Bring Down the Stars - Emma Scott - E-Book

Bring Down the Stars E-Book

Emma Scott

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Beschreibung

"Sie sagt, sie liebt meine Seele. Doch meine Seele ... bist in Wirklichkeit du!"

College-Studentin Autumn ahnt nicht, dass die wunderschönen Gedichte, die ihr der attraktive Connor schickt, von dessen Freund Weston stammen. Und obwohl Autumn sich stark zu Connor hingezogen fühlt, spürt sie auch zu Wes eine unerklärliche, tiefe Verbindung. Während ihre verwirrenden Gefühle Autumn zunehmend in Seelennot bringen, verstricken die beiden Freunde sich immer weiter in ihrer gut gemeinten Täuschung. Und als Connor nach einem Streit mit seiner Familie eine folgenschwere Entscheidung trifft, steht plötzlich noch viel mehr als nur ihre Freundschaft auf dem Spiel ...

"Wunderschön, poetisch, herzzerreißend. Die Gefühle, die dieses Buch in mir auslöste, sind unbeschreiblich!" TBBSISTERHOOD

Auftaktband des BEAUTIFUL-HEARTS-Duetts

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Seitenzahl: 421

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Sammlungen



Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Anmerkung der Autorin

Widmung

Playlist

Teil 1

Prolog

Teil 2

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Teil 3

12

13

14

15

16

17

18

19

20

Teil 4

21

22

23

Teil 5

24

25

26

27

28

29

30

31

Teil 6

32

Danksagung

Westons Gedichte, englische Fassung

Die Autorin

Die Romane von Emma Scott bei LYX

Impressum

EMMA SCOTT

BRING DOWN THE STARS

Roman

Ins Deutsche übertragen von Inka Marter

Zu diesem Buch

College-Studentin Autumn ahnt nicht, dass die wunderschönen Gedichte und Zeilen, die ihr der attraktive Connor schickt, in Wirklichkeit von dessen bestem Freund Weston stammen, der sie heimlich liebt. Aber obwohl Autumn sich mehr und mehr zu Connor hingezogen fühlt, spürt sie zu Weston eine tiefe Verbindung, die über alles Körperliche hinausgeht. Ihr Herz ist zerrissen zwischen zwei Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Für Weston und Connor wird die gut gemeinte Täuschung bald zu einer Zerreißprobe. Was als freundschaftliche Dating-Hilfe begann, entwickelt sich zunehmend zu einem Lügengeflecht, dem sie nicht mehr entkommen können, ohne Autumn zutiefst zu verletzen. Für Connor würde Wes durchs Feuer gehen, hat er ihm und seiner Familie doch unendlich viel zu verdanken. Doch mit anzusehen, wie seine eigenen Worte Autumn in Connors Arme treiben, ist für ihn kaum zu ertragen. Und als Connor nach einem dramatischen Streit mit seiner Familie eine folgenschwere Entscheidung trifft, steht plötzlich noch viel mehr als nur ihre Freundschaft auf dem Spiel …

Anmerkung der Autorin

Dieses Buch wurde vorher geschrieben. Bevor mein Leben sich für immer verändert hat. Bevor ich in den dunklen Wald kam und merkte, dass ich den Weg, auf dem ich gekommen war, nicht zurückgehen konnte. Er war für immer versperrt. Diese Dilogie ist eine Geschichte über Veränderung und Überwindung unvorstellbarer Not. Es ist mir während meiner Karriere als Schriftstellerin so oft passiert, dass die Kunst und das Leben auf überwältigende Weise ineinandergreifen. Es gibt keine Zufälle. Ich kann nicht zurückgehen, nur vorwärts; also gebe ich euch dieses Buch aus der Zeit davor mit all meiner Hoffnung, besten Absichten und Liebe, denn die Zeit danach hat mich zuallererst gelehrt, dass nur Liebe wirklich zählt. Jetzt, damals und für immer.

Für Katy,

ein Geschenk des Universums, die Art Mensch, der Izzy, sobald sie sie gesehen hätte, um den Hals gefallen wäre.

Für Bill,

meinen Liebsten, meinen Partner in diesem Leben. Wir haben uns fest an den Händen gehalten, als der Wald so furchtbar dunkel wurde, und das tun wir immer noch, während wir langsam wieder ins Licht treten. All meine Liebe, Schatz. Immer.

Playlist

Everclear: Father of Mine

Billie Eilish: Ocean Eyes

Ofenbach: Be Mine

Two Feet: I Feel Like I’m Drowning

Morgan Saint: Just Friends

Mumford and Sons: Little Lion Man

Lord Huron: The Night We Met

Sir Sly: &Run

The 1975: Give Yourself a Try

Teil 1

Sinclair

Prolog

»Fast leer«

von Weston J. Turner (12)

Ich war sieben Jahre alt, als mein Vater uns verlassen hat. Er hat an dem Morgen geduscht, sich rasiert, einen Anzug angezogen und sich die Krawatte gebunden, genau wie immer. Hat seinen Kaffee an der Küchentheke getrunken, während wir gefrühstückt haben, genau wie immer. Er hat Ma auf die Wange geküsst, meinen Schwestern und mir gesagt, dass wir brav sein sollten, und ist mit seinem Nissan Altima losgefahren. Genau wie immer.

In der Schule, in Mathe bei Mr Fitzsimmons, hatte ich ein komisches Gefühl im Bauch. Mittags war mir übel und heiß. Ich habe es gerade noch zu dem großen grauen Abfalleimer hinter den Tischreihen in der Cafeteria geschafft, bevor ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt habe.

Die Aufsicht hat mich zur Krankenschwester geschickt, und die Krankenschwester rief Dad an, aber er war nicht im Büro. Ma musste mich abholen und hat die ganze Zeit gemeckert, dass sie von der Arbeit den Bus nehmen musste – Dad fuhr unser einziges Auto.

Ma und ich stiegen aus dem Neuner und gingen die Straße entlang nach Hause. Wir wohnten in Woburn, nördlich von Boston, in einem schäbigen kleinen Haus mit blauen Wänden und einem weißen Dach am Ende einer Sackgasse. Vor dem Haus stand mein Vater mit zwei großen Koffern. Einen legte er gerade in den Kofferraum, der andere stand neben ihm auf dem Boden. Als er uns sah, erstarrte er.

Ma ging schneller, dann lief sie und fragte lauter und lauter, was mein Vater da machte. Sie ließ meine Hand los, weil ich nicht mit ihr mithalten konnte, und ließ mich auf dem Bürgersteig stehen, während sie auf ihn zu rannte. Sie redeten, aber ich konnte nicht hören, was sie sagten. Mein Kopf war durch das Fieber wie in Watte gehüllt.

Ma sah ängstlicher aus, als ich sie je gesehen hatte. Sie fing an zu weinen, dann schrie sie. Dad redete mit leiser Stimme, dann hob er genervt die Hände und knallte den Kofferraum zu. In meinem Fieberwahn klang es unglaublich laut. Wie eine Bombe, die explodierte. Ein Meteor, der unser Zuhause zertrümmerte und einen riesigen Krater hinterließ. Ein Loch, das in die Mitte eines jeden von uns gesprengt wurde.

Dad riss sich von meiner Mutter los, die nach ihm griff und schlug, und stieg ins Auto. Ma schrie und schrie, was er für ein Mann sei, und brach dann zusammen. Sie fiel auf die Knie und schluchzte und sagte, er solle abhauen und nie wiederkommen.

Dad fuhr los, durch den Wendekreis der Sackgasse. Als er mich erreichte, wurde er langsamer und winkte kurz hinter dem geschlossenen Fenster. Seine Züge waren vor lauter Schuldbewusstsein so verzerrt, dass ich ihn kaum noch erkannte.

Ich schüttelte den Kopf und trat gegen die Beifahrertür.

Er fuhr weiter. Ich schlug mit der Hand auf den Kofferraum. Nein!

Er hielt nicht an.

