Brägel rettet die Welt - Jürgen Löhle - E-Book

Brägel rettet die Welt E-Book

Jürgen Löhle

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Beschreibung

"Radschlag" mit Brägel: 30 Jahre Kult-Kolumnen von Jürgen Löhle Seit über 30 Jahren begeistert der Sportjournalist Jürgen Löhle mit seiner TOUR-Kolumne "Radschlag" die Leserinnen und Leser des größten Radsportmagazins Europas. Angefangen mit seiner ersten Geschichte "Kurz und flach" bis hin zu "Chat Tschie-Pie-Was?" versammelt dieser Band die besten 50 Geschichten rund um die Kult-Figur "Brägel", seine Marotten, seine Freunde und seinen Sport. Liebevoll illustriert Cornelia von Seidlein mit einem Augenzwinkern wieder alle Erzählungen – inklusive Porträts seiner Radsport-Gruppe. • Über 30 Jahre Kult-Kolumnen von Jürgen Löhle • Die besten 50 Geschichten rund um die Kult-Figur "Brägel" und den Radsport • Humorvolle Illustrationen von Cornelia von Seidlein

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JÜRGEN LÖHLE

BRÄGELRETTET DIE WELT

ILLUSTRIERT VON CORNELIA VON SEIDLEIN

DELIUS KLASING VERLAG

INHALT

VOLLGAS, BIS DER ARZT KOMMT.BRÄGELS MOTTO IM SATTEL UND OFT AUCH IM LEBEN

Kurz und flach? Geschenkt!

Jeder ein König

Dabei sein ist alles

Gleichberechtigung

Brägel mag nimmer

Radtriumphfahrt

Carbonrentner

Nur zum Spaß

Rollende Trinker

Die Sache mit dem Wind

Strom ab!

Fair Play?

Tschey-Em und die Boomer

BRÄGEL UNTERWEGS

Live dabei

Inselduell

Wallfahrt

Brav bleiben

Camping de luxe

Radeln mit Meerblick

Belgischer Härtetest

Auf nach Frankreich!

Wer ist Mandy?

BRÄGEL SUCHT NEUES – AUCH AN SICH SELBST

Kuhle Wampe

Voll auf Touren

Geldsorgen

Die Mutter aller Pläne

Schöne Zeiten

Brägel und Hesse

Brägel rettet die Welt

Das Schweigen der Männer

Turnvater Brägel

Intervallfasten

Voll im Trend

More Lube for the Chain

Anfang vom Ende?

Tschätt-Tschie-Pie … was?

MENSCH BRÄGEL – ZWISCHEN RADCLUB UND FAMILIE

Dem Ende nah

Drum prüfe …

Der Wille kann alles

Gelobt sei …

Tierversuch

Brägels treuester Freund

Gruppenhierarchie

Der Moralapostel

For ä nju imitsch

Feste feiern

Sachwerte

Bewegliches Hindernis

Kette an Mandelsoße

Illegale Klein-Gruppe

Guter Rat ist … Mist

PORTRÄTS

Der Präsident

Der alte Hans

Viola

Jan-Miguel

Dertutnix

Brägel

Der Erzähler

VOLLGAS, BIS DER ARZT KOMMT.

BRÄGELS MOTTO IM SATTEL UND OFT AUCH IM LEBEN

KURZ UND FLACH? GESCHENKT!

WAS RADFAHRER SO ALLES SAGEN, UND WAS SIE DAMIT WIRKLICH MEINEN: EIN KLEINER KURS FÜRS ÜBERLEBEN AUF ZWEI RÄDERN

1994

G aaaanz ruhig bleiben«, ölt Brägel und kratzt sich die frisch rasierte Wade, »mach’ dir doch nicht ins Hemd. Wir fahren kurz und flach, und der Schwächste macht das Tempo.« Danach setzt er ein derart hundsgemein souveränes Lächeln auf, dass jedem Idioten sofort klar wird, dass er mit dem Schwächsten nur mich meinen kann. Da schau her, Brägel hat offenbar gewaltige Frühform. Wenn ich jetzt mitfahre, senkt mir der Kerl eine Tonne Blei in die Schuhe. Aber darum geht es gar nicht, man muss auch mal verlieren können. Viel gemeiner ist die Sprache. Wer Sprüche mit »kurz und flach« auch noch glaubt, den holt später der Teufel, das ist sicher. Verbale Stellungnahmen von Hobbyradlern sind nämlich ungefähr so wahrheitsgetreu wie die von Berufspolitikern. Eine Trainingsrunde unter zwei Stunden und ohne Steigungen ist genauso wahrscheinlich wie die Annahme, dass der liebe Herr Schäuble den Waffenhändler mit dem Koffer für einen Finanzbeamten mit einer Steuerrückerstattung gehalten hat. In Brägels speziellem Fall war »kurz und flach« übrigens 90 Kilometer über Mallorca, mit dem Anstieg nach Soller und einem Abstecher nach Valldemossa. Extrem flach und ziemlich kurz, stimmt schon. Einer, den Brägel erfolgreich überredet hat, saß am Abend ziemlich grau überm Spaghettiteller. Opfer der verbalen Radlerkeule.

