Café Hoffnung - Gisa Pauly - E-Book
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Café Hoffnung E-Book

Gisa Pauly

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Beschreibung

Zwischen Hoffnung und Sehnsucht auf Sylt - Band zwei der SPIEGEL-Bestseller-Saga!

Sylt, Mitte der 1980er Jahre. Brits Tochter Kari begeistert sich nicht sonderlich für die Arbeit im Café König Augustin, sie ist mehr am Schickimicki-Leben von Sylt interessiert. Dann aber scheint sich alles zum Guten zu wenden, Kari heiratet einen berühmten Modedesigner und gehört von da an zur High Society. Als sie schwanger wird, sind ihre Eltern endgültig versöhnt. Doch irgendetwas stimmt nicht mit Karis Ehe, und als ihre Tochter auf die Welt kommt, wird ein skandalöses Geheimnis offenbar.

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Seitenzahl: 611

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DASBUCH

Kari blieb stehen und wandte sich dem Meer zu. Es wütete an den Strand, mal hell-, mal dunkelgrau, nur ganz hinten, in der Nähe des Horizonts, gab es einen silbernen Streifen. Ein intensives Gefühl durchzog Kari, so durchdringend, dass es wehtat, so heftig, dass es ihr den Atem nahm. Ja, so fühlte sich Sehnsucht an. Aber wonach sehnte sie sich? Nach Eindeutigkeit! Früher war ihr Leben eindeutig gewesen, ihr Zuhause, ihre Eltern, ihre Aufgaben, ihre Zukunft. Das war vorbei. Dem Zuhause hatte sie den Rücken gekehrt, ihr Vater war nicht mehr ihr Vater, für das Café hatte sie sich nie richtig begeistern können. Klar, sie hatte immer so getan, als machte es sie glücklich, in den Tag hinein zu leben und nur das zu unternehmen, was ihr Spaß machte. Aber war das Glück? Vielleicht musste sie sich erst mal darüber klar werden, was Glück überhaupt bedeutete …

Brit und Olaf führen das Café und Hotel König Augustin auf Sylt in der Tradition von Olafs Vater erfolgreich weiter. Doch eine Nachfolge ist nicht in Sicht: Ihre Tochter Kari verbringt viel lieber Zeit auf den mondänen und wilden Partys des Modedesigners Mike Heiser. Erst als Kari ihre Verlobung mit Mike verkündet, sind ihre Eltern beruhigt. Vielleicht wird aus der ungestümen Tochter nun endlich eine reife junge Frau? Sie ahnen nicht, dass Mike nicht der Mann ist, den Kari in Wahrheit liebt. Und sie ahnen auch nicht, dass Kari ein Kind unter dem Herzen trägt, dessen Vater nicht Mike ist … Ausgerechnet Karis tot geglaubter Vater Arne Augustin ist es, der ahnt, dass Mike Heiser ein falsches Spiel spielt. Und als Arne nach jahrelangem Versteckspiel zurück auf die Insel kommt, erwachen in Brit längst vergessen geglaubte Gefühle …

DIEAUTORIN

Gisa Pauly hat zwanzig Jahre lang als Berufsschullehrerin gearbeitet, ehe sie das Unterrichten an den Nagel hängte und sich ganz dem Schreiben widmete. 1994 erschien ihr erstes Buch »Mir langt’s – eine Lehrerin steigt aus!«, darauf folgten zahlreiche Drehbücher und Romane. Mit den Sylt-Krimis rund um Mamma Carlotta erobert sie Jahr um Jahr die Bestsellerlisten und die Herzen der Leserinnen und Leser. Gisa Pauly zählt heute zu den erfolgreichsten Autorinnen im deutschsprachigen Raum.

Gisa Pauly

Café Hoffnung

SYLT-SAGA

Band 2

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dieses Buch enthält diskriminierende Sprache. Sie spiegelt zu keinem Zeitpunkt die Haltung der Autorin oder des Verlags wider, sondern stellt tatsächliche Missverhältnisse der damaligen Zeit dar. Sowohl Autorin als auch Verlag verurteilen Diskriminierung und Rassismus jeglicher Art auf das Schärfste.

Originalausgabe 09/2022

Copyright © 2022 by Gisa Pauly

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München,

unter Verwendung von © Mauritius images/United Archives;

FinePic®, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27679-9V004

www.heyne.de

TEIL I

Juni 1985, Sylt

Die See schäumte, die Brandung lief weit aus, ihre Zungen leckten über den Strand, manchmal bis zu den ersten Strandkörben, die weit an die Wasserkante gerückt worden waren. Kari zog ihre Schuhe aus, die feucht und sandverkrustet waren, machte ein paar Schritte in die Brandung hinein, zuckte dann aber vor dem kalten Wasser zurück und stolperte weiter. Schließlich blieb sie vor einem Strandkorb stehen, starrte eine Weile zum Horizont und ließ sich dann einfach hineinfallen. Es war früh, die Feriengäste saßen noch beim Frühstück, nur einige Strandwanderer schälten sich aus dem Dunst des Morgens. Sie war müde, mein Gott, war sie müde!

Sie schloss die Augen und versuchte, das Pochen in ihrem Kopf durch pure Willensanstrengung abzuschwächen. Aber natürlich gelang es ihr nicht. Der hämmernde Kopfschmerz schnitt rhythmisch in das Dumpfe, Unklare, Anteillose, das sie ausfüllte. Von Kopf bis Fuß. Auch hier am Strand wollte sich ihre Gefühlslage nicht klären. Sie hatte darauf gehofft, dass der Wind, die Kälte des Wassers, das Sprühen der Gischt ihr helfen würden, oder die Sonne, die langsam höher stieg und hinter den weißen Wolkenbergen gelegentlich zum Vorschein kam. Aber die Sonne war ebenso wenig in der Lage, etwas zu ändern oder zu verbessern wie das Meer.

Kari versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Gut, dass Mike heute früh aufgestanden war und sie an das erinnert hatte, was sie am Abend zuvor abgemacht hatten. Sie selbst hatte es längst vergessen. Verdammt, sie wusste nicht einmal mehr, wie lange sie nicht mehr zu Hause gewesen war. Zwei Tage? Oder drei? Wann war sie gegangen, und welcher Tag war heute? Sie durfte nicht mehr so viel konsumieren. Aber wenn Mike und Julian so großzügig die Drogen verteilten, war es schwer abzulehnen. Am Vorabend war sie etwas vorsichtiger gewesen. Vermutlich hatte das Gespräch mit Mike dafür gesorgt, dass sie nicht mit den anderen gekifft hatte. Sie war mit ihm zum Strand gegangen, und sie hatten lange geredet. An derselben Stelle, an der vor einigen Tagen die Party losgegangen war: am Strand, mit Lagerfeuer, Schampusflaschen in großen Eiskühlern, Gitarrenmusik und dann die Joints, die von Hand zu Hand gingen. Herrlich! Als sich die sechs Half Brothers dazu gesellt hatten, waren die Joints noch schneller gekreist. Ob die fünf kräftigen schwarzen Musiker wirklich Halbbrüder waren, wusste niemand. Ihre Sängerin, eine Weiße aus Hamburg, die als Einzige Deutsch sprach, beantwortete diese Frage nicht. Sie war auch nicht lange geblieben, hatte ein oder zwei Cocktails getrunken und war dann mit der Ermahnung an die fünf Halbbrüder, am nächsten Tag pünktlich zur Probe zu kommen, verschwunden. Sie traten fast jeden Abend irgendwo auf Sylt auf, spielten Jazz, Swing und am liebsten Bebop. Seit den Weltfestspielen des Jazz, die 1978 in Westerland ausgetragen worden waren, gehörte der Jazz auf die Insel. Sogar der damalige Bundespräsident Walter Scheel war zu Gast und bei den meisten Jazzkonzerten dabei gewesen.

Dass die Half Brothers keine schwarze Sängerin hatten, verwunderte manche, aber wer bei ihrem Gesang die Augen schloss, konnte sich durchaus einbilden, Ella Fitzgeralds Stimme zu hören. Sie waren jedenfalls sehr erfolgreich, traten fast immer vor ausverkauftem Haus auf. Wo Mike und Julian sie aufgetrieben hatten, war Kari ein Rätsel. Die beiden hassten Jazz und waren entsetzt gewesen, als sich herausstellte, dass die Half Brothers in einem Auto vorfuhren, indem sie Trompete, Kontrabass, Saxofon und Schlagzeug transportierten und leutselig fragten, ob ein Klavier im Haus sei. Sie hatten Mikes Einladung falsch verstanden. Nein, er wollte kein Hauskonzert, er wollte sie nur kennenlernen und bei der Strandparty als seine Gäste bewirten. Egal, welche Künstler auf Sylt gastierten, Mike schaffte es meistens, aus ihnen Freunde zu machen. An das Ende dieser ersten Partynacht konnte sich Kari nicht erinnern. Oder doch? Ja, eine Ahnung hatte sie, keine wirkliche Erinnerung, mehr ein Gefühl, das sich auf ihrer Haut festgesetzt hatte. Irgendwann waren sie ins Haus gegangen, es waren nur ein paar Schritte vom Strand zu Mikes Anwesen. Das große reetgedeckte Haus fügte sich hervorragend in die Dünenlandschaft ein. Bei Nacht war es so dunkel wie der Sand und der Strandhafer, die es umgaben, in der Dämmerung so grau wie der Himmel und im Sonnenlicht eine strahlend helle Villa, die trotz des behäbigen Reetdaches, des Friesenwalls und der dunklen Verklinkerung mit einer Ausstattung protzte, die nicht zu den Friesenhäusern passte, denen sie nachempfunden war. Als sie vor einigen Stunden alle zum Strand gegangen waren, hatte die Gartenbeleuchtung sie geführt, nun waren die Lampen erloschen, um niemanden darauf aufmerksam zu machen, dass am Strand gefeiert wurde. Auf dem Weg zur Villa hatte Kari die kleinen Feuer und Fackeln betrachtet, die in den Sand gesteckt worden waren und im Wind flackerten.

