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Auf den ersten Blick haben diese mysteriösen Verbrechen nichts miteinander zu tun: Ein Krimiautor wird beschuldigt, seinen Nachbarn mit einem Korkenzieher umgebracht zu haben. Doch er leugnet die Tat – und verdächtigt seine Romanfigur. Die Entführerin achtmonatiger Zwillinge tritt im Fernsehen auf: Sie fordert nicht etwa Lösegeld, sondern verfolgt einen viel größeren Plan. Viel früher, im Berlin des Jahres 1904, muss Kriminalassistent Ernst Gennat, Experte für neuartige Verhörtechniken und Stachelbeertorte, den rätselhaften «Franzosenrächer» schnappen, der erste Fall der späteren Polizeilegende. Viel später, im Jahr 2043, ermittelt Kommissar Stanislav Pils in einem Mord, der mittels genetisch veränderter Mücken begangen wurde – und muss sich eingestehen, dass Maschinen die liebenswerteren Menschen sind. Am Ende steht ein großes Geheimnis, das alles miteinander verbindet. Horst Evers, «ein wunderbarer Erzähler» (Süddeutsche Zeitung), hat mit «Der König von Berlin» einen herausragenden Krimibestseller geschrieben. Nun setzt er das Genre fort und erzählt ebenso lustige wie spannende Kriminalgeschichten – in denen er sich als Menschenkenner und Alltagsbeobachter zeigt und, wie nebenbei, Abgründen die skurrilsten Seiten entlockt.
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Seitenzahl: 326
Horst Evers
Kriminalgeschichten
Auf den ersten Blick haben diese mysteriösen Verbrechen nichts miteinander zu tun: Ein Krimiautor wird beschuldigt, seinen Nachbarn mit einem Korkenzieher umgebracht zu haben. Doch er leugnet die Tat – und verdächtigt seine Romanfigur. Die Entführerin achtmonatiger Zwillinge tritt im Fernsehen auf: Sie fordert nicht etwa ein Lösegeld, sondern verfolgt einen viel größeren Plan. Viel früher, im Berlin des Jahres 1904, muss Kriminalassistent Ernst Gennat, Experte für neuartige Verhörtechniken und Stachelbeertorte, den rätselhaften «Franzosenrächer» schnappen, der erste Fall der späteren Polizeilegende. Viel später, im Jahr 2043, ermittelt Kommissar Stanislav Pils in einem Mord, der mittels genetisch veränderter Mücken begangen wurde – und muss sich eingestehen, dass Maschinen die liebenswerteren Menschen sind. Am Ende steht ein großes Geheimnis, das alles miteinander verbindet.
Horst Evers erzählt ebenso lustige wie spannende Kriminalgeschichten – in denen er sich als Menschenkenner und Alltagsbeobachter zeigt.
Horst Evers, geboren 1967 im ländlichen Niedersachsen, studierte Germanistik und Publizistik in Berlin, jobbte als Taxifahrer und Eilzusteller bei der Post und gründete 1990 zusammen mit Freunden «Dr. Seltsams Frühschoppen», der bald zur erfolgreichsten Lesebühne der Stadt wurde. Horst Evers erhielt u.a. den Prix Pantheon, den Deutschen Kleinkunstpreis und 2021 den Deutschen Kabarettpreis. Jeden Sonntag ist er auf radioeins zu hören. Seine Geschichtenbände wie «Für Eile fehlt mir die Zeit» und Romane wie «Der König von Berlin» sind Bestseller, zuletzt erschien «Wer alles weiß, hat keine Ahnung». Horst Evers lebt mit seiner Familie in Berlin.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Frank Ortmann
Coverabbildung Bernd Pfarr © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01179-3
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
«Nicht die Taten machen einen Helden, sondern die Lieder, die man über ihn singt.»
Wilhelm Auspitzer
«Nur wenn ich die Augen schließe, kann ich alles sehen, was vor sich geht.»
«Bitte?»
Der groß gewachsene, für dieses Lokal unpassend gut gekleidete Herr schien verwirrt. Man hatte ihm die Treulose Tomate, jene berüchtigte Schankwirtschaft in Charlottenburg, aus höchst vertrauenswürdiger Quelle empfohlen. Nur hier könne er jemanden finden, der sich seines Anliegens auf verlässliche Art und Weise annehmen würde, hatte man ihm gesagt. Also hatte er sich unter Zuhilfenahme einigen Mutes in diese dunkle Kaschemme gewagt. Zwei Soleier mit einem drittelvollen Glas Überseerum bestellt. So, wie es ihm aufgetragen worden war, und im Anschluss den geheimen Erkennungssatz zu der kleinen dicken Frau mit den wilden schwarzen Haaren hinter dem Tresen gesagt. Doch stand diese nun mit geschlossenen Augen vor ihm und sprach in Rätseln. Er beschloss, es noch mal mit dem Schlüsselwort zu versuchen.
«Haben Sie gehört? Ich habe eine Nachricht für den Telegraphen.»
«Das sagten Sie bereits.» Sie öffnete die Augen. «Wenn Sie hier, in der Treulosen Tomate, den Überblick behalten wollen, mit all ihren Winkeln, versteckten Ecken und Separees, dann kommen Sie mit gucken nicht weit. Sie müssen den Raum als Ganzes erfühlen. Und das geht mit geschlossenen Augen besser.»
«Verstehe.» Er schaute sich in der Lokalität um. Tatsächlich wirkte sie wie aus der Zeit gefallen. Sie war beileibe keines dieser modernen Künstler- oder Pressecafés, wie sie nach wie vor, auch im mittlerweile vierten Frühling des noch jungen zwanzigsten Jahrhunderts, überall aus dem Boden zu schießen schienen. Die Treulose Tomate kam daher wie eine Hafenspelunke. Mitten in der Großstadt, fernab jeder Küste. Schon am späten Mittag saßen hier Männer, denen man sofort jede Untat zutrauen würde. Neben ihnen sogar auch Frauen. Am helllichten Tage in düsteres Licht gehüllt. Häufig ohne Begleitung, rauchend, trinkend und ungeniert laut redend, als wäre dies das Normalste der Welt. Ein beängstigender, ganz und gar toller Ort. Wie ein Portal zu einer anderen Dimension, direkt im Herzen des lieben Vaterlands. Ähnlich eines dunklen Flecks, welchen es auch im Herzen von manch treuem und bravem Mann geben mochte. Davon hatte man ja schon gehört.
«Aber dürfte ich denn nun dem Telegraphen meine Nachricht überbringen?»
«Der Telegraph ist ein viel beschäftigter Mann. Sie müssen erst Ihre Bestellung verzehrt haben, bevor ich Sie zu ihm lassen darf.»
«Meine Bestellung?»
