Light Up the Sky - Emma Scott - E-Book

Light Up the Sky E-Book

Emma Scott

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Beschreibung

Ich werde nie wieder zulassen, dass ein Mann mein Herz bricht.
Nie wieder lieben, ohne mir sicher zu sein, dass diese Liebe mit ganzer Seele erwidert wird.

Nach allem, was mit Connor und Weston geschehen ist, war ich fest entschlossen, mich daran zu halten und mein Herz zu schützen. Doch dann kehrte er zurück, und mein Schwur wurde sein Versprechen. Er hielt mein Herz ehrfürchtig in seinen Händen, er liebte mich so aufrichtig und wahrhaftig, dass ich wusste, ich würde in hundert Leben nie wieder so etwas fühlen. Es war real - bis zu dem Moment, als all die Lügen ans Licht kamen ...

"Mir fehlen die Worte, um die Schönheit dieser Geschichte zu beschreiben!" A LITERARY PERSUAL

Abschlussband des BEAUTIFUL-HEARTS-Duetts

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Playlist

Teil 1

Prolog

Teil 2

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Teil 3

11

12

13

14

Teil 4

15

16

17

18

19

20

21

22

Teil 5

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

Epilog

Anmerkung der Autorin

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Emma Scott bei LYX

Impressum

EMMA SCOTT

LIGHT UP THE SKY

Roman

Ins Deutsche übertragen von Inka Marter

Zu diesem Buch

Seit Connor und Weston fort sind, lässt Autumn die Erinnerung an die letzte Nacht vor ihrem Abschied nicht mehr los. Die Nacht, in der sie und Weston sich küssten, in der sie etwas gespürt hatte, das sie sich immer von Connor ersehnt und nie bekommen hat. Geplagt von Schuldgefühlen, wartet sie auf die erlösende Nachricht, auf den Tag, an dem die beiden Männer, die ihr Herz so in Verwirrung gestürzt haben, aus dem Einsatz zurückkehren. Sie will endlich verstehen, warum Connor im realen Leben so anders war als der Connor aus den Briefen und Gedichten. Warum sie diese tiefe Verbindung zu Weston verspürte, obwohl sie Connor doch liebt. Aber als sie schließlich die Nachricht erhält, ist nichts, wie es war. Zwar begreift sie endlich, wem ihr Herz gehört und was sie wirklich im Leben tun möchte. Doch sie erfährt auch, dass die Liebe, die sich so wahrhaftig und real anfühlt, aus einem Netz aus Lügen erwachsen ist …

Für Robin, die meine Hand genommen hat und sie immer noch festhält.

Für Melissa, die sie immer hält.

Für Robert, der aufgestanden ist und gesagt hat: »Ich lasse sie nicht los.«

Und für Isabel

Dies und alles andere, was ich mit Liebe tue, tue ich für dich, Schatz. Jetzt und für immer.

Playlist

LP: Switchblade

Marshmello: Happier

Kelsea Ballerini: Love Me Like You Mean It

Shawn Mendes: In My Blood

Brothers Osborne: It Ain’t My Fault

lovelytheband: broken

Weezer: Africa (Toto Cover)

Imagine Dragons: Natural

Billie Eilish: You Should See Me in a Crown

Flora Cash: You’re Somebody Else

No Doubt: Don’t Speak

LP: Recovery

The Chainsmokers: Something Just Like This

TEIL 1

Al-Rai, Syrien

Prolog

Connor

Meine Lungen füllten sich, und plötzlich war ich wach, und das Chaos stürmte auf mich ein. Und der Schmerz. Ein unvorstellbarer Schmerz bohrte sich in meinen linken Arm.

Meine Sicht war verschwommen wie unter Wasser. Ich konnte mich nicht rühren, weil etwas Schweres auf meiner Brust lag und mich zu Boden drückte. Ich bekam kaum Luft unter dem Gewicht, konnte nur flach atmen. Schüsse, Schreie und Mörserfeuer drangen entfernt durch das Pfeifen in meinen Ohren.

Ich blinzelte, zwang mich, mich zu konzentrieren, und stellte fest, dass Wes das Gewicht war, das mich runterdrückte. Er lag auf mir, den Kopf auf meiner Brust, der Helm verdeckte sein Gesicht. Seine Schultern hoben und senkten sich, aber atmete wirklich er, oder bewegte ich ihn mit meinen Atemzügen? Ich wusste nicht, ob er lebte oder tot war.

Er lebt. Er muss leben.

Panische Angst stieg in mir auf und flutete meinen Körper mit Adrenalin.

»Wes«, krächzte ich. »Wes …«

Mein Blick schoss in alle Richtungen. Ich versuchte, mich hochzudrücken, aber der Schmerz schlug seine eisernen Krallen in meinen Ellbogen. Mir wurde übel, und fast verlor ich wieder das Bewusstsein.

»Scheiße …«

Ich fluchte mit zusammengebissenen Zähnen und hob den linken Arm, bis ich ihn sehen konnte. Ein zerklüftetes Stück Schrapnell steckte in meinem Unterarm. Die Wunde war so grauenvoll, so hässlich und falsch, dass sie fast künstlich aussah, wäre da nicht der Schmerz gewesen, der bis in meine Schulter ausstrahlte.

Ich sah mich um und beurteilte unsere Lage. Wes und ich befanden uns am südlichen Rand des Dorfes und hatten keinerlei Deckung. Gestalten liefen durch die zerbombten Ruinen der Häuser, huschten wie Gespenster durch Rauch und Staub. Der Kampf war noch nicht vorüber, verlagerte sich aber in Richtung Osten.

Mein Blick blieb an einem Krater hängen, in dessen Mitte, umgeben von Blut, eine Kindersandale lag. Ich erinnere mich, wie ich auf den Träger dieser Sandale zugerannt war. Ich hatte ihn retten wollen, ihn packen und irgendwo in Deckung bringen. Ich hatte schon die Arme nach ihm ausgestreckt – und da …

Auch meine Erinnerung war in Stücke gesprengt worden, aber ich musste nur meinen besten Freund ansehen, der reglos, blutig und staubig auf mir lag, um zu erraten, was passiert war.

Wes ist mir hinterhergerannt. Er hat etwas gesehen, was ich nicht gesehen habe. Er hat mich weggerissen. Er hat mir den Arsch gerettet.

Schon wieder.

Ein Schluchzer entrang sich meiner zusammengepressten Brust. Wes hatte mich mit seinem Körper abgeschirmt und war angeschossen worden – so ungeschützt, wie wir hier lagen.

Und jetzt ist er tot.

»Wes«, brüllte ich. »Nein …«

Der Schmerz biss sich in meinem Arm fest, aber ich rutschte unter meinem Freund heraus und bettete vorsichtig seinen Kopf auf den Boden. Seine Augen waren geschlossen, sein Mund leicht geöffnet. Ich legte ihm zwei Finger an den Hals. Tränen traten mir in die Augen, als ich seinen Puls fühlte. Er war schwach und viel zu langsam, aber er war da.

»Gott sei Dank …«

Die Erleichterung war kurzlebig. Als ich mich auf die Knie aufrichtete und seine Verletzungen untersuchte, stiegen mir Angst und Übelkeit in der Kehle hoch. Eine Schusswunde hinten an Wes’ Oberschenkel hatte die Hose bis zum Stiefel in Blut getränkt. Ich tastete ihn bis zur Taille auch unter der Schutzweste ab und fand noch drei weitere Einschüsse. Aber am übelsten war ein Knochenstück, das aus seiner Hüfte ragte.

»Gott, bitte. Verdammt, Wes …«

Ich unterdrückte die Tränen und versuchte, mich zu erinnern, was zu tun war. Wir waren ungeschützt. Die nächste mögliche Deckung war ein Haufen Schutt etwa zehn Meter entfernt.

Ich stellte mich auf die Füße, bückte mich mit wackeligen Knien und packte Wes mit der rechten Hand am Rucksack. Ich biss die Zähne zusammen und zog. Wes’ totes Gewicht bewegte sich einen Zentimeter über den groben Sand.

»Komm schon …« Ich holte drei Mal tief Luft, presste die Lippen zusammen und zog noch einmal. Wieder ein Zentimeter. Scheiße, er war zu schwer, und ich war zu schwach.

