten. Und heulen konnte sie später immer noch.

»Erzähl mal«, sagte er schließlich auf Deutsch. Sie hatten erst letztens vereinbart, so viel Dänisch wie irgend möglich miteinander zu sprechen – damit Sarah die Sprache allmählich in Fleisch und Blut überging. Doch wenn sie aufgeregt und angespannt war, funktionierte das gar nicht. Und Bentsen sprach ein ziemlich gutes Deutsch.

Sie nickte. »Ich bin heute Abend – genauer gesagt: gestern – mit der letzten Maschine von Kopenhagen nach Hause gekommen, und Frederik war nicht da. Nur dieser Zettel.« Sie reichte ihm das Blatt. »Sie wollen mich unter Druck setzen.«

»Sie?« Bentsen atmete angestrengt aus und hob die Brauen. »Woher …«

»Es sind dieselben Worte, die mein Vater verwendet hat, als ich ihn gestern in der JVA besuchte – besser gesagt: als ich das Gespräch abbrach«, fiel sie ihm ins Wort. »Er hat mich tatsächlich aufgefordert …« Sie presste die Kiefer aufeinander. Es war weit mehr als eine Aufforderung gewesen – eine unmissverständliche Drohung, der unmittelbar Taten gefolgt waren.

»Er will, dass du ihm Informationen zukommen lässt?«

Sie nickte. »Ich kann es kaum fassen. Und er schreckt nicht davor zurück, seine eigene Tochter zu erpressen.«

»Warum bist du überhaupt hingefahren?«

»Gute Frage. Meine Mutter meinte, dass er mich unbedingt sehen wolle, und sie betonte, dass es wichtig sei. Ich dachte, dass zumindest eine kleine Chance besteht …« Sie winkte ab. »Ich wollte nicht von vorneherein ausschließen, dass auch mein Vater ins Grübeln geraten sein könnte oder womöglich einfach nur den Kontakt zu seiner Tochter suchte. Was auch immer – ich habe mich spontan entschlossen, vor meiner Rückreise nach Bornholm einen Abstecher nach Karlsruhe zu machen. Den hätte ich mir sparen können. Ich bin nach wenigen Minuten wieder gegangen und habe mich auf den Heimweg gemacht. Er wird sich niemals ändern. Wie konnte ich nur so vertrauensselig sein, so dumm, so unglaublich naiv und …«

»Er ist immerhin dein Vater.«

»Ja.« Sarah atmete tief durch. »Und er steckt hinter Frederiks Entführung! Der Zettel mit den identischen Worten ist ein unwiderlegbarer Beweis.«

Bentsen nickte nachdenklich. »Ja, das klingt so. Das ging dann aber sehr schnell.«

Sarah schüttelte irritiert den Kopf. »Wie meinst du das?«

»Du hast deinem Vater eine Abfuhr erteilt, und diese Leute haben sehr schnell reagiert – noch am selben Tag.«

Sarah runzelte die Stirn. Da war was dran. »Es gab diesen Plan schon vorher? Willst du darauf hinaus?«

Bentsen nickte. »Thomsen steht schon länger auf ihrer Liste – wenn ich das so sagen darf. Das ist nichts Neues, oder?«

»Nein, ganz und gar nicht. Aber nun gibt es ein zusätzliches Druckmittel.«

»So wirkt es besonders ausweglos – für euch beide.«

Er hat das Ganze perfide inszeniert, und zwar schon vor geraumer Zeit, dachte Sarah. Er hat lediglich auf den perfekten Zeitpunkt gewartet. Sie rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht.

Bentsen streckte die Hand aus und berührte sie kurz an der Schulter, die Geste wirkte unbeholfen, fast ein wenig verlegen. »Wann hattet ihr das letzte Mal Kontakt?«

»Ich war viel unterwegs, und Frederik hatte auch einiges für seine Redaktion zu tun, nachdem er aus Berlin zurückgekehrt war. Wir haben vor drei Tagen kurz telefoniert und dann nur ein paar Mal gesimst«, antwortete Sarah und öffnete nach kurzem Überlegen den Messenger in ihrem Smartphone. »Meine letzte Nachricht hat er gelesen, aber nicht geantwortet, was ich allerdings nicht besorgniserregend fand. Es handelte sich lediglich um einen kurzen Hinweis, dass ich bald eintreffe. Ich bin direkt hierher gefahren.«

»Das heißt, er könnte auch schon vor zwei Tagen verschwunden sein?«

»Ich denke nicht, nein«, widersprach Sarah. »Ich habe mich schon mal ein bisschen im Haus umgesehen. Er hat am Morgen noch Post bekommen – zwei Pakete, die er persönlich angenommen hat.«

»Das muss nichts heißen …«

»Es gibt den Beleg von einer Annahmebestätigung, die er unterschrieben hat.«

Bentsen zuckte mit den Achseln. »Na ja …«

»Ich erkenne seine Schrift.«

»Na schön. Fehlt sonst noch was?«

»Laptop und Zubehör. Außerdem sind die Videokameras deaktiviert.«

»Sein Wagen?«

»Steht unter dem Carport.«

»Spuren?«

»Auf den ersten Blick wirkt alles wie immer, unauffällig. Keine Hinweise auf einen Kampf. Aber …«

Bentsen nickte. »Möglich, dass sie gründlich waren. Falls es tatsächlich im Laufe des Tages passiert ist, hatten sie viele Stunden Zeit.«

Eine Weile schwiegen beide. Bentsen trank seinen Tee. »Die Spurensicherung muss sich umsehen«, sagte er schließlich. »Vielleicht gibt es Fremd-DNA, die uns weiterhilft. Außerdem müssen wir mit dem Postfahrer, den Nachbarn sowie Gästen vom Campingplatz am Fælledvej sprechen.«

Die Saison war so gut wie beendet. Es gab nur noch wenige Touristen in der direkten Umgebung, außerdem lag Frederiks Haus abgelegen und war vor fremden Blicken gut geschützt. Das könnte sich jetzt rächen. Sarah blickte ins Leere. Eine Welle der Erschöpfung stieg plötzlich in ihr auf, begleitet von tiefgrauer Mutlosigkeit und Angst.