«Zwei Soleier und ein Drittel Glas Überseerum.» Sie stellte ein leeres Bierglas auf den Tresen. Das fasste wohl rund einen halben Liter.
«Darin servieren Sie Ihren Rum?»
«Darin servieren wir alles.» Sie sprach das Wort servieren in einem affektierten Ton aus. Als ob es nicht in ihren Mund passen würde und sie es geradezu in den Satz reinzwingen musste. «Sie müssen alles ratzeputz verzehrt haben. Erst dann darf ich Sie beim Telegraphen reüssieren lassen.»
«Hören Sie, ich wollte hier eigentlich gar nichts trinken oder gar essen.»
«Ich weiß. Das ist ja auch der Grund, weshalb Sie es müssen. Weil Sie es nicht wollen. Dazu kommt, dass unsere Soleier nun wahrlich nicht gerade die besten der Stadt sind. Im Gegenteil, möchte ich sagen. Die meisten unserer Gäste finden sie widerlich. Und schauen Sie sich unser Publikum an. Damit es denen vor etwas graust, muss man sich schon sehr bemühen. Doch mit dieser kleinen Geste zeigen Sie uns, dass Sie es wirklich ernst meinen. Wir Ihnen vertrauen können und Sie unseren Zeitaufwand wert, also würdig sind. Wie gesagt, der Telegraph ist ein sehr viel beschäftigter Mann.»
Sie schenkte ihm großzügig den Rum ein, fischte zwei Soleier aus dem Behälter mit der trüben Flüssigkeit, legte diese auf einen höchstens oberflächlich gereinigten Teller, schob ihn herüber und verschwand dann in dem Raum hinter dem Ausschank.
Der Freiherr zu Dolmen betrachtete nachdenklich sein Mahl. In zahllosen Kriegen hatten seine Vorväter dem Kaiser und dem Reich bereits gedient. Höchste Hingabe und Tapferkeit zeichnete alle zu Dolmens aus. Kein Feind, keine Übermacht, vor der sie je zurückgewichen wären. Um einen zu Dolmen das Fürchten zu lehren, ihn gar in die Flucht zu schlagen, wären schon ganz andere Gegner vonnöten als zwei beunruhigend riechende Soleier und ein Drittelliter Rum.
Es war ein harter, ein erbarmungsloser Kampf. Doch am Ende hatte der Freiherr über die Eier triumphiert. Zufrieden betrachtete er den leeren Teller und das trockene Glas. Wenngleich er noch mit leichten Magenwinden zu kämpfen hatte, fühlte er doch einen unschuldigen Stolz auf seine aufopfernde Tat.
Ein junger Mann kam aus dem Hinterzimmer zu ihm.
«So, der Telegraph wäre nun bereit, Sie zu empfangen.»
«Ah, vielen Dank, sehr erfreulich.» So beiläufig wie möglich wies der Freiherr auf den leeren Teller und das bezwungene Rumglas. Der fröhliche blonde Bursche staunte.
«Haben Sie das etwa gegessen?»
«Ja, natürlich. Ratzeputz. Um mich als würdig zu erweisen.»
«Um Gottes willen. Diese Eier sind doch vollkommen ungenießbar. Die isst sonst nie einer. Diese Bestellung ist nur ein Code, guter Mann. Na, Sie sind mir ja mal ein Kauz. Aber gut. Jeder, wie er es mag. Wir hier in der Treulosen Tomate richten über niemanden.»
Er wies den Freiherrn an, ihm zu folgen, und führte ihn dann durch das Hinterzimmer, worin sich tatsächlich eine Küche befand, in ein zweites Hinterzimmer, welches sich als vergleichsweise gehobenes Lokal herausstellte, durch einen Flur, von dem mindestens zehn Türen abgingen, aus denen er die hinterste wählte, die sie in eine Art Klub oder Salon führte, an den sich eine weitere Küche mit Zapfhahn anschloss, über die sie schließlich in eine zweite Schankwirtschaft gelangten. Mit dem Namen Die Faule Pflaume. Dies konnte der Freiherr nun von außen lesen, da sie, nachdem sie auch das zweite düstere Lokal durchquert hatten, auf den Bürgersteig hinaustraten.
Sie waren einmal durch den gesamten Block gegangen. Zwischen Schulstraße und Grünstraße. Von dort führte der Junge ihn noch sechs Häuser weiter, zum vierten Aufgang eines Wohnhauses, wo er den Freiherrn bis zu einer offen stehenden Wohnungstür im dritten Stock brachte.
«Treten Sie nur ein, keine Scheu», forderte er zu Dolmen auf und verabschiedete sich.
Die Wohnung bestand aus nur einem einzigen Zimmer, es gab weder Küche noch Bad. Aber ein Fenster und einen Ofen, auf dem man gewiss auch das eine oder andere zubereiten konnte. Zudem gab es eine Liege, einen Tisch, zwei Stühle – und die kleine, dicke, schwarzhaarige Frau, die mit einer dampfenden Kanne Tee und zwei Bechern auf ihn zu warten schien.
Der Freiherr war längst viel zu sehr außer Fassung, um noch irgendeine Form wahren zu können.
«Was denn jetzt? Sie sind der Telegraph?»
«Sehe ich aus wie der Telegraph?»
«Ich weiß nicht, wie der Telegraph aussieht.»
«Auch wieder richtig. Nein, ich bin nicht der Telegraph. Der hatte dann doch keine Zeit mehr. Er hat mich aber mit allen Vollmachten ausgestattet.»
«War der Telegraph heute jemals in der Nähe?»
«Ist das wichtig?»
«Warum haben Sie mich gezwungen, diese Eier zu essen? Was für ein kranker Scherz ist denn das?»
«Ich gebe zu, ich fand es auch amüsant. Aber das war nicht allein der Grund. Ich habe nicht oft mit Freiherren zu tun. Ich wollte sehen, ob Sie sich zu schade sind. Dass Sie diese Eier gegessen haben, macht Sie sympathisch. Sie mögen zwar ein feiner Pinkel sein, aber Sie haben einen gewissen Anstand in sich, mit dem Sie auch in anderen Kreisen bestehen können. Davor hat der Telegraph Respekt.»
«Dann wird er sich meines Anliegens annehmen?»
«Wenn wir uns einig werden. Was ist Ihr Wunsch?»
«Durch nicht näher zu benennende Umstände ist meine Familie in den Besitz einiger Kunstwerke von erheblichem Wert gekommen. Nun allerdings könnten mir daraus größere Probleme erwachsen. Daher müsste so bald als möglich die zweifelhafte Herkunft dieser Stücke in eine ganz und gar legale umgewandelt werden.»
«Was sind das für Kunstwerke?»
«Bilder und Skulpturen vor allem.»