Schüsse zerrissen die Luft, gefolgt von einer Explosion. Schutt regnete auf uns nieder, und das Adrenalin schoss in meine drei gesunden Gliedmaßen. Wie die Mutter, die plötzlich fähig ist, ein Auto hochzustemmen, um ihr darunter eingeklemmtes Kind zu befreien, packte ich Wes mit meinem unverletzten Arm und schleifte ihn hinter den Schutthaufen. Sobald wir in Deckung waren, sank ich neben ihm auf die Knie.

»Bleib bei mir, Wes«, sagte ich und schlüpfte vorsichtig, mit einem Arm nach dem anderen, aus dem Rucksack. »Hast du gehört? Du bleibst, Scheiße noch mal, bei mir. Du wirst mir hier nicht sterben, sonst bring ich dich verdammt noch mal …«

Mein Magen rebellierte, als ein Rucksackriemen kurz an meinem linken Ellbogen hängen blieb.

»Sanitäter!«, brüllte ich und riss mein Erste-Hilfe-Pack auf. »Wilson, verdammt …«

Ich holte das Tourniquet heraus. Mit einer Hand schob ich es bis über die Wunde an Wes’ rechtem Bein hoch. Dann drehte ich den Knebel, bis kein Blut mehr kam, und hakte ihn ein.

»Sanitäter!«, brüllte ich wieder. »Verdammte Scheiße, ich brauch einen Sanitäter!«

Ich holte den XSTAT heraus. In der Ausbildung hatten wir das Ding Tampon-Spritze genannt. Ich riss die Verpackung mit den Zähnen auf und platzierte die überdimensionale Spritze an der Schusswunde in Wes’ Hüfte. Ich drückte den Kolben herunter, und die saugfähigen Schwämmchen füllten die klaffende Wunde und sogen das Blut auf.

Inzwischen kämpfte ich selbst darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Ich sah immer wieder grau, während ich eine Schusswunde unten in Wes’ Lendenwirbelbereich und eine weitere etwas höher unterhalb der Schutzweste untersuchte. Jemand musste sich darum kümmern, aber ich hatte weder die Kenntnisse noch die Kraft dazu. Erschöpft ließ ich mich auf den Hintern fallen, holte noch einmal tief Luft und legte meine ganze Kraft in den Schrei.

»Sanitäter!«, rief ich so laut, dass meine Stimme sich überschlug, ein winziges lächerliches Nichts in der Maschinerie des Krieges. »Gott, jemand muss ihm helfen …«

Wie ein Baum, der in Zeitlupe umfällt, sank ich auf meine gesunde Seite, landete genau zwischen Wes’ Körper und den Schutthaufen, der uns Deckung bot.

»Wach auf«, stieß ich heiser hervor. »Wach auf. Jetzt, verdammt. Stirb nicht, Wes. Bitte …«

Die Welt begann sich mir zu entziehen. Selbst der Schmerz in meinem linken Arm schien weit entfernt. Nur ein paar schwache Schreie erreichten mich noch. Keine Schüsse mehr. Durch das blecherne Pfeifen in meinen Ohren hörte ich eine Frau weinen. Ich wusste nicht, ob wir gewonnen oder verloren hatten, sondern nur, dass jede Sekunde Wes dem Tod näher brachte.

Ich nahm seine leblose Hand. »Du hältst durch, okay?«, sagte ich. »Hör mir zu. Geh nicht, Wes. Du bleibst hier und hörst zu, okay?«

Kurz schloss ich die Augen, Tränen traten zwischen meinen Lidern hervor.

»Bleib bei mir, Wes, und denk an … denk an die Zeit, als … Wir müssen so fünfzehn gewesen sein, es war in Jason Kingsleys Spielzimmer, weißt du noch? Wir haben über Mädchen geredet und wollten unbedingt cool sein.«

Ich schluckte schwer, meine Kehle fühlte sich an wie mit Glas und Sand gefüllt.

»Wir haben alle … geprahlt, welcher wir an den Hintern fassen wollten, welche ›Muschi wir vögeln wollten‹ … als wären wir nicht alle noch Jungfrau gewesen.« Ich lachte müde. »Nur du nicht. Du hast Dartpfeile geworfen und … du warst in Kayla Murphy verknallt. Ich weiß es noch. Du hast einfach weiter Darts gespielt und uns erzählt, dass du sie küssen wolltest. Kayla Murphy. Ich werd’ es nie vergessen. Du wolltest sie auf ›die kleine Grube zwischen ihren Schlüsselbeinen küssen, wo ihr Herz schlägt‹.«

In meinem trübe werdenden Blickfeld sah ich Gestalten auf uns zurennen, die Umrisse von Männern.

»Alle haben wir dich angestarrt«, sagte ich. »Weißt du noch? Du hast dich umgedreht, einen Pfeil in der Hand, und dein Gesicht sah aus wie Scheiße, was hab ich bloß gesagt. Aber du hast es nicht zurückgenommen und auch keinen Witz drüber gerissen. Du hast einfach mit den Achseln gezuckt und gesagt: ›Tja, das würde ich machen‹, und weiter die dämlichen Darts-Pfeile geworfen.«

Ich lachte leise, als Wilson, Jeffries und ein paar unserer Jungs uns umringten.

»Unsere Freunde hatten keine Ahnung, was sie damit anfangen sollten«, sagte ich und hielt noch immer Wes’ Hand. Nichts würde mich dazu bringen, sie loszulassen. »Sie haben dich einfach eine volle Minute lang angestarrt und sind dann in Gelächter ausgebrochen. Weißt du das noch? Die haben gedacht, du verarschst uns. Ich hab auch gelacht, aber ich hab gewusst, dass das kein Witz war. Du hast absolut keinen Witz gemacht, stimmt’s, Wes?«

Ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, verfrachteten Leute unserer Einheit uns in einen Helikopter.

»Auf drei«, brüllte Wilson, um das Knattern der Rotoren zu übertönen. Er zählte, und sein Team hob Wes auf eine Trage. Sie hatten ihm die Schutzweste abgenommen; er trug um die Mitte einen dicken Verband. Als sie ihn hinlegten, fiel etwas aus seiner Hemdtasche. Ein verbogenes, blutbeflecktes Notizbuch.

Ich starrte durch den Sand, der von dem Helikopter aufgewirbelt wurde. Die Seiten des kleinen Notizbuchs flatterten in den heißen Windstößen. Es sah aus wie ein verwundeter Vogel.

Ich schnappte es mir, bevor es wegwehte, und blätterte bis zu einem Gedicht. Die Worte waren verschmiert von Tränen und Blut.

Wes’ Worte.

Wes’ Tränen.

Wes’ Blut.

Darunter seine Unterschrift. Wie eine Beichte.

Sein Name, nicht meiner.

»Ja, Wes«, sagte ich, und Tränen liefen mir über die Wangen. »Das ist die Wahrheit. Es war immer die Wahrheit.«

Wir bestiegen den Helikopter, und Sanitäter kümmerten sich hektisch um meinen besten Freund. Er bekam einen Tropf mit Kochsalzlösung und eine Sauerstoffmaske, aber ich sah, wie einer grimmig den Kopf schüttelte.

Ein Typ half mir, mich anzuschnallen, und versuchte, meinen Arm zu behandeln.

»Hör auf!«, brüllte ich. »Besorg mir einen Stift.«

»Einen was?«, fragte der Sanitäter über das Dröhnen der Rotorblätter hinweg. »Einen Stift?«

Ich sah zu Wes. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht totenbleich.

»Hol mir einen verdammten Stift«, brüllte ich.

Der Typ verschwand aus meinem Gesichtsfeld, und als er zurückkam, drückte er mir einen Kuli in die Hand. Ich hielt das Notizbuch mit der pochenden linken Hand auf dem Oberschenkel fest – der Arm fühlte sich auf unheimliche Weise taub an – und schrieb mit der zitternden rechten auf den hinteren Einband des Büchleins.

Autumn,

Wes hat das und auch alles andere geschrieben. Für dich.

C.