»Du musst schlafen«, ergriff Bentsen das Wort. »Fahr nach Hause. Ich schicke eine Streife vorbei …«

»Wozu? Sie werden mir nichts tun. Das ist nicht der Plan, wie wir beide festgestellt haben. Sie wollen was von mir. Und schlafen kann ich jetzt auch nicht. Vielleicht sollte ich das Haus gründlich durchsuchen. Schließlich …«

Bentsen runzelte die Stirn. »Das ist keine gute Idee. Wir sollten abwarten, was die Spurensicherung ergibt. Fahr nach Hause«, wiederholte er. »Du musst …«

»Schlafen. Ja, ich weiß, aber …«

»Nimm eine Tablette, wenn du mir den Rat erlaubst. Die nächste Zeit wird anstrengend. Du musst ein bisschen Kraft schöpfen. Wir machen gleich morgen früh weiter.«

Er hatte recht, die zurückliegenden Wochen waren bereits aufreibend gewesen, Ähnliches galt für die Monate davor. Wenig später machte sie sich auf den Heimweg, nachdem Bentsen die Tür versiegelt hatte und ebenfalls nach Hause fuhr.

Sarah hatte sich im letzten Herbst auf die dänische Insel zurückgezogen, den Lieblingsferienort ihrer Kindheit – auf der Flucht vor ihrem eigenen Versagen nach den Rostocker Fällen, die sie als leitende Ermittlerin zu verantworten hatte. Ein alter Kollege hatte nicht geruht und sie mithilfe der BKA-Kriminalpsychologin Hannah Jakob schließlich dazu bewegt, die Nachforschungen zumindest aus der Ferne wieder aufzunehmen. Im weiteren Verlauf hatte sie den dänischen Journalisten Frederik Thomsen kennengelernt und sich einer zutiefst verstörenden Wahrheit stellen müssen. Sie waren ein Paar geworden und bereits gemeinsam auf der Suche, als klar wurde, wie gut er ihre Familie kannte und dass es eine tiefe Verbindung zwischen ihnen gab. Würde sie ihre Entscheidung genauso wieder treffen, wenn sie wüsste, wohin ihre Suche führte? Ja.

Auch der letzte Fall, der mitten in der Hochsaison mit der zunächst fast harmlos anmutenden Vermisstensuche einem Berliner Abiturienten auf Bornholm begonnen hatte, mündete nach aufwendiger Recherchearbeit in mehrere Richtungen schließlich in weitreichende Ermittlungen zu einem rechtsextremistischen Hintergrund – über den ihr Vater offenbar gut Bescheid wusste. Er steckte tief in diesem Sumpf, und es kümmerte ihn wenig, dass er zurzeit in Untersuchungshaft saß. Seine Verbindungen waren immer noch exzellent, und früher oder später würden sie ihn womöglich sogar aus der Haft entlassen müssen – selbst wenn die Beweislage vergleichsweise gut war.

Seine Kanzlei sorgte seit Jahrzehnten für den reibungslosen Ablauf von fragwürdigen finanziellen Transaktionen, für die Verschleierung von Geldströmen und dubiosen Vermögensanlagen sowie der Finanzierung von rechten und rechtsextremen Gruppierungen. Die vielschichtigen europaweiten Beziehungen zu diesen Kreisen waren inzwischen nachweisbar, auch die Verbindung mit geplanten sowie durchgeführten Aktionen lag auf der Hand – zumindest für Sarah und die Ermittler der beteiligten Dezernate –, sogar ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem zehn Jahre zurückliegenden Tod eines Studenten und Freundes von Frederik, der sich als Praktikant getarnt in der Kanzlei als Whistleblower betätigt hatte, schien glasklar. Das Gleiche galt für den perfiden Mord an einer Parteifreundin, der einer Gruppe Asylsuchender in die Schuhe geschoben werden sollte, um politisches Kapital schlagen zu können, und damit war die Aufzählung immer noch nicht vollständig. Doch inwieweit es tatsächlich zu Anklagepunkten kommen würde, die Bernd Pirohl persönlich so stark belasteten, dass er eine langjährige Haftstrafe verbüßen musste, war völlig offen. Zurzeit waren seine Anwälte dabei, die Staatsanwaltschaft wöchentlich mit Dutzenden von Anträgen zu beschäftigen, die nur ein Ziel verfolgten: mit Beschwerden das Verfahren in die Länge zu ziehen, Fristen hinauszuzögern, Zeugen zu diskreditieren oder einzuschüchtern und die eigenen Leute aus der Schusslinie zu nehmen. Das Verfahren ähnelte immer mehr einer Sisyphos-Aufgabe, und manchmal empfand Sarah nur noch Ohnmacht angesichts der Tatsache, dass selbst ein gut gerüsteter demokratischer Rechtsstaat immer wieder machtlos schien, wenn es darum ging, sich gegen bestens organisierte und komplett gewissenlose Feinde aus dem Inneren erfolgreich zur Wehr zu setzen. Gut getarnte Netzwerke mit einflussreichen Leuten an neuralgischen Punkten konnten zu einer erheblichen Schwächung beitragen. Das flößte ihr zunehmend mehr Angst ein. Es genügte offenbar nicht mehr, die Bösewichte zu stellen und ihre Taten nachzuweisen.

