Caffè Latte mit Schuss - Gudrun Grägel - E-Book
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Caffè Latte mit Schuss E-Book

Gudrun Grägel

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Beschreibung

Spitzenköchin Doro Ritter und ihr Freund Vinc aus München machen Urlaub in Malcesine am Gardasee, als ein grausiger Fund die Bewohner des idyllischen Örtchens am Fuße des Monte Baldo beunruhigt. Die Polizei ist gezwungen, einen alten Fall neu aufzurollen. Misstrauen und Angst breiten sich unter den Einheimischen aus. Welches tragische Geheimnis birgt die Vergangenheit? Muss es erst weitere Tote geben, bevor das Rätsel gelöst werden kann? Doro und Vinc wollen das verhindern und geraten dabei selbst in Gefahr.

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Seitenzahl: 417

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gudrun Grägel

Caffè Latte mit Schuss

Gardasee-Krimi

Zum Buch

Verrat am Monte Baldo Doro Ritter, Gourmetköchin aus München, weilt gerade in ihrem wohlverdienten Urlaub am Gardasee, als ein entsetzlicher Fund am Hang des Monte Baldo den idyllischen Ort Malcesine in Unruhe versetzt und die dortige Polizei zwingt, einen alten Fall neu aufzurollen. Was ist passiert, damals vor 20 Jahren – hier, am malerischen Gardasee? Und was hat es mit den merkwürdigen Botschaften auf sich, die ein geheimnisvoller Unbekannter in schwarzen Lettern an die Kirchentür mitten im Ort heftet? Doro spürt die Angst, die sich unter den Einheimischen ausbreitet wie ein aufziehendes Gewitter. Was verschweigt die Polizei den Leuten? Lebt ein Mörder unter ihnen? Doro will helfen und das alte wie das neue Rätsel lösen. Zusammen mit ihrem Freund Vinc stemmt sie sich gegen das Böse und gerät dabei selbst in den Fokus des Täters.

Geboren und aufgewachsen in Augsburg, hat Gudrun Grägel ihr Abitur mit Fachrichtung Pädagogik/Psychologie und anschließend eine pharmazeutische Ausbildung absolviert. Aus ihrem erworbenen Wissen zieht sie mörderische Ideen für spannende Kriminalromane. Ihr Ziel ist es, ihre Leser mitzunehmen, auf kriminelle Lesereisen an idyllische Orte. Und so schickt sie ihre Protagonistin Doro Ritter, die als Gourmetköchin in München arbeitet, regelmäßig und mit Erfolg zum Ermitteln an den Gardasee. Dolce Vita und Spannung für ihre Leser – und für die Autorin selbst ein schöner Grund, immer wieder auf Recherchereise zu gehen.

Für euch da auf Instagram und Facebook.

Facebook: GudrunGraegel

Instagram: gudrungraegel

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Kartengestaltung: Julia Franze und Martin Grägel

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Daniel Jędzura / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3196-3

Widmung

Für meine Familie Für Sammy – meinen persönlichen Rambo

Zitat

»[…] Wie ich mir vorgenommen hatte, ging ich morgens beizeiten in das alte Schloß, welches ohne Tor, ohne Verwahrung und Bewachung jedermann zugänglich ist. Im Schloßhof setzte ich mich dem alten und in den Felsen gebauten Turm gegenüber; hier hatte ich zum Zeichnen ein sehr bequemes Plätzchen gefunden […]«

(Goethe: »Italienische Reise«, September 1786)

Personen

Doro Ritter,29 Jahre,Spitzenköchin aus München, ermittelt dieses Mal in Malcesine am Gardasee und streckt ihre kriminalistischen Fühler tief in die Vergangenheit

Vincent Wolkenberg, genannt Vinc, ist genauso an der Lösung des Rätsels interessiert wie seine Freundin Doro

Danilo Benedini, Studienfreund von Vinc, baut das Haus seiner nonna Rosa um und lädt Doro und Vinc ein, gegen Kost und Logis bei den Renovierungsarbeiten zu helfen

Rosa Benedini, Danilos nonna (Oma)

Luca Marinelli, Polizist, Surfer und Freund von Danilo, darf seinen ersten Fall lösen

Commissario Dantes, Chef von Luca, stellt ihm die junge Kollegin Claudia Ferri zur Seite, was Luca mit gemischten Gefühlen sieht

Antonella Cavaletto-Bianchi,sie vermisst ihren Zwillingsbruder Marco und liebt ihren Sohn Fabio

Fabio Bianchi, 15 Jahre alt, Sohn von Antonella Cavaletto-Bianchi, Surf-Schüler von Danilo Benedini, darf bei der Renovierung seines alten Hauses mithelfen, da Danilo weiß, dass Fabios bisnonna (Uroma), Valentina Cavaletto, göttlich kocht und es sich nicht nehmen lassen wird, ihren Fabio und damit die ganze Mannschaft zu bekochen

Carlo Bianchi, Ex-Mann von Antonella und Vater von Fabio

Valentina Cavaletto,nonna der Zwillinge Antonella und Marco Cavaletto, sie ist eine alte Freundin von Rosa

*

Azienda Agricola Passamonte:

Salvatore Passamonte, Witwer, Vater von Maurizio, er hat die Leitung der Azienda Agricola Passamonte in die Hände seines Sohnes gelegt

Maurizio Passamonte, Salvatores Sohn, 50 Jahre alt, betreibt mit seiner Frau Emilia die Azienda Agricola Passamonte am Hang des Monte Baldo

Emilia Passamonte, 40 Jahre alt, Ehefrau von Maurizio und Mutter von Laura und Elia

Monsignore Altoni, der alte Pfarrer von Malcesine, der seit mehr als 20 Jahren hier seinen Beruf oder seine Berufung ausübt – fiktiv und nur für seine Gemeinde in diesem Fall, die aber dringend geistigen Beistand braucht …

Leonardo, der Esel, der mit dem Spruch »stur wie ein Esel« nichts anfangen kann – Mutter Theresa scheint eher sein Vorbild zu sein

Unicorno, kein Einhorn, sondern eine Ziege, im Gegensatz zu Leonardo sehr stur – was sie auch gar nicht zu verbergen sucht

Rambo, Doros stattlicher Kater, glänzt wie immer mit Abwesenheit, muss in München die Wohnung, den Viktualienmarkt und die Belegschaft des »Macis« unter Kontrolle halten

Karte

Prolog

Das trübe Licht der Küchenlampe wirft einen verschwommenen Kreis auf die Tischplatte. Eine Hand greift zur Feder, taucht die Spitze in die schwarze Tinte, tupft kurz ab und führt sie dann übers Papier. Ruhig und gleichmäßig reiht sich Buchstabe an Buchstabe, Wörter entstehen. Sätze. Die Feder kratzt leise und stetig über die raue Unterlage, bleibt kurz hängen. Der Augenblick genügt, damit sich das Papier mit einem stecknadelkopfgroßen schwarzen Fleck vollsaugt, bevor die Feder weiterzieht.

Non uccidere. Non uccidere. Non uccidere!

Du sollst nicht töten. Drei Mal. Das letzte Mal mit Ausrufezeichen. Die Hand führt die Feder zum Tintenfass, benetzt sie, streicht sie an dem kleinen Lederlappen ab, der seine hellbraune Farbe längst verloren hat und schwarz, an manchen Stellen hart von der Tinte, neben dem Fässchen liegt.

Nach einer Weile verharrt die Hand, legt die Feder ab, und leiser Singsang begleitet das Rascheln der Buchseiten, die Lampe flackert, als wollte sie protestieren, Einhalt gebieten. Das Rascheln verstummt, der Gesang geht in ein leises Murmeln über. Die Stelle im Buch der Bücher, der Heiligen Schrift, der Sacra Bibbia, ist gefunden. Der zornige Gott richtet über die Menschen, die er einst geschaffen hat. Seine Anweisungen sind klar und konsequent.