Ich versuchte, ihre Adresse aufzuschreiben, aber der Stift glitt mir aus der Hand. Ich drückte dem Sanitäter das Notizbuch an die Brust. Der Hubschrauber hob ab, und mir fielen einen Moment die Augen zu, während mich ein Schwindelgefühl überkam.

»Du musst das per Post schicken. Schick es …«

»Was? Dein Arm …«

»Scheiß auf meinen Arm«, sagte ich. »Schick es mit der Post. Autumn … Autumn Caldwell. Amherst College … Ridell Street … Drive. Nein … Rhodes …?« Wieder senkten sich meine Lider, und diesmal bekam ich sie nicht mehr richtig auf. »Scheiße, ich kann mich nicht … Ich meine Amherst. Das College. Hast du das? Autumn …«

Dann wurde alles um mich herum schwarz.

TEIL 2

Nebraska

Juli

1

Autumn

Der Sonnenaufgang übergoss den Horizont mit geschmolzenem Gold und Orange, verdrängte die dunklen Blau- und Violetttöne der Nacht.

»Sieh dir das an.« Dads Stimme war von Ehrfurcht erfüllt. »Unglaublich, oder?«

Wir saßen auf der Schaukelbank auf der Veranda, und ich legte die Wange an seine Schulter und schmiegte mich an ihn. »Ich denke schon.«

»Wenn man so einen Sonnenaufgang sieht … dann hat man unweigerlich das Gefühl, dass etwas Wunderbares passieren wird.«

Ich sah in das graue hagere Gesicht. Sein feines Haar, früher so rot wie meines, war nach dem vierfachen Bypass im letzten Oktober weiß geworden. Die Schultern und die Brust wirkten schmaler unter dem karierten Hemd. Er bewirtschaftete wieder das Land, aber er hatte nicht mehr so viel Kraft wie vorher.

»Etwas Wunderbares«, sagte ich mit einem leisen Seufzer.

Er sah auf mich hinab. »Warum sprichst du nie über diesen Jungen, diesen Connor? Du hast ihn bei diesem Besuch kein einziges Mal erwähnt.«

Der Name erfüllte mein Herz mit leiser Sehnsucht, durchbohrte es mit entsetzlicher Angst. Und auf jeden sehnsüchtigen Gedanken an Connor folgten sofort verwirrende, erregende Gedanken, die ich nicht genauer betrachten, geschweige denn in Worte fassen wollte.

Weston …

»Ich habe Angst um ihn«, sagte ich. »Und ich habe seit seiner Stationierung in Syrien höchstens eine Handvoll E-Mails bekommen. Nur ›Hi, wie geht’s dir?‹ und ein paar allgemeine Informationen.«

Und von Weston kein einziges Wort.

»Der Krieg macht schreckliche Dinge mit einem Menschen.« Mein Vater schüttelte den Kopf. »Du kannst nicht wissen, wie schlimm es dort für ihn ist. Vielleicht sind diese E-Mails alles, wozu er fähig ist.«

»Ja, schon, aber ich will einfach wissen, ob es ihm gut geht. Ich wünschte, er würde mit mir reden.«

Victoria Drake hatte mir erzählt, dass Connor sie häufig anrief, wenn die Umstände es erlaubten. Ich hatte von seiner Mutter mehr über ihn gehört als von ihm selbst.

Hat Weston ihm gesagt, was wir getan haben? Weiß Connor, dass ich ihn betrogen habe?

Das war die beste Erklärung sowohl für Westons Funkstille als auch für Connors knappe, gerade einmal minimale Kommunikation. Vor dem Einsatz hatte Weston geschworen, er würde kein Wort über diesen Kuss verlieren – einen Kuss, der fast zu allem anderen geführt hätte. Er hatte gemeint, er wäre es nicht wert, Connor seelisch zu belasten, wo der Krieg schon schwierig genug sein würde.

Das schlechte Gewissen musste ihn am Ende eingeholt haben. Warum sonst rief Connor mich nicht an?

»Ich glaube, Connor wird sich von mir trennen«, murmelte ich und schluckte die Tränen hinunter. »Und vielleicht ist es das Beste so.«

Mein Vater drückte mir die Schulter. »Verlier nicht den Glauben an deinen Mann und an deine Liebe zu ihm. Sie ist zu wertvoll. Für euch beide.«

»Seit wann bist du so sentimental?«

Dad zeigte auf das Land, ein Meer aus Maispflanzen, das grün unter dem goldenen Sonnenaufgang wogte.

»Seit ich im Krankenhaus war und das alles hier fast hinter mir gelassen hätte«, sagte er. »Es hat mir so deutlich gezeigt, was wichtig ist.« Er blickte mich aus braunen Augen an. »Du, dein Bruder und deine Mutter. Die Menschen, die ich liebe.«

Die Männer, die ich liebte, waren eine halbe Weltreise entfernt und sahen unvorstellbaren Gefahren entgegen, und ich hatte keine Ahnung, ob sie in Sicherheit waren.

Ich seufzte und lehnte mich an meinen Vater. Ich wollte ihm alles erzählen. Er würde zuhören und mich nicht verurteilen. Er wäre trotzdem stolz auf mich und trotzdem dankbar für das Geld, das Connor uns gegeben hatte, um die Farm zu retten. Aber ich selbst hatte in meinen Augen nichts vorzuweisen aus diesem dritten Jahr am College. Nur Noten, die mich gerade so über Wasser hielten, und ein schon wieder gebrochenes Herz.

Nein, ein in zwei Teile gerissenes Herz.

Ich folgte Dads Blick zu den Maisfeldern und der aufgehenden Sonne und versuchte, ein wenig Frieden zu finden in der Schönheit der Welt und sie als Zeichen zu sehen, dass am Horizont etwas Wunderbares auf mich wartete.

»Es ist alles so verworren«, sagte ich. »Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Jeden Tag bete ich, dass Connor und Weston nichts passiert, aber ich habe nicht viel Hoffnung, dass da noch etwas ist zwischen uns.«

Zwischen uns dreien.

Mein Vater schürzte die Lippen. »Ich höre dir zu, mein Schatz. Und nur du kannst wissen, was gut für dich ist. Aber egal, was uns im Leben passiert, ob es gut, schlecht oder schlimmer ist, es macht uns stärker. Weiser.«

»Ich will einfach nur jemanden lieben, der mich auch liebt. Ohne Spielchen. Ohne Unsicherheit. Nur Liebe.«

Dads Augen waren warm und gütig, als er seine schwielige Hand an meine Wange legte. »Das wird schon noch kommen.«

Ich sah auf die Uhr und stand auf. »Ich sollte los, wenn ich meinen Flug kriegen will.«

»Ich wünschte, du müsstest nicht so schnell schon zurück. Bald ist der vierte Juli …«

»Ich weiß, aber ich will mich direkt an mein Harvard-Projekt setzen und noch ein bisschen Zeit mit Ruby verbringen, bevor sie nach Italien geht.« Ich rieb mir die Augen und seufzte. »Und mich an eine neue Mitbewohnerin gewöhnen.«

»Wirklich schade«, sagte Dad und erhob sich langsam. »Ich mag diese Ruby.«

»Ich liebe sie.«

Und ich verliere sie auch. Alle, die ich liebe, gehen oder sind schon weg.

Der dämliche Sonnenaufgang war kein Zeichen für etwas Wunderbares, sondern nur für Einsamkeit.

In der Küche zog Mom ein Blech mit süßen Hörnchen aus dem Ofen. »Für die Fahrt nach Omaha«, sagte sie und legte sie, ohne aufzusehen, in eine kleine Tupperdose. »Travis! Kommst du? Du musst deine Schwester zum Flughafen bringen.«

»Das weiß ich doch«, sagte Travis und betrat die Küche. Seit er im Juni die Highschool abgeschlossen hatte, wirkte er größer und breiter, mehr wie ein Mann. Ich war froh. Dad brauchte die Hilfe, und mein kleiner Bruder wollte nichts lieber, als auf dem Land zu arbeiten und die Farm für die Familie zu erhalten.

»Bist du fertig, Auts?«, fragte Travis.