Eine Sekunde lang stand ich dort und sah das Auto wegfahren. Das Blut rauschte mir in den Ohren, und mein Gesicht glühte. Dann rannte ich los. Ich rannte ihm, so schnell ich konnte, hinterher. Und ich schrie, so laut ich konnte. Heiße Tränen liefen mir über das brennende Gesicht.

Ob er mich im Rückspiegel gesehen hat? Das muss er. Einen siebenjährigen Jungen, der seinem Dad hinterherschreit, dass er zurückkommen soll, während er so schnell läuft, wie seine Füße ihn tragen. Nicht schnell genug.

Er gab Gas, bog um die Ecke und war weg.

Es war, als hätte er mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich stolperte und fiel auf den Asphalt, schürfte mir Knie und Handflächen auf. Mein Atem ging keuchend und schwer.

Später fanden wir heraus, dass er schon vor Wochen den Job gekündigt und seit drei Monaten die Hypothek nicht mehr bezahlt hatte. Das Geld hatte er für seine Flucht gespart.

Hat er sich gefragt, was wir machenwürden, nur mit dem Geld, das Ma mit dem Haareschneiden verdiente? Hat es ihm etwas ausgemacht, dass wir unser kleines Haus in Woburn verlieren würden? Hat er sich in den kommenden Monaten jemals gefragt, ob wir ihn vermissten? Hat er überlegt, ob meine Schwestern und ich uns die Schuld geben würden, was wir natürlich taten? Wären wir gut genug gewesen, wäre er ja geblieben.

Oder er hätte uns mitgenommen.

Stattdessen hat er seine Kleider und seine Sachen aus dem Bad mitgenommen. Er hat den Schrank und die Schubladen komplett geleert und alles mitgenommen … bis auf eine Herrensocke. Schwarz mit Goldfaden am Zeh.

IchbetrachtetedieeinsameSockeinderSchubladeundstelltemirdieanderevor,diejetztinseinemGepäckmitihmreiste –wohinauchimmer.ErmachtesichnichtdieMühe,diezweiteauchzuholen.

Genau wie wir war sie es nicht wert, dafür extra umzukehren.

Er ließ seine Kinder zurück wie die Socke in einer fast leeren Schublade, und es war tausendmal schlimmer, als wenn er überhaupt nichts zurückgelassen hätte.

Die Bank bekam das Haus. Ma fing an, abends sehr viel Bier zu trinken, und musste Onkel Phil um Geld bitten, damit wir eine Wohnung in Southie bekamen.

Ich verbrannte die Socke.

Ich war erst sieben, aber die Wut in mir fühlte sich so viel größer an. Heißer. Wie ein Fieber, das nie weggehen würde. Ich musste sehen, wie die Socke zu Asche wurde. Damit ich, wenn Dad doch zurückkäme, um sie zu holen, sagen könnte: »Sie ist weg. Ich habe sie verbrannt. Hier gibt es nichts mehr für dich.«

Er würde sagen, dass es ihm leidtäte, und ich würde sagen, dass es zu spät sei, und ihn wegschicken. Ich hätte die Situation im Griff, und wenn er dann mit dem Auto wegfuhr, würde ich ihm nicht hinterherlaufen.

Aber das ist fünf Jahre her. Er kommt nicht zurück.

»Du hast nur dieses eine Hemd, also mach es nicht dreckig. Hast du gehört?«

Ma zog mir die braun-goldene Krawatte so fest um den Hals zu, dass ich eine Grimasse schnitt. »Wenn du schmutzig nach Hause kommst, kann ich nichts für dich tun. Willst du aussehen wie ein armer Schlucker aus Southie?«

»Ich bin ein armer Schlucker aus Southie«, sagte ich, woraufhin Ma noch energischer an der Krawatte zerrte.

Sie drohte mir mit dem Zeigefinger, und das Bier von gestern Nacht war noch in ihrem Atem zu riechen. »Pass auf, was du von dir gibst, sonst werfen sie dich raus, bevor du überhaupt angefangen hast.«

Heilige Ironie, Batman.

Für das, was ich von mir gab, hatte ich das Stipendium für die teuerste Schule in Boston überhaupt erst bekommen. Mein Aufsatz hatte dreitausend andere Einsendungen geschlagen und mir ein Vollstipendium für die Sinclair Preparatory School für Jungen eingebracht. Leider gab es bloß niemanden, der mich hinfuhr. Also musste ich jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen, um den Bus der Linie 38 in die Innenstadt zu kriegen.

Ich betrachtete mich im Spiegel an der Rückseite der Tür und erkannte mich kaum. In der staatlichen Schule hatte ich jeden Tag Jeans und ein T-Shirt getragen. Wenn Schulfotos gemacht wurden, ein Langarm-Shirt. Im Winter eine Jacke. Jetzt sah ich mich in einem braunen Blazer mit Goldpaspeln, schwarzer Hosen und dem weißen Hemd mit dem Sinclair-Logo. Ich fragte mich, wen der Typ im Spiegel verarschen wollte.

»Hör auf zu zappeln«, sagte Ma und machte sich an meinem Haar zu schaffen.

Sie hatte es kurz geschnitten, nur vorn etwas länger gelassen. Sie war Friseurin unten in Bettys Salon und verstand was von ihrem Job.

»Richtig gut siehst du aus.«

Ich duckte mich unter ihrer Hand weg und zog eine Grimasse. »Ich sehe aus, als hätte man mich für Gryffindor eingeteilt.«

Ma schnaubte. »Was redest du da für einen Quatsch? Du siehst großartig aus. Genau wie einer von denen.«

Einer von denen.

Ich blickte auf meine alten, abgetragenen Chucks hinunter. Sie waren das einzige, was gleich geblieben war, und ein klares Zeichen, dass ich niemals ›einer von denen‹ sein würde. Die anderen Jungen würden geschnürte Halbschuhe tragen, aber Schuhe wurden nicht mit der Uniform geliefert, und Ma konnte sich diesen Monat keine leisten. Vielleicht nächsten Monat. Vielleicht nie. Mir war nie absolut recht. Man kann in Halbschuhen nicht laufen.

Ich lief viel. Wenn ich wütend war, lief ich, so schnell und so lange ich konnte, über die alte, löchrige Bahn, die zu meiner alten Schule gehörte. Ich weiß nicht, warum. Es machte mir nicht besonders viel Spaß zu laufen, aber ich war schnell. Ich träumte noch immer davon, wie ich Dads Auto hinterherlief; also lag es vielleicht daran. Vielleicht versuche ich immer noch, ihn einzuholen. Total dämlich. Auf einer Bahn läuft man immer nur im Kreis. Man kommt immer genau dort an, wo man losläuft.

»Keine Prügeleien, Weston Jacob Turner«, sagte Ma an diesem Morgen, packte mein Kinn und zwang mich, sie anzusehen. Mit einem ihrer langen Acrylnägel berührte sie meinen Nasenrücken, wo ein Bruch nicht glatt geheilt war. »Du kannst in dieser schicken Schule nicht einfach weitermachen wie hier. Eine Prügelei, und du bist draußen.«

Auch das tat ich, wenn ich wütend war. Ich prügelte mich. Ich war ziemlich häufig wütend.

Ich entzog ihr das Kinn mit einem Ruck. »Und wenn mich einer von denen ärgert?«

»Lass dich nicht provozieren. Glaubst du, die Schulleitung hört dich genauso an wie diese reichen Kids? Die Eltern von denen spenden.« Ma zündete sich eine Zigarette an und schüttelte das blondierte Haar. Sie kniff die Augen gegen den Rauch zusammen und zeigte mit der Zigarette auf mich. »Prügel dich mit ihren Kindern, und du verlierst, obwohl du gewinnst. Vor allem, wenn du gewinnst.«

Es war noch dunkel draußen, als Ma mir einen nach Rauch riechenden Kuss auf die Wange drückte und sagte, ich solle endlich losgehen, damit sie sich wieder hinlegen könne. Meine Schwestern im anderen Zimmer schliefen noch. Eigentlich waren sie alt genug, um sich einen Job zu suchen und auszuziehen, aber stattdessen hatten sie das große Zimmer in Beschlag genommen. Ich hatte das kleine Zimmer hinter der Küche. Ma hatte die Couch. Sie schlief jede Nacht inmitten leerer Bierdosen vor dem laufenden Fernseher ein und bewahrte ihre Sachen im Schrank im Flur auf.