Die Stuhlbeine schrappen über den speckigen Terrakottaboden, die Lampe kommt ins Trudeln. Nicht nur Gott ist zornig. Die Buchstaben verzerren sich zu bösen Grimassen, lang gezogen und bedrohlich scheinen sie aus dem Papier zu wachsen, um ihrer Bedeutung Nachdruck zu verleihen.

Kapitel 1

Sole – Sonne

Giugno (Juni) – Lunedì (Montag) – Tag 1 in Malcesine

Ein wenig mürrisch schlürfe ich den Milchschaum von meinem Cappuccino. Hinter mir schiebt sich die Sonne über dem Monte-Baldo-Massiv in die Höhe. Was hier, in Malcesine am östlichen Ufer des Gardasees, bedeutet, dass wir noch bis Mittag den Schatten genießen können, während am gegenüberliegenden Ufer das malerische Limone bereits unter der prallen Sonne stöhnt. Selbst jetzt im Juni erreichen die Temperaturen knapp unter 30 Grad. Ich fläze auf einem der bunten Sitzsäcke, die Danilo vor seiner Surf- und Kiteschule drapiert hat. Danilo hat zwei Semester in München studiert und sich dabei mit Vinc, meinem persönlichen Traumprinzen, angefreundet, bevor er in seine Heimat Malcesine zurückgekehrt ist. Seine capanna, wie er seine Sportschule am Lungolago von Malcesine liebevoll nennt, ist wirklich nur eine Hütte und keine wirkliche Konkurrenz für die »Großen«. Aber das will Danilo auch gar nicht, stattdessen schart er zahlende und nicht zahlende Menschen um sich und vermittelt gerne die volle Breitseite an Dolce Vita. Idealistisch oder blauäugig? Ich mag ihn jedenfalls. Er hat Vinc und mich eingeladen, ein paar Wochen bei ihm zu wohnen, zu surfen – und ihm beim Umbau seines Hauses im Ort zu helfen. Wir sind seit ein paar Tagen hier und nutzen morgens erst mal den frühen Wind am See. Draußen auf dem Wasser tummeln sich die Surfer und Kiter mit ihren farbenprächtigen Segeln. Wingsurfer pflügen auf einer schmalen Unterwassertragfläche, dem Holm, wie ich gelernt habe, durch die Fluten. Vinc, Danilo und Luca sind mitten unter den Windvernarrten auf dem See. Nur ich sitze hier am Ufer. Ich kneife meine Augen zusammen, um das neonorange Segel von Vinc auszumachen. Er kurvt relativ nah am Ufer, sein Board liegt noch vollständig auf der Wasseroberfläche, jetzt dreht er eine Schleife und winkt mir zu. Mit meiner gesunden rechten Hand winke ich zurück. Und genau da liegt der Hund begraben: Meine linke Hand ist momentan out of order. Dick verpackt unter einigen Lagen Mull, hängt sie nutzlos herum. Das passiert den besten Profis, hat Paps mich getröstet und mir diverse mehr oder weniger noch sichtbare Beweise an seinen eigenen Fingern gezeigt. Kenne ich alle zur Genüge, ich durfte die jeweilige Leidensphase hautnah miterleben – was fast mehr Kraft gekostet hat, als die eigene Schnittwunde zu ertragen. Der Schmerz an sich ist mit Tabletten gut in den Griff zu bekommen, nicht dagegen die Untätigkeit, zu der ich dank meines Missgeschicks verdonnert bin. Statt draußen auf dem See mit Vinc um die Wette zu düsen, muss ich hier den Sitzsack hüten und meine innere Unruhe im Zaum halten. Vinc hat längst Fahrt aufgenommen und reitet, nur durch die schmale Tragfläche mit dem Wasser verbunden, über die Wellen des Gardasees. Meine Gedanken schweifen zurück zu dem unseligen Moment vor vier Wochen, der mich seitdem zum Nichtstun zwingt. Zu ebenjenem Moment, als mich mein Ehrgeiz dazu getrieben hat, unseren Souschef beim Zucchinischneiden übertrumpfen zu wollen. Er ist der ungekrönte König in dieser Disziplin, und mein persönliches Ziel war es, ihn darin zu schlagen. Vermessen und ziemlich bescheuert, wenn man – wie ich – dabei auch noch einen Seitenblick zum Konkurrenten riskiert. Was eine schwerwiegende Kausalkette zur Folge hatte, an deren Ende nun ebendieser Sitzsack steht. Die Glieder dazwischen bilden eine versaute Zucchini, eine fast durchtrennte Fingersehne, eine leider nicht zufriedenstellende Wundheilung und noch dazu die Wut über meinen eigenen Sturkopf. Der hat mich dazu bewogen, trotz der ärztlicherseits streng verordneten Schonung der verletzten Hand die Kiste mit den knackigen Salatköpfen vom Sprinter zu heben. Paps war echt sauer. Vinc auch. Und ich erst – zumindest hinterher. Dazu fällt mir nur eins ein: selber Schuld!

In der hellgrau gestrichenen Holzhütte, Danilos »Büro«, bimmelt unentwegt Lucas Handy. Herztöne. In meinem Sitzsack eingesunken, komme ich mir bei diesen Klängen vor wie ein Embryo in Steißlage, der sich drehen müsste, aber nicht kann. Der soll nächstes Mal auf stumm schalten, denke ich grantig. Und runzle die Stirn. Nicht über Lucas Handy, sondern über mich. Grantig, missmutig – das bin nicht ich, verdammt noch mal! Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, und meine Laune hebt sich. Zumindest ein bisschen. »Pazienza, cara Doro, pazienza. Alles hat einen Sinn im Leben«, hat Rosa Benedini gestern Abend zu mir gesagt. Mein Lächeln vertieft sich. Geduld … Wie eine verrostete, weil selten genutzte Saite einer Gitarre, hat Danilos nonna einen wenig ausgeprägten Zug meines Charakters angeschlagen. Hat sie mich so schnell durchschaut? Ich reibe meine Nasenspitze. Das Familienrezept für ihr gefülltes Kaninchen müsse ich mir erst verdienen, wollte sie mir damit wohl zu verstehen geben, und wenn es um die Geheimhaltung spezieller Rezepte geht, hat sie mein vollstes Verständnis. Ist ja mein täglich Brot, mit Gewürzen, Garzeiten und dergleichen zu jonglieren und eben nicht jedes i-Tüpfelchen preiszugeben, das zur Perfektion des Gerichtes geführt hat. Bilder eines gefüllten Kaninchens vor meinem geistigen Auge und den Duft von frischen Kräutern gedanklich in der Nase, lehne ich mich im Sitzsack zurück. Die Cappuccinotasse immer noch auf dem Schoß, taste ich mit meiner rechten Hand unter mir nach dem Zuckertütchen, das mir vom Unterteller gerutscht ist. Ah, ich hab’s. Shit, selbst das Aufreißen des Tütchens stellt eine Herausforderung dar. Bin echt gespannt, was die in der Klinik in Rovereto übermorgen sagen werden, wenn sie die Wunde neu versorgen. Dottor Fellini wird dann entscheiden, ob der Verband endlich wegkann. Zwei Tage noch. Ich seufze. Lucas Handy bimmelt schon wieder. Mir fallen ein paar böse Kommentare dazu ein. Kein Wunder, dass meine dunkle Seite heute übernimmt, was soll ich sonst tun, während ich hier rumhänge und andere sich auf dem See vergnügen? Okay, mein Bücherstapel ist hoch, und eigentlich habe ich mich gefreut, endlich mal Zeit und Muße zum Lesen zu haben, aber zwangsverordnet habe ich auf einmal keine Lust mehr dazu. Es drängt mich zu anderen Taten.

Die Jungs kommen zurück. Schon? Bin ich meinen Tagträumen erlegen und eingenickt? Nee, nicht wirklich, aber in Gedanken war ich woanders, und die Zeit ist unbemerkt an mir vorbeigerauscht.

Vinc zieht mich mit nasskalter Hand und Schwung aus meinem Sitz, direkt in seine Arme. Der Neoprenanzug durchnässt sofort mein dünnes T-Shirt, was bei diesen Temperaturen selbst im Schatten eine willkommene Abkühlung darstellt.