»Ich glaube schon. Bye, Mom«, sagte ich und umarmte sie. »Hast du mir inzwischen verziehen?«

»Was?« Dann verzog sie die Lippen. »Über dieses Geld werden wir nicht reden. Das tut man nicht.«

Ich hatte die fünfunddreißigtausend Dollar, die Connor mir gegeben hatte, direkt auf das Konto meiner Eltern überwiesen. Hätte ich ihr den Scheck übergeben, hätte meine stolze Mutter ihn womöglich zerrissen. Ich selbst hatte ihn fast zerrissen, aber sosehr es auch schmerzte, ich konnte nicht zusehen, wie neben der Gesundheit meines Vaters auch noch die Lebensgrundlage meiner Familie in Mitleidenschaft gezogen wurde. Meine Mutter hatte sich den ganzen Sommer geweigert, darüber zu reden, aber ich spürte ihre Erleichterung.

So muss es sich für Weston angefühlt haben, als die Drakes seiner Mutter ein Haus gekauft haben, dachte ich. Erleichterung und Scham. Beides.

»Ich hab dich lieb«, sagte Mom. »Fahrt vorsichtig. Hast du gehört, Travis? Fahr vorsichtig, hin und zurück. Hier.« Sie gab mir die Tupperdose und scheuchte uns aus ihrer Küche. »Und jetzt beeilt euch.«

Dad begleitete uns zu Travis’ klapprigem blauem Pick-up und zog mich in seine Arme. Ich schloss die Augen und hielt ihn fest.

»Ich weiß, dass du Angst um sie hast, Schatz«, sagte er.

Ich nickte an seiner Brust.

»Sie sind in einem gefährlichen Teil der Welt und riskieren ihr Leben. Aber lass nicht zu, dass die Angst deine Liebe zerstört.«

Meine Liebe. Ich wusste nicht mehr, was das war.

Oder wem sie galt.

»Ich versuche es, Daddy«, sagte ich. »Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch, Schätzchen.«

Ich winkte aus dem Fenster und sah Dad immer kleiner werden. Der Duft von Moms warmen Hörnchen stieg aus der geöffneten Dose in meinem Schoß auf, und plötzlich wusste ich, wer meine Liebe brauchte: die Farm, die Lebensgrundlage meiner Familie.

Mein Projekt für Harvard würde sich auf ein landwirtschaftliches Thema konzentrieren. Auf ökonomische Gerechtigkeit für Landwirtschaftssysteme oder das Potenzial erneuerbarer Bioenergien. Das weckte nicht gerade meine Leidenschaft, aber es war an der Zeit, meine persönlichen Wünsche und Gefühle hintanzustellen. Sie brachten mir sowieso nur Kummer.

Als wir über die Interstate 80 von Lincoln nach Omaha fuhren, festigte sich mein Entschluss, während der Sonnenaufgang in einen goldenen Tag überging.

Das ist das Wunderbare, das auf mich gewartet hat. Endlich weiß ich, was ich mit meinem Leben anfangen werde.

Aber es gab kein Feuerwerk in meinem Herzen. Kein überwältigendes Glücksgefühl.

Seufzend stützte ich den Kopf in die Hand, sah die Landschaft an mir vorbeiziehen und versuchte, mir zu sagen, dass es das Richtige war.

Ruby wartete in der Abholzone des Bostoner Flughafens, sah so lebendig aus in ihrem gelben Sommerkleid. Ihre karamellfarbene Haut leuchtete, als hätte sie während ihres Urlaubs die ganze Schönheit Jamaikas in sich aufgesogen.

»Hey, warum dieses Gesicht?«, fragte sie.

»Mir ist nur gerade klar geworden, wie sehr ich dich vermissen werde«, sagte ich.

»Und ich dich auch, Auts«, sagte sie und drückte mich noch einmal. Sie öffnete den Kofferraum ihres schwarzen Acura. »Aber ich werde meine Eltern zu Weihnachten besuchen. Vielleicht komme ich auch mal für ein langes Wochenende. Und außerdem …« Sie legte meinen Koffer in den Kofferraum und machte ihn zu. »Ich habe eine Überraschung für dich.«

»Nur zu. Zum jetzigen Zeitpunkt nehme ich alles«, sagte ich, als ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

Ruby schnallte sich an und fuhr los. »Du, meine liebe Freundin, wirst dich nicht an eine neue Mitbewohnerin gewöhnen müssen.«

Ich blinzelte, dann wandte ich mich ihr zu. »Nein? Moment mal, was meinst du damit?«

»Ich habe Mom und Dad erzählt, dass du mit deinem Projekt nicht weiterkommst und deine großen Pläne unter anderem bedroht sind, weil dein Freund in einem Kriegsgebiet stationiert wurde. Sie fänden es genau wie ich total blöd, wenn du auch noch eine neue Mitbewohnerin ertragen müsstest. Also haben sie das Zimmer für das ganze Jahr gemietet.«

Mir fiel die Kinnlade runter. »Wow.«

»Gut, oder?«

»Gut? Ich sehe schon traumhaft ruhige Lernabende vor mir, ohne eine fremde Person in meiner Wohnung. Unserer Wohnung.«

Ruby strahlte mich an. »Ich hab mir gedacht, dass es dir gefällt.«

»Es ist wunderbar. Aber Ruby …«

»Fang gar nicht erst an«, sagte sie streng. »Kein Wort über die Kosten. Meine Eltern mögen dich sehr. Sie wollten es. Und Dad glaubt, dass ich dann öfter zu Besuch komme. Was auch stimmt.«

»Es ist so großzügig von ihnen«, sagte ich, und wieder spürte ich die vertraute Mischung aus Erleichterung und Scham.

Weston weiß genau, wie sich das anfühlt.

Ruby sah mich von der Seite an. »Du siehst schon wieder traurig aus.«

Ich bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck, verdrängte den Gedanken an Weston. »Ich vermisse meine Familie.«

»Wie geht es deinem Dad?«

»Besser. Aber er ist dünn. Er sieht zehn Jahre älter aus.«

»Ist deine Mom ausgeflippt wegen des Geldes, das Connor dir gegeben hat?«

»Auf ihre eigene stille, wütende Art. Wenn Dad gesund wäre, hätte sie es niemals angenommen.«

»Der Dickkopf liegt bei euch anscheinend in der Familie.«

Zurück in unserer Wohnung im Rhodes Drive auf dem Campus von Amherst, rollte ich meinen Koffer ins Wohnzimmer und betrachtete die Wohnung mit neuen Augen.

»Und all das werde ich ganz für mich haben?«, fragte ich, und bei dem Gedanken, wie ich in aller Ruhe an meinem Projekt würde arbeiten können, musste ich lächeln.

Ruby sah mich an, verdrehte die Augen und ließ sich auf die Couch fallen. »Mein Gott. Ich kann mir richtig vorstellen, welche wilden Partys du gerade nicht planst.«

Ich setzte mich neben sie. »Genau. Ich bin mir über mein Harvard-Projekt klar geworden. Heute Morgen.«

Ruby richtete sich auf. »Wirklich? Hey, das ist gut. Was hast du dir überlegt?«

»Ich habe die Details noch nicht ausgearbeitet, aber ich denke, es wird um die Frage gehen, was die Regierung, zum Beispiel durch Steueranreize, tun kann, um es Landwirten zu ermöglichen, auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien … für Biotreibstoffe zu produzieren.«

Rubys Blick wurde glasig. »Das klingt … echt interessant.«

Ich lachte und stieß sie am Arm an. »Es ist wichtig. Für meine Familie und alle Farmen in Amerika, die gerade schlechte Zeiten durchmachen.«

»Dann ist es wirklich toll. Freut mich.«

»Währenddessen wirst du ein Jahr an der italienischen Riviera verbringen«, sagte ich. »Mir ist durchaus aufgefallen, wie sehr sich unsere Leben unterscheiden.«

»Du solltest stolz sein, meine Liebe. Du wirst die Welt retten. Ich bin einfach nicht dafür gemacht.« Sie tätschelte meine Hand. »Ich bin so froh, dass du deine Berufung gefunden hast.«

»Meine Berufung«, murmelte ich und wartete wieder auf das Hochgefühl, das man eigentlich empfinden sollte, wenn man den Sinn seines Lebens entdeckt.