Als wir vor der Schule ankamen, hatte der 38er Bus sich geleert, und ich saß auf einem Fensterplatz. Die Schule hatte Säulen und Statuen – es war eines der alten historischen Gebäude aus der Zeit der Revolution, nicht weit von der Trinity Church. Ich war zwanzig Minuten zu früh für die erste Stunde, als ich die Stufen zu der schweren Eingangstür hinaufstieg. Ich ging durch die ruhigen Gänge, wo Lehrer ihre Klassenräume vorbereiteten, und versuchte zu vermeiden, dass meine Chucks auf dem gebohnerten Fußboden quietschten.

Die Bibliothek am Ende des Hauptgangs war ruhig. Kühl. Überall glänzendes braunes Holz – Tische, Stühle, Böden, Bücherregale. Ich konnte nicht glauben, dass das eine Schulbibliothek war. Sicher, es war eine sehr gute Schule, und es gab eine Oberstufe, aber wenn man sich die Bücher ansah, konnte man es trotzdem nicht glauben.

Ich fuhr mit den Fingern über die Buchrücken. Erwachsenenbücher. Bücher, wie sie meine Schwestern in der öffentlichen Bibliothek für mich ausliehen, wenn ich sie lange genug damit nervte. Bücher mit Sex und Schimpfwörtern und Erwachsenenproblemen. Die mochte ich lieber als die für Kinder. Meine Probleme fühlten sich nicht an wie Kinderprobleme. Wenn dein Dad dich wie eine vergessene Socke zurücklässt, endet ein Teil deiner Kindheit – der Teil, in dem du einfach Kind sein kannst, ohne dir Sorgen zu machen.

Ich machte mir ständig Sorgen. Über Ma und dass sie immer so viel Bier trank und sich bei meinen Schwestern beklagte, dass Männer Abschaum waren und den Frauen, die sie angeblich liebten, am Ende sowieso nur wehtaten. Sie wusste nicht, dass ich zuhörte, aber das tat ich.

Ich machte mir Sorgen über die schäbigen Typen, die über die Jahre in unserer Wohnung ein und aus gingen. Abschaum, genau wie Ma sagte. Vielleicht hatte sie recht mit den Männern. Ich machte mir Sorgen, dass auch ich zu Abschaum werden würde, wenn ich erwachsen war, und den Frauen wehtäte, die ich eines Tages lieben würde. Also schwor ich mir, nie jemanden zu lieben.

Ich machte mir Sorgen um Geld. Nicht meinetwegen. Ich kam schon zurecht. Aber Ma hatte ein Magengeschwür, weil sie sich wegen der Rechnungen Sorgen machte, und schluckte fast so viele Magentabletten wie Bier. Erst letzten Monat hatten sie drei Tage lang das Wasser abgestellt, bis Onkel Phil die Rechnung bezahlt hatte.

Dass ich dieses Stipendium gewonnen hatte, würde meiner Familie helfen. Ich würde auf ein gutes College kommen, einen guten Job kriegen, und vielleicht könnten wir die Sorgen für eine Weile vergessen.

In der Bibliothek suchte ich nach einem meiner Lieblingsbücher. Wendekreis des Krebses von Henry Miller. Sie hatten es nicht. Es war sehr deutlich für Erwachsene geschrieben. Ich hatte es zwei Mal gelesen, manche Teile sogar öfter – unter der Decke in meinem Zimmer mit meinem Notizbuch oder einer Handvoll Taschentücher zur Hand. Oder beidem.

Henry Miller schrieb über verlauste Betten in Pariser Wohnungen und darüber, hungrig zu sein. Immer hungrig.

Ich war auch oft hungrig.

Miller schrieb über Frauen und benutzte Schimpfwörter für ihre Körperteile. Was er schrieb, brachte mich dazu, zu Notizbuch und Stift zu greifen und meine eigenen Worte aufzuschreiben. Ich würde keine Frau lieben, aber ich könnte über den Sex schreiben, den ich eines Tages haben würde, oder aus sicherer Entfernung ihre Schönheit bewundern. Ich würde Gedichte schreiben statt Bücher; da wählte man nur die wichtigsten Worte aus und musste nicht sagen, von wem sie handelten. Es waren nur Gedichte, und Gedichte konnten von allen handeln oder von niemandem.

Und schreiben half jedenfalls. Wenn ich schrieb oder mir einen runterholte, hörte ich auf, mir Sorgen zu machen.

Ha! Das hätte ich in meinem Aufsatz schreiben sollen.

Sie entdeckten mich beim Mittagessen in Sinclairs Gourmet-Cafeteria, wo ich Kerouacs Unterwegs las und Spaghetti und grüne Bohnen aß.

Eine warme Mahlzeit am Tag – abgehakt.

»Sieh mal. Der Sozialfall.«

Jason Kingsley. Ich hatte schon alles über ihn gehört, und es war gerade mal Mittag. Er rutschte auf die Bank mir gegenüber, während seine reichen Kumpels sich zu beiden Seiten neben mich setzten.

»Wie hast du mich genannt?«, fragte ich, und mein Herz schlug den schweren, langsamen Beat der Angst.

»Du hast den Wettbewerb gewonnen, oder?«, fragte Jason. »Mit dem Aufsatz über deinen Dad, der deine Familie verlässt?«

Langsam legte ich das Buch weg und staunte, dass meine Hände nicht zitterten, da sich die Scham in mir wie ein Lauffeuer ausbreitete und meine Haut heiß brannte.

»Jepp«, sagte ich. »Das bin ich.«

Wie zum Teufel …?

»Sie haben deinen Aufsatz auf der Webseite der Schule veröffentlicht«, sagte der Rothaarige mit der unreinen Haut, der sich direkt neben mich gedrängt hatte. »Hast du das gewusst?«

»Der hat das so was von nicht gewusst«, sagte Jason und beobachtete mich.

Ein paar der Typen kicherten.

Verdammte, beschissene Scheiße.

Eine der Teilnahmebedingungen des Wettbewerbs war gewesen, dass die Schule den besten Aufsatz veröffentlichen durfte, wo auch immer sie wollte. Als ich das verdammte Ding eingeschickt hatte, hatte ich nicht geglaubt, den Hauch einer Chance zu haben. Es war nicht wichtig gewesen.

Jetzt war es wichtig.

»Dein Dad ist also abgehauen und hat die Socke dagelassen?«, fragte der Rothaarige. »Muss ätzend sein, du zu sein.«

»Total ätzend, Sockenboy«, sagte Jason, schnappte sich eine Bohne von meinem Tablett und kaute sie. »Mann, musst du dich scheiße fühlen.«

»Sockenboy«, kicherte der Rothaarige. »Der ist gut, Jason.«

»Echt jetzt? Sockenboy?«, sagte ich. »Was Besseres fällt dir nicht ein?«

»Ich weiß nicht«, sagte Jason steif und schob das Kinn vor. »Vielleicht bist du nicht mehr wert als Sockenboy.«

Der Rothaarige drückte an einem Pickel an seinem Kinn herum. »Glaubst du, dir fällt etwas Besseres ein?«

»Mir fällt spontan ein Riesenhaufen besserer Beleidigungen ein.«

»Beweis es.«

»Klar. Kein Problem.«

Ich ließ die Knöchel knacken und dachte rasch nach. Aber die Beleidigungen kamen mir nur so zugeflogen. Seit Dad gegangen war, hatte ich mir dieses Messer tausend Mal im Bauch umgedreht.

»Wie wär’s mit … Dein Dad hat die Familie verlassen, und dir bleibt nichts als eine lausige Socke?«

Gekicher.