Damit Sie nicht auch solche leidvollen Erfahrungen machen müssen, erklären wir Ihnen den Unterschied zwischen Äußerungen Rad fahrender Menschen und ihrem tatsächlichen Handeln. Und das ist ein gewaltiger, das können Sie glauben. »Kurz und flach« ist dabei das Paradebeispiel. Wer tatsächlich piano rollen will, sagt nämlich in aller Regel gar nichts. Gut trainierte Hobbyrenner versuchen Sie dagegen mit »kurz und flach« zunächst aufs Rad und an der ersten Steigung ins Verderben zu locken. Sie können den wahren Inhalt der Aussage aber am Blick erkennen. Wer kurz und flach sagt und dabei lächelt, der meint das Gegenteil. Wenn Sie darauf hereinfallen, erleben Sie am ersten Anstieg die nächste Schweinerei. »Lass’ dir ruhig Zeit, wir warten oben«, heißt es dann gönnerhaft. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Neulich bin ich mit so einer Horde gefahren und plötzlich kam Brägel (wirklich erstaunliche Frühform) mir wieder entgegen und erkundigte sich mit grauenhafter Fürsorge, ob denn wirklich alles in Ordnung sei, mit dem Puls und so und überhaupt. Das ist dann die Höchststrafe. Und »oben warten« heißt in Wahrheit, dass die Meute mit genervtem Blick am Straßenrand steht. Manche gähnen demonstrativ, andere tun so, als stünden sie schon vier Stunden dort. Mindestens. Und wenn du schließlich halbtot angekeucht kommst, schwingen sie sich in der gleichen Sekunde wieder in den Sattel. »Weiter, wir werden sonst kalt«, heißt es. Das stimmt ausnahmsweise, aber mir kocht die Birne und der Pulsmesser jault. Mit Warten hat das nun gar nichts zu tun.

Unten dann die nächste Lüge. »Häng’ dich hinten rein, wir nehmen dich mit«, heißt es. Hier die Übersetzung: »Jetzt fahren wir dich vollends aus den Schuhen, du Schattenparker. Wir drücken immer schön den dicken Gang, genau einen Zacken härter, als du Weichei es verträgst.« »Geht’s denn mit dem Tempo?«, nervt Brägel (der muss übrigens gedopt sein, jede Wette). »Nein«, japse ich, »es ist ein bisschen zu schnell.« Die Reaktion: nullkommanull. Überhaupt nix passiert, der Zug donnert weiter auf den nächsten Anstieg zu, keine Chance, den Puls in den aeroben Bereich zu drücken. Aber das soll auch genau so sein. Kurz und flach ins Verderben.

Die verbale Trickserei setzt sich im Radladen fort. Immer wieder gern genommen werden die Bezeichnungen »geschenkt«, »fast geschenkt« oder »echt geschenkt«; insbesondere gegenüber nichtradelnden Lebenspartnern in Gütergemeinschaft. Brägels echt geschenkte neue Magnesium-Pedale haben 356 Mark gekostet, der Alurahmen fürs Zweitrad war für 1.998 Märker natürlich »fast geschenkt«. Ich wollte auch so ein Ding und habe leider erst beim Zahlen bemerkt, dass geschenkt wohl ein kleines bisschen billiger gewesen wäre. Jetzt habe ich Madame zu erklären, warum ein bisschen Nichts, das kaum mehr wiegt als ein gemischter Salat für zwei Personen, genau so viel kostet wie eine Woche Skiurlaub im Viersterne-Hotel. Den habe ich nämlich mit Blick auf die Finanzen abgelehnt.