Ruby legte den Kopf schief. »Schon wieder dieser Blick. Hast du in letzter Zeit von Connor gehört?«

»Es ist Wochen her.« Ich sah sie an. »Ich glaube, es ist vorbei, Ruby. Ich glaube …«

Ich glaube, Weston hat ihm gesagt, was in der Nacht vor dem Einsatz passiert ist.

Ich hatte Ruby nie erzählt, dass ich Weston geküsst hatte – mehr als geküsst. Er hatte mir praktisch das Kleid vom Leib gerissen, und ich hatte nur seinen Reißverschluss nicht schnell genug aufbekommen.

Ich hustete. Die Worte klebten mir am Gaumen. Es war falsch gewesen, aber dann auch wieder nicht. Wie sollte ich das erklären?

Ruby beugte sich vor. »Du glaubst …?«

»Ich glaube, wir sollten das Ganze vergessen. Mit Connor und mir.« Ich zupfte an dem Saum meines hellgrünen Sommerkleids – einem Designermodell, das ich im Sommer in Nebraska bei einer Haushaltsauflösung erstanden hatte. »Ich habe mich endlich für ein Projekt entschieden, und er hat dort drüben etwas Wichtiges zu tun. Anscheinend sind wir besser dran ohne die Ablenkung.«

Ruby schürzte die Lippen. Gedanken tanzten in ihren braunen Augen.

»Findest du das nicht?«, fragte ich. »Oder doch? Ich brauche unbedingt einen Rat. Mein Dad hat gesagt, ich soll nicht aufgeben.«

Sie hob die Hände. »Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, Süße. Aber du hast das ganze letzte Jahr versucht herauszufinden, wo ihr steht, du und Connor. Und es scheint da nicht besonders schön zu sein.«

»Ist es nicht. Vielleicht ist es wirklich vorbei. Oder sollte es sein.«

Bei der Aussicht, Connor tatsächlich zu verlieren, pochte mein dummes Herz empört.

»Aber wie kann ich mich von ihm trennen, während er im Einsatz ist?«, fragte ich. »Gott weiß, was sie jeden Tag durchmachen.«

»Trotzdem würde es ihn nicht umbringen, dir von Zeit zu Zeit zu sagen, dass du ihm wichtig bist. Das kann doch nicht so schwer sein!« Ruby sah mich direkt an. »Du verdienst etwas Besseres als dieses Schweigen, Auts. Du bist nicht irgendeine Brieffreundin. Du bist mit ihm zusammen.«

»Ich weiß, aber da drüben geht es um Leben und Tod.« Ich ging zu meinem Laptop, der auf dem Schreibtisch am Fenster stand. »Ich schicke ihm eine E-Mail. Sage ihm, dass ich an ihn denke, dass er irgendwann antworten kann oder nie und dass wir reden, wenn wir uns wiedersehen.«

»Klingt fair«, sagte Ruby. »Aber es ändert gar nichts.«

»Vielleicht nicht«, sagte ich und öffnete meinen Posteingang. »Aber so kann ich wenigstens in Ruhe arbeiten. Ich …«

Ich keuchte auf. Die oberste E-Mail war von der United States Army, Abteilung für Familienbereitschaft. Heute Nachmittag vor nicht einmal zehn Minuten gesendet.

»Oh mein Gott …« Mein Herz klopfte so laut, dass ich meine Worte kaum hörte.

»Was ist?«, fragte Ruby.

»Komm schnell her.« Mit zitternder Hand öffnete ich die Nachricht. Ruby stellte sich hinter mich, ihre Finger krallten sich in meine Schultern. Ich las bis zur zweiten Zeile, als ich von irgendwo einen Schrei hörte. Ich glaube, ich war es selbst. Ich schwankte auf dem Stuhl, und Ruby legte die Arme um mich, als wir gemeinsam weiterlasen.

Familien und Freunde des 1. Bataillons, 22. Infanterieregiment.

Am 13. Juni war das 1–22 IN in einen Vorfall verwickelt, und ein Soldat ist gefallen. Seine nächsten Verwandten wurden inzwischen benachrichtigt.

Im Auftrag des 1–22 IN bekunde ich der Familie des Soldaten mein Beileid. Wir werden eine Trauerfeier abhalten, Zeit und Ort werden noch bekannt gegeben.

Bitte denken Sie daran, alle Mitglieder des 1–22 IN und alle anderen Soldaten und Soldatinnen im Einsatz in Ihre Gebete einzuschließen. Danke für Ihre Unterstützung.

»Das …« Ruby verstummte und machte einen zweiten Anlauf. »Das ist alles? Mehr schreiben die nicht? Es ist jemand gefallen, aber sie sagen nicht wer?«

»Sie benachrichtigen zuerst die Familie«, sagte ich mit Roboterstimme. »Das ganze Regiment hält Funkstille, bis die Familie benachrichtigt ist.«

Das erklärt, warum ich in letzter Zeit nichts von Connor gehört habe. Es gibt einen Nachrichtenstopp. Weil er tot ist. Connor ist tot. Oder Weston …«

»Verdammt, Ruby …«

Wir schwiegen erschrocken. Die Worte gingen mir wieder und wieder durch den Kopf. Ein Soldat ist gefallen. Meine Gedanken ertranken in einem Strudel der Angst, wanderten zwischen meinen beiden Männern hin und her, und mein Herz schrie und trauerte und hatte um beide gleichermaßen Angst. Jeder Herzschlag war ein Name – Connor, Weston, Connor, Weston –, jeder Atemzug ein Gebet für einen von ihnen.

Für beide.

Ich darf keinen von ihnen verlieren. Bitte, Gott …

Das Klingeln meines Telefons durchbrach die Stille, und ich fiel fast vom Stuhl.

»Himmel …«, rief Ruby.

Ich stand mit zittrigen Knien auf und stakste wie ein Zombie zu meiner Tasche auf der Couch.

»Es ist Connors Mom.« Langsam, als wäre es eine Giftschlange, hob ich das Handy ans Ohr. »Hi, Mrs Drake.«

»Hallo, meine Liebe«, sagte sie mit schwerer Stimme. »Ich habe ein paar Neuigkeiten.«

2

Autumn

Das Flugzeug landete in Baltimore, und Ruby und ich gingen direkt zu den Autovermietungsschaltern.

Hauptgefreiter Samuel Bradbury.

Wahrscheinlich Sam für Familie und Freunde.

Familie und Freunde, die jetzt gemeinsam um ihren gefallenen Soldaten trauerten.

Es hätten auch wir sein können, dachte ich am Schalter der Autovermietung. Dann würde Victoria Drake jetzt eine Beerdigung planen. Miranda Turner würde sich, untröstlich über den Verlust ihres Sohns, die Augen ausheulen.

Und ich wäre am Boden zerstört vor Kummer, statt irgendwo zwischen Traurigkeit und Erleichterung zu schweben.

Sam Bradbury.

Nicht Hauptgefreiter Connor Drake.

Nicht Corporal Weston Turner.

Mrs Drake hatte mir am Telefon alles gesagt, was sie wusste. Der Vorfall hatte sich vor Wochen ereignet, aber da die Mission geheim war, hatte die Army niemanden informiert, bis die Männer aus dem Einsatzgebiet in eine Klinik in Landstuhl in Deutschland ausgeflogen worden waren. Dort hatte man Connors zertrümmerten Ellbogen wieder zusammengeflickt und seine Kopfverletzungen behandelt, bevor er gestern früh ins Walter-Reed-Militärkrankenhaus gebracht worden war.

Aber Weston …

Weston hatte vier Schüsse abbekommen und war zuerst am Rücken und dann an der Hüfte operiert worden. In einer dritten OP war die Kugel entfernt worden, die seine Gallenblase getroffen hatte. Die nachfolgende Infektion hatte die Ärzte gezwungen, ihn in ein künstliches Koma zu versetzen. Er sollte in dasselbe Krankenhaus geflogen werden, aber erst morgen.

»Es ist noch unklar, wie seine Diagnose auf lange Sicht aussieht«, hatte Mrs Drake gesagt. »Aber sein Zustand ist schon stabiler. Die Ärzte haben Miranda gesagt, dass es eine ganze Weile um Leben und Tod ging.«

Leben und Tod. Jeder Soldat wanderte auf diesem schmalen Grat. Connor und Weston waren auf der Seite des Lebens heruntergefallen. Sam Bradbury auf der anderen.