«Vor allem?»
«Es gibt auch ein paar antike Waffen und Schmuck, aber das hat keine Dringlichkeit. Eines der Bilder ist ein Original-Caravaggio. Dazu ein Rembrandt, ein Bosch und mehrere Gemälde von Tischbein dem Älteren.»
«Wie viele Bilder insgesamt?»
«Vierzehn und fünf Skulpturen.»
«Gut. Alles in allem klingt es nach einem sehr komplizierten und aufwendigen Auftrag.»
«Können Sie ihn durchführen?»
«Womöglich, aber der Preis wird erheblich sein.»
«Erfreulicherweise verfüge ich über ausreichende Mittel.»
«Ich spreche nicht von Geld. Also natürlich werden Sie auch eine exorbitante Summe aufbringen müssen. Solch ein Auftrag erfordert sehr viele Experten mit sehr besonderen Talenten. Deren Aufwandsentschädigungen werden sich gewiss zu einem mittelgroßen Vermögen summieren. Das ist aber nicht der eigentliche Preis, den Sie zu zahlen haben …»
Drrrrrrrrrrrrrrinnnnggggggg!!!
«Was meinen Sie?»
«Der Telegraph arbeitet nicht für Geld. Er ist auch kein Krimineller, falls Sie das dachten. Er ist mehr ein Vermittler. Er bringt verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Problemen zusammen.»
«Ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte.»
«Sie werden keine Wahl haben. Der Telegraph sucht Menschen, die die Talente und die Möglichkeit haben, Ihre Probleme zu lösen. Doch diese Menschen werden wiederum eigene Probleme haben, die von anderen Personen gelöst werden könnten, und irgendwann kommen wir dann in dieser Reihe zu Klienten, deren Probleme Sie, Herr Freiherr zu Dolmen, ganz hervorragend lösen können. Das wird der eigentliche Preis sein …»
Drrrrrrrrrrrrrrinnnnggggggg!!!
Die Wohnungsklingel riss Bastian aus seinem Schreibfluss. Das erste Läuten hatte er noch einigermaßen ignorieren können. Doch nun war seine mentale Firewall durchbrochen. Er war raus. Definitiv. Dann konnte er jetzt auch genauso gut zur Tür gehen. Er hatte allerdings keine Lust dazu. Warum auch?
Drrrrrrrrrrrrrrinnnnggggggg!!!
Meine Güte, wie hartnäckig. Er würde einfach warten. Sitzen bleiben. Nichts machen und warten, bis die Störung vorbei war.
Drrrrrrrrrrrrrrinnnnggggggg!!!
Das konnte doch wohl nicht wahr sein.
Drrrrrrrrrrrrrrinnnnggggggg!!!
Nun klopfte es auch noch.
«Hallo?» Eine Frauenstimme. Ziemlich jung. «Sebastian? Bist du da? Ich bin Mascha. Von nebenan.»
Das war seltsam. Nebenan wohnte keine Mascha. Andererseits klang die Stimme gut. Also im Sinne von interessant. Nun denn, dachte Sebastian, warum nicht?
Na, das hat sich aber gelohnt, rauschte es ihm unzensiert durch den Kopf, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Ein Gedanke, für den er sich sofort schämte. Eine junge Frau mit lockigen roten Haaren und funkelnden grünen Augen blickte ihn an. Selbst die graue Jogginghose und der weinrote, ärmellose Hoodie wirkten an ihr gut geschnitten. Man sah an der schnurgeraden, völlig geerdeten Haltung, wie ausgeprägt ihr Körpergefühl sein musste. Und wie athletisch dieser Körper vermutlich war. Ob es wohl mittlerweile Menschen gibt, die sich auch Trainingshosen oder Kapuzenpullis maßschneidern lassen?, überlegte Sebastian. So stinkreiche Rapper vielleicht, die ihrem Stil treu bleiben wollen und trotzdem möchten, dass jeder sieht, wie viel Kohle sie haben. Eine Rapperin könnte sie schon sein, dachte er sinnlos weiter. Genauso wie alles andere auch.
Als sie zur Begrüßung kurz die FFP-2-Maske zur Seite schob, bemerkte er einen kleinen Brillanten in ihrer Nase. Der formvollendet schönen Nase.
«Hi, ich bin Mascha. Keine Angst, ich habe heute Morgen einen Test gemacht. Wenn du willst, kann ich dir den negativen Bescheid zeigen.»
«Nee, is okay. Ich hatte es schon.»
«Echt? Oh, super. Obwohl … entschuldige. War es heftig?»
«Nee, gar nicht. Total milder Verlauf. Ohne den positiven Test hätte ich wahrscheinlich nichts gemerkt.»
Mascha nahm die Maske nun ganz ab. Unzählige Sommersprossen tanzten durch ihre gut gelaunten Grübchen.
«Wie schick. Wieso haste denn den Test gemacht?»
«War so ’n Routinetest. Wegen Dreharbeiten.»
«Dreharbeiten. Wie cool.»
«Na ja. Halb cool. Ich jobbe bei einem Caterer. Wir versorgen auch Filmteams.»
«Dann hast du schon so richtig berühmten Leuten ein Butterbrot geschmiert?»
«Ja, schon. Sozusagen.»
«Ey, wie geil. Wer war denn der oder die Berühmteste, dem du je die Stulle gebuttert hast?»
«Ich weiß nicht, ob man das so ausdrücken sollte.»
«Klar. Ich wollte nur nicht langweilig sein. Es sollte witzig klingen.»
«Hat es auch.»
«Okay, ich bin ein bisschen aufgeregt. Paul meinte, ich sollte mich einfach an dich wenden, wenn ich irgendwelche Fragen habe oder so.»
«Paul?»
«Paul. Dein Nachbar. Ich wohne für zwei Wochen in seiner Wohnung. Hat er dir nichts gesagt?»
«Nein.»
«Wollte er eigentlich.»
«So richtig gut kennen wir uns genau genommen gar nicht.»
«Paul meinte, ihr wärt befreundet.»
«Na ja, befreundet …»
Verlegen kratzte Sebastian sich am Hinterkopf. Irgendwie fühlte er sich auch geschmeichelt, dass Paul ihn als Freund ansah. Obwohl sie doch gar nicht so viel miteinander zu tun hatten. Wobei sein Nachbar schon okay war. Völlig. Kein Ding. Bisschen crazy mit seinem Wissenschaftsding. Tat oft geheimnisvoll. Aber sonst, alles in Ordnung. Also wenn Mascha ihm nun die Freundschaft mit Paul anbot, konnte er sie eigentlich ruhig annehmen.