Als Sarah ihre Wohnung betrat, war es nach zwei Uhr früh. Sie war fest davon überzeugt, dass sie keine Minute Schlaf finden würde, außerdem hatte sie Angst vor Albträumen. Doch nachdem sie ihre Reisetasche ausgeräumt hatte, streckte sie sich auf dem Sofa aus und fiel fast augenblicklich in einen traumlosen Tiefschlaf.

Das Vibrieren des Handys weckte sie. Sarah schreckte hoch. Es war kurz nach acht und hell. Eine strahlende Morgensonne schien zum Fenster herein. Einen Moment war sie verwirrt. Dann brachen die Ereignisse des vorangegangenen Tages über sie herein. Sie schloss kurz die Augen, bevor sie zum Smartphone griff. Es war Bentsen. »Wo bleibst du?«

»Ich bin unterwegs.«

»Wirklich?«

»Lass mir eine Viertelstunde Zeit. Ich bin …«

»Kein Problem. Die Techniker haben gerade mit der Arbeit angefangen, und zwei Kollegen sind in der Nachbarschaft unterwegs. Alles Weitere können wir gleich besprechen.«

»Soll ich bei der Post vorbeifahren?«

»Gute Idee.«

Sarah stellte sich fünf Minuten unter die Dusche und besorgte sich unterwegs Kaffee und einen kleinen Imbiss. Ihr Appetit tendierte gegen null, aber sie aß trotzdem. Das Gespräch bei der Post verlief ergebnislos. Dem Fahrer, der gerade seinen Wagen belud, war nicht das Geringste aufgefallen. »Alles wie immer«, meinte er achselzuckend. »Ich war spät dran und hatte es eiliger als sonst, weil ich noch eine weitere Tour fahren musste«, fügte er hinzu. »Da achtet man auf nichts anderes.«

Die Bornholmer galten als ausgeglichene Zeitgenossen, und Eile war eigentlich ein Fremdwort für sie. Sarah nickte.

»Was ist passiert?«, fragte der Postmann.

»Ich kann nicht darüber reden – noch nicht«, erwiderte Sarah. »Wir müssen etwas überprüfen.«

»Geld og lykke!« Viel Glück.

Das wird nicht reichen, dachte Sarah. Als sie in die Straße zum Blockhaus einbog, fielen schon von Weitem die Behördenfahrzeuge auf – Polizei und Kriminaltechnik. Bentsen kam ihr entgegen, als sie das Grundstück betrat. Er blickte sie mit versteinerter Miene an, und sie blieb abrupt stehen. Ihr Atem stockte. »Was ist? Habt ihr etwas gefunden?«, flüsterte sie.

Er nickte. »Viel Blut«, sagte er leise. »Die Proben sind bereits auf dem Weg in unser Labor. Das muss eigentlich die Rechtsmedizin in Kopenhagen machen, aber wir brauchen zunächst mal eine Schnellanalyse.«

»Verstehe.« Sarah erkannte ihre Stimme kaum. Ihr Herz schlug schmerzhaft schnell, und die Knie fühlten sich weich an.

»Das muss nichts heißen«, fügte Bentsen hinzu.

Sie suchte seinen Blick. »Das heißt wohl zumindest, dass er niedergeschlagen wurde und Blut verloren hat – viel Blut, wie du betont hast.«

»Ja, ich weiß. Aber vergiss nicht – er nützt ihnen nur etwas, wenn er noch lebt.«

Da war was dran. Aber es könnte natürlich auch etwas schiefgelaufen sein, was nicht den ursprünglichen Plänen entsprach – ein Kampf, der aus dem Ruder gelaufen war, und plötzlich war alles ganz anders. Sarah schob die Bilder beiseite.

»Hast du heute schon Nachrichten gehört?«, ergriff Bentsen wieder das Wort.

»Nein. Was Besonderes?«

»Heute früh lag eine Meldung von einem Brand auf meinem Schreibtisch – einige Kilometer nordöstlich von Klemensker wurde ein ausgebrannter Wagen an einem Feldweg entdeckt, und im Radio gab es dazu eine Kurzmeldung. Das ist wahrscheinlich in der letzten Nacht passiert.«

Sarah spürte, wie sie erbleichte.

»Es saß niemand mehr drin«, betonte Bentsen rasch. »Aber ich habe veranlasst, dass der Abschleppdienst ihn gleich aufs Polizeigelände bringt, und ein Kollege hat gerade eben einen ersten Blick in den Wagen geworfen.« Er stockte. »Viel ist nicht übrig geblieben, aber …«

»Sag schon, Bentsen!«, beschwor Sarah ihn.

Er griff nach seinem Handy und entsperrte den Bildschirm. »Es gibt ein paar halb verkohlte Klamotten. Sieh dir mal die Fotos an. Kommt dir davon etwas bekannt vor?«

Sarah musterte die Aufnahmen, während ihr Herz wie verrückt trommelte – Reste eines Gürtels und einer Jacke. Sarah schüttelte langsam den Kopf. Nein. Noch nie gesehen. So etwas trug Frederik nicht. Vielleicht doch. Sie war plötzlich unsicher. Ein Paar Schuhe, einer davon war noch gut zu erkennen. Sie zögerte. Möglich, dachte sie – solche Schuhe könnten Frederik gefallen, ihr Magen begann zu flattern. Sie sah auf, und im gleichen Moment klingelte Bentsens Handy, sie reichte es ihm.