Neben mir schüttelt Danilo das Wasser aus seinen schulterlangen dunkelbraunen Haaren, die in nassem Zustand fast schwarz glänzen. Luca setzt noch eins drauf, zieht mit spitzen Fingern eine glitschige Wasserpflanze von seiner Wade und legt sie mir auf den Arm.

»Danke für die Blumen!«, protestiere ich und werfe sie ihm an die Brust.

Luca verzieht sich lachend, um sein Board zu holen und ordentlich neben der Hütte abzulegen.

»Kümmere dich mal um dein Handy, das bimmelt sich einen Ast ab«, rufe ich ihm hinterher.

»Scusa, habe vergessen, es auf stumm zu schalten. Berufskrankheit, ich möchte halt immer und überall erreichbar sein«, witzelt er.

»Lass dich bloß nicht zu sehr vereinnahmen«, warne ich ihn, denn tatsächlich erwartet sein Chef, dass er so etwas wie Dauerbereitschaft an den Tag legt, wie er uns erzählt hat.

»So schlimm ist es nicht«, winkt Luca ab. »Mein Chef ist ein Hund, der nicht beißt. Er findet eben, dass unser Beruf wie der eines Arztes ist, immer den Bürgern verpflichtet, und dass das Verbrechen nicht nach Uhrzeit oder Wochenende fragt.«

Ich zwinkere ihm zu. »Ich weiß schon, dein Chef ist dein großes Vorbild und du willst es mal genauso weit bringen wie er. Commissario bei der staatlichen Polizia, Abteilung Verbrechen und Tötungsdelikte.« Ich kann mir schwer vorstellen, wie der gutmütige Luca mit seinem menschenfreundlichen Dauerlächeln Schwerverbrechern Handschellen anlegt.

»Daran mangelt es in Malcesine leider. Und mein Chef sitzt in der Questura in Verona«, seufzt er. »Die spektakulären Fälle, zu denen Commissario Dantes gerufen wird, behandelt er sehr diskret, und mitnehmen tut er mich dazu schon gar nicht. Ich darf mich mit illegalem Straßenhandel, Diebstahl und Schlägereien herumärgern. Und selbst das übernehmen meistens die Carabinieri und mir bleiben die Verkehrsdelikte.« Er zuckt mit den Schultern. »Andererseits mischt er sich nicht in meine Angelegenheiten ein. Das ist auch nicht schlecht. Und er will mich fördern, mich weiterzubilden.«

Er holt sein Handy und checkt die Nummer. »Wenn man vom Teufel spricht«, sagt er und lächelt gespannt. »Il commissario.« Er drückt auf den Kontakt.

Neugierig lauschen wir dem Gespräch und können so viel heraushören beziehungsweise hineininterpretieren, dass Luca zum Einsatz muss. Und zwar subito.

»Und?«, frage ich wenig diskret, als er aufgelegt hat.

»Hm …« Luca versucht sichtlich, seine Aufregung zu verbergen. Dann sprudelt es aus ihm heraus. »Ein Wanderer hat einen Toten gefunden. Oben am Berg, in der Nähe der Mittelstation bei San Michele. Ich muss los.«

»Einen Toten? Und du freust dich?« Danilo schüttelt den Kopf. Dieses Mal nicht, um seine Haare zu trocknen, sondern eher aus Unverständnis über das Verhalten seines Freundes.

»Scusa, natürlich nicht darüber, dass ein Mensch tot ist. Aber, hey, Leute, endlich mal ein Fall!« Eilig schlüpft Luca in seine Shorts.

»Vielleicht ist dieser Fall nur ein Unfall?«, dämpft Vinc seine Vorfreude.

»Dann würde Dantes mich nicht so dringend anfordern und wäre auch nicht selbst extra angereist«, hält Luca dagegen.

»Willst du etwa so gehen? Was ist mit deiner Uniform?«, fragt Danilo und beäugt Lucas Badeshorts mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ich habe heute frei, da wird nicht erwartet, dass ich meine Uniform bei mir habe. Wichtig ist nur, dass ich sofort komme, hat Dantes gesagt.«

»Ich habe eine lange Hose in der capanna. Zieh wenigstens die an«, schlägt Danilo vor.

»Ein wahrer Freund«, nimmt Luca das Angebot an.

Danilo nickt und verschwindet in der Hütte.

»Wie kommst du hin?«, erkundige ich mich und reiche ihm nebenbei einen Kamm, damit er seinen feuchten Locken den Anschein von Ordnung verleihen kann.

»Mit dem Roller. Äh … Mist! Ich bin ja heute zu Fuß gekommen. Das Benzin war alle, und ich dachte mir, ich tanke erst morgen früh.«

»Aber Hauptsache, das Handy dabei, was?«, ärgere ich ihn ein bisschen, fummle aber schon den Schlüssel für unseren Roller aus der Hosentasche. »Hier, zisch ab. Vinc und ich brauchen den Roller heute nicht. Gegenleistung: maximale Information, d’accordo?«

Erleichterung und Verlegenheit spiegeln sich auf Lucas Gesicht.

»Ich weiß, nur soweit es die Ermittlungen zulassen«, beruhige ich ihn. »Vielleicht ein klitzekleines bisschen mehr.«

»Grazie mille!« Luca schnappt sich den Schlüssel, ohne etwas zu versprechen, und rennt los. Unser Roller steht oben am Haus, bei dem Tempo keine zwei Minuten von hier entfernt.

»Die Hose!«, schreit Danilo ihm hinterher. Luca stoppt, kommt zurück und zieht sich das Teil mehr oder weniger im Laufen an.

»Der hat’s gut«, jammere ich, als Luca weg ist.

Danilo schaut zu Vinc. »Alles in Ordnung mit deiner Freundin?«, fragt er skeptisch.

Vinc winkt ab. »Du wirst dich noch wundern.«

»Muss ich das jetzt verstehen?«

»Ihr braucht gar nicht so zu tun, als wäre ich nicht anwesend«, beschwere ich mich. »Außerdem hat Luca sich ja auch gerade gefreut, wenn ich mich nicht irre.«

»Schatz, schau nicht so verzückt. Du bist im Krankenstand und außerdem von Beruf Köchin und nicht bei der Polizei.«

»Könnt ihr mich bitte mal aufklären?«, fordert Danilo.

Was wir allerdings vertagen müssen, da ein Kunde sich nach den Konditionen für einen Kurs zum Wingsurfen erkundigt.

»Am besten sofort«, fordert der Junge, und seine Eltern zücken den Geldbeutel. Sie wollen sich für die nächsten zwei Stunden ins Städtchen verziehen und später an der Strandbar auf ihren Sohn warten.

Danilo kümmert sich um seinen neuen Schüler, und nachdem Vinc sein Board verräumt hat, beschließen wir, loszuziehen.

»Was hältst du davon, wenn wir mit der Seilbahn hoch zum Plateau fahren, um den Gleitschirmfliegern beim Start zuzuschauen und die Murmeltiere pfeifen zu hören?«, fragt Vinc.

»Schatz, du rettest meinen Tag. Das schaffe ich sogar einarmig«, bin ich sofort begeistert dabei. Jede Abwechslung ist mir willkommen.

Wir laufen vom Lungolago zur Kirche, die Hauptstraße entlang zur Station, insgesamt kaum fünf Minuten. Die Warteschlange hält sich in akzeptablen Grenzen, und in den paar Minuten, die wir anstehen müssen, diskutieren wir die Frage, ob unsere Trekkingsandalen für die Bergregion geeignet sind. Die Antwort lautet Nein, aber wir wollen ja auch nicht wandern. »Zum Glück haben wir Windjacken dabei, die Bergstation der Seilbahn liegt auf 1.760 Metern, da oben wird es kühl sein«, bemerke ich und rücke ein Stück vorwärts. Vor uns schleppen eine Frau und ein Mann, beide in unserem Alter, ihre Gleitschirme in riesigen Rucksäcken zur Bahn und hoffen auf eine optimale Thermik. Interessiert lauschen wir dem Gespräch, denn ursprünglich war Gleitschirmfliegen ein Teil unseres geplanten Sportprogramms.