«Ja, gut. Kann man wahrscheinlich schon so sehen. Ich hab da irgendwie noch nie wirklich drüber nachgedacht. Ist ja auch nicht so, dass man eine Freundschaft irgendwo offiziell eintragen lassen muss. Auf dem Amt oder so. Wahrscheinlich entstehen Freundschaften in der Regel genau so.»
«Wie?»
«Na, indem man jemandem Dritten gegenüber sagt: Das ist mein Freund.»
«Paul meinte schon, du wärst ein komischer Kauz, aber dafür oft witzig und im Großen und Ganzen total okay.»
«Das hat Paul über mich gesagt?»
«Ja.»
«Komischer Kauz?»
«Wörtlich so.»
«Da kann man mal sehen, wie schnell Freundschaften auch wieder enden können.»
«Was?»
«Ich degradiere Paul hiermit auf den Status eines gemeinsamen Bekannten. Also für unsere Kommunikation.»
«Verstehe. Paul meinte jedenfalls, ich könnte mich ohne Weiteres an dich wenden, falls ich irgendetwas brauche.»
«Das meinte dieser Paul?»
«Hat er so gesagt.»
«Wenn du was genau brauchst?»
«Na, irgendwas. Weil ich doch ganz neu in Berlin bin. Einen Rat, ’nen Stadtplan, einen Dosenöffner, etwas Milch, Sex. Was man eben so braucht.»
«Sex?»
«Ja, Paul meinte, du wärst wahnsinnig gut im Bett. So wäre es ihm zumindest von mehreren Seiten zugetragen worden. Er könne dich mir nur wärmstens empfehlen.»
«Ach so. Ja, gut. Der Paul muss das ja wissen. Immerhin ist er ja mein allerbester und liebster Freund. Wie ich gerade erfahre. Er kennt mich quasi besser, als ich mich selbst kenne.»
Mascha lachte. Bastian lachte mit, wusste aber nicht wirklich, warum. Trotzdem fühlte es sich gut an, zusammen zu lachen.
«Nee, im Ernst.» Mascha ließ ihre Stimme leichtfüßig durch die gemeinsame Fröhlichkeit tänzeln. «Ich wollte dich fragen, ob du Hunger hast.»
«Wieso?»
«Ich mache Nudeln. Mit einer genialen veganen Sauce bolognese, die ich in der Markthalle entdeckt habe. Das reicht für zwei. Und vielleicht kannst du mir ja beim Essen ein bisschen was über die Stadt und die Ecke hier erzählen. Fände ich cool.»
«Fänd ich auch cool.»
«In einer Viertelstunde. Und es wäre gut, wenn du einen Korkenzieher mitbringen würdest. Und den Wein.»
Nachdem die Tür geschlossen war, begann es in Bastians Kopf zu rattern: Reicht eine Viertelstunde zum Duschen? Habe ich noch Wein im Haus? Sollte ich mich umziehen? Wie würde das wirken? Wie lange würde es dauern, zum Weinladen zwei Häuser weiter zu laufen? Wäre es sinnvoll, nach dem Duschen wieder die gleichen Sachen anzuziehen? Damit sie nicht «wer weiß was» denkt? Was wäre «wer weiß was»? Ist da nicht noch jede Menge von dem Wein, den mir der Pizzaservice ständig schenkt? Kann man das bringen, den mitzubringen? Wie spät ist es jetzt? Jetzt nach dem Duschen habe ich irgendwie das Gefühl, dass die Sachen, die ich vorher anhatte, riechen. Vorher haben die nicht gerochen. Seltsam. Ich habe ja sogar drei Flaschen vom Pizzaservice. Wie schnell sich so was ansammelt. Ich hätte mir eine Unterhose anziehen sollen, bevor ich nach dem Wein gucke. Die schlecht gelaunte Frau vom Balkon des Hauses gegenüber guckt ziemlich komisch. Ich ziehe jetzt einfach frische Sachen an. Ist doch keine Schande, sich zu waschen. Ich hätte eine Unterhose anziehen sollen, bevor ich die Jeans anziehe. Zumindest bevor ich den Reißverschluss zumache. Hat man die Schreie nebenan gehört? Egal, ich hab schon Verspätung. Unterhose, Jeans, Hemd. Korkenzieher. Wein. Geht doch. Und los.
Mit nassen Haaren öffnete Mascha die Tür. Sie hatte sich auch umgezogen. Nun war es eine weinrote Jogginghose und ein weißer Kapuzenpulli. Langärmlig. Dafür war sie barfuß.
«Sorry. Ich war so verschwitzt, da dachte ich, ich nutze die Zeit, wo die Nudeln kochen, für eine ganz schnelle Dusche. Auch wenn das vielleicht weird wirkt. Aber ich dachte, wenn ich die alten Sachen wieder anziehe, merkst du wahrscheinlich gar nicht, dass ich geduscht habe, und machst dir auch keine komischen Gedanken, aber dann hatte ich nach dem Duschen das Gefühl, dass die alten Sachen jetzt irgendwie riechen, und fand schließlich: Ist doch egal. Ich meine, es ist ja nun auch keine Schande, sich mal zu waschen, bevor man einen Gast zum Essen hat.»
Sebastian hatte etwas Mühe, ihren schwungvollen Redefluss zu verarbeiten. Dennoch gelang ihm ein vergleichsweise souveränes «Schon okay».
«Du hast dich auch umgezogen.»
«Ja, ich hab auch geduscht. Aber das musste ich sowieso dringend, und ich hatte ja noch die Viertelstunde zu überbrücken, also das war jetzt nicht …»
«Natürlich nicht. Lustig.»
«Was ist lustig?»
«Der Wein. Das ist ganz genau die Sorte, die uns in Dresden immer unsere Lieblingspizzeria bei großen Lieferbestellungen geschenkt hat.»
«Eure Lieblingspizzeria?»
«Ja, bei denen war echt immer alles super. Außer dem Wein.»
«Du bist aus Dresden?»
«Nein, wir sind da nur häufig hingereist, wenn wir Pizza bestellen wollten.»
«Verstehe.»
«Sorry. Wenn ich unsicher bin, mache ich gerne schlechte Witze.»
«Die helfen gegen Unsicherheit?»
«Sie lenken davon ab. Außerdem bin ich aber auch sehr gut im Schlechte-Witze-Machen. Das kann ich ohne große Anstrengung. So lange ich will. Und das soll man ja, wenn man unsicher ist. Sich erst mal ganz auf das konzentrieren, was man richtig gut kann.»
«Ich kann gut unsicher sein.»
«Cool.»
«Tut mir leid wegen des Weins.»
«Muss es echt nicht. Der hilft mir gegen Heimweh.»
«Er gibt dir ein Gefühl von Zuhause?»
«Das werden erst die Kopfschmerzen tun, die er mir machen wird.»
«Ich mag deinen Humor.»