Der Kollege lauschte einen Moment und zog die Brauen zusammen. »Sicher?«, fragte er leise. Er warf Sarah einen eiligen Blick zu und beendete das Gespräch.

»Was ist?«

»Sie haben etwas gefunden. Im Kofferraum.«

Sie erstarrte.

»Lass uns fahren.« Bentsen griff nach ihrem Arm und schob sie in Richtung seines Wagens. »Komm.«

Das kann nicht sein, dachte sie. Unmöglich, das passte nicht. Was war passiert? Frederik hatte sich gewehrt und war bei einer Auseinandersetzung getötet worden. Der Gedanke schwappte erneut in ihr hoch. Der oder die Entführer hatten daraufhin alle Spuren beseitigen wollen. Oder es hatte von Anfang an einen ganz anderen Plan gegeben – einen, bei dem Frederik gar nicht überleben sollte. Sein Tod war beschlossene Sache gewesen und zudem eine reine Machtdemonstration, mit der Sarah in die Knie gezwungen werden sollte. War ihr Vater so grausam? So unmenschlich?

Sarah nahm auf dem Beifahrersitz Platz und vergaß sich anzuschnallen. Ein leiser Warnton erklang, sie griff mechanisch nach dem Gurt und ließ ihn einrasten; gleichzeitig spürte sie das Vibrieren ihres Handys in der Tasche. Wer immer jetzt etwas von ihr wollte, hatte den komplett falschen Zeitpunkt gewählt.

2

Das Wagen war noch heiß. Ein stechender Geruch lag in der Luft. Sarah blieb wie betäubt in einiger Entfernung stehen, während Bentsen die Kollegen begrüßte und näher trat. Schließlich setzte sie sich auf die Stufen vor dem Hinterausgang. Bentsen sprach leise mit den Beamten, eine weitere Polizistin in Schutzkleidung war zu erkennen – die Kriminaltechnikerin Astrid Larsen. Sie sprach etwas lauter und berichtete, dass das Feuer nicht bemerkt worden war, weil der Wagen in einer Senke gestanden hatte und schnell ausgebrannt war. Ein Landwirt hatte schließlich in aller Herrgottsfrühe die Polizei benachrichtigt. »Glück gehabt, dass das Feuer nicht auf den Wald übergesprungen ist«, fügte sie noch hinzu. »Drei Meter weiter, und es hätte lichterloh gebrannt.«

»Könnte so geplant gewesen sein«, murmelte Bentsen. »Damit genug Zeit für die Flucht blieb, bevor die Feuerwehr auftauchte.«

Einer der Kollegen drehte sich kurz zu Sarah um. Dann herrschte kurzes Schweigen, schließlich wandten sie sich gemeinsam zur Rückseite des Fahrzeugs. Die Kriminaltechnikerin erklärte etwas, was Sarah nicht verstand. Sie fröstelte und zog schließlich ihr Smartphone aus der Tasche. Die Nachricht stammte von einem unbekannten Absender mit einer sinnlos anmutenden Kombination aus Zahlen, Buchstaben und Sonderzeichen. Grundsätzlich löschte sie derlei Zusendungen sofort – in diesem Fall zögerte sie. Es war nicht auszuschließen, dass die Entführer sich bereits meldeten. Sie atmete tief durch und tippte die Nachricht an: Min elskede, mein Herz. Keine Angst, ich lebe. Aber niemand darf das wissen. NIEMAND. Vertrau mir. Lass dir nichts anmerken. Schreib nicht zurück. Die Nachricht löscht sich von selbst, sobald du sie gelesen hast. Ich melde mich wieder.

Sarahs Augen weiteten sich. Das kann ein Trick sein, ein furchtbares Verwirrspiel mit ihren Ängsten, eine perfide Täuschung, die ihre Hoffnungen und Sehnsüchte befeuerte und sich dann als böse Falle herausstellen würde, an der sie zerbrechen sollte. Und doch … Sie steckte das Handy ein, atmete zweimal tief ein und stand auf. Bentsen blickte mit gerunzelter Stirn hoch, als sie näher trat und schließlich in den Kofferraum sah. Geschmolzene Folie, unter der sich die Umrisse eines Körpers abzeichneten.

»Das ist ein schrecklicher Anblick«, sagte Bentsen. »Du solltest …«

»Wir müssen wissen, ob es sich um Frederik handelt«, erklärte Sarah in bemüht ruhigem Ton.

»Natürlich, aber …«

»Ich weiß, dass ihr schnell eine Identifizierung braucht, aber im Moment bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten«, wandte Astrid Larsen energisch ein und hob beide Hände. Die Frau war klein und zierlich, wirkte aber kraftvoll und durchsetzungsfähig. »Der Körper muss sich abkühlen. Falls wir die Folie vorher vom Gesicht ablösen …« Sie hob die Brauen. Die weitere Erläuterung sparte sie sich.

»Und was ist mit dem Rest des Körpers?«, fragte Sarah nach kurzer Pause.

»Das wäre eine Möglichkeit.«

Bentsen biss sich auf die Unterlippe. Die Frage, ob Sarah meinte, ihren Freund anhand seiner verbrannten Gliedmaßen oder seines Korpus identifizieren zu können und ob sie sich das tatsächlich antun wollte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Es wäre besser, ihn ins rechtsmedizinische Institut zu bringen.«

»Es wäre besser, so schnell wie möglich in Erfahrung zu bringen, ob er der Tote ist«, entgegnete Sarah ruhig. »Im Moment ist nicht einmal klar, ob es sich um eine männliche Leiche handelt.«

Astrid Larsen deutete zuerst ein Nicken, dann ein Schulterzucken an. »Sie hat recht.« Nach kurzem Blickwechsel mit Bentsen begann sie schließlich, die Folie behutsam von Füßen und Beinen zu lösen. Haut und Stofffetzen waren verkohlt, die Schuhe mit den Füßen verschmolzen. Der Geruch war beinahe unerträglich. Sarah atmete flach, während Larsen die Folie Zentimeter für Zentimeter hochzog und die Beine sichtbar wurden.