Kari presste die Augen zusammen und dachte nach, versuchte, die Bilder hervorzuholen, die sich noch immer unter dem Drogenrausch versteckten. Nein, Bilder brachte die Erinnerung nicht hervor, nur Gefühle. Kari spürte einen weichen Teppich unter ihrem Körper, die Hände eines Mannes, sein Flüstern an ihrem Ohr. Seinen guten Geruch, das dezente Herrenparfüm stieg ihr in die Nase – und dann fühlte sie seinen Körper über ihrem. Eine schöne Erinnerung, ein zärtlicher Mann. Aber an sein Gesicht konnte sie sich nicht erinnern. Himmel, sie durfte wirklich nicht mehr so viel kiffen. Diesmal musste auch LSD dabei gewesen sein. Vielleicht auch Pilze? Und hatte sie überhaupt daran gedacht, die Pille zu nehmen?

Sie öffnete die Augen, und es kam ihr so vor, als wäre das Meer ruhiger geworden, als liefen die Wellen nicht mehr so weit aus, als wäre aus der grauen Farbe des Wassers ein schönes Grün geworden. Sie hörte Kinderstimmen. War sie etwa eingeschlafen? Der Strand war nicht mehr leer, die ersten Familien erschienen, sie sah die Köpfe von zwei, drei Schwimmern, die zwischen den Wellen auf- und abtauchten.

»Das ist unser Strandkorb.«

Vor ihr erschien ein Mann von etwa vierzig Jahren, beladen mit Kinderspielzeug, Kühltasche und einer Luftmatratze. Hinter ihm standen seine Frau, an deren Schulter eine große Strandtasche baumelte, und zwei Kinder, jedes mit einer Sandschaufel in einer und einem Schwimmring in der anderen Hand.

»Das ist unser Strandkorb«, sagte nun auch die Frau.

Kari schwankte, als sie aufstand.

»Sind Sie etwa betrunken?«, fragte die Frau streng. »Haben Sie in unserem Strandkorb übernachtet?«

Kari antwortete nicht. Sollte diese blöde Kuh doch denken, was sie wollte! Als gehörten der Strandkorb und der Strand denen, die Kurtaxe bezahlten! Der Strand gehörte den Syltern, den Menschen, die hier geboren waren, die hier lebten! Sie ließ sich doch von solchen Leuten nicht ihren Strand, ihre Insel wegnehmen! »Leckt mich!«

Sie ging zur Kurpromenade hoch, ohne sich noch einmal umzudrehen. Es ging ihr jetzt besser. Wenn sie vor ein oder zwei Stunden noch gedacht hatte, dass nicht einmal der Blick aufs Meer ihr helfen konnte, so stellte sie jetzt fest, dass die Kopfschmerzen nur noch ein unangenehmes Vibrieren hinter der Stirn waren, dass sich ihre Gedanken klärten und ihre Empfindungen allmählich eindeutiger wurden. Der Filmriss war natürlich noch nicht gekittet, die Geschehnisse der letzten Stunden oder Tage verbargen sich nach wie vor hinter einem dichten Vorhang, der so schwer war, dass er sich nicht beiseiteschieben ließ. Doch das, was sie Mike am Vorabend versprochen hatte, war ihr jetzt wieder ganz klar.

»Das würdest du für mich tun?«, hatte er mit großen Augen gefragt.

»Natürlich. Wir sind doch Freunde.« Sie hatte geantwortet, als wäre es darum gegangen, ihm ein Kleidungsstück zu überlassen oder einen Füllfederhalter auszuleihen.

Ganz so leicht nahm sie ihr Versprechen jetzt nicht mehr, aber sie würde es nicht zurückziehen. Was war schon dabei? Und überhaupt … eine Hand wusch die andere. Die Entscheidung würde auch ihr Freiheiten ermöglichen. Mike war steinreich, einer der bekanntesten Modedesigner Deutschlands, wenn sie in sein Haus zog, würde es ihr gut gehen. Und sie wäre dann endlich den Ansprüchen ihrer Eltern davongelaufen, die sie täglich drängten, ihr Vorwürfe machten und immer wieder unter die Nase rieben, was sie von ihr erwarteten. Damit wäre dann Schluss. Kari würde nicht mehr auf sie angewiesen sein.

Sie stieg die Treppe von der Kurpromenade zum Miramar hoch. Der Portier, der neben dem Eingang stand, begrüßte sie freundlich. Kari Rensing war ja überall bekannt, ihre Eltern genossen einen untadeligen Ruf.

Der Portier wandte sich einem Gast zu, und Kari nutzte die Gelegenheit, sich in der Glasscheibe der Eingangstür zu spiegeln. Wie sah sie eigentlich aus? Hatte sie am Morgen geduscht, sich gekämmt und geschminkt? Sie hob den rechten Arm und steckte die Nase so unauffällig es ging in ihre Achsel. Sie roch gut, hatte also daran gedacht, ein Deo zu benutzen. Und dass sie geduscht hatte, fiel ihr jetzt auch wieder ein. Sie hatte auch ihre Haare gewaschen. Lockenwickler hatte sie nicht gefunden, aber immerhin einen Föhn. Damit hatte sie die Farrah-Fawcett-Frisur natürlich nicht hinbekommen, aber das Stirnband rettete ihr Styling. So sah sie aus wie eine blonde Nena, ohne die überdimensionalen Lockenwicklerlocken, dafür aber modern, als trüge sie eine Vokuhila-Frisur. Also trotzdem vorzeigbar. Besser, als sie sich fühlte. Ihre rote Lederhose saß perfekt, die knappe weiße Bluse mit dem winzigen Krägelchen gab ihr etwas Niedliches. Unten verrucht und oben unschuldig, sie mochte diese Kombination.

Und so ging es offenbar auch den beiden älteren Herren, die in dem Moment aus dem Miramar traten. Sie blieben stehen, als sie Kari sahen, als hofften sie, dass sie ihretwegen gekommen war. Kari schenkte ihnen ein Lächeln und ging weiter. Die Blicke in ihrem Rücken gaben ihr Kraft. Sie war jung, sie war hübsch und würde demnächst sogar nicht nur auf Sylt, sondern in ganz Deutschland bekannt sein. Anders, als ihre Eltern es sich wünschten, aber so, wie sie selbst sich die Zukunft vorstellte. Die beiden würden schon ihr Einverständnis geben, wenn auch zähneknirschend. Mike musste nur alles so machen, wie sie es ihm eingeschärft hatte …

Juni 1985, Sylt

Brit Rensing war Anfang vierzig, aber zurzeit fühlte sie sich mindestens zehn Jahre älter. Sie lehnte an der Anrichte, als brauchte sie Halt, und verschränkte die Arme vor der Brust, als wollte sie niemanden an sich herankommen lassen. Die Frühstücksgäste des König Augustin hätten natürlich ein strahlendes Lächeln von ihr bekommen, aber da sie sich dazu momentan außerstande sah, hatte sie sich in den kleinen Raum hinter der Theke zurückgezogen, wo die Teller angerichtet wurden und das schmutzige Geschirr landete. In der Fensterscheibe spiegelten sich ihre Züge, das sonst runde Gesicht war ganz schmal vor Sorge, ihre Augen waren rot, als hätte sie die Nacht durchgeweint.

Eine Kellnerin mit einem Stapel schmutziger Teller kam herein. Brit riss sich zusammen und winkte ab, als das junge Mädchen alles in die Spülmaschine räumen wollte. »Lass nur, ich mache das schon.«

Die Kellnerin zögerte, ehe sie den Raum verließ. »Alles okay, Chefin?«

Brit hatte ihr schon oft erklärt, dass sie nicht Chefin genannt werden wollte, aber diesmal reagierte sie nicht darauf. »Ja, alles in Ordnung.«

Sie räumte auf, dann straffte sie ihre Schultern, setzte ein Lächeln auf und ging in den Gastraum. Er war nur zur Hälfte gefüllt. Die meisten Sylturlauber nahmen ihr Frühstück in ihren Hotels ein. Das König Augustin war besonders für seinen guten Kuchen bekannt. Nachmittags war in dem Café immer jeder Tisch besetzt. Alles war noch so wie am Tag der Einweihung. Olaf wollte nicht, dass irgendetwas geändert wurde, was sein Vater für gut befunden hatte. Sogar dessen bester Freund Robert König hatte kürzlich angeregt, den Teppichboden neu verlegen zu lassen und bei der Gelegenheit ein anderes Farbmuster zu wählen, das dem Raum eine andere modernere Note geben könnte. Aber Olaf wollte davon nichts hören. Zwar hatte er den Teppichboden erneuern lassen, allerdings im selben Rot wie zuvor, und die Stühle sahen trotz neuer Polsterungen genauso aus wie vorher. Ebenfalls rot. Knut Augustin hatte damals Wert darauf gelegt, das Café so einzurichten, dass sich sowohl die reichen Touristen, die schon seit Jahren nach Sylt kamen, dort wohlfühlten, als auch die Vertreter der Mittelklasse, die sich mittlerweile ebenfalls einen Sylturlaub leisten konnten. Die Atmosphäre war gepflegt, aber nicht protzig, gemütlich, ohne verstaubt zu sein. Dennoch hätte Brit gerne mal etwas geändert. Das Rot als tragendes Element in der Farbgebung erschien ihr nicht mehr zeitgemäß. Aber solange das König Augustin seinen guten Ruf genoss und anziehend auf die Gäste wirkte, hielt sie sich zurück. Olaf war immer sehr empfindlich, wenn es um seinen Vater und dessen Vorstellungen ging. Er eiferte ihm in jeder Hinsicht nach, und es war ihm sehr wichtig, sein Erbe so zu verwalten, wie Knut Augustin es gewollt hätte.