«War kein Witz. Ich finde echt, dass Heimat auch eine vertraute Form von Kopfschmerz sein kann.»
«Das ist ziemlich tiefsinnig.»
«Wenn du Dinge, die ich sage, für tiefsinnig hältst, sagt mir das nur, dass du sie nicht verstanden hast.»
«Das finde ich noch tiefsinniger.»
«Wir reden aneinander vorbei.»
«Du sächselst gar nicht.»
«Und du sagst ‹des Weins›.»
«Ich sage was?»
«Des Weins. Du bist einer von diesen Genitivverstehern.»
«Törnt dich das ab?»
«Nicht so sehr, wie jemand, der ‹abtörnen› sagt.»
«Kann ich trotzdem reinkommen?»
«Ich dachte, du fragst nie.»
«Offen gestanden, hatte ich zwischenzeitlich vergessen, dass ich immer noch vor der Tür stehe.»
«Passiert dir das öfter?»
«Tatsächlich ja. Kürzlich musste ich in die Innenstadt, weil ich von dort unbedingt etwas brauchte. Da angekommen, hatte ich aber plötzlich vollkommen vergessen, was es war. Also habe ich mich beinahe vier Stunden in der City rumgetrieben und versucht zu erinnern, warum ich da war. Dann habe ich aus Verzweiflung Druckerpatronen gekauft und rede mir seitdem ein, ich wäre deshalb los.»
«Aber tief in deinem Innern weißt du, dass das nicht der Grund deiner Reise war?»
«Die Druckerpatronen habe ich nur gekauft, um nicht für verrückt gehalten zu werden.»
«Von wem?»
«Von mir. Um nicht von mir selbst für verrückt gehalten zu werden. Meine Meinung über mich ist mir sehr wichtig.»
«Kommst du mit dieser Masche normalerweise gut bei Frauen an?»
«Meistens schon.»
«Okay. Bei mir nicht.»
«Ich …»
«Das war ein Witz. Meine Güte, ich hab doch gesagt, ich mache schlechte Witze.»
«Ich weiß. Und trotzdem hatte ich plötzlich diese furchtbare Angst, ich könnte für nichts und wieder nichts geduscht haben.»
Mascha lachte. «Komm jetzt rein.»
In der Küche roch es bereits richtig gut nach der Soße.
«In fünf Sekunden», grinste sie, «werden wir nur noch nach dieser Küche stinken. Hast du an den Korkenzieher gedacht?»
«Klar.»
Bastian griff nach der Flasche, um sie zu öffnen. Es war ein Schraubverschluss. Er schenkte sich einen kleinen Schluck ein, nippte daran und verzog dann direkt das Gesicht.
«So schlimm?»
«Ich sag mal, du wirst im Heimatgefühl schwelgen.»
«Aber zum Dummwerden reicht’s?»
«Das sollte klappen. Sonst hätte ich aber auch noch zwei weitere Flaschen davon.»
«Wir wollen es uns ja auch nicht zu einfach machen.»
«Auf gar keinen Fall.»
Sie setzten sich und begannen zu essen. Bastian hatte das Gefühl, vor Aufregung praktisch nichts schmecken zu können.
«Und? Wer war denn jetzt der Berühmteste?»
«Was?»
«Der oder die Berühmteste, der du je die Stulle gebuttert hast?»
«Diese Formulierung ist echt …»
«Lenk nicht ab.»
«Wahrscheinlich Tom Hanks.»
«Wahrscheinlich im Sinne von: Wahrscheinlich war es Tom Hanks, oder Tom Hanks war wahrscheinlich der Berühmteste.»
«Nee, nee, ganz sicher Tom Hanks.»
«Wer ist das?»
«Du kennst Tom Hanks nicht?»
«War vermutlich vor meiner Zeit.»
«Wie war? Der ist noch.»
«Wo hat er denn mitgespielt?»
«‹Forrest Gump›.»
«Oh ja, kenn ich. Der soll toll sein. Hast du ihn gesehen?»
«Klar. Ist Filmgeschichte.»
«Worum geht es da?»
«Na ja, Tom Hanks spielt Forrest Gump, und der ist bei ganz vielen historischen Ereignissen dabei und löst die teilweise auch aus.»
«Das ist alles?»
Bastian versuchte verzweifelt, sich an weitere Einzelheiten zu erinnern. Mascha hatte derweil mit ihrem Smartphone gegoogelt.
«Ist das das, wo er sagt: ‹Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen›? Auf dieser Parkbank?»
«Ja, genau.»
«Geil, das kenn ich als Meme. Ist voll berühmt.»
«Ja, genau. Und dem Darsteller von diesem berühmten Meme habe ich mal die Stulle gebuttert.»
Das war ihm jetzt deutlich genervter rausgerutscht, als er beabsichtigt hatte.
«Ich kenne Tom Hanks.»
«Was?»
«Ich weiß natürlich, wer Tom Hanks ist. ‹Private Ryan›, ‹Green Mile›, ‹Cast Away›, hab ich alles gesehen.»
«Und was sollte das dann?»
«Ich wollte nur mal gucken, wie du reagierst, wenn ich mich als oberflächliche Tussi rausstelle.»
«Das war ein Test?»
«Quasi.»
«Und habe ich bestanden?»
«Du warst genervt. Das ist schon mal gut, damit weiß ich, dass dir außer meinem Körper nicht alles andere egal ist.»
«Die Pasta ist übrigens auch nicht besonders gut.»
«Was?»
«Na ja, ich wollte dir nur sagen, dass die Pasta leicht verkocht und die Soße unterwürzt daherkommt. Falls das auch ein Test ist.»
«Das war kein Test.»
«Oh. Dann war das jetzt blöd von mir?»
«Ja. Aber ich mag blöde Männer manchmal ganz gern.»
«Wieso das denn?»
«Weil ich nicht mein ganzes Leben nur mit Frauen verbringen möchte. Außerdem hast du ja recht.»
«Ich finde dich echt ziemlich toll.»
«Das war jetzt etwas zu forsch.»
«Tut mir leid.»
«Muss es nicht. Es kommt einfach nur rund eine Stunde zu früh.»
«Soll ich das dann gegen 20.30 Uhr noch mal sagen?»
«Das wäre mir sehr recht.»
«Und bis dahin?»
«Erzählst du mir, was du eigentlich machst.»
«Ich schreibe.»
«Was schreibst du?»
«Geschichten. Romane. Dies und das.»
«Kenne ich was davon?»
«Sicher nicht.»
«Weil noch nie etwas veröffentlicht wurde?»
«Nein. Nein. Ich habe sogar schon ziemlich viel veröffentlicht. Aber ich habe nicht viele Leser, und die meisten davon kenne ich persönlich.»
«Und was hast du in letzter Zeit so geschrieben?»