»Ich denke, das ist ein Mann«, sagte die Kriminaltechnikerin, als Knie und Oberschenkel zu erkennen waren. »Und er ist schmal gebaut, falls der Hinweis hilft.«

Sarah nickte. Sie würde es nicht beschwören wollen, aber die Beine des Toten wirkten auffallend lang und schlanker als Frederiks. Er ist es nicht, dachte sie! Frederik lebt tatsächlich. Min elskede. Sie beschwor sich, keine Erleichterung zu zeigen. Und wenn sie sich täuschte und diese Nachricht ein Fake war?

Inzwischen waren die Hüften zu erkennen, es handelte sich eindeutig um einen Mann. Sie blickte hoch und schüttelte den Kopf. »Er ist es nicht«, sagte sie leise.

»Sicher?«

»Ziemlich.«

»Der Typ trägt auch einen Gürtel«, meinte Bentsen plötzlich leise. »Und Schuhe. Wem also gehören die anderen Klamotten?«

Sie gehören Frederik, dachte Sarah, und plötzlich stieg ein höchst beunruhigender Gedanke in ihr auf – weniger erschreckend als sein Tod, aber dennoch aufwühlend.

»Was verdammt noch mal ist hier passiert?« Bentsens Miene war anzusehen, dass er das Schlimmste befürchtete. Er traute sich kaum, Sarah anzusehen. Stattdessen wandte er sich an Larsen. »Veranlasse bitte die nötigen Untersuchungen – DNA-Abgleich und so weiter«, fügte er überflüssigerweise hinzu.

Die Kriminaltechnikerin nickte. »So schnell wie möglich – ist mir klar. Ihr habt einen ersten wichtigen Hinweis, und nun lasst mich hier in aller Ruhe meine Arbeit machen. Der Assistent von der Rechtsmedizin ist schon unterwegs. Wir müssen ungestört sein.«

Das war unmissverständlich. Bentsen wandte sich abrupt um und ging voraus; Sarah blieb dicht hinter ihm, als sie das Dienstgebäude betraten. An der Tür zum Besprechungsraum blieb er stehen, zögerte einen Moment und drehte sich zu ihr um. »Hör zu, ich …« Er sah kurz zur Seite. »Wir müssen das Schlimmste befürchten. Und ich finde, du solltest dich zurückziehen.«

»Es ist noch nicht klar, was geschehen ist.«

»Nein, aber ich muss dir kaum erklären, dass es …« Er suchte nach dem richtigen deutschen Wort. »Es sieht nicht gut aus, wenn man eins und eins zusammenzählt. Sagt man das so im Deutschen?«

»Ja, das sagt man so. Wonach sieht es denn aus?«

Er musterte sie verwundert. »Sie waren vielleicht zu zweit«, fuhr er dann fort. »Das halte ich für denkbar.«

Sarah verlagerte ihr Gewicht aufs andere Bein. »Sie haben Frederik überfallen, dann ist irgendetwas aus dem Ruder gelaufen, einer der Angreifer stirbt dabei, und dann sollten mit dem abgefackelten Auto Spuren verwischt werden? Willst du darauf hinaus?«

»So könnte es gewesen sein.« Bentsen nickte langsam. »Falls sich bestätigt, dass die anderen Klamotten Frederik gehören …«

»Suchen wir nach seiner Leiche und einem flüchtenden Mörder«, vervollständigte Sarah betont ruhig.

Er rieb sich übers Kinn. »Das halte ich zumindest für einen realistischen Ansatz, auch wenn es noch keine weiterführenden Spuren gibt«, sagte er leise. »Ich werde so schnell wie möglich alles Nötige in Gang setzen – Kontrolle an den Häfen und Ausfallstraßen, der Fundort des ausgebrannten Wagens wird millimetergenau untersucht, die Spuren im Haus und am Fahrzeug analysiert, Verkehrsüberwachung und so weiter. Wir werden jeden noch so kleinen Stein umdrehen und jeden in der unmittelbaren Umgebung befragen.«

»Und währenddessen soll ich zu Hause sitzen und Däumchen drehen?«

»Du kennst die Bestimmungen, Sarah – sie lauten auch bei uns, dass enge Angehörige oder Partner bei derartigen Ermittlungen nichts zu suchen haben. Und die Gründe dafür sind vielfältig und nachvollziehbar.«

»Aber nicht immer halten wir uns an die Bestimmungen.«

Bentsen wandte den Blick kurz nach oben. »Das ist kein gutes Argument.«

»Und manchmal gewinnen wir gerade dadurch entscheidende Erkenntnisse.«

»Sarah …«

»Lass mich irgendetwas tun!«, beschwor sie ihn und sah ihn unbeirrt an.