»Das musst du unbedingt machen«, sage ich zu Vinc. Mich frustriert es zwar total, dass ich selbst momentan ausfalle, das heißt aber nicht, dass Vinc meinetwegen auf das Abenteuer verzichten soll. »Vielleicht springt für mich ein Tandemsprung raus, das passt schon.«

»Wenn ihr eine Adresse braucht …« Die junge Frau vor uns dreht sich um und streckt uns eine Visitenkarte entgegen. »Ich gebe Stunden und biete auch Tandemflüge an.«

»Giulia ist die Beste«, verspricht ihr Begleiter. »Sie hat es geschafft, dass selbst ich mittlerweile alleine und, ich möchte behaupten, sicher nach unten gelange.«

»Danke für das Kompliment, Patrick. Du hast dich auch gut angestellt«, lächelt die Frau.

»Danke für das Angebot, aber mein Kumpel hat einen Ausbilderschein«, lehnt Vinc höflich ab. »Meine Freundin und ich wollten eigentlich zusammen springen, aber sie musste sich ja unbedingt den Finger absäbeln.« Er deutet auf meinen Verband an der linken Hand.

»Was ist passiert?«, fragt Giulia mitleidig.

»Berufsunfall«, knurre ich. »Schnittverletzung am Finger.«

»Oh, bist du Friseurin? Und hast statt der Haare deinen Finger zwischen die Schere bekommen?« Sie lacht mitleidig und verwendet ohne viel Umstände das unkomplizierte Du.

»Knapp daneben. Es war ein Messer. Ich bin Köchin.«

»Ah, dann machen wir einen Deal«, ruft Giulia begeistert, »Tandemflug gegen Luxus-Gänge-Menü.«

»Ist das nicht ein bisschen riskant? Du weißt nicht, wie ich koche«, warne ich, und Vinc blickt vielsagend Richtung Verband.

»Da ist was dran, vielleicht lassen wir das doch lieber bleiben«, rudert Giulia lachend zurück. »Ich habe es gerne medium, nicht blutig.«

Die Schlange bewegt sich weiter, und die beiden nehmen den günstigen Ein-Weg-Tarif für Sportler, während wir die teurere Kröte der Berg- und Talfahrt schlucken.

»Ich schwör es dir, sobald der Verband ab ist, will ich wenigstens den Berg runterwandern«, maule ich an Vinc gewandt.

Nach ein paar weiteren Minuten des Wartens nähert sich langsam von oben die Gondel. Die beiden Angestellten der Funivia, der Seilbahngesellschaft, unterbrechen ihr Gespräch, winken uns nach vorne zur Absperrung, damit die Leute nachrücken können, dann unterhalten sie sich weiter. Einige Gesprächsfetzen erwecken meine Aufmerksamkeit: »Polizeiaufgebot«, »San Michele« …

Auch mehrere Gäste um uns herum haben das Thema der Bahnangestellten aufgegriffen und spekulieren, was da oben los sein könnte. Vinc und ich mischen uns nicht ein und geben erst recht nicht preis, dass wir etwas mehr darüber wissen.

Wir fahren schweigend mit der Gondel zur Mittelstation und machen uns Gedanken um das eben Gehörte.

Die Bahn wird langsamer, die Menschen drängen zum Ausgang, die meisten wollen weiter hoch zum Monte-Baldo-Plateau. Sie eilen zur 360-Grad-Panoramagondel, die sie nach oben transportiert und sich dabei einmal um die eigene Achse dreht, um den Fahrgästen einen fantastischen Rundumblick zu bieten.

Vinc stupst mich an, und wir brechen aus dem Pulk aus. Er muss nicht viel schieben, ich bin sofort dabei. 562 Höhenmeter anstatt 1.760 oben an der Bergstation. »Vielleicht treffen wir ja Luca«, raune ich ihm ins Ohr.

»Mein Gedanke, und mir war klar, dass ich dir die Tour nicht erst schmackhaft machen muss.«

»Na ja, laufen kann ich ja zumindest, und Lucas dringender Einsatz interessiert mich sowieso.«

»Eben. Aber mach dir nicht allzu große Hoffnungen, die haben die Fundstelle bestimmt abgeschirmt, außerdem wissen wir gar nicht, wo genau sie ist.«

»Schauen wir uns um, dann unken wir weiter«, bestimme ich und habe meine gute Laune definitiv wiedergefunden. Langsam wird das ein Tag nach meinem Geschmack. Trotzdem liegt ein Schatten über aller Freude. Ein Flattern in meinem Bauch mahnt mich, dass da oben ein Mensch gestorben ist. Ob durch einen Unfall oder sonst wie. Das Flattern flüstert mir aber auch zu, dass es seltsam ist, dass sofort ein Commissario gerufen wurde, der dann auch noch seinen Assistenten an dessen freiem Tag an den Unfallort zitiert. Er hat von einem Toten gesprochen, und es muss zumindest etwas unklar an der Situation sein. Außerdem war da noch das Gespräch der Seilbahnangestellten. Die Neugier brennt mir auf den Nägeln. Trotzdem …

»Meinst du, dass es unpassend ist, wenn wir dort auftauchen?«, frage ich Vinc.

»Was jetzt, willst du hin oder nicht? Natürlich ist es unpassend, aber das stört dich doch sonst auch nicht.«

»Na ja, es ist etwas anderes, wenn ich einer Ungerechtigkeit oder einem kriminellen Delikt auf der Spur bin, dann sind mir solche Dinge egal.«

Vinc zuckt mit den Schultern. »Normalerweise bin ich derjenige, der diesbezüglich Skrupel äußert, aber jetzt sind wir schon mal da. Je nach Situation können wir immer noch unauffällig verschwinden.«

»Okay, dann los«, schiebe ich meine Bedenken beiseite. »Wo geht’s lang?«

Wir stehen vor dem Schilderbaum und studieren die Wegweiser. Sie helfen uns nicht weiter – wie auch, Unfall oder Polizeieinsatz steht leider auf keiner der Tafeln.

»War eine Schnapsidee«, seufze ich. »Egal, Luca muss später alles erzählen.«

Ich bleibe vor dem Mäuerchen eines Grundstücks stehen, auf dem sich ein alter Wanderschuh an den anderen reiht. »Schau mal! Das ist ja witzig, die Schuhe sind bepflanzt.« Tatsächlich stecken Kakteen und Sukkulenten in den merkwürdigen Gefäßen.

»Wanderschuhe, die am Monte Baldo ihren Geist aufgegeben haben, weil deren Sohle sich abgelöst hat. Ist zumindest originell«, äußert sich Vinc ein wenig skeptisch.

Wir schlendern weiter und entdecken diese eigenwillige Deko rund ums ganze Haus. Auf jedem Fensterbrett, auf jeder Stufe, in jeder Nische.

»Ich weiß nicht, ob ich die alten Latschen überall ums Haus herum haben wollte. Aber gut, immerhin werden sie so nachhaltig verwertet.«

Vinc schaut mich entsetzt von der Seite an. »Komm bloß nicht auf die Idee, unsere Dachterrasse mit solchen floralen Kunstwerken zu verschönern!« Dann lacht er. »Zum Glück finden sich im Umfeld von Marienplatz und Viktualienmarkt wenige Wanderschuhe ohne Sohle.«

»Och, an Kunstobjekten mangelt es trotzdem nicht. Wie wär’s mit leeren Bierflaschen? Oder benutzten Kondomen?«

»Doro, du bist echt …«, er schüttelt den Kopf.

»Unappetitlich? Versaut? Ich weiß«, ergänze ich gut gelaunt.

»Milde ausgedrückt«, bewertet Vinc lapidar.