Brit nickte ein paar Stammgästen zu, dann ging sie ins Büro, das niemand betrat, der nicht zur Geschäftsführung gehörte. Hier konnte sie mit ihrem Mann Gespräche führen, die nicht für fremde Ohren bestimmt waren. Nur Robert König, der Mitbesitzer des König Augustin, hielt sich auch gern und häufig hier auf. Linda, seine Tochter, erschien zwar ebenfalls gelegentlich hier, als wollte sie etwas mit der Arbeit im Café zu tun haben. Aber jedes Mal ließ sie sich dort nur einen Espresso servieren, sah sich um, stellte fest, dass die Arbeit hinter den Kulissen nicht ihrem Geschmack entsprach, und verabschiedete sich wieder. Brit hatte den Verdacht, dass Linda König, wenn sie zu ihrem Lebensgefährten zurückkehrte, ihm erzählte, dass sie im Café nach dem Rechten gesehen und sich vergewissert habe, dass dort alles zu ihrer Zufriedenheit lief. Ihr Vater wäre froh gewesen, wenn sie sich wirklich für die Arbeit interessiert hätte, aber so was war nicht Lindas Ding.

Olaf betrat das Büro, kaum dass Brit sich am Schreibtisch niedergelassen hatte. Er trug einen hellgrauen Anzug, der Kragen seines weißen Hemdes stand offen. »Moin, mein Schatz!«

Brit betrachtete ihn liebevoll. Was für ein gut aussehender Mann! Einer, dessen Anziehungskraft nicht von der körperlichen Attraktivität herrührte, sondern durch das Zuverlässige, das er ausstrahlte, das Solide und Beständige. Olaf Rensing war ein Mann, dem jeder vertraute, für einen Geschäftsmann ein Vorteil, der nicht zu unterschätzen war. Wer mit ihm zu tun hatte, lobte seine Integrität und Unbestechlichkeit.

Er sah seine Frau an und wusste gleich, wie es um sie stand. »Kari ist noch nicht zurück?«

Brit konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Immer nur Partys«, schluchzte sie. »Vergnügen, Alkohol, Drogen …«

»Bist du denn sicher, dass sie nicht zu Hause ist?«

Brit zuckte mit den Schultern. »Sie meldet sich nicht.«

Kari hatte eine eigene Wohnung auf der Etage über dem Café. Damit wohnte sie zwar noch im Elternhaus, hatte aber die Möglichkeit, ein und aus zu gehen, ohne dass es jemandem auffiel. Wenn Brit an ihrer Tür klopfte und niemand öffnete, hieß das nicht, dass Kari nicht daheim war. Womöglich lag sie im Tiefschlaf, zu einer Zeit, in der ihre Eltern längst auf den Beinen und bei der Arbeit waren. Kari stand auf, wann es ihr gefiel, und kam und ging, wie es ihr passte.

»Was soll nur aus ihr werden?«, fragte Olaf seufzend.

Diese Frage hätte Brit noch vor ein paar Jahren eindeutig und fröhlich beantwortet: natürlich Olafs Nachfolgerin, diejenige, die die Tradition fortsetzte, die das Café und das Hotel auf Sylt weiterführte, die sich um die Knut-Augustin-Stiftung kümmerte und auch um die Hotels, die Olaf von seinem Vater geerbt hatte. Aber Kari dachte nur an Spaß und Annehmlichkeiten. Dass sie noch im Haus ihrer Eltern lebte – da machten sich Brit und Olaf keine Illusionen –, lag ausschließlich daran, dass Olaf seiner Tochter klipp und klar erklärt hatte, dass er ihr den Geldhahn zudrehen würde, wenn sie auszöge. Ein verzweifelter Versuch, Kari dort zu behalten, wo sie gebraucht wurde, sodass sie vielleicht irgendwann einsehen würde, dass dort ihr Platz im Leben war.

»Ist sie wieder bei diesem Modefritzen?«, fragte Olaf und setzte sich.

Brit wischte sich die Tränen ab. »Da gab es wohl wieder eine Party. Am Strand, in seiner Villa … Diese Partys dauern gleich mehrere Tage.«

Olaf seufzte tief auf. »Vielleicht wird sie ja irgendwann vernünftig. Sie kann doch nicht glauben, dass das ganze Leben ein einziges Fest ist.« Mit einer Anstrengung, die ihm anzusehen war, verscheuchte er die Wolken auf seiner Stirn und lächelte seine Frau zärtlich an. »Komm, heute machen wir uns mal einen schönen Abend. Wir gehen essen. Ins Miramar? Oder hast du einen anderen Vorschlag?

Brit strahlte ihn an. »Ja, ins Miramar! Das ist eine gute Idee.«

Olaf griff in die Innentasche seines Jacketts und holte zwei Eintrittskarten hervor. »Und am Wochenende gehen wir in den Kursaal. Da treten die Half Brothers auf, diese amerikanische Jazzband. Die müssen sehr gut sein.«

Brit nahm zögernd die Billetts entgegen, die von einer Fotografie der Band geziert wurden. Fünf riesige schwarze Männer mit ihren Instrumenten und eine blonde Frau, die sie in ihre Mitte genommen hatten.

»Von denen habe ich schon gehört.« Brit stand auf und drückte ihrem Mann einen Kuss auf den Mund. »Wie lieb von dir. Das wird uns bestimmt guttun.«

Olaf freute sich offensichtlich, dass seine Überraschung gelungen war. »Und nach dem Konzert trinken wir Kullerpfirsich. Den magst du doch so gern. Der Barmann vom Miramar kennt das Rezept.«

Die Sorgen um ihre Tochter waren für kurze Zeit vergessen. »Wenn ich mir diese Bandmitglieder ansehe, fällt mir ein«, begann Brit immer noch mit Blick auf das Foto der Band, »wie läuft es eigentlich mit dem neuen Geschäftsführer, diesem Hans-Josef Keller? Bist du zufrieden mit ihm?«

»Sehr sogar.« Olaf lächelte verlegen. Er wusste, warum Brit an den neuen Geschäftsführer des Hotels hatte denken müssen. »Obwohl ich zugeben muss, dass ich ihn beinahe nicht eingestellt hätte.«

Brit sah ihren Mann tadelnd an. »Weil er schwarz ist?«

Olaf versuchte sich zu rechtfertigen. »Ja. Zum Glück bin ich bei diesem deutschen Namen gar nicht auf die Idee gekommen, mir das Foto richtig anzusehen. Sonst wären mir meine eigenen Vorurteile zum Verhängnis geworden.«

»Er ist ja auch Deutscher. Seine Eltern haben ihn aus einem Waisenhaus in Äthiopien geholt und adoptiert.«

Olaf sah auf seine Fußspitzen. »Ich bin froh, dass ich ihn eingestellt habe. Und ich schäme mich dafür, dass ich es nicht getan hätte, wenn ich gewusst hätte, dass er schwarz ist.«

Brit stand auf und umarmte ihren Mann. »Niemand ist perfekt. Nicht einmal du.« Sie lachte leise. »Ich weiß doch am besten, wie unvoreingenommen du eigentlich bist.«

Olaf schüttelte in ihren Armen den Kopf. »Was ich gedacht habe, ist rassistisch.«

»Hör auf, Olaf. Du hast es ja nicht getan.«

»Reiner Zufall.«

»Jetzt hast du daraus gelernt und wirst nie wieder einen Menschen nach der Hautfarbe beurteilen.« Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch. »Und ich hoffe, die Gäste vom König Augustin sehen das ebenso. Oder hat sich jemand negativ über Herrn Keller geäußert?«

»Bis jetzt noch nicht.« Olaf stand auf und ging zur Tür. »Und wehe! Ein Gast, der sich über die Hautfarbe meines Geschäftsführers mokiert, kann gleich wieder ausziehen.«

Brit glaubte ihm. Nachdem Olaf sich hatte eingestehen müssen, dass er beinahe einen Bewerber wegen seiner Hautfarbe aussortiert hätte, würde er nicht zulassen, dass Hans-Josef Keller unter Angriffen zu leiden hatte. Olaf wollte unbedingt wiedergutmachen, dass er selbst seinen Vorurteilen erlegen war.

Brit erhob sich ebenfalls, um ihrem Mann zu folgen. Aber er blieb in der Tür stehen und machte sogar zwei, drei Schritte zurück. »Da kommt Kari«, sagte er leise und öffnete die Tür weiter, als seine Tochter auf das Büro zusteuerte.

Brit ließ sich auf den Schreibtischstuhl zurücksinken. Sie bemühte sich, ihre Tochter mit einem Lächeln zu empfangen, aber es gelang ihr nicht. »Schön, dass du dich auch mal wieder blicken lässt.« Ihre Stimme klang hart und zynisch.