Jason verschränkte die Arme. »Lahm.«

Ich zuckte beiläufig mit den Schultern, während mein Hirn aufheulte wie der Motor eines Rennwagens an der Startlinie. »Okay. Du hast Glück: An dem Tag, an dem alle ihr Kind zur Arbeit mitbringen, kannst du zu Hause bleiben.«

Der rothaarige Junge lachte grunzend und erntete einen bösen Blick von Jason. Ich machte weiter, und mein Publikum erwärmte sich schnell für mich. Mit jeder Beleidigung, die ich mir selbst an den Kopf warf, gingen die Typen mehr mit, hielten sich die Hände vor den Mund, lachten und grölten wie bei einem Rap-Battle, bei dem ich Angreifer und Opfer zugleich war.

»Scheiße, dass dein Vater keinen Unterhalt zahlt, aber immerhin hat er dir den Sparstrumpf dagelassen … Wenn du ein Gespräch von Mann zu Mann brauchst, gibt deine Mom dann eine Kleinanzeige auf? Bist du jetzt bei den Zeugen Jehovas? Die feiern auch keinen Vatertag.«

Die Typen brüllten inzwischen vor Lachen, aber Jason biss offenbar die Zähne zusammen.

Ich beugte mich über den Tisch. »Klopf, klopf«, sagte ich und starrte ihn an.

»Verpiss dich.«

»Klopf, klopf.«

Er rümpfte die Nase und sah mir nicht in die Augen. »Das ist total bescheuert.«

Ich legte den Kopf schief und betrachtete den Rest des Tisches. »Klopf, klopf.«

»Wer ist da?«, riefen die Typen einstimmig.

»Keine Ahnung«, sagte ich, »aber nicht dein Dad, das ist mal sicher.«

Das Gelächter schien Jason in den Rücken zu treffen. Er beugte sich vor und verzog das Gesicht, als würde ich ihn beschimpfen und nicht mich selbst.

»Du siehst verwirrt aus, Kumpel«, sagte ich. »Soll ich dir den erklären?«

»Du glaubst wohl, dass du verdammt clever bist«, sagte Jason. »Du hast dich gerade zehn Mal selbst beleidigt. Aber weißt du was?« Er lächelte düster. Er hatte die schlichte Wahrheit auf seiner Seite, und er wusste es. »Du kannst dich für noch so schlau halten. Du bist nur Sockenboy, und mehr wirst du nie sein.«

Blitzschnell streckte er die Hand aus und schubste mir das halbvolle Essenstablett auf den Schoß. Die Hose und das weiße Hemd waren voller Spaghettisoße.

»Hoppla!«, sagte Jason und stand auf. »Mein Fehler.«

Ich sprang auf die Füße, ignorierte die warme Spaghettisoße an meinem Bauch und starrte ihn an, Nase an Nase. Meine Fäuste waren so fest geballt, dass sie wehtaten. Jason wich nicht zurück, und die ganze Cafeteria verstummte und sah zu.

»Los«, flüsterte Jason leise und wütend. »Schlag zu. Ich hab sechs Zeugen, die sagen werden, dass es ein Versehen war. Und du wirst dein kostbares Stipendium verlieren. Willst du das riskieren, Sockenboy?«

Ich wollte mich prügeln. Aber wenn ich ihn schlug, würde man mich rauswerfen. Petzen kam nicht infrage. Also würde ich es dabei bewenden lassen müssen wie ein verdammter Trottel.

»Was ist los, Jungs?«, fragte eine freundliche Stimme.

Am Rand meines Gesichtsfelds sah ich einen großen Typen, dunkles Haar, kräftig. Er sah älter aus als wir anderen.

Viele der Kids redeten viel am ersten Schultag, informierten die neu eingetroffenen Siebtklässler über ihren Platz in der Hierarchie der Sinclair. Jefferson Drake, Footballspieler in der Oberstufe, war der beliebteste Schüler von allen. Der König von Sinclair. Sein kleiner Bruder Connor war der Prinz.

Das musste er sein.

Connor hatte lässig die Hände in die Taschen geschoben, fast, als gehörte ihm die Schule, und nicht, als wäre er einfach ein weiterer Zwölfjähriger.

Jason grinste höhnisch und wandte sich ab. »Nichts«, sagte er. »Sockenboy hier hatte einen kleinen Unfall.«

»Schon klar«, sagte Connor und betrachtete stirnrunzelnd die Spaghettisoße auf meiner Schuluniform. »Warum musst du so ein Arschloch sein, Kingsley?«

»Bin ich nicht. Nur irgendwie ungeschickt«, sagte Jason, aber er trat zurück. »Man sieht sich, Sockenboy. Pech mit deinem Hemd.« Er schnalzte mit der Zunge. »Du kannst ja noch einen Aufsatz schreiben. Nenn ihn ›Waschtag‹. Vielleicht bezahlt die Schule dir dann eine neue Uniform.«

»Vielleicht macht das deine Mutter«, sagte Connor grinsend.

Jason lachte, und die beiden stießen die Fäuste aneinander. »Wir sehn uns beim Training, Drake.«

»Ich hoffe es. Du hast es nötig.«

Jason zeigte ihm beide Mittelfinger und ging mit seinen Leuten.

Was für Scheißtypen, dachte ich.

Wütend wischte ich die kalten Spaghetti von meiner Hose. Die war schwarz, und man sah die Flecken nicht, aber mein Hemd sah aus, als hätte ich einen Bauchschuss abgekriegt.

»Mist.«

»Hast du ein Ersatzhemd?«, fragte Connor.

»Verpiss dich.«

Er hob die Hände. »Hey, ich will nur helfen. Ich hätte eins, und ich wohne nicht weit weg. Wenn wir jetzt losgehen, können wir vor der nächsten Stunde zurück sein.«

Ich sah ihn aus schmalen Augen an.

»Entweder das, oder du siehst den Rest des Tages aus wie ein Statist in einem Horrorfilm.«

Das freundliche Grinsen stand ihm anscheinend dauerhaft ins Gesicht geschrieben.

»Warum solltest du mir helfen?«

Er runzelte die Stirn. »Warum sollte ich nicht?« Er hielt mir die Hand hin. »Ich bin übrigens Connor Drake.«

»Herzlichen Glückwunsch.«

Connor lachte und ließ die Hand sinken. »Komm schon. Du musst dich umziehen, oder?«

Ich biss die Zähne zusammen. »Ich denke schon.«

»Dann komm.«

Er ging los. Ich folgte ihm.

»Du bist neu, oder? Letztes Jahr warst du noch nicht hier.«

»Sag bloß. Ich bin Wes Turner, der Sozialfall.«

Connors dunkle Brauen zogen sich zusammen. »Sozialfall? … Oh, du bist das? Der Aufsatz? Das erklärt den Spitznamen, den Kingsley dir verpasst hat. Hey, nimm ihn nicht zu ernst. Er ist gar nicht so übel. Wir kennen uns seit dem Kindergarten.«

»War er die ganze Zeit ein Arsch?«

Connor lachte. »So ziemlich.« Er hob das Kinn, als wir an dem Sicherheitsmann am Eingang vorbeikamen. »Hey, Norm. Ich geh nur kurz nach Hause, um für meinen Freund hier was zu holen.«

Norm, der Sicherheitsmann, öffnete Connor Drake die Tür wie ein Türsteher in einem schicken Hotel. »Aber sei rechtzeitig zur nächsten Stunde zurück.«

»Klar doch.«

»Wie hast du das gemacht?«, fragte ich, als wir die Schule verließen und in das Licht des Septembernachmittags traten. »Man darf mittags nicht raus.«

»Meine Eltern spenden viel Geld«, sagte Connor mit diesem Megawatt-Grinsen. »Sehr viel Geld.«

Wir gingen um die Ecke und dann die Dartmouth Street hinunter, die in ein Viertel mit alten, eleganten Stadthäusern aus gelbbraunem Sandstein mit schwarzen Eisenbeschlägen führte. Connor und ich gingen über Fußwege aus rotem Backstein an altmodischen Straßenlaternen vorbei. Der ganze Block sah aus wie ein einziges gigantisches Schloss.