»Okay, Themenwechsel. Wenn der Verband ab ist, will ich unbedingt mit der Bahn hoch und nach unten wandern. Von der Mittelstation aus, nicht von ganz oben. Muss ein wunderschöner Weg sein, hab ich gelesen, nur teilweise ein bisschen steil.«

»Zwei Tage musst du noch aushalten, dann planen wir weiter.«

»Jaja, ich weiß. Pazienza.«

Vinc lächelt und drückt liebevoll meine gesunde Hand. »Genau.«

Wir schlendern ein Stück Richtung Chiesa di San Michele. Die Dauer der Strecke ist auf dem Schild mit zehn Minuten angegeben. Erscheint mir machbar, und da wir keinen Anhaltspunkt für unser eigentliches Ziel haben und die Angestellten der Seilbahngesellschaft nicht fragen wollen, nehmen wir zumindest diese kleine Kirche mit. Der Ort San Michele liegt auf 552 Metern Höhe, informiert ein weiteres Schild, die anderen ausgewiesenen Orte kenne ich nicht. »Mir war gar nicht bewusst, dass es am Hang des Berges so viele Häuser gibt. Von unten sieht alles eher bewaldet und grün aus«, wundere ich mich.

»Von der Gondel aus hat man beide Seiten des Hangs gesehen, die eine mehr Natur, die andere relativ viel bebaut. Wir könnten nachher noch ganz hochfahren, die Karten haben wir ja. Dann sehen wir die Gegebenheiten aus der Vogelperspektive. Vielleicht treffen wir sogar Giulia und ihren Schüler, bevor sie abfliegen.«

»Jep«, sage ich und laufe weiter Richtung Chiesa di San Michele.

Ist wirklich nicht weit zu der kleinen Steinkirche. Sie liegt eingebettet zwischen mediterranen Nadelbäumen und Wiesenstreifen mit bunten Frühlingsblumen, die Wege sind durch abgeworfene Nadeln weich gepolstert und gespickt mit kleinen und großen Pinienzapfen. Ich bleibe stehen und sauge den Duft aromatischer Öle ein, der sanft in der Luft hängt. Pinien, Rosmarin, das unnachahmliche Flair des Südens. Margeriten, zartes fliederfarbenes Seifenkraut, gelbes Fingerkraut und unverwüstlicher Löwenzahn teilen sich friedlich die Wiese rund um das Kirchlein. Sogar ein einsamer tiefblauer Enzian hat sich hierherverirrt, obwohl der normalerweise deutlich weiter oben blüht.

Wir umrunden den Bau. Leider ist die Kirche geschlossen. Nach Westen, Richtung See, breiten sich satte grüne Wiesen aus, auch hier stehen Fingerkraut und gelber Löwenzahn, rosafarbener Klee, verstreute Häuser und Olivenbäume – und weit unten ist der Lago Benaco, der Gardasee, zu sehen. Wir lehnen uns an ein hölzernes Geländer und genießen die Aussicht.

»Schau mal«, rufe ich aufgeregt und zeige nach unten.

»Da sind sie«, sagt Vinc im selben Moment.

Ein Stück abwärts steht ein Polizeiwagen. Und weitere Fahrzeuge. »Wie schaffen die das bloß, mit den Autos die engen, steilen Gassen nach oben zu gelangen?«, wundere ich mich.

»Die sind das gewohnt, für die sind das ganz normale Straßen. Die Frage ist eher, wie wir am schnellsten zu Fuß da runterkommen«, stellt Vinc fest und taxiert die Strecke mit Blicken. »Weit ist es nicht, zumindest Luftlinie. Mal sehen, welcher Weg dorthin führt.«

Wir eilen zurück zur Straße. Gleich neben der Seilbahnstation verläuft ein Hohlweg zwischen den Wiesen, die wir von oben gesehen haben. Links und rechts des Weges säumen circa ein Meter hohe Trockenmauern den Weg, am Boden drücken sich die faustgroßen runden Pflastersteine durch die Sohlen meiner Trekkingsandalen. Nicht so rund und glatt poliert wie die im Ort, aber rutschig genug, um besser an der Seite zu laufen, wo größere, flachere Steine den Untergrund trittsicherer machen. Würde mir gerade noch fehlen, wenn ich jetzt auch noch auf die verletzte Hand stürzte. Aus den Mauerritzen wuchern Pflanzen. »Das ist ja süß. Meinst du, dass ich mir einen Ableger …«

»Doro! Wenn das jeder machen würde!«

»Jaja, ich weiß, aber vielleicht finde ich ein entwurzeltes Teilchen, das ich vor dem Vertrocknen retten kann«, tröste ich mich.

»Ein anderes Mal, aber jetzt avanti«, treibt Vinc mich lachend an, nimmt mich bei der Hand und hastet gemeinsam mit mir den Weg weiter abwärts. »Du und deine Sammelleidenschaft. Denk dran, unser Pflanzenasyl in der Wohnung und auf dem Balkon ist überbelegt, das hast du selbst erst kürzlich gesagt.«

»Stimmt«, gebe ich zu und suche in Gedanken ein passendes Plätzchen in unserer grünen Oase am Marienplatz. »Aber so einen Winzling kriege ich immer unter.«

»Musst natürlich wieder mal das letzte Wort haben.«

»Eh klar … ups!« Ich rutsche auf einem glatten Stein aus, Vinc kann mich gerade noch vor einem harten Aufprall bewahren.

»Shit, das wäre beinahe schiefgegangen«, japse ich erschrocken. Mir reicht mein lädierter Finger.

»Wir müssen ja nicht so rennen«, stellt Vinc vollkommen richtig fest. Etwas langsamer laufen wir weiter.

»Kürzlich kam ein Bericht über fremde Arten, die die heimischen Pflanzen überwuchern«, fällt mir mit schlechtem Gewissen ein. »Ist schon krass. Nur weil jeder überall alles mitnehmen muss. Oder denk mal an die Kaninchen in Australien«, komme ich nahtlos zu einem meiner Lieblingsthemen.

»Ja, ich weiß, und die Kröten«, beendet Vinc meinen Vortrag, den er nicht das erste Mal hört.

Ich belasse es dabei und halte lieber Ausschau nach Lucas Einsatzort. Der interessiert mich im Augenblick mehr als artfremde Eindringlinge in heimische Flora und Fauna. Linker Hand lassen wir vereinzelte, oft leer stehende Häuser hinter uns, rechts Feigenbäume, Palmen, Olivenbäume, oben am Mauerrand wuchert alles Mögliche an Gestrüpp. Fast schon idyllisch – wenn man davon absieht, dass hier ein Toter gefunden wurde.

Vinc wechselt auf meine Seite des Weges und nimmt wieder meine Hand.

»Da vorne ist es.« Er deutet auf eine Abzweigung ein Stück voraus, aus der das Heck des Polizeiwagens ragt, die anderen beiden Autos parken daneben. Als wir direkt davor stehen, sehen wir, dass es keine Seitenstraße ist, sondern die Einfahrt zu einem Haus. Das metallene Flügeltor steht offen. Proprietà privata, prangt in schwarzer Schrift auf einem gelben Schild. »Privatbesitz, das hat jemand wohl nicht ernst genommen. Hat Luca nicht gesagt, ein Wanderer habe den Toten gefunden?«, fragt Vinc.

»Tja, das war’s mit proprietà privata, jetzt hat die Polizia hier die Regie übernommen.« Ein Kribbeln im Bauch kündigt mein Jagdfieber an. Ich pirsche los, Vinc hinterher, wie ich am Knirschen seiner Sohlen auf dem Kiesweg registriere.