«Einen historischen Kriminalroman. Spielt 1904 in Berlin. Hauptfigur ist der noch ganz junge Ernst Gennat, eine reale Berliner Polizeilegende. Der hat zu dem Zeitpunkt aber gerade erst als Kriminalassistent bei der Berliner Polizei angefangen.»
«Muss man den kennen?»
«Er ist praktisch der Erfinder der modernen Beweismittelaufnahme und Spurensicherung. Alles, was du heute im Tatort oder bei CSI Miami siehst, basiert irgendwie auf seiner Pionierarbeit. In seinem ersten Fall muss er einen Serienmörder schnappen, der mit einem legendären antiken französischen Militärdegen preußische Veteranen aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 ermordet.»
«Verstehe. Und was passiert dann?»
«Der Mörder fotografiert seine Opfer und lässt die Bilder in der gerade erst gegründeten ersten echten Boulevardzeitung der Welt veröffentlichen.»
«Klingt interessant.»
«Na ja, der erste Teil hat sich so gut wie gar nicht verkauft. Obwohl es im Netz durchaus eine Fangemeinde zu geben scheint. Deshalb schreibe ich nun auch einen zweiten Teil, mit einer geheimnisvollen neuen Figur. Dem Telegraphen.»
«Ein Superbösewicht?»
«Das lässt sich nicht so genau sagen. Der Telegraph ist ein Phantom. Niemand weiß, wer sich hinter diesem Namen verbirgt und was seine Absichten sind. Im zweiten Band tritt er nie persönlich in Erscheinung, sondern kommuniziert nur über eine nicht minder geheimnisvolle Frau.»
«Wie heißt die? Ultrakurzwelle?»
Bastian stutzte kurz. Dann begriff er den Scherz und beschloss, den Einsatz zu erhöhen.
«Haha, sehr lustig. Nein, also das ist jetzt fast ein bisschen unheimlich. Aber die heißt tatsächlich Mascha.»
Mascha riss die Augen auf. «Wie jetzt, echt?»
«Jetzt echt.»
«Nee, komm, das sagst du doch nur so. Um mich hier zu beeindrucken, oder?»
«Doch. Wirklich. Wenn du willst, kannst du nebenan in mein Manuskript gucken. Aber das ist noch nicht mal alles. Sie sieht auch noch fast genauso aus wie du. Inklusive der roten Lockenpracht und der Sommersprossen.»
«Nicht im Ernst!»
«Doch. Ich schwöre. Deshalb war ich, ehrlich gesagt, anfangs auch so ein bisschen komisch.»
«Warst du? Ich dachte, ich wäre komisch gewesen.»
«Nee, gar nicht. Ich fand dich von Anfang an ziemlich toll.»
«Ja.»
«Wie ja?»
«Ja, jetzt war der richtige Zeitpunkt.»
Sie hob ihr Glas. «Auf ex!»
Die beiden stießen an, und er stürzte den gesamten Inhalt in einem Zug herunter. Als das getan war, stellte er fest, dass sie nur genippt hatte.
«Hupps. Das war ein Scherz mit dem auf ex.»
«Ach so. ’tschuldigung. Mein Fehler. Lass noch mal versuchen.»
Er schenkte sich nach, sie stießen an, diesmal rief er: «Auf ex!»
Woraufhin nur sie das ganze Glas mit einem Schluck leerte.
«Oh verdammt. Nun habe ich es verbockt. Lass noch mal probieren.»
Beim dritten Versuch tranken beide ihr gesamtes Glas in einem Zug aus. Kurz darauf holte Bastian die zweite Flasche.
Gennat konnte einfach nicht aufhören, die Bedienung der Treulosen Tomate anzustarren. Noch nie hatte er einen Menschen mit so vielen rotgelockten Haaren gesehen. Also keine Perücke, sondern eine richtige rote Mähne.
«Also wenn Sie mich noch länger so angaffen, kostet dit aber langsam mal extra.»
Ihm war gar nicht aufgefallen, dass sie wohl schon seit geraumer Zeit zurückschaute. Nicht mal, wie dicht die mittelgroße, ausgesprochen schlanke und athletische junge Frau plötzlich vor ihm stand. «Der fesche Herr Kommissar hat sich doch wohl nicht am Ende ein wenig in mich verguckt?»
Gennat spürte, wie seine Wangen zu brennen begannen. Wahrscheinlich waren sie deutlich sichtbar rot.
«Genau genommen bin ich nur Kriminalassistent. Kein Kommissar, also noch nicht. Woher wissen Sie, dass ich von der Polizei bin?»
«Ick hab Ihr Bild inner Zeitung jesehen. Sie sind ’ne Berühmtheit.»
«Sie lesen Zeitung?»
«Ick schau mir nur die Bilder an. Was darf’s denn sein, Herr Kommissar?»
«Ich bin nur …»
«Sie können hier allet sein, wat Se wollen. Also?»
«Haben Sie Stachelbeertorte?»
«Da ick nich ins Jefängnis möchte, werde ick Ihnen hier sicher nichts von unseren Speisen servieren. Aber wir haben einen wirklich guten Überseerum.»
«Nicht um die Uhrzeit. Wie ist Ihr Kaffee?»
«Freundlich, solange man ihn nicht anrührt. Ick spendier Sie ein Bier.»
«Das darf ich nicht annehmen.»
«Ihre Ermittlungen erfordern es.»
«Tun sie das?»
«Ja, ick werde Ihnen sonst keene Fragen beantworten.»
«Wie kommen Sie darauf, dass ich Fragen an Sie habe?»
«Weil Sie der klügste Polizist Berlins sind.»
«Glauben Sie, dass Sie mit diesen Schmeicheleien Erfolg bei mir haben werden?»
«So wie Sie mich vorhin anjekiekt haben, hatte ick ooch schon ohne diese Schmeicheleien Erfolg bei Ihnen.»
«Sie sind ganz schön frech.»
«Entschuldigung, ich mache immer, wenn ich unsicher bin, schlechte Witze.»
«Die helfen gegen Unsicherheit?»
«Sie lenken davon ab. Ick bin sehr jut im Schlechte-Witze-Machen. Dit kann ich ohne jroße Anstrengung. So lange ick will. Und dit soll man ja, wenn man unsicher ist. Sich erst mal ganz auf dit konzentrieren, wat man richtig jut kann.»
«Das ist recht tiefsinnig.»
«Wenn Sie Dinge, die ick sage, für tiefsinnig halten, schließe ick daraus, dass Sie sie nicht verstanden haben.»
«Das erscheint mir noch tiefsinniger.»
Drrrrrrrrrrrrrrinnnnggggggg!!!
Bastian versuchte die Spur zu halten. Bei seiner Geschichte zu bleiben.