Auch bei Trainingsleistungen wird gelogen, dass sich die Speichen biegen. »Ich habe in diesem Jahr noch nichts trainiert«, steht für mindestens 1.000 Kilometer bis Ende März. Ein »klein wenig Training« deutet auf 1.500 bis 2.000 Kilometer hin. Auffällig ist auch, dass Radfahrer vor Beginn einer gemeinsamen Trainingsfahrt grundsätzlich sterbenskrank sind oder es gerade waren. Wobei sich die Heftigkeit der Krankheit umgekehrt proportional zur eigenen Leistung verhält. Wer nichts draufhat, wurde noch bis vorgestern von einem unbekannten Virus aus der afrikanischen Graswurzelsteppe malträtiert, der ältere Menschen oder Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben gekostet hätte. Deshalb sei es sowieso ein Wunder, dass man überhaupt auf dem Sattel sitzen könne. Gut kommt auch eine rätselhafte Autoimmunerkrankung, die noch nicht exakt diagnostiziert werden konnte, aber einen furchtbar quält. Meist handelt es sich dabei schlicht um einen Schnupfen. Seltsamerweise jammert Brägel nicht; und er ist verdammt gut in Form. »Na, Alter, hast wohl schon ’ne Menge trainiert?«, frage ich. Die Antwort ist klar: »Nein, so gut wie nicht, höchstens 100 Kilometer bisher und ein-, zweimal Hometrainer.« Geschenkt.

JEDER EIN KÖNIG

AUTOFAHRER SIND RÜCKSICHTSLOS, AGGRESSIV UND DRÄNGELN IMMER.SIE HABEN KEIN VERSTÄNDNIS FÜR RADLER, NICHTS IN DEN BEINEN UND DAFÜR UMSO MEHR UNTER DER MOTORHAUBE.WIRKLICH?

1997

Montag morgen, so kurz nach acht. Die Schlagzeile im Lokalteil der Tageszeitung ist nicht besonders groß, aber eindeutig: »Rabiater Radfahrer tritt Autotüre ein«. Au weia, schon wieder. Es folgt die kurze Geschichte aus dem prallen Leben: Am Samstagnachmittag versucht ein Autofahrer, wild hupend den Rennradler von der überbreiten und nahezu verkehrsfreien Straße auf einen holperigen Radweg abzudrängen. Der verschreckte Pedaleur zeigt darauf den Vogel oder Schlimmeres. Danach tauschen die erregten Herren verbale Gemeinheiten aus, drohen, rot vor Zorn, wahlweise mit Polizei, Anwalt und Prügel, bis es dem Radler schließlich zu bunt wird, und – siehe Überschrift.

Fast jeden Montag dasselbe Theater. Und immer, wenn sich der Radler unerkannt vom Tatort verabschiedet hat, klingelt dann bei mir so kurz vor halb neun das Telefon. Brägel ist dran: »Eine Frage – warst du das?«, f lötet er durch die Leitung. Was heißt da Frage, die Antwort liefert er schließlich gleich mit. »Natürlich«, höhnt er, »rotes Velo, schwarze Hose, blauer Helm. Das ist doch eindeutig.«

Na bravo. Nur mit viel Mühe lässt sich der durchgeknallte Nachbar vom Gang zur Polizei abhalten. Dass die Beschreibung auf ungefähr die Hälfte aller Rennradler zutrifft, überzeugt ihn dabei aber nicht. Nur die Eintrittskarte vom Fußballstadion zur besagten Zeit und die eiskalte Drohung, ihn bei seiner Männergruppe als üblen Denunziantenanzuprangern, zieht schließlich. Tief drinnen glaubt der Schuft aber weiterhin an das »animalische Element« (O-Ton Brägel) in mir. Zugegeben, auch ich hatte zunächst den Nachbarn im Verdacht. Rotes Velo, blauer Helm: Passt. Latent gewalttätig ist der Lapp auch – Männergruppe hin oder her.

Hinter all dem Ärger steht ein seit Jahrzehnten unausrottbares Missverständnis. Die meisten Autofahrer meinen, Radler müssten partout, immer und unbedingt auf Radwegen fahren, auch wenn die maximal die Qualität von Übungsstrecken für Panzer haben und zudem von Inline-Skatern, Kinderwagen, Spaziergängern und sonstigen Hindernissen blockiert werden. Dagegen sind viele Rennradler felsenfest davon überzeugt, dass Automobilisten eine Freude daran haben, minutenlang auf engen Straßen hinter Dreierreihen herzuzuckeln. Beides ist falsch, allerdings wohl nicht zu ändern, solange es auf der Welt noch zwei Gruppen gibt, die sich unversöhnlich gegenüberstehen.