»Gratuliere übrigens zum Stipendium«, sagte Connor. »Ich habe gehört, dass es viele versucht haben. Dein Aufsatz war wirklich gut.«

Ich ließ die Schultern sinken. »Du hast ihn auch gelesen?«

»Meine Eltern konnten sich gar nicht wieder einkriegen. Ich musste ihn zwei Mal lesen.«

Verfickte Scheiße.

»Er war ganz gut«, murmelte ich. Ich wartete darauf, dass Connor mich wegen der dämlichen Socke aufzog. Er tat es nicht.

»Er war besser als ganz gut«, sagte Connor. »Du hast Glück. Ich kann beim besten Willen nicht schreiben. Und ich hab Mr Wrightman in Englisch, war ja klar.«

»Ich habe Wrightman auch«, sagte ich vorsichtig. »Ist er streng?«

»Der Strengste«, sagte Connor. »Man muss echt viel schreiben bei ihm. Kurzgeschichten, lange Geschichten … Ich hab gehört, dass er uns sogar Gedichte schreiben lässt. Beschissene Gedichte.«

Ich fühlte mich etwas besser. »Ja, blöd.«

»Du sagst es.« Connor warf mir einen Blick zu. »Aber du kriegst das wahrscheinlich hin. Willst du das werden, wenn du groß wirst? Schriftsteller?«

Gestern hätte ich wahrscheinlich noch Ja gesagt, aber Sockenboy hatte mir gezeigt, dass ich nicht bereit war, die Folgen zu ertragen. Ich hatte heimlich geschrieben, sodass es mir nicht schaden konnte. Ich hatte es satt, verletzt zu werden. Dass mein Dad gegangen war, hatte mir mit brutaler Deutlichkeit gezeigt, welchen Preis es hatte, Gefühle zu haben und etwas zu wichtig zu nehmen. Ich wollte immer noch schreiben, aber ich würde es mir nicht zur Gewohnheit machen, mein Herz auszuschütten, damit man mir hinterher deswegen blöd kam. Garantiert nicht.

»Ich bin mir noch nicht sicher.« Ich sah zu ihm auf. »Und du?«

Er grinste breiter. »Ich will eine Sportsbar aufmachen. Wie das Cheers, kennst du das? Ich will in der Mitte stehen und auf jedem Fernseher ein Spiel sehen. Ich liebe Baseball. Magst du Baseball?«

Bevor ich antworten konnte, fuhr er fort: »Ich könnte den ganzen Tag über Baseball reden. Und Hockey. Ich will diesen Laden aufmachen, wo die Leute abhängen können, über Sport reden oder sich ein Spiel ansehen und einfach Spaß haben.«

Ich nickte. »Scheint dir zu liegen.«

Gott, schon mit zwölf schien Connor Drake auf diese Erde gekommen zu sein, um eine Sportsbar zu eröffnen. Aber sein Grinsen verdüsterte sich.

»Sag das mal meinen Eltern. Sie finden, ich sollte auf ein Ivy-League-College gehen und etwas ›Bedeutendes‹ machen. Hilft nicht gerade, dass mein Bruder Jefferson ganz scharf auf bedeutend ist.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Der Gedanke, etwas »Bedeutendes« zu werden, schien für einen mittellosen Jungen wie mich unmöglich. Es wäre schon ein Wunder, wenn ich auf ein gutes College ginge und einen anständigen Job bekäme, um meine Ma ein bisschen zu unterstützen.

»Du bist aus Southie, oder?«

»Ja«, sagte ich.

»Und wie ist das so?«

Ich sah sofort rot. »Wie ist was? In einer miesen Wohnung zu wohnen und auf Almosen angewiesen zu sein, um eine anständige Schule bezahlen zu können?«

Connor ließ sich durch meinen schroffen Tonfall nicht vor den Kopf stoßen – ein Zug, der über Jahre unserer Freundschaft Bestand haben würde. Der Kleber, der sie viele, viele Male nicht zerbrechen ließ.

Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Hier ist alles oft so kompliziert … obwohl es das gar nicht sein müsste. Ich hab’s lieber einfach, weißt du?«

Ich sah ihn finster an. »Arm zu sein ist verdammt einfach. Du brauchst für jeden Scheiß Geld und hast es nicht. Ende.«

»Ja, muss ätzend sein«, sagte er, und irgendwie wollte ich ihm keine dafür reinhauen, dass er so gleichgültig über das große Problem in meiner Welt sprach.

Connor hatte ein merkwürdiges Charisma. Als wäre es unmöglich, ihn nicht zu mögen. Seine Superkraft. Ich war das Gegenteil. Ich machte es den Leuten wirklich leicht, mich nicht zu mögen. Es war mir lieber so. Und doch war ich mit dem beliebtesten Jungen meiner Stufe unterwegs – und er hatte Norm, dem Wachmann, sogar gesagt, dass ich sein Freund sei.

Meine Verwirrung nahm noch zu, als Connor mit dem Kinn nach vorn deutete. »Da sind wir.«

Ich starrte mit offenem Mund. Ein vierstöckiges viktorianisches Stadthaus in rustikalem Beige mit schwarzen Fensterrahmen. Die Art Haus, die man in Broschüren über das historische Boston sah. Eine Treppe führte vom Backsteingehweg zu einer schwarzen Doppeltür mit Buntglasfenstern hinauf.

»Das ist euer Haus?«, fragte ich.

»Eins davon«, sagte Connor grinsend und klang trotzdem nicht wie ein arrogantes Arschloch.

Ich starrte dieses Haus an, nahm es wortlos in mich auf, weil mein Gehirn einfach nicht begriff, dass Menschen wirklich in Häusern wohnten, die in Broschüren abgebildet waren. Connor war nicht einfach nur reich; seine Familie musste milliardenschwer sein. Ich fragte mich, ob seine Eltern berühmt waren. Er sah ein bisschen berühmt aus – wie einer, den man für einen Film über einen beliebten Baseballspieler casten würde, der einen armen Jungen unter seine Fittiche nimmt. Ein Typ, der zu glücklich ist, um andere zu tyrannisieren oder ein Arschloch zu sein, und der auf der unendlichen Welle des Geldes seiner Eltern durchs Leben surft.

Es stellte sich heraus, dass ich mit allem recht hatte. Und der arme Junge, den Connor Drake unter seine Fittiche nahm, war ich.

Die Putzfrau der Drakes wusch mein Hemd und gab mir eines von Connors alten. Nach der Schule gingen wir wieder zu ihm, saßen auf Sitzsäcken aus schwarzem Leder und spielten mit seiner Xbox, die an sein supermodernes Soundsystem angeschlossen war.

Connor fragte, ob ich zum Essen bleiben wollte, und ich lernte seine Eltern kennen. Victoria und Allen Drake.

Mr Drake besaß hundert verschiedene Unternehmen unter dem Namen Drake, und Mrs Drake war Senatorin. Bostoner Adel oder jedenfalls ziemlich nah dran.

Bei den Drakes bekam ich ein so aufwendiges Dinner, wie ich es bisher nur in Filmen über reiche Leute gesehen hatte. Unter dem schweren Kristalllüster in ihrem riesigen Esszimmer spürte ich etwas von dem Druck, dem Connor ausgesetzt war: Er sollte mehr lernen und bessere Noten bekommen, sollte aufs College gehen, statt eine Sportsbar zu eröffnen, wie er es wollte. Sie begrüßten die Freundschaft zwischen ihrem Sohn und mir, dem rauflustigen Straßenjungen, der Connor zeigen würde, wie weit man kam mit harter Arbeit und Intelligenz. Sie redeten ständig über meinen Aufsatz. Wie beeindruckt sie waren, dass ich eine schlechte Situation in etwas Positives verkehrt hatte.