Erst mal ist außer den Autos nichts zu sehen. Auch unser Roller, den sich Luca ausgeliehen hat, steht nicht in der Einfahrt. Ist Luca etwa gar nicht hier? Das schmucklose hellgraue Steinhaus sieht verlassen aus. Geschlossene Holzläden, keine Blumenkästen, Gras drängt sich in Büscheln zwischen den Steinen der Zufahrt hervor, der Rasen rund ums Haus wurde zumindest dieses Jahr nicht gemäht. Wohnt hier überhaupt jemand? Wir nehmen einen schmalen Durchgang zwischen Haus und Garage. Bewohnt oder nicht, ein bisschen fühle ich mich wie ein Eindringling. Hinter dem Haus erstreckt sich eine weite grüne Fläche, abgegrenzt durch an krummen Holzstangen angebrachten Stacheldrahtschnüren zu dem hangabwärts liegenden Olivenhain. Am Ende des Grundstücks neigt sich die Wiese nach hinten und verschwindet wie das Meer am Horizont. Niedergetrampelte Halme weisen den Weg, und hinter dem Hügel eröffnet sich uns eine bizarre Szenerie: Als wären die Menschen in dem kleinen Wäldchen dem Erdboden entstiegen, tummeln sich mindestens 20 Zuschauer um ein mit rot-weißem Plastikband abgesperrtes Areal und bemühen sich, einen Blick an den Schutzwänden vorbei zu erhaschen, die gerade von ein paar Beamten aufgestellt werden. Einer der Helfer ist Luca. Vinc und ich schieben uns zwischen die Katastrophengaffer und versuchen, uns durch Winken bei ihm bemerkbar zu machen.

Begeisterung sieht anders aus, interpretiere ich – Luca schaut eher entgeistert, als er uns unter den Zuschauern entdeckt. Er wirft einen peinlich berührten Blick über die Schulter zurück, wie um sich zu vergewissern, dass keiner seiner Kollegen unser Winken bemerkt hat, dann kommt er notgedrungen zu uns rüber. »Was wollt ihr denn hier?«, zischt er und bedeutet uns, möglichst unauffällig ein wenig zur Seite zu rücken. »Mein Chef reißt mir den Kopf ab, wenn er mitbekommt, dass ich Freunde zu einer Ermittlung mitbringe«, ranzt er uns in unterdrückter Lautstärke an.

»Du hast uns nicht mitgebracht, wir haben von den Seilbahnangestellten gehört, dass hier was los ist. Wir dachten, es schadet nicht, uns einen Überblick zu verschaffen«, erkläre ich besänftigend.

Aber Luca ist aufgebracht. »Das geht nicht!«

»Keine Panik, wir wollen eh mit der Bahn nach oben«, beruhige ich ihn, um gleich noch nachzulegen. »Was ist denn eigentlich passiert? So ein großes Polizeiaufgebot wegen eines Unfalls? Das ist doch komisch. Oder steckt mehr dahinter?«

»Sei nicht so neugierig. Ich muss wieder zurück. Nur so viel: Es war kein Unfall, und wir müssen uns selbst erst einen Überblick verschaffen.«

»Kein Unfall?«, frage ich.

»Vielleicht erfahrt ihr heute Abend ein klein wenig mehr.« Sagt’s, dreht sich um und eilt zurück zum Ort des Geschehens, der für uns Außenstehende mittlerweile völlig abgeschirmt ist.

Die Neugierigen – darunter auch Vinc und ich – treten den Rückzug an.

»Mich würde brennend interessieren, was genau der Wanderer gefunden hat«, grüble ich.

»Spar dir die Energie, Schatz, sind doch nur aus der Luft gegriffene Vermutungen. Gedulden wir uns bis heute Abend und gönnen uns vorher Gipfelluft und schöne Aussichten.«

»Mit Gipfelluft und Aussichten bin ich einverstanden. Aber wenn heute noch einmal jemand zu mir sagt, ich solle mich gedulden, dann schreie ich.«

Vinc lacht laut auf und läuft weiter.

Eine halbe Stunde später reihen wir uns in die Warteschlange an der Mittelstation ein und drängen dann mit den anderen in die Gondel. Ich finde einen Platz am Fenster, Vinc stellt sich dicht hinter mich. Ich bin immer noch verschnupft wegen unseres erfolglosen Detektiveinsatzes, doch dann genieße ich die 360-Grad-Panoramasicht, als sich die Kabine auf dem Weg nach oben um die eigene Achse dreht. Ich verrenke mich, um einen Blick auf die abgesperrte Zone zu erhaschen. Leider ist die Perspektive ungünstig. Seufzend hake ich das Thema vorläufig ab.

Vinc legt seine Hände auf meine Schultern. »Wenn wir Glück haben, tummeln sich ein paar Murmeltiere außerhalb ihrer Erdhöhlen auf der Wiese«, tröstet er mich.

Ich lehne mich dankbar gegen ihn. »Wenn ich dich nicht hätte«, murmle ich und lasse mir genüsslich den Nacken kraulen.

Oben am Plateau verlaufen sich die Leute schnell. Wir ziehen unsere Jacken über, es bläst eine kühle Brise. Hand in Hand laufen wir los und halten Ausschau nach den süßen Fellknäueln der Berge. Bald werden wir belohnt. Mit der Handykamera können wir sie so weit heranzoomen, dass man sogar die Struktur ihres Fells erkennt. Super, was diese Smartphones alles können! Ein Tier der Gruppe hält Wache, verharrt regungslos auf einem Felsen gleich neben dem Eingang zum Bau, um der Gruppe etwaige Feinde am Boden und aus der Luft rechtzeitig mit schrillen Pfiffen anzukündigen. Die anderen tummeln sich weiter entfernt, balgen, rennen, lauschen und fressen die frischen Bergkräuter. In ihrer Nähe hackt eine Bergdohle an einem Tierkadaver herum. Ich denke an Luca und den Toten, lasse mich dann aber von den Gleitschirmfliegern ablenken. Die Piloten breiten ihre Schirme aus und haben den Windsack im Blick, um den richtigen Zeitpunkt zum Start nicht zu verpassen. Giulia und Patrick sehen wir nicht mehr, anscheinend war die Thermik so gut, dass sie schnell starten konnten.

»Wie viel Uhr ist es?«, frage ich. »Und wann geht die letzte Gondel nach Malcesine?«

»Wir haben 17 Uhr, und die letzte Fahrt ist um 18.45 Uhr«, antwortet Vinc.

»Setzen wir uns auf die Panoramaterrasse? Wäre doch schade, jetzt schon runterzufahren. Oder hast du noch was vor?« Ich schaue ihn an.

Er legt den Arm um meine Schultern. »Nur noch mit dir auf der Aussichtsterrasse zu sitzen. Liegestuhl oder Sitzsack?«, lässt er mir die Wahl.

»Liegestuhl.«

Vinc organisiert einen kleinen runden Tisch, den er zwischen unseren Sitzliegen platziert. »Kaffee? Kuchen? Prosecco?«, fragt er.

»Prosecco und eine Flasche Wasser«, habe ich mich schnell entschieden, und Vinc schließt sich an.

»Ist das Leben nicht schön?«, frage ich genießerisch.

»Sehr schön, mein Schatz, besonders mit dir. Wenn auch manchmal ein bisschen anstrengend«, kann er es nicht lassen zu sticheln und weicht geschickt meiner Hand aus, um dem Klaps auf die Schulter zu entgehen.

Später, es ist schon 22 Uhr, sitzen wir in Danilos Garten. Oma Rosa hat gekocht, ihre Pasta mit Sardellen, Kapern und schwarzen Oliven, die »zum Sterben gut« ist. O-Ton Danilo. Vinc und ich übernehmen den Abwasch, Danilos nonna Rosa ist müde und hat sich zurückgezogen. Vinc, Danilo und ich halten immer noch die Stellung, als Luca endlich angedüst kommt.

»Wir dachten schon, du hättest uns vergessen«, begrüße ich ihn und springe auf, um ein Glas für ihn zu holen. »Hast du Hunger?«

»Wie ein Wolf. Scusate, dass ich den Roller erst so spät bringe, ich hoffe, ihr habt ihn nicht gebraucht?« Er hängt den Helm an die Stuhllehne und lässt sich auf die Sitzfläche fallen.

Ich winke ab. »Kein Problem, es geht mir gar nicht um den Roller, ich will wissen, was los war. Erzähl schon.«

Luca verschränkt die Arme vor der Brust und meint augenzwinkernd Richtung Vinc: »Aha. Das hast du also heute Vormittag damit gemeint, dass ich mich noch wundern werde.«

Vinc bestätigt mit einer amüsierten Geste.