Da ist zum einen der sogenannte »Paradeautomobilist«. Dieser Mensch benutzt seine Beine normalerweise nur zum Kuppeln und Gasgeben, kann die STVO auswendig herunterbeten und fährt meistens ein Fabrikat mit eingebauter Vorfahrt (meint er jedenfalls). Darüber hinaus beansprucht der motorisierte Hardliner die ganze Straße für sich. Radfahrer sind für ihn auf jeden Fall potentielle Störfaktoren oder, noch schlimmer, Grüne. Der Paradeautomobilist hat ein starkes Sendungsbewusstsein, weshalb er nicht einfach überholen kann, sondern sich hupend, fluchend und wild gestikulierend vorbeidrängt. Je nach Alter erkennt man diese Spezies am Dackel mit Wackelkopf auf der Hutablage, am Duftbaum, oder an der grobgliedrigen Goldkette um den Hals. Radfahrern ist nur zu raten, jeden Zwist mit diesen Leute zu meiden. Hier gilt, selbst für Brägel: Der Klügere gibt nach.

Auf der anderen Seite treten die Allmachtsradler in die Pedale. Dieser Spezies ist die Existenz einer wie auch immer gearteten Ordnung auf der Straße völlig wurscht. Ampeln werden grundsätzlich als eine Art folkloristischer Blinkzeichen angesehen, Vorfahrt hat, wer schneller an der Kreuzung ist. Für den Radfreak sind Autofahrer die Pest auf Rädern, faule Wohlstandsmaden, die ihre Wampen hinters Steuer zwängen, anstatt sich im Sattel zu stählen. Selbst die höfliche Bitte, vorbeifahren zu dürfen, wird mit hundsgemeinen Verbalattacken beantwortet. Ganz klar, wenn zwei aus diesen Gruppen zusammentreffen, fehlt schon mal eine Tür oder ein Zahn.

Wie: gibt’s ja gar nicht, alles übertrieben? Schön wär’s, aber leider ist das der Realität abgeschaut. Eigentlich verwunderlich, wo doch die allermeisten Radelfahrer auch noch einen Führerschein nebst Auto haben. Aber deshalb sind wir, die radelnden Automobilisten, ja auch die besseren Menschen. Wir können uns auf die Bedürfnisse der Zweiradler einstellen, sind höflich, überholen weiträumig und ohne dämliches Gehupe. Gut, manchmal hat man es auch ein bisschen eilig, das Kind wartet vor der Schule oder die Oma an der Bushaltestelle. Und es muss ja auch wirklich nicht sein, schon gar nicht werktags, dass die Arbeitsscheuen da vorne auch noch in Zweierreihen fahren. Wir hupen ja dann auch nur, weil Radler keine Rückspiegel haben. Sozusagen aus fürsorglicher Höflichkeit.

Und was hat man davon? Sofort recken acht Mann den Mittelfinger in die Luft. Sagen Sie selbst, ist das gerecht? Eben, und deshalb wird es doch wohl erlaubt sein, den Kollegen ein munteres Wort mit auf den Weg zu geben. Kann doch auch so schlimm nicht sein. Ganz Deutschland freut sich über Walter Moers’ Comicfigur »Das kleine Arschloch«, nur die Herren im Sattel regen sich auf, weil wir das Wort »klein« durch »groß« ersetzt haben. Absolut humorlos. Beim Vorbeifahren will noch einer mit der Luftpumpe auf das Dach hauen. Das darf doch nicht wahr sein, Meister Brägel versucht sich in vorsätzlicher Sachbeschädigung. Der gleiche Mensch, der einen permanent verdächtigt, irgendwelche Türen einzutreten.

Da bleibt uns doch nur der Aufruf zu mehr Toleranz unter den Menschen auf den Straßen. Respekt und ein bisschen Rücksicht – so schwer ist das doch nun auch wieder nicht. Wir können es doch auch. Meistens jedenfalls. Also gut, gelegentlich. Auch nicht? Dann sagen wir es mal so: Wir bemühen uns, aber wer ist schon perfekt? »Ich«, brüllt einer vom Balkon. Raten Sie mal, wer.