Olaf warf ihr einen warnenden Blick zu. Ja, sie wusste natürlich, dass es keinen Sinn hatte, Kari gleich mit Vorwürfen zu empfangen. Dann würden sie nie erfahren, wo sie gewesen war.

Aber Kari schien etwas auf dem Herzen zu haben und hatte wohl beschlossen, keine Vorhaltungen an sich herankommen zu lassen. Sie sah müde und angestrengt aus, fand Brit, ausgelaugt und irgendwie kraftlos. Die Sorge um ihr Kind legte sich wie eine Klammer um ihr Herz. Kari ging so sorglos mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit, ihrer Zukunft um. Sie wollte einfach nicht einsehen, dass ihr Lebenswandel an ihren Kräften zehrte und dass sie später, wenn sie älter war, einmal schwer bereuen würde, in ihrer Jugend Raubbau mit ihrem Körper getrieben zu haben.

Kari grinste ihre Eltern an, aber ihre Unbekümmertheit war schlecht gespielt. »Wir bekommen morgen Besuch. Ich hoffe, ihr nehmt euch etwas Zeit?«

Olaf runzelte die Stirn. »Besuch? Von wem?«

»Mike Heiser. Er will mit euch reden.«

»Der berühmte Stardesigner?«,fragte Brit. »Will er unsere Kellner neu einkleiden?«

Aber Kari schüttelte den Kopf. »Nein, es geht um mich.«

Juni 1985, Sylt

Hans-Josef Keller stand am Fenster seines Büros und starrte hinaus. Noch immer! Bewegungslos! Dabei war Kari längst vorbeigelaufen und nebenan im Café König Augustin verschwunden. Schon gestern und vorgestern hatte er gewartet. Es musste ihr doch etwas an ihm liegen! Hätte sie ihn sonst eingeladen, sie zu der Party bei Mike Heiser zu begleiten?

»Komm einfach mit, wenn du Lust hast«, hatte Kari gesagt, als sie sich vor gut einer Woche zufällig vor dem Hotel begegnet waren. »Mike freut sich, wenn man Gäste mitbringt.« Sie hatte ihn grinsend gemustert. »Heißt du wirklich Hans-Josef?«

»Die meisten nennen mich Hajo.«

»Das gefällt mir schon besser.« Sie schenkte ihm einen neckischen Blick. »Also ist es abgemacht?«

»Aber ich kann doch nicht … einfach so …«

»Mike liebt ausgefallene Gäste.«

Ausgefallen hatte sie ihn genannt! Er? Hajo hatte sich gefragt, ob das ein Kompliment sein sollte oder ob sie sich über ihn lustig machte. Er verbot sich aber, darüber nachzudenken oder gar nachzufragen. Seit er Kari gesehen hatte, seit er mit ihr gesprochen und sie lachen gehört hatte, träumte er von ihr. Und gelegentlich hatte er daran gedacht, sie einzuladen, ins Kino, zum Essen oder zum Tanztee ins Miramar. Aber er hatte sich nie getraut. Sie war die Tochter seines Chefs. Und überdies hatte er gelernt, dass ein Schwarzer aufgrund seiner Hautfarbe leicht eine Abfuhr riskierte. Er war Olaf Rensing dankbar gewesen, dass er ihm diese Chance, als Geschäftsführer seines Hotels zu arbeiten, gegeben hatte, nachdem er sich an unzähligen Orten beworben hatte und abgelehnt worden war, weil ein Hotelmanager mit dunkler Haut nicht akzeptiert wurde. Olaf Rensing war der Erste gewesen, der ihn zum Vorstellungsgespräch eingeladen hatte, also schien er tolerant zu sein und keine Vorurteile zu haben. Aber ob er auch noch so tolerant und vorurteilsfrei war, wenn es um seine Tochter ging? Hajo wollte nichts riskieren und seine Stelle unter gar keinen Umständen aufs Spiel setzen.

Abgesehen davon hatte er das Gefühl, dass er der schönen Kari wohl nicht das Wasser reichen konnte. Mit seiner großen, sehr schlanken Statur wirkte er fast hager, sein Gesicht war schmal und seine Stirn hoch. Die dichten, krausen Haare trug er sehr kurz. Er wusste, dass seine dunklen Augen freundlich blickten, er beim Lächeln ein makelloses Gebiss zeigte und seine Bewegungen auffallend geschmeidig waren. Wenn er in einem seiner perfekt sitzenden dunklen Anzüge durch die Lobby ging, folgte ihm so mancher Blick. Doch ob das genügte, um Kari zu beeindrucken?

Er hatte Zweifel gehabt, ob es wirklich so einfach war, bei Mike Heiser als uneingeladener Gast aufzutauchen, aber tatsächlich war es kein Problem gewesen. Er war von Mike Heiser mit offenen Armen empfangen worden. »Ein Freund von Kari? Herzlich willkommen!«

Als er an Karis Seite eintrat, hatte er den Arm um sie gelegt, und sie hatte ihn nicht abgeschüttelt. Bei dem Anblick, der sich dann bot, hatte er die Luft angehalten und erst mal schlucken müssen. Dieser Luxus! Mike Heisers Haus am Rande von Kampen wirkte, wenn man es von der Straße aus betrachtete, relativ bescheiden. Sobald man mit dem Wagen in den Weg einbog, der zum Haus führte, veränderte sich jedoch der Blick und damit auch der Eindruck. Aber bis zu diesem Punkt kamen nur wenige. Direkt hinter der Einbiegung standen Sicherheitsleute, die niemanden durchließen, der keine Besuchserlaubnis hatte. Mike Heiser war mehrmals von Neugierigen, von liebestollen Frauen und Presseleuten belästigt worden und wollte nun sichergehen, dass niemand zu ihm vordrang, den er nicht darum gebeten hatte.

Es war schon dunkel gewesen, als Kari und Hajo ankamen. Der Eingang der Villa war hell erleuchtet, davor standen zwei Pagen, die die Gäste ins Haus führten und ihnen die Mäntel abnahmen. Die Eingangshalle war beeindruckend. Über einen hellen Marmorboden gingen die Gäste in den Wohnraum, der einige Stufen tiefer lag. Die Seite zum Meer war komplett verglast und bot einen einzigartigen Ausblick auf die Dünen, über den Strand bis zum Wasser. Mike Heiser war es zwar nicht gelungen, aus dem Strand vor seinem Grundstück einen Privatstrand zu machen, so was sahen die Inselstatuten nicht vor, aber seine Security-Leute sorgten rund um die Uhr dafür, dass niemand ausgerechnet dort baden und sich sonnen wollte, wo der berühmte Stardesigner Wert darauf legte, allein und unerkannt zu bleiben.

Die Einrichtung der Villa war schlicht, aber edel. Helle Teppiche auf beigen Fliesen, weiße Sofas, ein weißer Flügel, farbige Akzente gab es gar nicht. Sogar die Gäste, die schon anwesend waren, als Hajo und Kari eintrafen, trugen keine bunte Kleidung. Zufall? Oder wussten diejenigen, die eingeladen waren, dass Mike Heiser, zumindest zurzeit, ausschließlich Ton-sur-Ton-Kleidung auf den Markt brachte? Hajo war froh, dass er sich für eine beige Hose und ein weißes Hemd entschieden hatte und somit nicht weiter auffiel. Er hatte kürzlich in einer Zeitschrift gelesen, dass Mikes aktuelle Mode nicht besonders erfolgreich war. Der Zeitgeist verlangte nach Farbe, bunte Stulpen waren zurzeit modern, neongelbe Stirnbänder, Chucks in Knallrot, Basecaps in allen Farben. Womöglich hatte Mike Heiser diesen Farben ein wenig zu früh den Kampf angesagt, die Zeit schien noch nicht reif zu sein für Ton-in-Ton. Auch Kari, die Hajo schon oft in knallroten Leggings mit gelben und blauen Stulpen gesehen hatte, trug an diesem Abend einen hellen Hosenanzug, dazu ein weißes T-Shirt und weiße Ballerinas.

»Von mir entworfen«, verkündete Mike Heiser stolz und sah sich um, als wollte er feststellen, ob auch andere Damen seine Mode trugen. Selbstverständlich war das der Fall. Vermutlich gingen alle, die bei Mike Heiser eingeladen waren, zuerst in Kampen shoppen, wo in allen teuren Geschäften Mike-Heiser-Modelle angeboten wurden.

Dass Kari eine Reisetasche bei sich hatte, versetzte Hajo in Erstaunen. »Willst du übernachten?«

Sie hatte mit den Schultern gezuckt. »Mal sehen. Mikes Partys gehen oft über mehrere Tage. Ich will auf alles vorbereitet sein. Und wenn es hier gemütlich wird, ist mein Hosenanzug weiß Gott nicht mehr das richtige Kleidungsstück.«

Was Kari unter Gemütlichkeit verstand, begriff Hajo erst später. Als die Lagerfeuer brannten, als Getränke und Snacks zum Strand gebracht worden waren, als die ersten Kleidungsstücke fielen und ein Mann vergessen hatte, dass er einen Anzug trug, als er spontan beschloss, im Meer zu baden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hajo auch bemerkt, dass die Zigaretten, die kreisten, in Wirklichkeit Joints waren. Er lehnte jedes Mal ab, noch nie hatte er Drogen genommen und wollte es auch an diesem Tag nicht tun. Aber er beobachtete, dass Kari immer wieder einen tiefen Zug inhalierte. Augenscheinlich war sie daran gewöhnt. Hajo hätte sie am liebsten davon abgehalten, aber das ging natürlich nicht. Dieses Recht konnte er sich nicht herausnehmen.