»Na schön. Nimm Kontakt zur Redaktion auf«, sagte er schließlich. »Woran hat er zuletzt gearbeitet? Befrag Freunde, Bekannte. Und wenn die Techniker mit dem Haus fertig sind, sieh dich dort noch einmal um. Glaub mir, es ist besser, wenn du zumindest am Anfang ein wenig außen vor bleibst. Sobald wir Genaueres wissen, sehen wir weiter.«

Er hatte natürlich völlig recht. Doch als es um ihren Vater ging, hatte niemand sie davon abhalten können, an entscheidender Stelle ihren Beitrag zu leisten, und das würde sie auch jetzt tun. Und falls die Nachricht zutraf und es Frederik womöglich lediglich gelungen war, in einer aus dem Ruder gelaufenen Situation zu flüchten und unterzutauchen, musste sie erst recht am Ball bleiben. Immerhin gab es einen Toten, und das würde natürlich eine Mordermittlung nach sich ziehen.

»Fahr nach Hause«, forderte Bentsen sie auf. »Ich halte dich auf dem Laufenden. Du kannst dich darauf verlassen. Und sprich mit jemandem.«

Noch vor Kurzem hätte Sarah nicht gezögert, sofort Kontakt zu Hannah Jakob aufzunehmen. Die Kriminalpsychologin war inzwischen weit mehr als eine Kollegin – Sarah hatte in der letzten heißen Ermittlungsphase in Berlin so manche Nacht auf ihrem Sofa geschlafen, und gemeinsam hatten sie sich durch diesen furchtbaren Fall gebissen, dabei immer begleitet von Hannahs Hund Kotti. Als sich am Ende herausgestellt hatte, dass es in den Behörden der Hauptstadt undichte Stellen gab und ihr eigener Chef sich hatte korrumpieren lassen, war für Hannah eine Welt zusammengebrochen. Sarah würde sich nicht wundern, wenn die Kollegin inzwischen entschieden hatte, ihren Beruf an den Nagel zu hängen – oder zumindest ihren Job beim BKA hinzuschmeißen. Noch war sie beurlaubt und für niemanden erreichbar. Zumindest hatte sie bislang weder auf Nachrichten reagiert noch Anrufe entgegengenommen. Auch Hannahs Freund Henrik – ein ehemaliger Kollege von Sarah aus Rostocker Zeiten – ließ nichts von sich hören.

Bentsen suchte ihren Blick. »Okay?«

»Ja.«

»Und falls sich jemand bei dir meldet …«

»Erfährst du es als Erster.« Sie wandte sich um und blieb dann wieder stehen. »Ach, warte mal. Was hältst du davon, wenn wir zunächst nichts über die Leiche im Wagen verlauten lassen?«

Bentsen rieb sich übers Kinn. »Das könnte Verwirrung stiften.«

»Genau.«

»Aber falls es einen zweiten Täter gibt …«

»Das ist bislang lediglich eine Vermutung. Falls sie zutreffend ist, haben wir nicht viel gewonnen, aber auch nichts falsch gemacht.«

»Stimmt, gute Idee. Das bleibt erst mal intern, zumindest solange wir nicht genauer wissen, was passiert ist. Ich gebe die Anweisung gleich weiter.« Er nickte. »Soll ich eigentlich jemanden bitten, dich nach Hause zu fahren?«

»Ach was. Ein kleiner Spaziergang wird mir guttun.«

Ihre Dienstwohnung lag im nördlichen Rønne, kaum vier Kilometer vom Kommissariat entfernt. Sarah lief in Gedanken versunken den Borgmester Nielsen Vej hoch. Ein strahlender Spätsommertag hatte begonnen, und die meisten Menschen, denen sie unterwegs begegnete, wirkten guter Dinge, viele lächelten. Auf Höhe des Campingplatzes bog sie ab und lief durch den Wald Richtung Strand. Der Wind zerzauste ihr Haar. Ein betörend blauer Himmel spannte sich über ihr. In der Ferne war ein Segelboot zu erkennen. Die Wellen mühten sich leise seufzend über den Strand. Sie blieb stehen und starrte in die Ferne. Ihr Gesicht war plötzlich nass, ihr Herz bebte.

Schließlich ging sie in nördlicher Richtung weiter und zog ihr Smartphone aus der Tasche. Hannahs Nummer lag immer noch auf der zwei in ihrem Kurzwahlspeicher; sie nahm das Gespräch nicht an, aber diesmal hinterließ Sarah eine Nachricht. »Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, und diese Einschätzung ist wahrscheinlich noch geprahlt, aber bitte ruf zurück, Hannah«, sagte sie. »Es ist etwas Furchtbares passiert.« Sie zögerte. Dann fügte sie hinzu: »Frederik ist überfallen und entführt worden.«

Eine Viertelstunde später traf sie zu Hause ein, kochte Kaffee und fuhr den Laptop hoch. In den dänischen Medien kursierten bereits erste Meldungen über einen verschwundenen Journalisten sowie ein ausgebranntes Fahrzeug. Sarah surfte eine Weile unschlüssig im Netz, schließlich schob sie den Laptop beiseite. Ihre Unruhe war mit Händen greifbar. Was war passiert? Wie hatte Frederik entkommen können? Wann würde er sich wieder melden? Sie stand auf und trat ans Fenster. Und wie war der Tote im Wagen gestorben?