DABEI SEIN IST ALLES

WOVON MANCHE RADPROFIS NUR TRÄUMEN KÖNNEN, HAT BÄGEL GESCHAFFT:BEI DER TOUR DE FRANCE MITZUFAHREN – WENN AUCH NUR EIN PAAR METER

2001

Es konnte nicht gutgehen, auf gar keinen Fall, und deshalb machen wir uns jetzt im Radclub Vorwürfe. Warum, fragen Sie? Wir hätten es verhindern müssen, dann streckte Brägel jetzt vielleicht nicht so tief in der Tinte. Aber glaubt schon so was? Der Reihe nach: Im April überraschte uns der Lapp mit der Ankündigung, dass er sich in das Feld der Tour de France schmuggeln wolle. Das war nach drei Weizen, und wir nahmen das Ganze auch nicht weiter ernst, da Brägel als werdender Vater eh seit geraumer Zeit ein wenig durchs Leben stolpert. »Pass auf«, haben wir ihm gesagt, »so wie du aussiehst, kannst du als Michelin-Männchen in der Werbekarawane von einem Sattelschlepper winken.«

Das hat ihn wahrscheinlich doch getroffen. Auf jeden Fall hätten wir stutzig werden müssen, als sich der Kerl aus einer alten Reklametafel am Vereinsheim ein Stück heraussägte, mit schwarzem Filzstift »853« draufschrieb und sich die Komposition stumpf an den Rahmen pappre. »Meine Startnummer«, sagte er, und wir haben gelacht, weil bei der Tour nur knapp 200 Fahrer starten. »Schau’ lieber nach deiner Freundin«, haben wir gerufen und ihn stehen lassen. Ein großer Fehler. Brägel fuhr tatsächlich zur Tour. Ausgestattet mit Trikots und Hosen von Telekom, Festina und Mercatone Uno. Letztere waren zwar gar nicht dabei, aber das war eh wurscht, da Brägel von jedem Team immer nur ein Teil besaß: Hose von Telekom, Trikot von Festina und Tennissocken aus dem Supermarkt. Dazu hatte er seine Waden rasiert, die Haare milimeterkurz geschoren und auch noch ein Gelbes Trikot von »La Vie Claire« dabei. Dieses Team ist zu einer Zeit gefahren, als sogar Brägel noch jung und vor allem schlank war. Aber das war ihm, wie so vieles, egal. Genau wie der Rückschlag, als es auf der Etappe von Straßburg nach Pontarlier derart regnete, dass kein Mensch bemerkte, dass er tatsächlich drei Kilometer am Ende des bummelnden Feldes mitgerollt ist. Die Rennfahrer waren alle so dick eingepackt, dass Brägel in seiner Festina-Telekom-Kombination nicht weiter auffiel.

Doch Brägel wollte höher hinaus. ER machte sich auf die Suche nach dem Col de la Madeleine, endete aber wegen seiner mangelnden Sprachekenntnisse erst einmal in einem Provinzbordell (»Chez Madeleine«) in der Nähe von Chamberry. Bis er sich aus den Klauen der Damen befreit hatte, war Lance Armstrong bereits am Ziel in L’Alpe d’Huez. Also nix mit Madeleine, zumindest nicht auf dem Rad. Brägel ließ nicht locker, fuhr mit dem Auto zum Bergzeitfahren nach Grenoble, parkte an der Strecke, direkt neben Didi Senfft. Das ist der Mann, der seit Jahren den Teufel gibt, der mit viel Gebrüll und knappem Wortschatz neben den Profis hersprintet und den Dreizack schwingt. Brägel ging um 14.12 Uhr auf den Kurs, zwischen der Startnummer 174 und der 29. Erwartungsfroh stampfte er bergauf, die Sonnenbrille auf dem rasierten Schädel, seinen Handy-Freisprecher im Ohr, aber leider mit 39 x 28 – mehr kann er halt nicht. Kein Mensch klatschte, kein TV-Motorrad war zu sehen, nix war los, außer dass ich zwei betrunkene Holländer mit Bier vollspritzten. Zu langsam, zu dick und überhaupt. »Ülrick?«, fragte ein kleiner Franzose seinen Papa. »Non, touriste«, war die Antwort. Kurz danach hupte ein Tour-Motorrad Brägel rüde zur Seite. Die Nummer 29 hetzte vorbei.