Sie kümmerte sich kaum um ihn, schien ihn sogar vergessen zu haben. Hajo bekam mehr und mehr den Eindruck, dass es Zufall gewesen war, von ihr eingeladen worden zu sein. Er war ihr gerade über den Weg gelaufen, und Kari hatte, spontan, wie sie war, die Idee gehabt, ihn mitzunehmen. Es hätte auch jeder andere gewesen sein können. Ein ernüchternder Gedanke.

Als es kalt wurde, blieben nur noch wenige am Strand, die meisten gingen zurück zum Haus. Auch Kari. Hajo beobachtete sie genau, als die Half Brothers auftauchten, diese fünf Schwarzen mit der blonden Frau. Kari schien tatsächlich keine Vorurteile zu haben, es kam Hajo so vor, als übten die Männer große Anziehungskraft auf sie aus. Auch die meisten anderen Gäste scharten sich um die fünf – freundlich, offen, entgegenkommend, wie sie auch ihn, Hajo Keller, freundlich, offen und entgegenkommend begrüßt hatten. Wie es sein würde, wenn er ihnen später, auf der Kurpromenade von Westerland, begegnete, blieb dahingestellt. Und wie man die fünf schwarzen Männer später behandeln würde, wenn ihre Karriere mal zu Ende ging, war ebenfalls eine Frage, die Hajo sich gar nicht beantworten wollte. Bei Kari jedoch war er sich sicher, dass die Hautfarbe für sie keine Rolle spielte. Offenbar hatte ihr Vater durch sein gutes Vorbild dafür gesorgt, dass seine Tochter so tolerant war wie er selbst. Hajo würde nie vergessen, wie prompt seine Bewerbung beantwortet worden war, während er bisher stets lange hatte warten müssen, ehe er eine Absage erhielt – oder überhaupt keine Antwort bekam, nachdem ein potenzieller Arbeitgeber einen Blick auf sein Foto geworfen hatte.

Als eine Frau sich auszog und in Unterwäsche auf einem der Tische tanzte, war Hajo schockiert. Und als er feststellte, dass sich ein Paar in eine Zimmerecke zurückzog und dort alle Anwesenden vergaß, kam er aus dem Staunen nicht heraus. Aus der Party wurde mehr und mehr ein Zusammentreffen von Menschen, die für eine Nacht aus ihrer Haut herauswollten, die einmal anders sein, einmal alles vergessen wollten, die als Mitglieder der Schickeria gekommen waren und nun zeigen wollten, wie unabhängig sie von der Schickeria waren. So kam es Hajo jedenfalls vor.

Gegen drei Uhr nachts wollte er nur noch nach Hause. Um sieben würde er bereits wieder aufstehen müssen, scheinbar war er der Einzige, der am nächsten Tag einer Arbeit nachgehen musste. Außerdem schien er der Einzige zu sein, der nüchtern war und sich nicht in den Drogenrausch hatte ziehen lassen. Er war mit einem Mal ein Außenstehender und sogar ein Außenseiter geworden, als klar wurde, dass er nicht mitmachen wollte. Niemand beachtete ihn mehr, wenn er umherging und sich die Einrichtung des Hauses ansah, niemand wollte mit ihm an der Bar über den Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke in Ost-Berlin diskutieren, wenn er nicht bereit war, sich auf verrückte Argumente einzulassen, die nur vernebelten Hirnen entsprungen sein konnten. »Fünfundzwanzig Westagenten gegen vier Ostagenten!« Es gab einige, denen ein umgekehrtes Verhältnis lieber gewesen wäre.

Auch die Frauen hatten das Interesse an Hajo schnell verloren, als er nicht bereit war, sich knutschend in eine Ecke zu verdrücken oder sich gar in einen Nebenraum ziehen zu lassen, wo schon ein anderes Paar zur Sache ging. Sex quasi in der Öffentlichkeit! Hajo Keller war bestürzt und schockiert.

Die Party lief aus dem Ruder, und das war augenscheinlich so gewollt und geschah wohl jedes Mal so. Hajo fühlte sich immer unwohler und machte sich auf die Suche nach Kari. Er wollte sie bitten, mit ihm heimzufahren. Er fand sie am Pool im Souterrain des Hauses, zusammen mit mehreren jungen Frauen und einigen Männern, die Spaß daran hatten, sich gegenseitig ins Wasser zu schubsen. Einige waren nackt, Kari trug zu Hajos Erleichterung einen knappen gelben Bikini. Warum er erleichtert war? Er musste über diese Frage erst nachdenken und sich zu einer Antwort zwingen, ehe ihm klar wurde, dass er Kari für sich haben wollte. Der Gedanke an ihre Nacktheit erregte ihn zwar, aber die Vorstellung, dass er sie mit anderen hätte teilen müssen, deprimierte ihn. Dies war der Augenblick gewesen, in dem er sich eingestand, dass er Kari nicht nur anregend und attraktiv fand, nicht nur hübsch und intelligent, dass er nicht nur in sie verknallt war, sondern … ja, dass er sie liebte.

Hajo Keller seufzte in der Erinnerung, trat vom Fenster zurück und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Er hatte keine Hoffnung mehr, dass sie zu ihm ins Hotel kommen würde, um ihm zu erklären, warum sie ihn allein hatte zurückfahren lassen und wo sie die letzten Nächte verbracht hatte. Ob sich etwas geändert hatte zwischen ihnen. Ob sie auch etwas empfand für ihn oder ob Kari auch diesen Abend mit ihm, die eine Stunde mit ihm allein, auf die leichte Schulter nahm, wie sie das ganze Leben nicht ernst zu nehmen schien.

Juni 1985, Riekenbüren

»Wir sind alt«, sagte Frida Heflik. Sie sagte es mehrmals täglich, was ihren Mann mehrmals täglich gegen sie aufbrachte.

»Was heißt schon alt?«, fuhr er auf. »Nur, weil wir aufs Altenteil gezogen sind, heißt das nicht, dass wir zum Nichtstun verdammt sind.«

»Altenteil«, wiederholte seine Frau und betonte den ersten Teil des Wortes. »Wir sind über siebzig, Edward, die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen, das ist nicht zu übersehen.«

»Na und?« Edward wollte ihre Einstellung einfach nicht teilen. Dass sein lahmes Bein ihn nicht mehr tragen wollte, dass er auf die Unterstützung eines Gehstocks angewiesen war, dass er einen ausgedehnten Mittagsschlaf brauchte und abends vor dem Fernseher einschlief, dass er seinen Sohn zu Hilfe holen musste, wenn es etwas zu tragen oder zu verrücken gab, wollte er ebenfalls nicht eingestehen. Oder er sagte zu seiner Frau: »Warum soll ich mich quälen, wenn Hasso mir helfen kann? Dafür sind Kinder schließlich da.«

Dass Hasso es nicht gern sah, wenn sein Vater in die Schreinerei kam, sich in seine Arbeit einmischte, kritisierte, wenn das Telefon häufig benutzt wurde oder wenn eine neue Maschine angeschafft worden war, obwohl die alte noch gebrauchsfähig war, wollte Edward ebenfalls nicht akzeptieren. Und dass Hasso für die Buchführung eine Aushilfskraft eingestellt hatte, obwohl seine Mutter früher diese Arbeit einmal pro Woche am Abend in der Küche erledigt hatte, wurde ebenfalls häufig von ihm bemängelt. Aber mit einem Computer und einem Buchhaltungsprogramm hatte sich Frida Heflik auf keinen Fall befassen wollen, und Hasso wiederum hatte sich von der handschriftlichen Buchführung auf großen Kontenblättern endgültig verabschiedet. Die alte mechanische Schreibmaschine hatte er sogar, ohne vorher zu fragen, aus dem Haus geholt und zur Mülldeponie gebracht, damit seine Mutter nicht mehr auf die Idee kommen konnte, die Geschäftskorrespondenz damit zu erledigen. Das machte Halina, Hassos Frau, auf dem Computer. Sie hatte einen Kurs belegt, weil sie den Computer auch für die Verwaltung des Campingplatzes einsetzen wollte, der ihr Aufgabenbereich war.