Ich dachte, Connor würde mich hassen, nachdem seine Eltern mich die ganze Zeit über den grünen Klee gelobt hatten, aber aus irgendeinem verrückten Grund mochte er mich. Unsere Freundschaft war sofort da, als würden wir uns aus einem vergangenen Leben kennen und einfach weitermachen, wo wir aufgehört hatten. Und trotz des Drucks seiner Eltern war er glücklich. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der glücklich war. Die unerträgliche Anspannung, die in meinem Innern herrschte, seit mein Vater weg war, löste sich ein wenig in seiner Gegenwart. Ich machte nicht ständig Luftsprünge vor Freude, aber manchmal hörte ich auf, mir Sorgen zu machen, und das war genug.

Connor bewahrte mich davor, während meiner Zeit an der Sinclair immer nur Prügeleien aus dem Weg zu gehen und Sockenboy genannt zu werden. Seine Kumpel ließen mich in Ruhe, und als die High School anfing, waren sie auch meine Freunde, auch wenn es nur an seinem mühelosen Charme lag.

Die Drakes behandelten mich wie einen Sohn und dehnten ihre Großzügigkeit über die Jahre sogar auf meine Mutter und meine Schwestern aus. Deren lautes Gerede und ihr Southie-Akzent fielen nie mehr auf als im Esszimmer der Drakes, aber die Drakes behandelten meine Familie freundlich und respektvoll. Zu meiner Schmach bezahlten sie die Rechnungen, die nicht begleichen zu können meine Mutter schamlos zugab. Sie machten großzügige Geschenke zu Geburtstagen und Feiertagen und baten nie um eine Gegenleistung.

Trotzdem spürte ich den unausgesprochenen Druck, mich um Connor zu kümmern und dafür zu sorgen, dass er »etwas aus seinem Leben machte«, statt nur eine Sportsbar zu eröffnen. Ich versuchte nie, ihm seinen Traum auszureden, hielt ihn aber auf der Sinclair über Wasser, indem ich ihm mit den Aufsätzen für Wrightmans Stunden half.

Am Ende des ersten Jahres schrieb ich sie für ihn. Connor war nicht dumm, aber er dachte nicht gern zu hart nach, schürfte nicht gern zu tief. Zufriedenheit war sein Standardmodus. Er lebte, um zu lachen und Spaß zu haben, und wenn ich seine Aufsätze schrieb, versuchte ich, sein Glück durch meine vor Schmerz und Zorn rauen, zerfaserten Gedankenbahnen zu leiten.

Ich vergaß nie, ein oder zwei Worte falsch zu schreiben.

Während der High School brach ich jeden Schulrekord im Laufen. Dadurch bekam ich ein Zweijahres-Stipendium von der National Collegiate Athletics Association am Amherst College in West Massachusetts.

Ein geisteswissenschaftliches College war nicht, was die Drakes für Connor im Sinn hatten, aber bis ich in Amherst angenommen wurde, hatte er an überhaupt keinem College Interesse gezeigt. Connor, der dank des Scheckhefts seiner Eltern überall hätte hingehen können, wollte bei mir bleiben, und das berührte mich mehr, als ich jemals sagen kann.

Ich versprach seinen Eltern, für ihn da zu sein und dafür zu sorgen, dass er lernte, aber mir war klar, dass ich auch am College seine Arbeiten schreiben würde.

Die Drakes zahlten die Miete für eine nette Wohnung außerhalb des Campus, was mir erlaubte, das Stipendium auf drei Jahre zu strecken. Sie hätten mir auch das ganze Studium bezahlt, wenn ich sie gelassen hätte, aber mietfrei zu wohnen war schwer genug für meinen hartnäckigen Stolz. Ich war entschlossen, es allein zu schaffen – um meinem miesen Dad zu zeigen, dass ich seine Hilfe nicht brauchte. Und jeder Gefallen, den die Drakes mir erwiesen, war eine Last auf meinen Schultern. Eine wachsende Schuld.

Und wo ich herkam, musste man seine Schulden bezahlen.

Teil 2

Amherst

1

Autumn

Er hat dich betrogen.

Dieser Gedanke begrüßte mich jeden Morgen, begleitete das viel zu laute Geräusch meines Weckers und traf mich mitten ins Herz. Den Wecker stellte ich aus. Das schmerzhafte Flüstern war nicht so leicht zum Schweigen zu bringen.

Du hast ihm dein Herz geschenkt, und er hat es auf den Müll geworfen.

»Hör auf«, flüsterte ich in den dunklen Raum.

Die Uhr zeigte fünf Uhr morgens. Ich war daran gewöhnt, früh aufzustehen. Wenn man auf der Caldwell-Farm in Nebraska aufwuchs, hieß »ausschlafen«, bis acht im Bett zu bleiben, und zwar nur an deinem Geburtstag. Vor drei Monaten wäre ich aus dem Bett gesprungen, hätte ein Liedchen gesummt und wäre bereit gewesen, den Tag anzugehen. Aber das war, bevor ich in das Zimmer meines Freundes Mark gekommen war und er sich nackt mit einer anderen Frau auf dem Bett gewälzt hatte.

Mark hatte mir die Fähigkeit genommen, nachts einzuschlafen und morgens aus dem Bett zu kommen. Wenn jetzt der Wecker losging, wollte ich mich nur wieder ins Bett sinken lassen und hundert Jahre schlafen. Oder mich mit meiner zerlesenen Ausgabe von Emily Dickinsons Gedichten unter der Decke zusammenrollen und heulen. Heulen, bis der Anblick von Mark und dieser Frau für immer aus meinen Augen herausgewaschen war.

»Heute fangen die Vorlesungen an«, murmelte ich in Richtung Decke. »Das macht er mir nicht kaputt.«

Ich blinzelte mir den Schlaf aus den Augen, dann setzte ich mich auf und reckte mich, um die Müdigkeit abzuschütteln. Der Liebeskummer klammerte sich an mich und wollte nicht loslassen.

Ich duschte und zog ein hübsches beiges Sommerkleid mit kleinen rosa Blumen und eine passende Strickjacke an. Das Kleid war von einem Designer-Label. Ich hatte es für fünfzehn Dollar bei Marshalls gefunden. Designer-Label waren mir nicht wichtig, aber gut auszusehen schon.

Wenn du erfolgreich sein willst, zieh dich an, als ob du es schon wärst.

Das hatte ich mal in einer Zeitschrift gelesen. Und der Rat passte zu einer Yale-Studie, von der ich gelesen hatte und die belegte, dass Menschen, die sich gut oder formell kleiden, ernster genommen werden. Ich hatte ziemlich große Pläne, und jedes Vorurteil über mich – armes Landei von einer Farm aus Nebraska – würde mir nur im Weg stehen.

Ich steckte mein langes, kupferrotes Haar zu einem Knoten hoch, damit es mich bei der Arbeit nicht störte. Etwas Mascara und Lipgloss waren alles, was ich an Make-up trug. Als ich Sonnencreme auf die wenigen Sommersprossen auf meiner Nase tupfte, piepte mein Handy: eine eingehende Nachricht.

Einen tollen Beginn deines dritten Studienjahrs! Wir sind alle stolz auf dich. Alles Liebe! Mom, Dad und Travis

Ich tippte eine Antwort: Danke. Hab euch lieb und vermisse euch jetzt schon. Xoxo

Plötzlich musste ich Tränen wegblinzeln. Erst vor einer Woche war ich aus den Sommerferien in Nebraska zurückgekehrt, aber der Wunsch, dorthin zurückzukehren, dieser emotionale Hunger, war viel stärker als der körperliche, der meinen Magen knurren ließ. Ich wollte nach Hause und meinen Liebeskummer bei den Menschen auskurieren, die mich liebten.

Ich ging, um einen Kaffee zu trinken, in die Küche. Die Wohnung war ruhig und dunkel. Meine Mitbewohnerin würde noch Stunden im Bett bleiben. Ruby belegte nie Kurse vor elf Uhr. Aber sie musste auch nicht arbeiten wie ich.