»Hey, mein Finger ist lädiert, nicht mein Hirn!«, protestiere ich.

»Jetzt lass Luca erst mal in Ruhe essen«, schlägt Vinc vor und geht in die Küche. Kurz darauf kommt er mit einem aufgehäuften Teller Pasta und Besteck zurück.

»Grazie mille«, bedankt sich Luca und dreht mit Heißhunger Bigoli auf die Gabel.

»Ah … Das habe ich jetzt gebraucht«, sagt er, als er fertig ist, und wischt sich die Ölreste aus den Mundwinkeln.

Er nimmt einen Schluck Rotwein. »Allora, es wurden menschliche Überreste gefunden.« Es folgt eine bedeutungsschwangere Pause. »Und es war kein Unfall.«

Kapitel 2

L’oscurità – Dunkelheit

Lunedì (Montag) – Tag 1

Plötzlich fröstelt es mich. Vinc und Danilo hat es wie mir die Sprache verschlagen.

Luca erzählt weiter, ohne dass wir nachfragen müssen. »Ein Wanderer hat einen Knochen gefunden, oder besser gesagt sein Hund. Er stammt eindeutig nicht von einem Tier, was der Mann zweifelsfrei erkannt hat, da er früher eine Metzgerei geführt hat. Er hat sofort die 112 gewählt, und wir haben dann weitere sterbliche Überreste geborgen – die Knochen lagen in einem Hohlraum im Boden eines Felsenkellers, der vor langer Zeit als natürlicher Kühlraum verwendet wurde. Er wurde in einen Felsvorsprung hineingebaut und erinnert fast an eine natürliche Höhle. Wer auch immer die beiden Leichen dort abgelegt hat, muss gewusst haben, dass der Felsenkeller samt dem Hohlraum unter den Holzbohlen nicht mehr genutzt wird. Ein ideales Versteck.«

»Zwei Leichen?«, rufe ich erschrocken.

»Also menschliche Knochen? Sicher?«, fragt Vinc zeitgleich.

»Ja, zwei. Und menschlich. Hundertprozentig. Der Wanderer hat sich trotz Verbotsschild auf dem Privatgrundstück aufgehalten. Dabei ist er auf diesen Felsenkeller gestoßen, und sein Hund hat aus dem Spalt einer morschen Bohle besagten Knochen gezerrt.«

Wieso schaut Vinc mich so vielsagend an? Habe ich etwa die Überreste gefunden oder mich verbotenerweise auf einem Privatgrundstück herumgetrieben? Ich runzle die Stirn ob dieser Unterstellung – bin aber nicht beleidigt, denn selbstverständlich hätte ich mich dort herumgetrieben, wenn ich eine Ahnung gehabt hätte …

Bevor ich Luft holen kann, bohrt Vinc weiter. »Moment mal, Luca, warum seid ihr sicher, dass jemand die Leichen dort vorsätzlich versteckt hat? Geht ihr von Mord aus?«

»Das wird noch untersucht. Die Knochen werden in einem Labor in Verona genauestens unter die Lupe genommen. Dantes wird dabei sein. Fest steht: Es handelt sich um die Skelette zweier Erwachsener, einer Frau und eines Mannes, da sind sich mein Chef und der Amtsarzt einig. Beckenstand und Schädelknochen seien markante Merkmale, sagt Dantes. Auch die Überreste der Kleidung sprechen für diese These. Eine bronzefarbene Gürtelschnalle eines Herrengürtels, zwei Haarspangen, Plastik, rote Schmetterlinge. In einem der Schädel war ein Loch, was auf eine Schussverletzung hindeutet, bei dem anderen ist das nicht so eindeutig, aber vermutlich handelt es sich um eine ähnliche Verletzung. Das wird aber wie gesagt alles im Labor analysiert, Dantes glaubt, dass die Knochen mindestens 20 Jahre alt sind.«

Ich höre gar nicht mehr richtig zu. Zwei Skelette? Einschusslöcher, wahrscheinlich in beiden Schädeln? In meinem Hirn rattert es. Mord? »Wurden die Opfer denn direkt in diesem Felsenloch getötet?«, frage ich.

»Auch das werden wir klären, vor allem aber müssen wir die Identität der Opfer herausfinden. Dazu hat Dantes bereits eine Vermutung.«

»Vermutung? Ein alter Fall? Selbstmord? Oder vielleicht …«

»Es wurde keine Waffe entdeckt«, unterbricht mich Luca.

»Dann ist ein Selbstmord schon mal unwahrscheinlich«, zieht Danilo den logischen Schluss.

Luca nickt. »Sieht so aus.«

»Der Hund eines Wanderers findet also einen Knochen, und der Mann untersucht daraufhin diesen ominösen Raum oder die Höhle, in der zwei Skelette liegen. Gibt es denn eine Tür zu dem Hohlraum oder handelt es sich um ein offenes Felsloch? Dann wären doch aber längst andere Wildtiere dort gewesen und hätten sich an den Leichen gütlich getan, oder? Und wieso hat der Hund ausgerechnet jetzt die Knochen aufgespürt? Geruch ist ja nach so langer Zeit keiner mehr vorhanden, oder?«

Luca macht eine vage Handbewegung. »Der Mann sagt, er habe sich eine Blase an der Ferse gelaufen. Er sei ein wenig vom Weg abgewichen, weil es zwischen den Bäumen des kleinen Föhrenwäldchens schattiger gewesen sei. Dort habe er die Schuhe ausgezogen und seine Füße erst trocknen lassen wollen, um danach ein Pflaster anlegen zu können. Das geschah zufällig neben dem Felsenkeller. Der ist mit Efeu überwuchert und wird kaum wahrgenommen, wenn man daran vorbeiläuft. Sitzt man allerdings direkt davor und muss sich die Zeit vertreiben, bis die schwitzigen Füße trocken sind, und hat noch dazu einen neugierigen Hund dabei, dann fällt so etwas eben auf. Der Eingang war durch eine Art Schiebetür aus Holzlatten geschützt, ein Stück Holz in der unteren Ecke war weggefault, dadurch konnte der Hund sich durch die Lücke quetschen. Im Innenraum hat er an den Bodenbrettern gescharrt, die anscheinend mal von einer Schnur zusammengehalten wurden, die sich aber im Laufe der Zeit aufgelöst hat, weshalb die Bretter nur noch lose über der Grube lagen. Auch wenn die Knochen blitzblank waren – dank Ameisen, wie mein Chef vermutet –, hat der Hund vermutlich etwas gewittert. Jedenfalls hat er die Bohlen so lange bearbeitet, bis er eines der Bretter zur Seite geschoben hatte und eine Öffnung entstanden ist. Die Grube ist relativ tief, fast einen Meter – wie er es trotzdem geschafft hat, einen der Knochen zu fassen zu bekommen, müssen wir noch genau untersuchen. Er war aber nicht in der Grube, denn dann wären die Knochen in Unordnung gewesen oder gebrochen.«

Gruselige Vorstellung. Von Ameisen kahl gefressene Knochen, die nach 20 Jahren zufällig von einem Hund gefunden werden. Ich denke an die Bergdohle, dann zwinge ich mich, die grausigen Bilder in den Hintergrund zu verbannen. »Führt ein öffentlicher Weg an dem Felskeller vorbei?«, versuche ich stattdessen, mir den Fundort vorzustellen. Natürlich hätte ich am liebsten alles live gesehen. Wäre ich nicht Köchin geworden, wäre ich vielleicht bei der Kripo gelandet, denke ich manchmal, und dann wäre ich in solchen Situationen ganz legitim an erster Stelle.

Luca hebt die Hände. »Nein, kein öffentlicher. Neben dem Zaun verläuft ein Weg entlang der Steinmauer, der als Zufahrt zu den Olivenbäumen dient. Weiter hinten hört der Zaun auf, das nehmen manche als Freibrief, um über das Mäuerchen zu klettern.«

»In diesem Fall ein Glück, sonst wären die Toten vielleicht nie gefunden worden«, gebe ich zu bedenken.