Frida erhob sich schwerfällig vom Frühstückstisch und stellte das Radio an, ein Transistorgerät, das Sohn und Schwiegertochter ihr zum Geburtstag geschenkt hatten. Nur für die Küche, nur für sie! Bisher hatte es im Hause lediglich die Musiktruhe in der guten Stube gegeben, die kaum benutzt war worden, weil sie nur selten, ausschließlich zu Weihnachten und anderen Feiertagen oder für hohen Besuch, geöffnet wurde. Nun hatten sie gar keine gute Stube mehr, das kleine Wohnzimmer nebenan nutzten sie täglich, denn dort stand der Fernseher, vor dem Edward jeden Abend verbrachte. Wäre die Küche größer gewesen, hätte er vielleicht dort seinen Platz gefunden, aber Hasso und Halina hatten gemeint, dass die Zeit der guten Stuben vorbei sei. Sie hatten aus dem Wohnzimmer, das Frida und Edward früher nur gelegentlich geöffnet und sehr selten geheizt hatten, einen Raum gemacht, den sie täglich benutzten. Der Altenteil für Frida und Edward war dem großen Haus angebaut worden, in dem die Familie Heflik nicht nur wohnte, sondern auch arbeitete, denn die Schreinerei war dort ebenfalls untergebracht. Platz gab es genug auf dem Anwesen der Hefliks. Sie hatten nie Landwirtschaft betrieben, aber Edwards Vorfahren waren der Meinung gewesen, dass es gut war, möglichst viel Land zu besitzen. Dass sie damit recht gehabt hatten, wurde nun bewiesen. Viele Bauern verkauften jetzt sogar einen Teil ihrer Ländereien, weil die Dörfer, und auch Riekenbüren, wuchsen und durch Neubausiedlungen erweitert wurden, sodass die Agrarfläche zu Bauland wurde. Davon hatten die Hefliks zwar noch nicht profitiert, aber Edward hatte schon vor über zwanzig Jahren das Weideland hinter dem Haus einer neuen Verwendung zugeführt. Er hatte einen Campingplatz dort eröffnet. Dass die Deutschen im Wirtschaftswunder immer reiselustiger wurden, war nicht zu übersehen. Früher erschienen hauptsächlich junge Leute, die ihre Zelte aufbauten, dann kam die Zeit der Wohnanhänger. Und je anspruchsvoller die Camper wurden, desto mehr musste man ihnen bieten. Frida hatte das sofort verstanden. Edward Heflik hatte zwar gemurrt, aber dann doch eingesehen, dass er Sanitärhäuser bauen musste, nicht nur mit Toiletten, sondern auch mit großzügigen Duschanlagen. Die Camper waren längst keine Leute mehr, die sich keinen anderen Urlaub leisten konnten, es handelte sich vielfach um Menschen, die sich dem Campen verschrieben hatten, weil sie sich freier fühlten als in einem Hotel, allein schon, weil sie auf einem Campingplatz keiner Kleiderordnung oder sonstigen Zwängen unterlagen.

Der Platz war gut besucht, vor allem natürlich im Sommer, hatte mittlerweile viele Stammgäste und seit Neuestem auch Gäste, die ihren Wohnwagen das ganze Jahr über auf dem Platz stehen ließen. Sogar ohne Räder, auf einem festen Fundament, als wäre es ihr zweites Haus.

Frida freute sich darüber, dass sie jetzt einen Blick auf einen Teil des Campingplatzes hatte, wo es immer etwas zu sehen gab. Sie fühlte sich wohl in ihrem neuen Zuhause, während Edward oft beanstandete, dass sie abgeschoben worden seien. Kein direkter Zugang zur Werkstatt und auch nicht zu der Wohnung der jungen Familie. Frida vermisste allenfalls die Fenster nach vorn zur Straße hin. Sie hatte während der Küchenarbeit gern aufgeblickt, wenn jemand vorüberging, hatte beobachtet, wer im allerletzten Moment den Bus erwischte und wer zu spät gekommen war, wer eine Nachbarin begrüßte und eine Weile mit ihr schwatzte, und wer sich unter den Regenschirm duckte, um den Pfarrer nicht sehen und sich ermahnen lassen zu müssen, mal wieder den Gottesdienst zu besuchen. Für Frida war es am wichtigsten, dass sie den Garten behalten hatte, der hinter dem Haus lag. Halina legte keinen Wert darauf, Obst und Gemüse selbst zu ziehen, das überließ sie gern ihrer Schwiegermutter.

Frida wiegte den Oberkörper und summte mit, während sie den Frühstückstisch abräumte. »An der Nordseeküste …« Sie fand es herrlich, jederzeit Unterhaltung aus dem Radio zu haben, von allen Neuigkeiten sofort zu erfahren, quasi nie mehr in ihrer Küche allein zu sein. Mittlerweile erkannte sie die Radiomoderatoren an ihrer Stimme und hatte das Programm im Kopf.

Sie hatte zugenommen im Laufe der letzten Jahre. Ihr Körper war schwerer geworden, ihre Beine, die ihre Schwestern erbarmungslos Sauerkrautstampfer genannt hatten, waren noch dicker geworden und außerdem von Krampfadern durchzogen. Ihr dünnes Haar wirkte auch durch eine Dauerwelle nicht voller, ihre Gesichtshaut schien von Tag zu Tag fahler zu werden. Wenn sie sich morgens im Spiegel betrachtete, seufzte sie manchmal, aber wenn sie dann in der Küche das Radio anstellte und die neue Kaffeemaschine in Gang setzte, die Brit ihr geschenkt hatte, ging es ihr besser. Sie war nie hübsch gewesen, auch als junges Mädchen nicht, trotzdem hatte sie den flotten Edward zum Mann bekommen, den Erben eines soliden Unternehmens, der Schreinerei Wunder, und lebte seitdem in einem angenehmen Wohlstand. Dass der flotte Edward sie vor seiner Erkrankung keines Blickes gewürdigt hatte, spielte keine Rolle mehr. Bevor er Kinderlähmung bekommen hatte, war er der attraktivste Mann des Dorfes gewesen, der ein Mauerblümchen wie Frida überhaupt nicht beachtet hatte. Aber als er mit dem lahmen Bein nicht mehr tanzen konnte und nicht einmal in den Krieg ziehen durfte, hatte sich vieles geändert. Frida und Edward waren sich mit einem Mal ebenbürtig gewesen, das unscheinbare Mädchen und der hinkende Schreiner.

Es klopfte an der Hintertür, sie wurde geöffnet, bevor Frida zum Eintreten auffordern konnte. Das musste Halina sein. Sie fand, dass das Klopfen eine Sache der Höflichkeit war, während Hasso der Ansicht war, dass man an der Tür der Eltern nicht zu klopfen brauchte.

»Guten Morgen!« Halina steckte den Kopf in die Küche, als hätte sie keine Zeit einzutreten. »Habt ihr Kaffee im Vorrat? Meiner ist aus.« Halina bot in diesem Sommer an dem Kiosk, der zum Campingplatz gehörte, auch Kaffee und belegte Brötchen an, für die Camper, die im Urlaub ihr Frühstück nicht gerne selber zubereiteten. »Nachher mache ich einen Großeinkauf.« Nun kam sie doch in die Küche und schloss die Tür hinter sich. »Dann bringe ich gleich mehrere Kilos mit.«

Halina war noch immer so schlank wie als junges Mädchen, trug gern Röhrenjeans, die ihren Schwiegereltern nicht gefielen, Blusen mit riesigen Schulterpolstern und einen Mecki-Haarschnitt, der vor allem ihrem Schwiegervater nicht gefiel. »Braucht ihr etwas, was ich mitbringen soll?«

Frida suchte ihr letztes Pfund Kaffee aus dem Vorrat und reichte es Halina. »Mineralwasser«, antwortete sie.

»Wasser aus dem Kran schmeckt genauso gut«, brummte Edward.

Frida legte Wert darauf, das Thema zu wechseln. »Habt ihr etwas von Dennis gehört?«

Ihr Enkel, der später einmal die Schreinerei übernehmen sollte, lernte zurzeit in einem holzverarbeitenden Betrieb in Bremen. Hasso war es wichtig gewesen, dass er nicht bei seinem Vater lernte, sondern erst in die Schreinerei Wunder eintrat, wenn er fertiger Geselle war. Die Ausbildungsstelle in der Firma Johannsen war genau richtig. Eine Schreinerei, dreimal so groß wie die Schreinerei Wunder, mit einer technischen Ausstattung, von der Hasso nichts verstand und die Dennis vielleicht später mal in Riekenbüren einführen würde. Er wusste dann, worauf es ankam.

Halina zuckte mit den Schultern. »Er meldet sich nicht oft. Er sagt, er hat viel zu tun.«

»Wenn er das Abitur nicht gemacht hätte«, brummte Edward, »könnte er längst seinem Vater zur Hand gehen.«

Aber da war Halina anderer Ansicht. »Man weiß nie, was kommt. Mit dem Abitur in der Tasche stehen ihm alle Möglichkeiten offen.« Sie machte deutlich, dass sie zu keiner Diskussion bereit war, dass jedes Gespräch über diese Entscheidung überflüssig war. »Ich bin froh, dass er bei Johannsen arbeitet. Eine gute Firma. Und besonders erfreulich ist, dass man dort für die Lehrlinge Zimmer vermietet. Stellt euch vor, wir hätten für Dennis eine Wohnung in Bremen mieten müssen!« Eine Reaktion der Schwiegereltern wartete sie gar nicht ab. Mit dem Kaffee in der Hand verabschiedete sie sich wieder. »Bis später!«

»Ein Schreiner mit Abitur«, knurrte Edward. »Wo gibt’s denn so was?«

»Ich bin froh, dass er nach Bremen gegangen ist«, sagte Frida. »Weit weg von der Spielhalle.«

Sie war das ganz große Ärgernis in Riekenbüren. Direkt neben der Kirche war sie eröffnet worden, ohne dass der Pfarrer es hatte verhindern können. Der Konsum war geschlossen worden, weil sich so ein kleiner Lebensmittelmarkt nicht mehr lohnte und die Riekenbürener ja sowieso im Großmarkt kurz vor Achim einkauften, wo es immer viele Sonderangebote gab. Lange hatte das Ladenlokal leer gestanden, bis die Spielhalle eingezogen war, die von den Älteren gern Spielhölle genannt wurde. Die Fenster waren verhängt worden, dahinter schien alles dunkel zu sein, aber wenn sich die Tür öffnete, sah man es in allen Farben blinken, und es zirpte, jaulte und piepte. Voller Sorge hatte die ganze Familie Heflik beobachtet, welche Anziehungskraft die Spielhalle auf Dennis ausübte, der stundenlang vor den Spielautomaten sitzen und Zahlen und irgendwelche Symbole anstarren konnte, um schließlich mit leeren Taschen nach Hause zu kommen. Die Spielhalle war einer der Gründe gewesen, warum Dennis seine Ausbildung nicht in Riekenbüren, sondern in Bremen machen sollte.