Ich saß mit meiner To-do-Liste für den ersten Vorlesungstag und einer Tasse Kaffee an der Küchentheke. Ich liebte Listen. Ich hatte gelesen, dass Listen einem die Angst vor den vielen Dingen nahmen, die man tun musste. In einem anderen Artikel stand, dass das Niederschreiben von Zielen dabei half, sie zu erreichen. Ich besaß ganze Tagebücher voller Ziele und Listen. Über Mark hinwegzukommen war Punkt eins auf der heutigen Tagesordnung.

»Jeder leidet unter schrecklichen Trennungen«, murmelte ich in der leeren Küche vor mich hin. »Du hast dieses Jahr viel zu viel zu tun, um zuzulassen, dass Mark Watts dich runterzieht.«

Seinen Namen laut auszusprechen war keine gute Idee gewesen. Ich kippte den Rest Kaffee hinunter, schluckte schwer und schnappte mir meinen Rucksack. Dann warf ich einen letzten Blick in den Spiegel. Ringe unter den geröteten Augen, aber sonst okay. Vielleicht galt auch hier der Rat zum professionellen Aussehen.

Benimm dich nicht so, als hätte man dir das Herz gebrochen, dann ist es auch nicht so.

Die Sonne kroch im Osten über den Horizont, als ich aus der Wohnung auf den Campus trat und mein Fahrrad aufschloss. Das violett-orangene Licht, das sich über Amherst legte, erinnerte mich an die Sonnenaufgänge auf der Farm. Als ich klein war, hatte ich auf der Schulter meines Vaters gesessen und zugesehen, wie das Licht Weizenfelder in flüssiges Gold verwandelte oder sich im Frühling über ein Meer aus grünem Mais ergoss.

»Weißt du, warum die Morgendämmerung so schön ist, Autumn?«, hatte Dad gefragt. »Weil jeder Tag die Möglichkeit von etwas Wunderbarem birgt. Du musst nur bereit sein dafür.«

Vielleicht zog ich mich deshalb so gut an, wie mein winziges Budget es erlaubte, stand selbst sonntags früh auf, schrieb Listen mit meinen Zielen und schuftete wie ein Ackergaul in der Hoffnung, in der Welt etwas Gutes zu bewirken. Wenn mir etwas Wunderbares begegnete, wäre ich nicht nur bereit; ich hätte mitgeholfen, dass es passierte.

Ich würde nicht zulassen, dass Marks Betrug – oder sonst etwas – dem im Wege stand.

Als ich ein paar Minuten vor sechs die Bäckerei betrat, setzte ich ein Lächeln auf. Der Duft nach warmem Brot, Zucker und Kaffee umhüllte mich, begleitet von einem Bariton, der eine Arie sang.

»Guten Morgen, Edmond«, rief ich und verstaute meine Tasche hinter dem Tresen. Dann nahm ich meine Schürze von einem Haken an der Wand und band sie mir um.

Der Gesang wurde lauter, und Edmond de Guiches große Gestalt erschien in der Tür zur Backstube. Als die Arie dramatisch wurde, legte er die Hände aufs Herz.

Edmond sang nur von Liebe. Verlorener Liebe, wahrer Liebe, verschmähter Liebe. Der große Franzose mit dem eleganten Schnurrbart hatte selbst etwas von einer Opernfigur und begleitete jedes Gebäckstück für seine Kunden mit ein paar Versen eines Gedichts oder einem Fragment einer Arie, überzeugt, dass Liebe und Nahrung Hand in Hand gingen.

»Ma chère«, sagte er, nachdem die letzte Note verstummt war. Er legte die dicken Arme um mich, schenkte mir eine Umarmung, die ich dringend brauchte. Edmonds Umarmungen fühlten sich so gut an wie eine ganze Nacht ungestörten Schlafs.

»Wie schön, Sie wiederzusehen«, sagte er und hielt mich auf Armlänge von sich weg. »Wie war Ihr Sommer? Wie geht es Ihrer Familie?«

»Es geht ihnen gut«, sagte ich und legte heimlich zwei Finger überkreuz, weil es eine Höflichkeitslüge war. Es lief nicht so toll auf der Farm. Dad sagte, keiner Farm im ganzen Land ginge es gut, aber wir sollten uns keine Sorgen machen. Noch nicht. Natürlich hatte ich den Sommer lang zugesehen, wie Mom und er sich ständig Sorgen machten, während ich bei Cracker Barrel kellnerte.

»Ich habe Sie vermisst«, sagte ich, und das war überhaupt nicht gelogen.

»Ich habe Sie auch vermisst, ma petite chère«, sagte er. »Dieser Ort ist dunkler ohne Ihr bezauberndes Licht.«

Wieder traten mir Tränen in die Augen. Zwei Mal an einem Morgen zu weinen war nicht akzeptabel. Ich wandte mich schnell ab, um die Kaffeemaschinen vorzubereiten.

»Sie sind immer so romantisch, Edmond.«

»Immer«, sagte er. »Sind Sie bereit für ein neues Jahr an der großen Schule?«

»Ich denke schon. Dieses Jahr wird nicht einfach, weil …«

Er unterbrach mich, indem er mir einen Finger unter das Kinn legte, und hob es an. Seine großen braunen Augen waren schwer vor Sorge. »Ich sehe eine neue Traurigkeit.«

»Es ist nichts.«

Edmond runzelte die Stirn.

Ich seufzte. Es war sinnlos, es zu verbergen. Mark und ich waren zwei Jahre lang unzertrennlich gewesen. Er hatte sich oft morgens aus dem Bett gequält, um im Panache Blanc einen Kaffee zu trinken, wenn ich arbeitete, nur um in meiner Nähe zu sein. Edmond kannte ihn gut.

Nein, tat er nicht. Anscheinend hat niemand Mark gut gekannt. Ich am allerwenigsten.

»Ich habe mich von Mark getrennt«, sagte ich.

»Quel bordel!«, rief Edmond.

»Es geht mir gut. Ich würde lieber nicht darüber reden …«

»Warum? Was ist passiert?« Er gestikulierte mit den mehligen Händen. »Ich weiß, Sie wollen nicht darüber reden, aber er ist ein Idiot, das ist klar. Pfft.«

Nur dass ich mich wie eine Idiotin fühle.

Ich strich mir das Kleid glatt. »Geschehen ist geschehen. Ich werde darüber hinwegkommen.«

Edmond zog die Nase kraus. »Sie sind ein harter Knochen, so sagt man doch? Bon. Mal sehen, ob ich nicht …« Er nahm einen Cranberry-Scone von dem Blech, das er gerade aus dem Ofen gezogen hatte, legte ihn auf einen Teller und reichte ihn mir.

»Oh nein, ich brauche kein …«

»Doch. Ich bestehe darauf.« Edmond rief nach hinten: »Eh! Philippe!«

Sein Helfer in der Backstube, ein drahtiger Achtzehnjähriger namens Phil Glassmann, steckte den Kopf durch die Tür und grunzte vage. Seine Lider hingen noch auf Halbmast. Der arme Phil. Er arbeitete hier seit anderthalb Jahren und hatte sich immer noch nicht an die frühen Stunden gewöhnt.

»Philippe, mach du den Kaffee«, sagte Edmond. »Autumn fängt an, sobald sie gegessen hat.«

»Es geht mir gut«, sagte ich, aber ich wusste, dass es sinnlos war, mit Edmond zu streiten, wenn es um Herzensangelegenheiten ging.

»Essen Sie, ma chère. Essen Sie, und kosten Sie die Süße des Lebens, nicht das Bittere. Sie sind zu gut für sterbliche Männer, aber die wahre Liebe wird Sie finden. Das weiß ich.«

Er tätschelte mir die Wange und bellte noch einmal Phil an, während sie sich auf den morgendlichen Andrang vorbereiteten. Ich aß den Scone und versuchte, mir seine Worte zu Herzen zu nehmen. Es half. Nicht so sehr das Gebäck, aber die Liebe, die darin eingebacken war.