«Wir zwee beede reden aneinander vorbei.»
«So wie Sie berlinern, sind Sie wohl nicht aus Berlin.»
«Ertappt. Nu, gebürtisch bin isch eischentlisch aus Dräsdn.»
«Ihr Sächseln hört man, wenn’s keine Absicht ist, aber gar nicht.»
«Oh, ick versichere Sie, wenn’s keine Absicht ist, hören Sie von mir überhaupt jar nischt …»
Drrrrrrrrrrrrrrinnnnggggggg!!!
Es hatte keinen Zweck.
Drrrrrrrrrrrrrrinnnnggggggg!!!
So ein hartnäckiges Klingeln? Das ließ in ihm eine plötzliche Hoffnung keimen.
Drrrrrrrrrrrrrrinnnnggggggg!!!
Er sprang auf und stürzte zur Tür. Nachdem er sie geöffnet hatte, erblickte er aber nur einen uniformierten Polizisten.
«Schönen guten Tag, Herr Starck. Sie haben uns angerufen?»
Bastian hatte erhebliche Probleme, die Worte des Polizisten in angemessener Zeit zu verarbeiten.
«Ich habe was?»
«Uns angerufen.»
«Wen?»
«Na, die Polizei. Wegen Ihres Nachbarn.»
Kurz war sich Bastian sicher, einen falschen Polizisten vor sich zu haben. Wegen des korrekten Genitivs. Damit hatte er sich eindeutig verraten. Andererseits war alles andere an ihm schon sehr überzeugend.
«Ich hab schon ein paarmal beim Herrn Landmann geklingelt jetze. Macht keiner auf. Wie erwartet. Schlosser ist schon verständigt. Müsste jeden Moment hier sein. Wir gucken uns das jetzt mal an.»
«Was gucken wir uns an?»
«Na, die Wohnung vom Herrn Landmann. Deshalb haben Sie uns doch angerufen. Weil Sie sich Sorgen machen. Weil Sie seit gut einer Woche nichts mehr vom Herrn Landmann gesehen oder gehört haben. Und er auch nicht draußen auf dem Balkon zum Rauchen war. Und eben wegen des komischen Geruchs, wie Sie meinten. Also ich rieche zwar nichts, aber ich bin auch ein wenig verschnupft. Aber keine Angst. Is kein Corona. Das würd ich merken.»
«Ich habe Sie nicht angerufen.»
Der Polizist schaute Bastian mitleidig an. «Hier ist doch Willibald-Alexis 32. Sie sind Sebastian Starck, und da ist die Wohnung von Herrn Landmann. Alles korrekt. Sie müssen keine Angst haben wegen Einsatz und Schlüsseldienst. Selbst wenn jetzt in der Wohnung nichts sein sollte und der Herr Landmann nur verreist ist, entstehen Ihnen keine Kosten. Das ist schon in Ordnung, dass Sie sich um Ihren Nachbarn Sorgen machen. Es ist ja das erste Mal, dass Sie so was melden.»
Sebastian begriff nichts von dem, was gerade geschah. Er versuchte Informationen zu sammeln.
«Wer hat denn mit mir gesprochen?»
«Na icke. Hauptwachtmeister Ugur. Erkennen Sie denn meine Stimme nicht? Also ich erkenne Ihre. Und ich habe Ihnen doch schon gesagt, weil’s umme Ecke ist, komme ich selbst schnell vorbei. Wollte mir doch sowieso mal die Beine vertreten. Aber egal, wenn Sie mir immer noch nicht glauben, dass Sie angerufen haben, ich habe hier sogar die Nummer, von der aus Sie telefoniert haben.»
Umständlich fingerte er ein handgeschriebenes Anrufprotokoll aus seiner Diensthemdtasche. Zutiefst verunsichert warf Bastian einen Blick darauf.
«Das ist definitiv nicht meine Telefonnummer.»
Doch der Polizist war mit seiner Aufmerksamkeit längst bei den von unten näher kommenden Schritten im Treppenhaus.
«Schlüsseldienst Klein?»
«Ganz genau.»
«Super. Sie sind ja von der schnellen Truppe. Is hier im dritten Stock, die Wohnung Landmann.»
«Ich war zufällig gerade beim Bäcker vorne. Is ja so ziemlich der letzte in der Innenstadt, der die Schweineohren noch selber macht.»
«Allerdings. Und wissen Sie, dass der nur überleben kann, weil sich unser ganzes Revier seit Jahren von dem ernährt?»
«Die Polizei, dein Freund und Helfer.»
«Gern geschehen.»
Bastian versuchte sich zu fangen und das Geplänkel der beiden Teilchenliebhaber mit ihren Bäckereibäuchen zu unterbrechen.
«Hören Sie, ich habe niemanden angerufen, das ist nicht meine Telefonnummer, und mein Nachbar ist verreist. Ich glaube, da will mich nur jemand veräppeln, und ich habe sogar auch schon eine Ahnung, wer.»
Der Polizist warf ihm einen prüfenden Blick zu. «Dann meinen Sie, wir müssen die Wohnung gar nicht öffnen?»
«Nein, auf keinen Fall.»
Nun wurde der Schlosser unruhig. «Und was ist dann mit meiner Anfahrt?»
«Sie waren doch unten in der Bäckerei.»
«Anfahrt ist Anfahrt.»
Der Polizist nickte. «Ich hab hier jetzt auch schon die Genehmigung für die Türöffnung. Das alles wieder zurückabwickeln macht nur Ärger. Wir machen jetzt die Tür auf.»
Mit einem zufriedenen Handwerkergeräusch holte der Schlüsselmeister ein seltsames Werkzeug aus der Seitentasche seiner Arbeitshose und beugte sich zum Schloss runter. Bastian jedoch wollte sich nicht geschlagen geben.
«Hören Sie, das geht doch nicht. Das war ein Telefonstreich, wir können doch nicht einfach …»
«Is offen!» Mit einem gelangweilten Stöhnen schob der Schlosser die Tür einen winzigen Spalt auf und lud den Polizisten mit großer Peter-Alexander-Geste ein, sie nun ganz zu öffnen. Bastian schüttelte nur noch den Kopf. Dann allerdings drang der Geruch zu ihm vor. Ein wirklich schlimm faulig-stechender Geruch, der die Miene von Hauptwachtmeister Ugur schlagartig verdunkelte.
«Also was haben Sie uns denn da jetzt eingebrockt?»
Mitschnitt der dritten Verhörsequenz des Hauptverdächtigen Sebastian Starck im Fall des gewaltsam zu Tode gekommenen Paul Landmann. Im Verhörraum anwesend sind Kriminalkommissarin Sina Yildrim und Kriminalhauptkommissarin Meike Fuchs.