Mikkel Bentsen war ein erfahrener Kommissariatsleiter – er strahlte Besonnenheit und Autorität gleichermaßen aus. Seit vielen Jahren arbeitete er regelmäßig mit skandinavischen und deutschen Behörden zusammen. Das ergab sich durch vielfältige Beziehungen nicht nur aufgrund zahlreicher Touristen, die Bornholm bereisten. Sarah Pirohl hatte er nach anfänglicher Skepsis schätzen gelernt; die Zusammenarbeit mit ihr war unkompliziert und zielführend. Das sahen nicht alle Kollegen in der Bornholmer Dienststelle so. Nur wenige hatten die junge Kommissarin mit weit geöffneten Armen aufgenommen, als sie nach Abschluss der ersten gemeinsamen Ermittlungen zur BKA-Verbindungsbeamtin in Dänemark berufen worden war, die eng mit Berlin und Wiesbaden sowie ihrer alten Dienststelle in Rostock und Behörden im Bereich der Ostseeküste bei länderübergreifenden Fällen und Präventionsmaßnahmen zusammenarbeiten sollte. Ihr Name war belastet, das ließ sich kaum anders ausdrücken, und hinter vorgehaltener Hand hatte man gemunkelt, dass niemand auf Bornholm scharf auf die alten Nazifälle war. Die sollten die Deutschen gefälligst bei sich zu Hause in Angriff nehmen. Bentsen konnte die Bedenken nachvollziehen, aber er teilte sie nicht. Nazis gab es auf der ganzen Welt, sie trieben sich in jedem Winkel herum, hatten überall ihre Handlanger – auch in Dänemark und auf Bornholm –, und letztlich war es egal, wo sie ihnen das Handwerk legten, Hauptsache, es gelang ihnen, dem Treiben Einhalt zu gebieten.

Sarah hatte sich zumindest äußerlich bislang nichts anmerken lassen; sie machte ihren Job so gut es ging und mit sehr viel Chuzpe, und an dem Punkt hatte sie mittlerweile auch die volle Rückendeckung der Bornholmer Beamten und Beamtinnen gewonnen. Niemand zweifelte an ihrer Haltung.

Bernd Pirohl saß seit Monaten in Haft, aber wie es schien, hatte er die Zeit gut zu nutzen gewusst – in seinem Sinne. Bentsen war davon überzeugt, dass Frederik Thomsen entweder nicht mehr lebte oder sich in der Gewalt von Leuten befand, die mit Sarahs Vater in Kontakt standen – sehr wahrscheinlich über seine Anwälte und andere Handlanger. Und nun würden sie versuchen, Druck auszuüben.

Bentsen besorgte sich einen Hotdog und frischen Kaffee, rief die Kollegen zusammen und teilte die Teams ein. Anschließend telefonierte er mit Kopenhagen – Thomsens Wohnung musste zügig überprüft werden. Die Bornholmer mochten dafür bekannt sein, dass sie nichts überstürzten und weder Stress noch Hektik guthießen, aber wenn es darum ging, zügig Maßnahmen einzuleiten und die nötigen Schritte zu veranlassen, gehörten unbedingt auch Tempo und Eile dazu.

Das Labor meldete sich am späten Mittag. »Wir haben einen ersten Analyseabgleich vorliegen. Das Blut stammt von zwei unterschiedlichen Menschen«, erklärte der Techniker in sachlichem Ton.

»Von Thomsen und …«

»Dem verkohlten Typen im Auto.«

Bentsen stützte das Kinn in eine Hand. Der Journalist könnte sich gewehrt haben.

»Die Spuren im Küchenbereich sind von Thomsen, das Blut vom Boden stammt von dem Fremden.«

Bentsen runzelte die Stirn. »Das war sehr viel Blut, wenn ich es richtig verstanden habe.«

»Kann man so sagen. Und im Küchenbereich gab es deutlich weniger Blutspuren – nur ein paar Flecken, um genau zu sein.«

Das klang seltsam.

»Was ist mit weiterer DNA, also abgesehen der von Sarah Pirohl?«

»Wir untersuchen Fingerabdrücke und Haare, die wir gerade mit den Blutspuren abgleichen, aber Genaueres kann ich noch nicht sagen und mich schon gar nicht festlegen, ob es zwei Leute gab, die Thomsen überfallen haben.«

Natürlich nicht. Und den Toten würden sie garantiert nicht in der Datenbank finden, auch nicht in der länderübergreifenden von Europol. Insgesamt dürfte die Spurenlage ohnehin dürftig sein und wahrscheinlich alles andere als aufschlussreich, überlegte Bentsen. Thomsen lebte aus bekannten Gründen zurückgezogen, kaum jemand wusste von dem Blockhaus, das er von seiner Mutter geerbt hatte. Er hatte sich dort regelrecht verbarrikadiert. Aber alle Schutzmaßnahmen hatten im entscheidenden Moment nichts genutzt. Er war von seinen ärgsten Feinden überrascht worden, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, und die hatten über seine Wohnsituation so gut Bescheid gewusst, dass es keine Zeugen für den Angriff gab – zumindest bisher nicht.

»Aber zu dem Wagen kann ich dir schon was sagen«, fuhr der Techniker schließlich fort. »Die Motornummer war zumindest noch teilweise lesbar. Es handelt sich wahrscheinlich um einen VW Passat, älteres Modell. Ich schicke euch das rüber. Dazu findet ihr bestimmt was heraus.«

Falls er nicht geklaut ist, wäre das eine Spur, die sie weiterbringen könnte. Bentsen nickte. »Danke erst mal.« Er legte das Telefon beiseite und blickte einen Moment ins Leere. Woher hatten die Täter gewusst, wie sie Thomsen aufspüren konnten? Sie hatten Sarah im Visier gehabt, die sie zu ihm geführt haben dürfte. Ihr Vater hatte den Coup seit Monaten geplant – während Sarah mit Ermittlungen auf Bornholm, in Berlin und Rostock beschäftigt gewesen war. Und er hatte in einem völlig überraschenden Moment zugeschlagen.