»Das Leben ändert sich«, sagte Frida. »Heutzutage haben auch Handwerker das Abitur.«

Sie stellte das Radio ein wenig lauter, denn Modern Talking hörte sie besonders gern, wenn Edward auch darüber schimpfte, dass im Radio ständig Englisch gesungen wurde.

»You’re my heart, you’re my soul …«

Juni 1985, Sylt

Mike Heiser stand auf der Terrasse seines Hauses und blickte aufs Meer, das an diesem Morgen so aussah, als stammte es aus Picassos blauer Periode. Weit hinten wie ein Blau kurz vor Mitternacht, davor mit grünem Einfluss und im Auslaufen so hell wie Eiswasser. Es würde ein sonniger Tag werden. Noch war der Himmel verhangen, die Wolkendecke grau, aber sie würde bald aufreißen, das war schon zu sehen und zu spüren. Die Sonne blinzelte bereits durch den Wolkenvorhang, streichelte mit spitzen, kurzen Strahlen, als wollte sie noch nichts von kugelrunder Wärme wissen. Mike zog den Pullover über den Kopf, den er sich, als er auf die Terrasse trat, über die Schultern gelegt hatte. Es würde noch ein, zwei Stunden dauern, bis sich die kalte, klare Luft erwärmte. Er warf den Kopf zurück und strich sich mit der Rechten übers Haar, blond und leicht gewellt, vom besten Haarkünstler der Insel in Form gebracht. Manchmal ließ er sogar einen Friseur aus Hamburg kommen, den angeblich besten Europas, der dann ein paar Tage im Gästetrakt von Mikes Haus Urlaub machen durfte. Aber Mike Heiser gab sich Mühe, seinem Äußeren nicht zu viel Aufmerksamkeit zu widmen, er wollte nicht unmännlich erscheinen. So was passierte schnell. Zwar ließ man einem Mann, der mit Mode sein Geld verdiente, einiges durchgehen, aber er wollte nicht, dass hinter seinem Rücken getuschelt wurde und die Leute sich vielsagende Blicke zuwarfen. Das war schlecht fürs Geschäft und die eigene Persönlichkeit.

Er hörte, dass die Terrassentür aufgeschoben wurde und dann Julians leichte Schritte. Mike lächelte, schloss die Augen und legte den Kopf zurück. Er wusste, dass Julian ihn gleich von hinten umarmen würde und er seinen Kopf an dessen Brust legen konnte. Beide liebten es, den Tag so zu beginnen, mit einem Moment auf der Terrasse, schweigend, mit dem Blick aufs Meer.

Nach einer Weile löste sich Julian von Mike und trat an seine Seite. Er war ein großer, kräftiger Mann, zu dem der Hüftschwung nicht passte, mit dem er sich bewegte. Mike hatte oft versucht, ihn zum kräftigen Ausschreiten, zum breitbeinigen Gehen, zu maskulinen Bewegungen zu bringen. Er hatte Angst, dass Julian Haarbeck seine Homosexualität auf den ersten Blick anzusehen war, dass er bestätigte, was viele dachten: Männer, die sich mit Mode beschäftigen, sind schwul. Mike selbst brauchte das Interesse der Frauen, für die er Mode machte. Seine Bewunderinnen waren ihm wichtig, so lästig sie ihm andererseits auch oft waren. Aber sie bewiesen, dass er ein Mann war, so wie ein Mann in diesen Zeiten zu sein hatte. Er legte Wert darauf, seine Position mitten in der Gesellschaft zu behaupten, nicht am Rande, dort, wo Homosexuelle nach wie vor landeten.

Missbilligend betrachtete er Julians gezupfte Augenbrauen und seine getuschten Wimpern, verkniff sich aber eine Bemerkung. »Sind die Putzfrauen mit der Arbeit fertig?«

Julian nickte. »Das war wieder eine tolle Party. Dass die Half Brothers glaubten, sie wären zu einem Hauskonzert gebeten worden – zum Totlachen!« Wie er die erste Silbe betonte! Julian begriff einfach nicht, dass ihn solche Nuancen schon verrieten, da machte es kaum noch einen Unterschied, dass er auf die wegwerfende Handbewegung nah am Körper verzichtete, die in der Gesellschaft zum Symbol des stereotypen Schwulen geworden war. »Hoffentlich schicken sie keine Rechnung.«

»Und wenn, dann bezahlst du sie.«

»Okay.« Ein winziges Lächeln lag auf Julians Gesicht, während seine Blicke über die Dünen, den Strand, den Ufersaum wanderten, als suchte er etwas. Aber Mike kannte den Grund für Julians Staunen, das ihn Morgen für Morgen erneut überkam: Er war glücklich, hier leben zu dürfen. Mike war immer wieder gerührt, wenn er das bemerkte.

»Der Schneider wird morgen Vormittag kommen«, sagte Julian. »Gegen elf.«

»Versuch, den Termin auf den Nachmittag zu verlegen. Ich werde morgen nach dem Frühstücken zu Karis Eltern fahren.«

Julian schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht fassen. »Ihr wollt das also wirklich durchziehen?«

»Kari hat es mir angeboten.«

»Erstaunlich.«

»Wir sind befreundet.«

»Trotzdem.«

Mike runzelte die Stirn. »Ich bin das Getuschel leid. Danach wird Schluss sein mit den hässlichen Mutmaßungen.«

»Es geht also um die Fernsehshow«, stellte Julian fest.

»Ja, natürlich … das auch.« Mike Heiser, der immer gern behauptete, Berühmtheit und Publicity seien ihm nicht so wichtig, er wolle nur mit Stoffen und Schnittmustern arbeiten, dann sei er glücklich … dieser Mike Heiser fand nun das Angebot, das ihm die ARD gemacht hatte, so attraktiv, dass er nicht widerstehen konnte. Die Sendung sollte eine Art Modenschau werden, aber die Zuschauer vor den Bildschirmen würden mit dabei sein dürfen, wenn Mike die erste Idee für ein Kleidungsstück hatte, wenn er sich Gedanken über den Stoff machte, wenn er zum Einkaufen fuhr, um das richtige Material zu finden, wenn er selber nähte, an wunderschönen Mannequins seine Modelle ausprobierte. Für eine solche Sendung ist kein anderer besser als der berühmteste Mode-Designer Deutschlands: Mike Heiser. Allerdings … die Gerüchte, die sich um ihn rankten, gefielen dem Sender nicht.

Der Programmchef hatte es ihm klipp und klar gesagt: »Bei uns wird kein 175er beschäftigt, wir würden uns ja strafbar machen.«

»Dieser Idiot«, murmelte Julian. »Strafbar sind nur noch sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter achtzehn Jahren.«

»Darauf kommt es nicht an«, gab Mike zurück. »Die ARD weiß, dass der größte Teil seiner Zuschauer keine Homos auf dem Bildschirm sehen will. Das ist nun mal so. Und diejenigen, die mit ihren Gebühren dafür sorgen, dass die Sender ihre Programme produzieren können, haben das Sagen. Über die kann man sich nicht einfach hinwegsetzen. Ich verstehe das sogar.«

Julian Haarbeck seufzte tief auf. »Und deswegen …«

Mike ließ ihn nicht zu Ende sprechen. »Ja, deswegen! Ich bin sehr dankbar, dass sie mir dieses Angebot gemacht hat.«

»So wichtig ist dir diese Fernsehshow?«

Mike wollte nicht gern bejahen, aber er nickte dann doch. »Das ist eine Riesenchance. Alle Mike-Heiser-Modelle können wir in Zukunft glatt fünfzig Prozent teurer verkaufen.«

Mike löste sich von Julian, machte einen Schritt vor, bis zum Rand der Terrasse und schirmte die Augen mit der Hand ab, während er aufs Meer sah, als suchte er ein Schiff am Horizont, das ihm Seide aus China bringen würde. »Kari besteht darauf, dass alles formvollendet vonstattengeht. Ihre Eltern dürfen den wahren Grund nicht kennen. Sie sind zwar ganz nett, sagt sie, aber schreckliche Spießer.«

»Dann wird Kari bald hier einziehen?«

»Ich glaube, das ist für sie der Hauptgrund, mir diesen Gefallen zu tun. Sie will von zu Hause weg. Dort ist ständig die Rede davon, dass sie das Café weiterführen soll oder die Stiftung auf dem Festland oder die Hotels … Das ist nichts für Kari.«

»Sie wird dann auf deine Kosten leben.«

»Natürlich. Das ist ja ganz normal.«

Julian sah nicht so aus, als gefiele ihm dieser Gedanke. »Was ist mit dem Mann, der sie zur Party begleitet hat? Ist das ihr Freund?«

»Nein, nur irgendein Bekannter, ein belangloser Flirt.«

»Ich habe gesehen, dass sie mit ihm zusammen am Pool war. Und dann waren plötzlich beide verschwunden.«

Mike zuckte mit den Schultern. »Wir werden natürlich in aller Ausführlichkeit besprechen müssen, wie das in Zukunft aussehen wird.« Er drehte sich um und ging ins Haus zurück. »Vielleicht müssen wir sogar einen Vertrag abschließen. Ich könnte mal mit dem Anwalt darüber reden.«

Juni 1985, Achim

Romy Wimmer hätte sich, wenn sie gefragt worden wäre, eine schöne junge Frau genannt. Schön? Jung? Sie war nun über vierzig. Und was ihr an ihrem Äußeren gefiel, war mit viel Zeit und Aufwand am Morgen vor dem Badezimmerspiegel entstanden. Aber Romy hatte schon als sehr junges Mädchen dazu geneigt, sich selbst zu überschätzen.