»Hey«, sagte Ruby und stieß mich an. »Es geht ihnen bestimmt gut. Sonst hätte man nicht erlaubt, dass sie aus Deutschland ausgeflogen werden.«

»Das sage ich mir auch ständig, aber ich habe trotzdem Angst.«

»Ich auch.«

Wir gingen durch den Empfangsbereich des Krankenhauses. Das schwere angsterfüllte Pochen meines Herzens wurde zu einem hektischen Flattern. Im Fahrstuhl nahm Ruby meine Hand. Ich drückte ihre dankbar und ließ sie nicht los.

Connor hatte ein Zimmer im vierten Stock. Im privaten Wartebereich saß Senatorin Victoria Drake in einem tadellosen beigen Hosenanzug und sprach abwechselnd in ihr Telefon und mit ihrem Team. Mr Drake ging mit düsterer Miene in der Nähe auf und ab.

»Ich rufe Sie zurück«, sagte Mrs Drake ins Telefon, als sie mich sah. Sie kam uns mit ausgebreiteten Armen entgegen und umarmte uns nacheinander. »Autumn. Ruby. Ich freue mich so, Sie zu sehen.«

»Wie geht es ihm?«, fragte ich.

Mr Drake trat zu uns. »Es geht ihm gut«, sagte er, als wollte er die Worte zwingen, wahr zu sein. Als könnte er nichts anderes akzeptieren. »Er wird gerade untersucht, ob er fit genug ist, um in den Kampf zurückzukehren.«

Ich riss die Augen auf. »Er muss vielleicht zurück?«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Mrs Drake. »Man hat seine Tauglichkeit schon letzte Woche in Deutschland geprüft, und sie haben ihn hierhergeschickt. Das heißt wohl, dass er nicht so schnell zu seiner Einheit zurückkehrt. Gott sei Dank.«

»Wie geht es seinem Arm?«, fragte ich.

»Sein Ellbogen ist durch ein Titangelenk ersetzt worden, und man ist optimistisch, dass er die volle Beweglichkeit zurückerhält. Es sind die Kopfverletzungen, die den Ärzten Sorgen machen.«

Mr Drake strich das Jackett seines Anzugs glatt. »Er hat Aussetzer und Kopfschmerzen. Angstschübe und andere Anzeichen … einer psychischen Störung.« Er presste die Worte zwischen den Zähnen hervor und zog eine Grimasse, als hätten sie einen schlechten Beigeschmack.

»PTBS?«, fragte ich.

»Ich bin kein Arzt«, fuhr er mich an.

Victoria berührte seinen Arm. »Wahrscheinlich.«

»Er erholt sich nach einer gefährlichen Situation«, sagte ihr Mann und wich kaum merklich vor ihrer Berührung zurück. »Jeder ist emotional angeschlagen, wenn er aus einem Kriegsgebiet nach Hause kommt. Das heißt noch lange nicht, dass es etwas Bleibendes ist.« Sein Telefon klingelte, und mit einem knappen »Entschuldigung« trat er beiseite und nahm den Anruf an.

»Will Connor denn zurück?«, fragte ich sanft.

Seufzend nickte Mrs Drake. »Die Ärzte haben gesagt, dass Soldaten, die im Einsatz ein Trauma erlitten haben, oft unbedingt zu ihrer Einheit zurückkehren wollen. Es wäre eine Pflichtverletzung, es nicht zu tun. Sie lassen ihre Kameraden im Stich, die sich noch in Gefahr befinden.«

»Überlebensschuld«, sagte Ruby.

»Genau.« Mrs Drakes Miene war erleichtert und zugleich besorgt, als sie die Stimme senkte. »Connor will unbedingt zurück, aber die Ärzte sagen, er wird wahrscheinlich ehrenhaft entlassen werden.«

Ich seufzte, dann atmete ich tief ein. »Und wie geht es Weston?«

Mrs Drakes Mund wurde schmal, und sie wandte den Blick ab. »Sein Flug kommt morgen an. Dann wird entschieden, ob er stabil genug ist, um ihn aus dem Koma zu holen.«

»Er wurde in den Rücken getroffen …?«

Sie hob eine Hand, um mich zu unterbrechen. »Es ist zu früh, um sagen zu können, was auf ihn zukommt, und ich bin keine direkte Verwandte«, sagte Mrs Drake und klang dabei fast aggressiv. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln. Sie deutete mit dem Kopf auf Connors geschlossene Zimmertür. »Eins nach dem anderen. Wenn Connors Tauglichkeitsprüfung vorüber ist, wird er Sie sehen wollen.«

»Natürlich. Ich will ihn auch sehen.«

So sehr. All die Unsicherheit und die Zweifel, die ich empfunden hatte, seit sie im Ausland stationiert worden waren, verblassten in diesem Augenblick. Sie lebten, beide lebten. Das war alles, was zählte.

»Wenn Sie mich entschuldigen.« Mrs Drake holte ihr Handy hervor und ging zu ihrem Team, das auf der anderen Seite des Warteraums stand.

Ruby sank auf eins der kleinen Sofas. »Connors Dad klang wie bei einer Pressekonferenz«, sagte sie leise. »Als wäre Connors psychische Verfassung ein Skandal.«

»Nur ein weiteres Beispiel für die Erziehung der Drakes«, sagte ich und sackte auf den Platz neben ihr. »Nichts, was Connor tut, ist jemals gut genug. Nicht einmal, im Kampf verwundet zu werden.«

Ich lehnte den Kopf an Rubys Schulter.

»Alles wird gut«, sagte sie und rieb ihre Schläfe an meinem Haar. »Einfach ein- und ausatmen.«

Die Tür zu Connors Zimmer öffnete sich. Zwei Ärzte und ein Offizier der Army kamen heraus. Alle drei sahen grimmig aus. Mr und Mrs Drake gingen zu ihnen. Ich spitzte die Ohren, bekam aber nur Bruchstücke des Gesprächs mit.

»Beide Untersuchungen deuten auf posttraumatischen Stress …«

»Dr. Lange in Deutschland hat dasselbe geraten …«

»… Empfehlung für eine ehrenhafte Entlassung …«

Ruby und ich tauschten einen Blick und ließen, erleichtert seufzend, die Schultern sinken. Die Ärzte gingen nach ein paar Minuten. Die Drakes unterhielten sich angespannt und zischend. Dann verließ Mr Drake mit unlesbarer Miene den Raum.

Ruby und ich standen auf und gingen zur Senatorin hinüber.

»Autumn, Sie können jetzt zu ihm«, sagte sie geistesabwesend.

Ruby legte ihr eine Hand auf den Arm. »Wollen Sie mit mir einen Kaffee trinken gehen, Victoria? Vielleicht sollten Sie etwas essen, während Auts Connor besucht?«

»Ja«, sagte Mrs Drake und seufzte. »Das ist eine gute Idee.«

Ruby warf mir ein sanftes Lächeln zu, als sie und Mrs Drake sich auf den Weg in die Cafeteria machten. Ich holte tief Luft und klopfte an die Tür, die offen stand.

»Ja«, sagte er.

Das Zimmer roch nach Blumen und Desinfektionsmittel. Connor saß auf der Bettkante, trug eine eigene Pyjamahose und ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt. Sein linker Arm befand sich in einer klobigen, kompliziert aussehenden Schiene aus schwarzem Plastik mit Gelenken und Klettverschlüssen. Dann sah ich sein Gesicht. Mein Herz zog sich zusammen wie eine sich ballende Faust, und ich blieb stehen, statt zu ihm zu laufen und ihm um den Hals zu fallen. Er sah ungepflegt aus, war nicht rasiert, tiefe Ringe umgaben seine grünen Augen. Keine Spur von dem Megawatt-Lächeln, das ich so liebte.

Er lebte und saß direkt vor mir, aber seine Miene war starr.

Der Krieg hat ihm sein Lächeln genommen.

Einen langen Moment sah er mich an. In seinem Blick lag Verwirrung, fast Misstrauen. Als könnte er nicht wirklich glauben, was seine Sinne ihm sagten; als wäre das Krankenhauszimmer mit allem darin nur ein Traum.