Bentsen schob den Stuhl zurück und ging hinüber in den Gemeinschaftsraum. An einer Wandtafel waren neben einer großformatigen Bornholmkarte und Fotomaterial die ersten Ergebnisse vermerkt. Mehrere Telefone klingelten, es herrschte emsige Betriebsamkeit. Bisher gab es keine Spur von Thomsen, niemand hatte etwas beobachtet, und wer immer den Wagen angezündet hatte und klammheimlich geflohen war, hatte bislang alles richtig gemacht. Bentsen beschlich ein ungutes Gefühl. Und wenn es zum Plan gehört hatte, dass von dem Täterduo nur einer übrig blieb? Warum? Um Verwirrung zu stiften. Verrückte Idee. Doch diese Typen scheuten nicht davor zurück, ihre eigenen Leute als Kanonenfutter zu verwenden. Das erlebten sie auch nicht zum ersten Mal.

3

Sarah war es tatsächlich gelungen, fast zwei Stunden Schlaf nachzuholen, obwohl sie jede Wette eingegangen wäre, dass sie kein Auge zubekommen würde. Sie schreckte vom Telefonklingeln hoch und griff hastig nach ihrem Smartphone.

»Finn Lerte vom Kopenhagener Tageblatt«, meldete sich, der Stimme nach zu urteilen, ein junger Mann. »Sie hatten angerufen.«

Sarah strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und bemühte sich, schnell wach zu werden. Sie musste hoch konzentriert zuhören, denn Lerte sprach natürlich Dänisch, und sie neigte immer noch dazu, jeden Satz zunächst wörtlich ins Deutsche zu übersetzen.

»Der Chef hat mir einen Zettel auf den Schreibtisch gelegt. Sie haben eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen«, fuhr er fort. »Es geht um Frederik Thomsen.«

»Ja, das ist richtig.«

»Falls Sie persönlichen Kontakt mit ihm aufnehmen möchten, gebe ich Ihnen gerne seine Mailadresse. Er ist nur selten in der Geschäftsstelle.«

Sarah runzelte die Stirn. Das klang nicht so, als wüsste die Redaktion, was passiert war. Das war ein bisschen seltsam. In den Medien war kein Name genannt worden, aber es war von einem verschwundenen Kollegen auf Bornholm die Rede gewesen – müssten da nicht sämtliche Alarmglocken schrillen?

»Sind Sie noch dran?«

»Ja, entschuldigen Sie, Herr Lerte – mein Dänisch ist noch nicht so toll«, antwortete Sarah. »Ich bin deutsche Kommissarin und arbeite seit einigen Monaten als Verbindungsbeamtin des Bundeskriminalamtes auf Bornholm. Außerdem bin ich …« Sie brach ab. »Sie haben wirklich keine Ahnung, was passiert ist?«

»Was meinen Sie?«

»Verfolgen Sie keine Nachrichten?«, entfuhr es ihr.

»Selbstverständlich.«

»Bei dem auf Bornholm verschwundenen Journalisten handelt es sich um Frederik Thomsen.«

Schweigen.

»Herr Lerte?«

Räuspern. »Wissen Sie, wir sind immer sehr vorsichtig, wenn es um Auskünfte geht«, erklärte er schließlich. »Erst recht am Telefon. Und Frederik legt besonderen Wert auf Zurückhaltung.«

»Ich verstehe. Sie können meine Angaben natürlich gerne überprüfen. Und ich darf noch hinzufügen, dass Frederik Thomsen und ich ein Paar sind.«

Erneutes Schweigen. »Es handelt sich also tatsächlich um Frederik?«, fragte Lerte schließlich nach. Er klang bedrückt. »Wir dachten …«

»Was dachten Sie?«

»Er war schon lange nicht mehr hier – meistens arbeitet er von unterwegs und mailt uns seine Dateien, und wir sind davon ausgegangen, dass er zurzeit in Deutschland ist. Außerdem …«

»Ja?«

»Er hat in der letzten Zeit nur wenig für uns geschrieben und nur noch ab und an mal einen Artikel abgeliefert.«

Das war bei genauerem Überlegen nicht allzu überraschend. Sarah wusste, dass Frederiks Hauptaugenmerk seinen persönlichen Recherchen galt, die er seit vielen Jahren betrieb und die er gerade in den letzten Monaten intensiviert hatte. Sie sprachen nicht darüber – er hielt sich bedeckt, um genau zu sein, aber sie wusste, dass er seine jahrelangen Nachforschungen in absehbarer Zeit publizieren wollte. Das war ein Schritt, der wohlüberlegt sein musste, und der Name Pirohl dürfte darin eine zentrale Rolle spielen. Das machte es nicht einfacher – in vielerlei Hinsicht.

»Er braucht wohl nicht viel zum Leben«, fuhr Lerte fort.

Er ist sparsam und hat etwas Geld von seinem Vater geerbt, überlegte Sarah, außerdem hielt er sich meistens auf Bornholm auf. »Und seine Wohnung in Kopenhagen?«

»Dazu kann ich Ihnen nichts sagen.«

»Okay, ich danke Ihnen erst mal«, meinte Sarah abschließend. »Ach, eine Frage noch. Wer weiß eigentlich in der Redaktion davon, dass er oft auf der Insel ist?«

»Keine Ahnung. Frederik hat wenig von sich erzählt. Unser früherer Redaktionschef wusste vielleicht ein bisschen mehr, aber der lebt inzwischen nicht mehr. Ich denke, Frederik hat hier nur noch das Nötigste gemacht – er hat das wie einen Brotjob erledigt. Manchmal hat er auch für Onlineredaktionen geschrieben. Niemand wusste Genaueres, auch nicht zu seinem privaten Umfeld. Er ist ein Einzelgänger, ein verschwiegener dazu.«