Vielleicht gab es Jobs in Amherst, mit denen man mehr verdiente, aber einen Edmond gab es nirgendwo sonst.

Nach dem frühmorgendlichen Hochbetrieb hängte ich meine Schürze auf, winkte Edmond und radelte zurück zum Campus. Mein erster Kurs an diesem Tag war eine Einführung in die Ökonomie mit Bezug auf Umweltressourcen, was sowohl zu meinen humanitären Karrierezielen passte, als auch den Anforderungen des Studium Generale entsprach. Zwei Fliegen mit einer Klappe.

Ich saß immer in der ersten Reihe in meinen Kursen und schrieb mit, bis ich einen Krampf in den Fingern bekam. Ich beneidete die Studierenden, die die Vorlesung mit ihren Smartphones mitschnitten. Mein Handy lag weit hinter dem letzten Modell zurück, und ich wollte es nicht verschleißen.

Nach dem Kurs kam eine Nachricht von Ruby.

Lunch auf der Wiese?

Der übliche Platz, tippte ich zurück.

Ich bin die superheiße Frau in den Yogahosen.

Ich musste grinsen. Während ich niemals das Haus verließ, ohne so stilvoll wie möglich auszusehen, zog Ruby Hammond nicht einmal farblich passende Schuhe an.

Die Sonne strahlte an diesem Septembermorgen. Ich liebte den Campus des Amherst Colleges – meilenweit grünes Gras, dazwischen rote Backsteingebäude im Federal Style. Überall standen Bäume, und die Studis trafen sich nach der Sommerpause wieder, unterhielten sich und genossen die Spätsommersonne.

Egal ob im Kindergarten oder am College, zum ersten Tag nach den Ferien gehört immer dieses besondere Gefühl von neuen Möglichkeiten. Wie bei den Sonnenaufgängen meines Vaters, nach denen wunderbare Dinge passieren konnten.

Ruby und ich hatten eine schmiedeeiserne Laterne vor dem Verwaltungsgebäude zu unserem Treffpunkt erkoren. Ruby wartete schon auf mich und hatte es sich in der versprochenen Yogahose und einem ungebügelten Baseballshirt auf dem Rasen bequem gemacht. Ihr dunkles Haar war zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt, und sie hielt sich die karamellfarbene Hand schützend über die Augen.

Es war Zufall gewesen, dass man uns im ersten Jahr in einer Wohnung untergebracht hatte, und obwohl wir so grundverschieden waren, hatten wir uns von Anfang an gut verstanden. Ich hielt die Wohnung sauber, und im Gegenzug brachte sie mich zum Lachen, wenn das Studium mich unter sich zu begraben drohte.

»Da wären wir wieder«, sagte Ruby und begrüßte mich mit einem Lächeln. »Selbe Zeit, selber Ort. Selbes selbes. Stecken wir jetzt schon im Trott fest?«

Ich kniete mich neben sie und ordnete mein Kleid. »Es ist der erste Tag. Wir können nicht schon feststecken.« Mein Lächeln verdüsterte sich. »Und nicht alles ist gleich.«

Ruby runzelte die Stirn und holte ihr Lunchpaket aus der Tasche. »Du hast recht. Der betrügerische Mistkerl ist weg. Kann nicht sagen, dass es mir leid tut.«

»Mir schon«, sagte ich und strich mein Kleid glatt.

»Hey«, sagte Ruby und berührte meine Hand. »Ich bin nicht gut darin, das Richtige zu sagen, damit es dir besser geht. Das wissen wir. Aber in nur einem Monat werden meine gedankenlosen Kommentare genau das sein, was du hören willst.«

»Ich weiß. Ich wünschte nur, ich könnte vorspulen.«

»Dieser Idiot«, murmelte Ruby, stützte sich auf die Ellbogen und beobachtete, was auf der Wiese los war. »Das Gute ist, in Amherst herrscht kein Mangel an Männern mit hübschen Ärschen, die dich von deinen Problemen ablenken können.« Sie deutete mit dem Kinn auf ein paar Typen, die sich einen Football zuwarfen. »Und zwar absolut kein Mangel.«

Ich verdrehte die Augen und holte mein eigenes Essen heraus – einen Salat mit getrockneten Cranberrys und Schafskäse und eine Flasche Eistee. »Ich passe.«

»Komm schon …«

»Ruby, bitte«, sagte ich. »Es ist erst drei Monate her.«

»Es muss ja nichts Ernstes sein. Ich rede von bedeutungslosen, rein sexuellen Begegnungen.« Sie lächelte freundlich. »Ich weiß, ich weiß. Nicht dein Ding. Ich kann es einfach nicht ab, dich so verletzt zu sehen. Mark ist ein verdammter Idiot. Du kannst mich gern zitieren.«

Ich aß ein bisschen Salat, folgte Rubys Blick zu den Typen mit dem Football, und meine Augen blieben immer wieder an einem hochgewachsenen jungen Mann mit breiten Schultern und einem breiten, einnehmenden Lächeln hängen. Selbst auf die Entfernung hatte dieses Lächeln etwas Tröstliches. Wie einer von Edmonds Scones. Es war ein Lächeln, als wäre alles auf der Welt in Ordnung.

Meine kluge beste Freundin ertappte mich. »Für den unwahrscheinlichen Fall, dass es dich interessiert: Das ist Connor Drake. Heißer Typ im dritten Jahr. Baseballspieler, Aufreißer und seit zwei Jahren ungeschlagener Beer-Pong-Champion.«

»Ich glaube nicht, dass ich ihn schon mal gesehen habe.«

»Natürlich nicht«, sagte Ruby und verdrehte die Augen. »Ich habe ihn höchstens ein Dutzend Mal erwähnt, seit wir hier angefangen haben. Aber wie solltest du auch andere Typen bemerken, wo du ständig mit Mark rumgeknutscht hast.«

»Und hart für meine Kurse gearbeitet, nicht zu vergessen«, sagte ich mit Nachdruck.

»Stimmt.« Sie blickte von Connor zu mir. »Gefällt er dir?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich mag sein Lächeln. Und seine Augen. Er scheint … nett zu sein. Unkompliziert. Glücklich.«

»Mit anderen Worten: Er ist ein süßer Typ.«

Ich versetzte meiner besten Freundin einen spielerischen Schubs.

»Was? Darf ich nicht gucken?«

Genau in diesem Moment lachte Connor laut über etwas, was einer der anderen Typen gesagt hatte, während er den Ball mühelos mit einer Hand fing, und dieselbe reine Freude lag in seinem Lachen wie in seinem Lächeln.

»Du solltest mehr tun als nur gucken«, sagte Ruby. »Er ist echt heiß.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn er ein Aufreißer ist, bin ich nicht interessiert. Und von Beziehungen habe ich sowieso die Nase voll.«

»Du sitzt auf einem Thron von Lügen«, intonierte Ruby mit düsterer Stimme. »Du bist eine unverbesserliche Romantikerin. Es liegt dir im Blut.«

»Ich weiß. Aber Mark hat mich zum Narren gehalten, Ruby. Er hat mich an etwas glauben lassen, was es nicht gab. Es ist, als wäre alles, was wir hatten, eine Lüge oder ein Witz gewesen. Oder als wäre ich der Witz. Die Zielscheibe des furchtbaren Witzes, den er wir genannt hat. Es ist schrecklich, sich so zu fühlen, und ich will nicht noch einmal so verletzt werden.«

Wie aufs Stichwort spürte ich den Schmerz in meiner Brust. Mark Watts war nicht mein erster Freund gewesen, aber ich hatte mich mehr in ihn verliebt als in die davor. Nach zwei Jahren hatte ich an eine gemeinsame Zukunft gedacht. Wir waren jung, aber wir wollten beide dasselbe vom Leben: reisen, eine würdige Sache finden, um sie zu unterstützen, aktiv werden und helfen.

Das hatte ich jedenfalls geglaubt.