»Connor?«

Er regte sich. Ein Funke entzündete sich in seinen Augen. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem winzigen Lächeln. Es war nicht viel, aber immerhin.

»Hey, Babe«, sagte er, die Stimme rau wie Wüstensand. »Komm her. Gott, bitte komm her …«

Er stand auf, und ich eilte zu ihm. Er legte den rechten Arm um mich, hielt mich, erdrückte mich fast. Ich legte mein Gesicht an seine Brust und atmete seinen Geruch ein, sog ihn in meine Lungen. Langsam strich ich über sein T-Shirt, spürte seinen breiten Rücken, die warme Haut, die kräftigen Muskeln. Erst ihn zu spüren überzeugte mein überfordertes Gehirn davon, dass er wirklich am Leben war.

»Babe«, sagte er sanft. Immer wieder, während ich keinen Ton herausbrachte. Ich konnte ihn nur berühren und denken: Du bist hier. Bei mir. Du bist zurück … »Lass mich dich ansehen«, sagte er dann.

Ich löste mich von ihm und nahm sein Gesicht in meine Hände. Seine Haut hatte die tiefe Bräune, die man bekommt, wenn man einen Sonnenbrand nach dem anderen hat. Nur um die Augen, wo die Sonnenbrille ihn geschützt hatte, war er blasser. »Geht es dir gut?«

Ein kurzes Zucken seines Kopfes, halb Nicken, halb irgendwas. »Mir geht es besser, als die denken. Ich hab Kopfschmerzen, und es gibt Lücken in meiner Erinnerung. Aber das ist normal, nachdem man in die Luft geflogen ist, oder?« Sein Ausdruck bekam etwas Flehentliches. »Die hören mir nicht zu. Sie sagen, ich kann nicht zurück.«

Ich nickte und schluckte schwer. »Ich weiß.«

Gott sei Dank.

Er ließ sich ein wenig gegen mich sinken. Ein langer Seufzer, dann richtete er sich ruckartig auf. »Hast du es bekommen?«

»Was?«

»Ich habe dir etwas geschickt. Ein Notizbuch.«

»Wirklich? Gott, Connor, nachdem ich ewig nichts von dir gehört hatte …«

»Hast du es jetzt bekommen oder nicht?«

Ich wich zurück. Sofort wurde sein Gesichtsausdruck wieder weich, er sah fast bedauernd aus. Ich hatte keine Erfahrung mit PTBS, sah aber deutlich, dass Connor seine wechselnden Gefühle nicht unter Kontrolle hatte. Sie hüpften herum wie die Kugel in einem Roulettekessel, und ich verlieh meiner Stimme eine ruhige Festigkeit, auf die er sich konzentrieren konnte.

»Nein, ich habe es nicht bekommen«, sagte ich. »Vielleicht ist es auf dem Weg aufgehalten worden oder verloren gegangen. Aber es macht nichts.« Ich legte die Arme um ihn. »Es macht nichts, Connor. Ich bin nur froh, dass du zurück bist …«

Connor versteifte sich in meinen Armen und schob mich sanft von sich weg. »Du hast kein Paket bekommen?«

»Nein, Connor. Habe ich nicht.«

Ich setzte mich auf die Kante seines Krankenhausbettes, während er langsam auf und ab ging und sich mit der Hand durchs Haar fuhr.

»Bist du sicher?«

»Ich bin sicher«, sagte ich sanft. »Wann hast du es abgeschickt?«

Er blieb stehen, griff sich mit zwei Fingern an die Nasenwurzel und verzog schmerzlich das Gesicht. »Gleich nach … nach der Explosion. Glaube ich. Ich … ich kann mich nicht erinnern. Scheiße. Es ist verloren vergangen. Ich habe es verloren, verdammt. Nichts kriege ich hin. Absolut gar nichts.«

»Hey«, sagte ich und stand auf. »Es ist okay. Komm her. Setz dich wieder hin. Es ist viel zu verarbeiten im Moment. Du bist noch dabei, das alles zu begreifen. Sei nicht so streng mit dir, okay?«

Er setzte sich, beugte sich vor, ließ den Kopf hängen. Ich rieb ihm den Rücken, und nach einem Moment sah er mich aus feuchten Augen an.

»Ich habe etwas Schlimmes getan«, sagte er heiser.

»Was …?«, fragte ich, dann schüttelte ich den Kopf. »Nein. Krieg ist … furchtbar. Du warst in einer schrecklichen Situation, und da passieren schreckliche Dinge. Du musst mir nichts erklären.«

»Nicht dort. Hier. Ich habe dir etwas angetan.«

Ich richtete mich auf. »Was meinst du damit?«

»Und Wes.« Sein breiter Rücken dehnte sich und fiel in sich zusammen wie ein Blasebalg, als er die Worte hervorpresste. »Ich habe sein Leben ruiniert. Wenn er überhaupt überlebt. Ich habe es ruiniert …«

Schluchzer entfuhren ihm, und er bedeckte das Gesicht mit seiner gesunden Hand. Ich versuchte, ihn zu umarmen, aber sein bebender Körper war so groß und mächtig. Es war, als wollte man einen auseinanderbrechenden Felsblock zusammenhalten.

»Es ist nicht deine Schuld, Connor«, sagte ich. »Es ist nicht deine Schuld. Er hat sich verpflichtet …«

»Nur meinetwegen«, sagte er und atmete stockend ein. »Er hat sich verpflichtet, weil ich es getan habe.« Er wischte sich die Tränen an seinem T-Shirt ab. »Ich muss hier raus.«

Er ging zur Tür und war schon zwei Schritte im Flur, ehe Krankenschwestern ihn wieder hineinbrachten. Mrs Drake und Ruby, beide mit Kaffeebechern in der Hand, kamen hinter ihnen herein.

»Ich muss hier raus, verdammt«, sagte Connor und ging im Zimmer auf und ab. »Zurück zu meiner Einheit. Sie brauchen mich. Und ich kann nicht hier sein, wenn Wes … wenn er …« Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf. »Scheiße, diese Kopfschmerzen.«

»Immer mit der Ruhe«, sagte eine der Schwestern und führte Connor zum Bett zurück. »Noch ein Tag Ruhe und ein paar mehr Untersuchungen. Es heißt, dass Sie morgen entlassen werden.«

Ich stand auf, als Connor sich wieder hinlegte und den gesunden Arm über seine Augen legte.

»Und Wes kommt morgen an«, sagte Mrs Drake. »Es wird gut sein, ihn zu sehen, oder?«

»Gut, ihn zu sehen?« Connors bitteres Lachen klang gedämpft unter seinem Ellbogen. »Lieber wäre ich woanders. Zurück in Syrien, verfluchte Scheiße.«

»Das meinst du nicht …«

Die Senatorin verstummte. Als hätte er einen Schalter umgelegt, war ihr Sohn eingeschlafen.

»Was war das gerade?«, fragte ich.

»Es ist eine Überlebensstrategie«, sagte die Krankenschwester. »Soldaten im Kampf können schnell einschlafen – jederzeit und überall. Lassen wir ihn ausruhen.« Die Schwester geleitete uns hinaus. »Dr. Mais will ohnehin mit Ihnen sprechen, Senatorin.«

Der behandelnde Arzt – ein kleiner dunkelhaariger Mann – traf uns im Wartebereich, und Mrs Drake ging sofort auf ihn los. »Sagen Sie mir die Wahrheit«, forderte sie. »Wie schlimm ist die Gehirnverletzung?«

»Die Gehirnerschütterung hat eine schwerwiegende Schwellung verursacht«, sagte Dr. Mais geduldig. »Während der Behandlung in Landstuhl ist sie so weit abgeklungen, dass man ihm die Erlaubnis erteilen konnte, nach Hause zu fliegen. Die Kopfschmerzen waren zu erwarten und werden mit der Zeit ebenfalls abklingen. Die Angst und die emotionale Labilität könnten eine Folge der Kopfverletzung sein, aber höchstwahrscheinlich ist der Grund dafür der posttraumatische Stress, wie wir besprochen haben.«