Wild entschlossen ging Brägel noch einmal »en route«. Ganz hinten, kurz nach Lance Armstrong, zwischen Kivilev und Simon. Brägel hatte das alte Gelbe Trikot von La Vie Claire an, und da der gute Diabolo gerade neben ihm Radau machte, kam er tatsächlich im Fernsehen. Brägel auf dem Weg nach Chamrousse – live. Uns hat’s im Radclub vor der Glotze fas die Biergläser aus den Händen gehauen, und seine Viola bekam vorzeitige Wehen. Aber dann wurde Brägel von zwei Gendarmen in einem Auto einfach umgefahren. Wir sahen noch, wie er sein Trikot vor der Kamera lupfte und konnten auf seinem Unterhemd »Viola, ich liebe dich« lesen, dann war das Bild weg. Er auch. Da die Polizei bei Brägel zwei Magnesiumtabletten fand, kam es zum Eklat. »Dopage?«, haben sie ihn gefragt. Brägels Antwort: »Ich bin kein Arsch.« Dann hat er dem ersten Gendarmen auch noch eine gelangt.

Mittlerweile ist Brägel wider zu Hause und wartet auf seine Verhandlung. Angeklagt wird er wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, Verunglimpfung von nationalen Sportsymbolen (Gelbes Trikot) und unerlaubtem Medikamentenbesitz. Mittlerweile ist er wieder zu Hause und hütet die Sportzeitung »L’Equipe« vom 19. Juli wie seine schwangere Viola. Auf der sechsten Sportseite steht ganz unten ein kleiner Artikel unter der Überschrift »Der verrückte Deutsche«. Daneben ein Bild, wie Brägel gerade Handschellen angelegt werden und vier Polizisten ihren geohrfeigten Kollegen hindern müssen, Brägel mir dem Schlagstock eins überzuziehen.

Im kommenden Jahr will er aber unbedingt wider zur Tour. Natürlich mit dem Rad, wieder mit einer Nummer und einem Trikot. »Ich schaff’ das schon noch«, sagt er. Hoffentlich lässt er wenigstens sein Kind zu Hause.

GLEICHBERECHTIGUNG

WENN ZWEI DAS GLEICHE TUN, IST DAS NOCH LANGE NICHT DASSELBE …

2002

Es hat sich doch einiges geändert in den vergangenen hundert Jahren. Zum Beispiel sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Das steht sogar im Grundgesetz, wobei das Thema Radfahren dort leider nicht explizit erwähnt wird. Auf dem Velo sind Männer deshalb immer noch ein bisschen gleicher als Frauen, was besonders für unseren Sportskameraden Brägel und seine Viola gilt. Brägel hat im Frühjahr beschlossen, seine mittlerweile Angetraute und Mutter seines Sohnes in die Geheimnisse des sportiven Radfahrens einzuführen. Brägel junior ist aus dem Gröbsten raus, also will der Lapp die Mutter des späteren Toursiegers Jan-Miguel ein bisschen auf ihren künftigen Lebensinhalt einstimmen.

Dazu hat er zuerst einmal sein Equipment für knapp 1.500 Euro »upgedated«, wie er das nennt: Einen Satz neue Laufräder, superleichte Pedale, Schuhe und einen Wahnsinnscomputer, der Dinge misst, von denen er nicht mal weiß, was sie bedeuten. Außerdem versucht er, das in TOUR vorgestellte Buch von Richard R. Türck zu bestellen, weil er sich unbedingt Seegurken ans Tretlager schrauben will. Darüber lachen wir im Radclub seit zehn Tagen, aber das ist ein anderes Thema. Brägel ist jedenfalls bereit.

Für Viola hat Brägel auch was passendes gefunden. Ganz hinten im Keller, sein altes Staiger-Zehngang, mit dem er vor gut 30 Jahren in die Schule geradelt ist. Rund 18 Kilo schwer und mit sehr hübschen, antiken Rostblüten im Lack. Das bringt er zwecks Modernisierung zum Händler, der allerdings lapidar zum sofortigen Verschrotten rät. Brägel juckt das aber nicht. Er wühlt ein bisschen in der Altmetall-Sammelkiste seines Händlers und legt dem Mechaniker eine uralte Siebenfach-Schaltung, Riemenpedale, Unterrrohrschalthebel und einen gebrauchten Ledersattel auf die Werkbank. Und ein paar museumsreife Modolo-Bremsen. »Sie soll fahren, nicht bremsen!«, scherzt Brägel. Keiner lacht. Und weil er schon mal da ist, kauft er noch ein neues Telekom-Trikotset und eine smarte Sonnenbrille. Für sich.