KK Yildrim: Herr Starck, Sie geben also zu, den Abend acht Tage vor Auffinden der Leiche in der Wohnung des Opfers Paul Landmann verbracht zu haben?
Starck: Das habe ich doch nun sicher schon zwanzigmal gesagt. Ja, ich war in der Wohnung, aber Paul war nicht dort.
KK Yildrim: Stattdessen aber eine junge Frau aus Dresden.
Starck: Genau.
KHK Fuchs: Die mysteriöse Mascha.
Starck: Ich habe sie an dem Abend zum ersten Mal gesehen. Sie stand plötzlich vor der Tür.
KHK Fuchs: Und dann haben Sie in Paul Landmanns Wohnung mit ihr gegessen und geredet und so?
Starck: Ja. Das heißt, das glaube ich. Ich erinnere mich erst wieder, wie ich am nächsten Morgen mit sehr schwerem Kopf in meinem Bett erwacht bin. Also am nächsten Nachmittag genau genommen. Am sehr späten Nachmittag.
KK Yildrim: Nackt?
Starck: Na ja, eine Unterhose hatte ich schon noch an. Was eigentlich normal ist. So schlafe ich. Nur in Unterhose. Seltsam war nur, dass meine sonstige Kleidung nirgends auffindbar war.
KK Yildrim: Was Sie dann aber irgendwann achselzuckend hingenommen haben?
Starck: Natürlich nicht. Ich habe nebenan geklingelt, geklopft, gerufen. Im Halbstundentakt war ich an der Tür. Aber keiner war da. Also bin ich irgendwann davon ausgegangen, dass Mascha wohl wieder abgereist ist.
KK Yildrim: Und das fanden Sie nicht komisch?
Starck: Selbstverständlich fand ich das komisch. Sogar völlig irre. Aber was sollte ich denn machen? Ich beschloss einfach zu warten, bis Paul zurück ist, und ihn dann zu fragen, ob er irgendwas weiß.
KHK Fuchs: Den Paul Landmann, der aber tatsächlich seit jener Nacht tot in seinem Schlafzimmer lag. Verblutet. Übel zugerichtet und letztlich getötet mit Ihrem Korkenzieher. Den Sie erst an jenem Abend mitgebracht haben wollen. Um damit Weinflaschen mit Schraubverschluss zu öffnen. In einer Wohnung, die übersät ist mit Ihren Fingerabdrücken. In welcher sich eine Leiche befindet, die Sie nie gesehen haben wollen. Obwohl auch die übersät ist mit Ihren Fingerabdrücken. So wie auch das Hauptmordwerkzeug, dieser Korkenzieher, natürlich randvoll ist mit Ihren Fingerabdrücken.
Starck: Das ergibt alles überhaupt keinen Sinn.
KK Yildrim: Da zumindest sind wir uns jetzt mal einig. Warum haben Sie nicht versucht, Paul Landmann zu erreichen? Sie hätten ihn auf seiner vermeintlichen Reise doch mal anrufen können und nach dieser Mascha fragen.
Starck: Ich habe ihm Mails geschickt. Keine Antwort. Ich hatte auch gar nicht seine Telefonnummer.
KHK Fuchs: Sie hätten gestaunt.
Starck: Warum?
KHK Fuchs: Weil es in Ihrer Schreibtischschublade geklingelt hätte.
Starck: Bitte?
KHK Fuchs: Dort lag nämlich Paul Landmanns Handy, mit dem Sie übrigens auch eine Woche nach seinem Tod bei der Polizeiwache angerufen haben, damit die mal nach Paul Landmann gucken. Das Handy, das, halten Sie sich fest, auch pickepacke voll ist mit Ihren Fingerabdrücken.
Starck: Ich habe nicht auf der Wache angerufen. Sie müssen das doch kontrollieren können. Solche Anrufe zeichnen Sie doch auf.
KHK Fuchs: Aber leider haben Sie sich ja ein Taschentuch oder etwas Ähnliches vor den Mund gehalten.
Starck: Habe ich nicht, weil ich doch auch gar nicht angerufen habe.
KK Yildrim: Herr Starck, bitte. Sie sind doch ein logisch denkender Mensch. Das müssen Sie ja sein. Sonst könnten Sie schließlich gar nicht Ihre Romane schreiben. Was halten Sie denn, von außen betrachtet, von dem Bild, das sich hier ergibt? Ihr Nachbar ist seit über einer Woche tot. Wir haben die Leiche, wir haben die Mordwaffe. Beides, wie auch der gesamte Tatort, ist voll von Ihrer DNA. Sie waren als Letzter in der Wohnung des Opfers. In Ihrer eigenen Wohnung hingegen befindet sich das Handy des Toten, mit dem auch die Polizeiwache angerufen wurde, sowie eine im Schrank versteckte Tüte mit blutverschmierter Kleidung, die Sie, laut eigener Auskunft, in der Mordnacht getragen haben. Getränkt mit dem Blut des Opfers.
Starck: Ich weiß nicht, wie diese Tüte in meinen Schrank gekommen ist.
KK Yildrim: Wirklich nicht?
Starck: Welcher Mörder wäre denn so bescheuert, solche Beweismittel in seiner Wohnung aufzubewahren?
KK Yildrim: Vielleicht ein Mörder, der den Mord, den er begangen hat, nicht wahrhaben will. Dessen Gehirn jede Erinnerung an alles, was in jener Nacht geschehen ist, auslöschen möchte.
Starck: Sie haben mich, nachdem Paul Landmanns Wohnung geöffnet wurde, direkt mit auf die Wache genommen. Ohne meine Wohnung zu durchsuchen oder zu versiegeln. Da war einen ganzen Tag und eine ganze Nacht Zeit für jemanden, diese Dinge in meiner Wohnung zu platzieren.
KK Yildrim: Die Wohnung war verschlossen.
Starck: Mit einem Schloss wie an Paul Landmanns Wohnung. Das der Schlosser in zwei Sekunden ohne Spuren geöffnet hat.
KHK Fuchs: Sie wollen sagen, der Schlosser hat die Tüte und das Handy in Ihrer Wohnung versteckt?
Starck: Hören Sie doch auf, sich über mich lustig zu machen. Nicht nur Schlosser können so etwas.
KHK Fuchs: Sondern zum Beispiel auch diese Mascha?
Starck: Oder jemand, den sie beauftragt hat. Was weiß denn ich?
KHK Fuchs: Sie arbeitet also nicht alleine. Ist es womöglich eine größere Organisation, die hinter ihr und diesem Mord steht? Der Telegraph vielleicht? Eine gigantische Verschwörung, in die Sie irgendwie reingeraten sind?
Starck: Welches Motiv sollte ich denn haben, meinen Nachbarn zu ermorden?
KHK