»Was ist mit den Blackouts? Ihm fehlen manchmal kurze Momente. Und gerade eben ist er innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Mir ist egal, ob es eine Überlebensstrategie ist. Er war einfach plötzlich weg.«

»Senatorin Drake«, sagte der Arzt. »Ich arbeite seit vierzig Jahren in diesem Krankenhaus, und Tausende Soldaten sind durch meine Hände gegangen. Ich erkenne eine PTBS, wenn ich sie sehe, und ich bin mir sicher, dass die neurologische Untersuchung das bestätigen wird.«

Mrs Drake biss sich unsicher auf die Lippe, und Dr. Mais legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Sehen Sie es so«, sagte er. »Der Arm Ihres Sohns wurde verwundet, und wir haben ihn in mehreren Operationen mit einem Titangelenk und einer Schiene versorgt. Es ist eine Kriegsverletzung. Sie müssen das emotionale Trauma ganz genauso sehen. Ergibt das Sinn für Sie?«

»Ja.« Sie nickte und richtete sich ein wenig auf. »Ja, das tut es. Ich bin nur so besorgt.«

»Natürlich sind Sie das.«

»Und mein Mann … Ich fürchte, er sieht ein emotionales Trauma nicht auf diese Weise.«

»Eine Posttraumatische Belastungsstörung verdient genau wie eine Schussverletzung versorgt und behandelt zu werden, und sie sollte ebenso wenig mit Vorurteilen oder Scham behaftet sein. Es ist wichtig, dass Ihr Mann das versteht.«

Mrs Drake nickte, und ich konnte zusehen, wie sie sich wieder in Senatorin Drake verwandelte. »Das wird er. Ich kümmere mich darum. Was auch immer Connor braucht, er wird es bekommen. Ich sorge für die beste Behandlung.«

»Da bin ich mir sicher.« Mit einem letzten Lächeln entschuldigte sich der Arzt.

»Ich muss mich hinlegen«, sagte Mrs Drake. »Ich habe Zimmer im Sheraton gegenüber reserviert. Sie beide checken einfach unter meinem Namen ein. Es ist für alles gesorgt.«

»Danke, Mrs Drake«, sagte ich.

»Ich gehe mit Ihnen rüber«, sagte Ruby, dann sah sie mich an. »Oder brauchst du mich?«

»Nein, geh nur«, sagte ich. »Ich bleibe noch ein wenig, mache ein paar Anrufe.«

Ich muss allein sein.

Ruby gab mir einen Kuss auf die Wange. »Bleib nicht zu lange. Du siehst fertig aus.«

Die Senatorin umarmte mich steif mit einem Arm. »Gute Nacht, Autumn.«

Ich musste nur einen einzigen Anruf tätigen, mich bei Edmond de Guiche melden, meinem Chef in der Bäckerei, in der ich seit vier Jahren arbeitete. Es war spät, lange nach Ladenschluss, und mein Anruf ging auf die Mailbox. Vor dem Piepton bekam ich eine von Edmonds Opernarien zu hören. Ich hinterließ ihm eine Nachricht, dass ich ein paar Tage später anfangen würde.

Ich wollte wieder zu Connor gehen, mich zu ihm aufs Bett legen und ihm sagen, dass es in Ordnung war, die Kontrolle zu verlieren. Ihm sagen, dass er alles richtig gemacht hatte, dass es nicht seine Schuld war – all das, was seine Eltern ihm eigentlich sagen müssten. Aber es fühlte sich nicht richtig an.

Ich habe etwas Schlimmes getan.

»Ich auch«, sagte ich.

Ich musste reinen Tisch machen und ihm erzählen, was zwischen mir und Weston passiert war. Keine Geheimnisse mehr zwischen uns dreien. Aber ich konnte mich nicht aufraffen, wieder in Connors Zimmer zu gehen. Stattdessen machte ich es mir auf dem Sofa im Wartebereich bequem und schlief ein.

Gefühlte Minuten später wurde ich sanft wachgerüttelt. Ich öffnete blinzelnd die Augen, und Tageslicht fiel durch die Fenster. Ruby stand über mir.

»Hey«, sagte sie und hockte sich hin. »Wes ist hier.«

3

Autumn

Die Weston zugeteilte Sozialarbeiterin war eine blonde junge Frau mit sanfter Stimme namens Ellen. Sie brachte die Drakes, Ruby und mich nach unten auf die Intensivstation. Connor folgte uns. Er sah aus wie ein Mann, den man zum elektrischen Stuhl führte.

»Wes bekommt ein Bett auf der Intensivstation«, sagte Ellen und führte uns in einen Wartebereich vor einer Doppeltür. »Die Ärzte sagen, er ist stabil, die Vitalzeichen sehen gut aus. Sie hoffen, ihn morgen aus dem Koma zu wecken.«

»Vielen Dank«, sagte Mrs Drake. Sie sah ihren Sohn an, der etwas abseits und vorgebeugt dasaß. Sein linker Arm ruhte auf dem Oberschenkel, seine rechte Hand bedeckte seine Augen. Mit seinem ganzen Verhalten schien er darum zu betteln, allein gelassen zu werden. Die gekrümmte Körperhaltung machte deutlich, dass er lieber woanders wäre.

Schuldgefühle hielten den Raum im Schwitzkasten, pressten langsam den Sauerstoff aus ihm heraus. Erstickten Connor. Mich. Mrs Drake, deren Mann sie in dieser Krise allein gelassen hatte. Es war ein Wunder, dass Ruby, die Einzige mit reinem Gewissen, noch atmen konnte.

»Und wieder soll ich warten. Mehr sagt man mir nicht. Antworten, die keine sind, und ›Bitte warten Sie‹. Ich habe die Warterei satt.«

Westons Mutter stürmte in den Wartebereich. Miranda Turner trug enge Jeans und ein lila-weißes Amherst-Sweatshirt. Kein Make-up, keinen Schmuck. Das blondierte Haar war zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Paul Winfield, der Mann, mit dem sie seit fast einem Jahr zusammen war, hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt.

»Miranda«, sagte Mrs Drake und stand auf.

Miranda brach in Tränen aus. »Oh, Victoria«, klagte sie und umarmte die Senatorin. »Was haben die mit meinem Jungen gemacht?«

»Ich weiß. Versuchen Sie, ruhig zu bleiben«, sagte Mrs Drake, die sie jetzt auf Armeslänge von sich hielt. »Wir müssen stark sein für Wes.«

Miranda entdeckte Connor und musste wieder weinen.

»Oh, mein Lieber.« Sie umarmte ihn, wobei sie auf seinen Arm achtete; dann nahm sie sein Gesicht in die Hände. »Sieh dich nur an. Was ist mit meinen Jungs passiert? Dein Lächeln ist verschwunden, mein Wes ist völlig zusammengeschossen, und die sagen mir gar nichts.«

Mit starrer Miene befreite Connor sich aus Mirandas Griff. Sie war zu sehr in ihrem Drama gefangen, um es zu bemerken, und ging in dem kleinen Raum auf und ab.

»Wir wollten doch ruhig bleiben, weißt du noch?«, sagte Paul. Er bot Connor die Hand. »Ich bin froh, dass Sie zurück sind, Soldat. Und danke für Ihren Dienst.«

Connor setzte sich ein wenig aufrechter hin. Stolz zeigte sich auf seinem Gesicht. »Danke«, sagte er schroff und schüttelte Paul die Hand. Es waren die ersten Worte, seit er sein Zimmer verlassen hatte, und ich liebte Paul ein bisschen in diesem Moment.

Ich ging zu Miranda. »Hallo Mrs Turner. Es tut mir so leid.«

»Oh, Schätzchen. Mir auch«, sagte sie und umarmte mich. »Hallo Ruby«, sagte sie über meine Schulter. »Was für eine Katastrophe! Mein armer Junge. Dreimal haben sie ihn schon in Deutschland operiert. Drei Mal. Und danach versetzen sie ihn in ein Koma?«

»Es ist zu seiner eigenen Sicherheit, Miranda«, sagte Paul. »Damit er stabil bleibt.«

»Und wo ist er jetzt? Was passiert jetzt?«

»Er bekommt ein Bett auf der Intensivstation«, sagte Mrs Drake. »Wir werden bald zu ihm können.«