Ausfahrt am nächsten Sonntag. Brägel sitzt in Magenta und mit geölten Waden auf seinem 4.000-Euro-Renner und zupft gutgelaunt an der verspiegelten Brille. Der neue Computer ermittelt leise summend Außentemperatur, Blutdruck und anaerobe Schwelle, die Sonne blitzt in den blanken Speichen. Dahinter Frau Viola in Tennisschuhen, Shorts und einem T-Shirt der örtlichen Bausparkasse. »Wir fahren locker, maximal mit Puls 120, runder Tritt, etwa 25 Kilometer. Du fährst vorne, denn wenn ich das mache, muss ich dauernd zurückschauen, ob du mitkommst«, doziert Brägel mit öligem Lächeln. Viola nickt brav und rollt an. Brägel gibt ihr noch gönnerhaft einen Klaps auf den Po und will dann auch losfahren. Leider kommt er nicht richtig ins linke Pedal, sucht erst fluchend den Klick, und dann, als er endlich drin ist, Viola. Die hat sich aber schon hundert Meter abgesetzt. »Weiber«, denkt er. Ein kurzer, geschmeidiger Antritt à là Cipollini, und schon ist er wieder dran.

Viola fährt und freut sich, und Brägel gibt schlaue Anweisungen: »Mehr über das Tretlager setzen, höhere Frequenz, auf den Puls achten, schalten.« Viola antwortet nicht und fährt. Nach zehn Kilometern kommt ein kleiner Hügel. Brägel wird einsilbig. »Wenn du weiter so drückst, geht dir gleich die Luft aus.« Viola sagt nix und drückt. Brägel sagt auch nicht mehr viel – weil er Luft braucht. »Hey, ruhiger, Himmelhergottnochmal, fahr’ einen Gang leichter«, bellt er sie an. Viola sagt nix, schaltet nicht, fährt. Eine Gruppe Hobbyradler saust vorbei und freut sich an dem Anblick: Die Dame auf dem Oldtimer, und dahinter der High-Tech-Macho mit leicht rotem Schädel. »Du brauchst wohl Windschatten, Alter?«, ruft einer. Brägel kocht über. »DU BIST VIEL ZU SCHNELL«, herrscht er nach vorn. Viola sagt nix und fährt.

Nach 20 Kilometern bekommt Brägel echt Probleme. Rührt im Getriebe, tritt mal schneller, mal langsamer, nimmt einen Schluck aus der Trinkflasche. Viola trinkt nicht und fährt. »Du kannst morgen vor Muskelkater nicht mehr laufen«, keucht Brägel, »wir sind hier beim Radfahren und nicht auf der Flucht.« Viola sagt nix. Brägel auch nicht. Dafür beginnt jetzt sein Pulsmesser zu piepsen. Der Kerl verflucht den Tag, als er für seine Flamme das Rad entdeckt hat. »Entweder ich bin krank oder die ist gedopt«, presst er kaum hörbar hervor.

Finale. Die letzten fünf Kilometer, es geht leicht bergauf. Viola sagt nichts und fährt, Brägel verliert den letzten Rest Selbstachtung, macht sich ganz klein, konzentriert sich auf das Hinterrad seiner Holden und würde ihr liebend gern in die Waden schießen oder sie in siedendem Kettenfett braten. Sagen kann er nichts mehr. Den Pulsmesser hat er ausgeschaltet. »Ist das sehr langsam für dich, Schatzi?«, kommt es plötzlich von vorn. Brägels Schädelfarbe wechselt von Rot zu Purpur, was Viola aber nicht sieht. »Geht schon, Mausi«, flötet der Dampfkochtopf hinter ihr mit letzter Kraft.

Ziel. Viola strahlt, wischt sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. »War richtig klasse, Männe, das können wir jeden Sonntag machen.« Brägel sagt nichts mehr. Erst am Abend in der Kneipe. »Ich lass mich scheiden!«, mault er beim ersten Hefeweizen. Aber dann grinst er maliziös und beschließt, einen Kinderanhänger zu kaufen. Für Viola – damit die Mutter-Kind-Bindung während des Trainings nicht leidet.