Ihr Vorbild war Linda Evans aus dem Denver-Clan. Romy war blond wie sie, föhnte ebenfalls ihren Pony zu beiden Seiten auf, sorgte für eine hochtoupierte Pracht auf dem Oberkopf und eine sorgfältig gelegte Innenrolle in den knapp über den Schultern endenden Haaren. Was in Mode kam, wurde von Romy Wimmer umgehend aufgegriffen. In Achim und Riekenbüren hatte sich noch gar nicht herumgesprochen, dass Blusen neuerdings riesige Puffärmel haben mussten, da saß Romy schon wie ein Weihnachtsengel am Schreibtisch und war auch eine der Ersten, die eine Steghose trugen. Ihr Gesicht war hell geschminkt, der Kajalstrich, der ihre Augen betonen sollte, konnte ihr gar nicht dick genug sein. Als sie einmal mit einer Ballonhose zur Arbeit erschien, war zwei Wochen später ein Vertreter für Hotelseifen zu Brit und Olaf gekommen, der sich dezent erkundigt hatte, ob sie eigentlich wüssten, dass die Angestellte, die im Büro der Knut-Augustin-Stiftung saß, wie eine Haremsdame ihren Dienst versah. Olaf war der Meinung gewesen, man müsse ein Gespräch mit Romy führen, aber Brit hatte darauf bestanden, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Romy hatte immer schon gemacht, was sie wollte, und wenn ihr jemand dreinredete, dann erst recht. Mit einem Mitarbeitergespräch würden sie genau das Gegenteil von dem erreichen, was sie vorhatten. Das hatte Olaf schließlich eingesehen.

An diesem Tag war Romys Kajalstrich noch dicker ausgefallen, der Mund knallrot geschminkt, die Wimpern zu Fliegenbeinen getuscht. Die Presse hatte sich angemeldet. Ein Bericht über die Knut-Augustin-Stiftung und über das Hotel mit dem ausgefallenen Namen »Haus für gefallene Mädchen« war geplant. Und das für das größte überregionale Blatt Norddeutschlands. Romy war total aus dem Häuschen.

Nicole Heflik betrachtete sie kopfschüttelnd. »Das ist doch keine Reportage über Romy Wimmer! Glaubst du etwa, die wollen dich fotografieren?«

»Man kann nie wissen! Jedenfalls sollte man auf alles vorbereitet sein.« Missbilligend betrachtete Romy das junge Mädchen, das so aussah wie immer, was in diesem Fall bedeutete: so unscheinbar wie immer. Nicole hatte leider von der Attraktivität ihres Vaters und ihres Großvaters nichts abbekommen, auch ihrer Mutter ähnelte sie nicht, sie kam ganz auf ihre Oma Frida Heflik. Deren fahle Gesichtshaut hatte sie geerbt, die kleinen farblosen Augen, das aschblonde Haar und dazu noch den breiten Unterkörper mit den dicken Beinen. Romy schwankte, wenn sie Nicole ansah, oft zwischen Mitgefühl und Ungeduld. Sie tat ihr einerseits leid, es brachte sie aber andererseits auf, dass sie sich so bereitwillig mit ihrer Plumpheit abfand. Eine modische Frisur, ein raffiniertes Make-up und Kleidung, die die Problemzonen versteckte, hätten nach Romys Meinung auch aus Nicole ein Mädchen machen können, das, wenn nicht hübsch, so doch einigermaßen ansehnlich gewesen wäre. Erst recht wäre sie vielleicht dem einen oder anderen Mann aufgefallen, wenn sie temperamentvoll und geistreich gewesen wäre, aber auch auf diesem Gebiet konnte sie nicht punkten. Nicole Heflik war still – Romy nannte es langweilig – und hielt sich grundsätzlich zurück, wenn andere mit Witz und Charme brillierten. Möglich natürlich, dass die Zeit auf der Sonderschule ihr Selbstbewusstsein untergraben hatte, das hielt sogar Romy für möglich. Nicole hatte nach wie vor Schwierigkeiten mit dem Lesen, sie setzte die Wörter zusammen wie ein Erstklässler, und die Rechtschreibung war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Ein Büroberuf war für sie eigentlich genau das Falsche, aber Nicole hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihr Leben hinter einer Schreibmaschine und in der Nähe eines Telefons zu verbringen. Bürogehilfin! Das war ihr Traumberuf, der Beruf, den ihr jeder Berater im Arbeitsamt hatte ausreden wollen. Aber Nicole war hartnäckig gewesen, was sie sich leisten konnte, weil Olaf Rensing, der Mann ihrer Tante, bereit war, ihr eine Chance in der Stiftung zu geben, die er ins Leben gerufen hatte. Romy hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie Nicoles Bewerbungsunterlagen in die Hand bekam, und Brit gefragt, ob sie noch ganz bei Trost sei. Aber Brit hatte ihr klargemacht, dass sie es ihrem Bruder schuldig sei, sich um seine Tochter zu kümmern, und dass die Familie immer Vorrang habe. Also arbeitete Nicole Heflik nun in der Knut-Augustin-Stiftung, und Romy war mittlerweile zu der Überzeugung gekommen, dass viel mehr in dem Mädchen steckte, als das Zeugnis der Sonderschule vermuten ließ. Die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben machte Nicole wett durch große Freundlichkeit, sprachliche Gewandtheit am Telefon und unermüdliche Arbeitsbereitschaft. Dazu konnte sie flott rechnen und hatte eine viel flinkere Auffassungsgabe, als ihre Familie glaubte. Dumm nur, dass sie nicht Schneiderin oder Verkäuferin werden wollte, wo sie sicherlich sehr erfolgreich gewesen wäre, sondern unbedingt in einem Büro arbeiten wollte. Für ihr Leben gern hätte sie die Handelsschule besucht wie ihre Oma, ihre Tante und auch Romy, aber dort war sie nicht angenommen worden. Die Aufnahmeprüfung war für jemanden, der weder richtig lesen noch schreiben konnte, nicht zu bewältigen.

Die Tür wurde aufgestoßen, zwei Männer rempelten sich gegenseitig ins Büro, einer mit Kameras behängt, der andere mit einem Stativ über der Schulter. Offenbar hatte keiner von ihnen geglaubt, dass sie nicht nebeneinander durch den Eingang passten. »Moin!«

Der junge Mann mit dem schmalen Diktiergerät in der Hand wurde von Romy erst zur Kenntnis genommen, als die beiden Fotografen festgestellt hatten, dass es in diesem Büro nichts gab, das sich lohnte zu fotografieren.

»Das Wetter ist gut. Ich denke, wir arbeiten draußen, vor dem Haus.« Der Reporter streckte Romy die Hand hin. »Gisbert Rosner.« Dass er Nicole nicht zur Kenntnis nahm, war zu erwarten gewesen. Er erschrak förmlich, als sie hinter ihrem Schreibtisch hervorkam, um die Pressevertreter in den Vorgarten zu führen.

Vor dem Haus bauten die Fotografen die Stative auf, kontrollierten die Entfernungen, sahen immer wieder in ihre Kameras und änderten dann erneut den Standort. Gisbert Rosner sah Romy erst von Kopf bis Fuß an und ihr dann wohlwollend ins Gesicht. So, wie es ihr gefiel. »Erzählen Sie mir bitte von diesem Haus und von dem Hotel nebenan. Die beiden Gebäude gehören zusammen, richtig?«

Romy bestätigte es. Und Gisbert Rosner war besonders interessiert, als sich herausstellte, dass Romy Wimmers Leben eng mit den beiden Häusern verknüpft war. Sie zeigte zu dem Hotel nebenan, das aber, weil die Grundstücke sehr groß waren, kaum zu sehen war. Dichte Hecken versperrten die Sicht auf die weite Rasenfläche, auf der sich die Hotelgäste sonnten. Der alte Baumbestand war so gut es ging erhalten geblieben, sodass das Hotel wie beschützt von dichten Baumkronen dastand. »Das ist das Entbindungsheim – so hieß es damals offiziell. Überall wurde aber nur von dem ›Haus für gefallene Mädchen‹ gesprochen. Und Olaf Rensing, der es damals gekauft hat, fand es witzig, den Namen zu erhalten.« Romy lachte leise. »Sie glauben gar nicht, wie verblüfft die Gäste reagieren, wenn sie hören, wie das Vier-Sterne-Hotel in der Nähe von Bremen heißt.«

Gisbert Rosner sah in seine Unterlagen. »Herr Rensing hat das Haus umgebaut?«

»Er hat nur den vorderen Teil stehen lassen. Dort war früher das Büro und ein kleiner Raum, in dem die schwangeren Mädchen Besuch empfangen durften. Daraus hat der Architekt die Rezeption gemacht, mit einer Bildergalerie, die an das frühere Haus für gefallene Mädchen