BRÄGEL MAG NIMMER

ES GIBT WENIG KONSTANTEN IM LEBEN – AUSSER ETWA, DASS BRÄGEL PRO JAHR VIER BIS SECHS BLÖDSINNIGE IDEEN ENTWICKELT, DIE ER DANN OHNE RÜCKSICHT AUF SEIN ANSEHEN ODER SEINEN GELDBEUTEL DURCHSETZEN WILL

2003

Auf sein Bankkonto muss Brägel nach seinem Gewinn bei Jauch ja nicht mehr sklavisch achten, aber ein gutes Renommee, der Respekt der Freunde, das ist eigentlich auch was wert. Sollte man meinen. Dennoch – Brägel hat sich mal wieder höllisch blamiert. Kaum liegt die erste Ahnung von Frühling in der Luft, überrascht uns der Lapp im Radclub mit der Ankündigung, dass 2003 alles leichter werden solle, flüssiger, schwungvoller. Besonders am Systemgewicht wolle er künftig gewaltig einsparen. Wir erkundigen uns, was damit gemeint sein soll, und Brägel erklärt, dass man mit diesem Begriff das Gewicht von Rad und Fahrer in Summe beschreibt. »Ein Kilo weniger Systemgewicht heißt, dass man für die gleiche Geschwindigkeit sechs Watt weniger Druck aufs Pedal bringen muss.« Wir sind natürlich schwer beeindruckt, zumal sich in Brägels Körpermitte über die Zeit ein Sparpotenzial von 60 Watt angesammelt hat. Seit er verheiratet ist und jetzt auch noch zum zweiten Mal Vater wird (doch, doch, es hat wirklich geklappt), lässt er sich figürlich schließlich gerne mal gehen. Besonders im Winter.

»Na dann, bestell’ gleich mal ein Wasser«, rufe ich Brägel zu und winke mit meinem Weizenglas, »zwei Töpfe weniger von dem bringen schon mal drei Watt.« Brägel schaut etwas verwundert und erklärt dann, dass er nicht seines, sondern das Materialgewicht reduzieren wolle. Was er damit genau meint, präsentiert er zwei Minuten später. Brägel rollt seinen fast neuen Carbon-Boliden ins Vereinsheim und löst damit den Effekt aus, den man aus dem Kino kennt, wenn der Cowboy im Gegenlicht die Schwingtür im Saloon knarren lässt: Atemlose Stille. Vor uns steht das Wrack eines 3.500-Euro-Renners. Überall, wo Brägel zu viel Material vermutet, hat er Löcher reingebohrt. Sattelstütze: vier Löcher. Die schönen Campa-Kurbeln: durchschossen wie Schweizerkäse. Lenker, Vorbau, Kettenblätter: ausgestanzt. Selbst den Flaschenhalter hat er abmontiert und das Leitblech des Umwerfers perforiert. Nur der Rahmen blieb verschont, sonst hätte er das Velo wahrscheinlich nicht einmal mehr ins Clubhaus schieben können. »Setz’ dich da auf keinen Fall drauf«, warne ich ihn, »das bricht sofort zusammen.«

Nach ein paar Minuten blanken Entsetzens, wie man sein Rad so zurichten kann, als ob es bei einer Treibjagd stundenlang mit Schrot beschossen worden wäre, gehen wir zur Normalität über. Heißt: Wir lachen herzlich über Brägel, empfehlen ihm zum ungefähr zweihundertsten Mal den freiwilligen Einzug in die nächste Klapsmühle und bestellen uns noch ein Bier. Auch Brägel macht, was er in diesen Fällen immer tut: Er trollt sich beleidigt. Meistens hält sein Zorn keine drei Tage, aber diesmal ist es anders. Unser Präsident bekommt schriftlich Brägels Austrittserklärung zum nächsten Ersten, mich stutzt er am Telefon zusammen (»wer sich auf Kosten anderer amüsiert, ist kein Freund«), und im örtlichen Anzeigenblatt erscheint folgendes Inserat:

»Wegen Aufgabe des Sports zu verkaufen: Vier komplette Rennräder (eines custom-gewichtsoptimiert), neun Trikotsätze (darunter ein original Zeitfahr-Einteiler von iBanesto), zwei Helme, drei Paar Radschuhe Größe 46, ein Velo-Träger für Porsche 911. Preis VS, Komplettangebote an Chiffre…«