»Das stimmt. Der Mörder hat meiner Meinung nach Ortskenntnis besessen. Das glaubt Dantes auch.« Luca macht eine dramatische Pause. »Deshalb hat er mir den Fall übertragen. Als erste richtige Bewährungsprobe. Er hat mir eine Kollegin zur Seite gestellt. Sie hat den gleichen Dienstgrad wie ich. Claudia Ferri kommt aus Verona und hat die letzten Monate eng mit Dantes zusammengearbeitet. Der Chef selbst hängt noch in einer üblen Betrugsgeschichte inklusive Mord in Bari fest, zu der er hinzugezogen wurde, weil er aus dem Süden stammt. Eigentlich arbeitet er in der Questura in Verona, leitet aber zusätzlich hier in Malcesine eine kleine Nebenstelle der Polizia di Stato und war zufällig vor Ort, um eine Amtsangelegenheit persönlich zu klären, als die Leichen gefunden wurden, aber er musste wieder zurück nach Bari. Ich soll von Claudia lernen, sagt Dantes, und ich soll mich anstrengen, diesen Fall schnell zu lösen.« Er stockt.

»Hey, Kumpel, was ist los?«, fragt Danilo. »Es ist dein erster Fall, den du selbstständig bearbeiten darfst! Warum schaust du so unglücklich?«

Das würde mich auch interessieren.

Luca atmet tief durch. »Meine Kollegin und ich teilen uns den Fall. Sollen ein Team bilden. Sie kommt aus Verona, ist Teil von Dantes Team bei der Polizia di Stato und assistiert Dantes immer mal wieder, wenn der zu einem speziellen Fall wie diesem hier abberufen wird. Ihr Spezialgebiet, auf dem sie einmal eine Kapazität zu werden hofft, ist die Forensik, im Besonderen alte Fälle. Deshalb hat der Chef sie heute mit an den Tatort beordert.«

»Und? Wie ist sie?«, bohrt Danilo.

»Ganz okay.« Luca malt mit der Schuhspitze Muster auf den Boden.

»Aber? Jetzt sag schon, wo ist der Haken?« Danilo lässt nicht locker.

Luca windet sich, dann rückt er mit der Sprache raus: »Für den Fall, dass wir uns uneinig sind, hat sie das Sagen. Einer muss entscheiden, hat der Chef bestimmt. Wie wir grundsätzlich vorgehen, soll aber ich festlegen.«

»Na ja, das hört sich doch gar nicht so schlecht an«, tröstet Danilo und klopft Luca auf die Schulter.

»Ferri – ist der Name Programm?«, versuche ich ihn aufzumuntern.

»Wieso? Was meinst du?«, fragt Luca.

»Na, ferri – ist sie hart wie Eisen?«

Luca sagt nichts dazu, grinst aber von einem Ohr zum anderen. Na also, geht doch.

Dann werden wir wieder ernst.

»Die Knochen der Toten und was sonst noch übrig ist, kommen, wie gesagt, zur forensischen Untersuchung nach Verona. Claudia Ferri soll ein Auge darauf haben. Der Chef glaubt zu wissen, um wen es sich bei den beiden Toten handelt.« Luca macht eine Pause.

Nein, keine Pause, er scheint fertig zu sein mit seinem Bericht.

»Hey, so kannst du uns jetzt nicht im Regen der Unwissenheit stehen lassen«, protestiere ich und die anderen sehen das genauso.

»Ich habe schon mehr gesagt, als ich dürfte«, wehrt Luca ab. »Und außerdem weiß ich selbst nichts Konkretes. Dantes hat eine Ahnung, sagt er, aber er müsse erst noch ein paar Punkte überprüfen und die Ergebnisse aus Verona abwarten. Claudia Ferri soll meine Ortskenntnis nutzen und kann vielleicht die eine oder andere Spur an den Skeletten besser interpretieren als ich.«

»Sehr kryptisch«, bemerke ich. »Da bin ich gespannt.«

»Nicht nur du«, antwortet Luca. »Buona notte«, verabschiedet er sich dann, »es war ein langer Tag.«

»Buona notte«, erwidern wir nacheinander. Auch für uns wird es Zeit, den Abend zu beenden.

Kapitel 3

Un Cold Case – Ein ungeklärter Kriminalfall

Martedì (Dienstag) – Tag 2

Am nächsten Morgen brodelt die Gerüchteküche in Malcesine. Als Rosa Benedini, Danilos nonna, vom Bäcker zurückkommt, hat sie eine Menge Informationen für uns.

»Bei Erminia und Bruno im panificio war die Hölle los«, erzählt sie, während sie die Brioches für unser Frühstück auspackt. »Und pane stand dabei nicht ganz oben auf der Gesprächsliste der Leute. Thema war eine tragische Geschichte, die vor 20 Jahren hier passiert ist.«

Wir setzen uns mit caffè und frischen Brioches an den Küchentisch.

»Allora, damals war halb Malcesine in heller Aufregung und ist es jetzt wieder. Man kennt sich, und man leidet mit den betroffenen Familien mit. Einst sind zwei junge Leute verschwunden, und jetzt glauben alle, dass es sich bei den sterblichen Überresten, die gestern oben bei San Michele gefunden wurden, um diese beiden handelt. Maria Francini und Marco Cavaletto. Man hat sie nie gefunden, nie mehr etwas von ihnen gehört. Es gab weder einen Abschiedsbrief noch jemanden, der sie mit Gepäck oder dergleichen gesehen hätte, aber es gab auch keine Leichen.«

Nonna Rosa hat ihren Rosenkranz aus der Rocktasche gezogen und lässt nachdenklich die einzelnen Perlen durch die Finger gleiten.

»Das heißt, die Hoffnung, dass die beiden noch leben, ist nie gestorben?«, frage ich vorsichtig und beiße mir fast auf die Zunge ob dieser unglücklichen Formulierung.

Rosa nickt. »So ist es wohl. Die Polizei hat den Fall zu den Akten gelegt. Unter den Leuten gab es zwei Lager: Die einen haben gesagt, die beiden seien zusammen geflohen, weil ihre Familien mit der Verbindung nicht einverstanden waren, die anderen haben geglaubt, sie seien verunglückt. Oder hätten sich das Leben genommen, aus verzweifelter Liebe – wie Romeo und Julia. Mich würde es nicht wundern, sie waren damals einem richtigen Spießrutenlauf ausgeliefert.« Die Perlen des Rosenkranzes gleiten langsam durch ihre Finger.

Danilo, Vinc und ich werfen uns kurze Blicke zu. »Spießrutenlauf? Das klingt übel. Was ist passiert?«, frage ich, denn das interessiert uns natürlich, obwohl wir etwas wissen, was Rosa noch nicht weiß: In einem der Schädel war ein Einschussloch, das ist sicher, und in dem zweiten sehr wahrscheinlich auch, aber es lag keine Waffe in dem Felsenkeller. Ergo war es kein Selbstmord, sondern Mord. Wir halten uns an Lucas Bitte, keine Informationen weiterzugeben, diesbezüglich habe ich auch Danilo ernsthaft ermahnt, schließlich will ich nicht, dass unsere Informationsquelle versiegt, nur weil wir herumgetratscht haben.

»Das ist eine hässliche Geschichte«, sagt Rosa, den Blick auf den Rosenkranz geheftet.

»Welchem Lager hast du damals angehört?«

Sie schaut mich nachdenklich an. Oder eher durch mich hindurch, so als würde sie 20 Jahre zurückblicken. Dann strafft sie die Schultern. »Valentina war eine Freundin von mir, und ich war ihr und ihrer Familie sehr verbunden. Als ihr Enkel verschwand, habe ich versucht, sie zu unterstützen und sie von dem ganzen Gerede abzuschirmen. Was natürlich nicht möglich war. Ich habe immer befürchtet, dass die beiden tot sind, wollte aber Valentinas Hoffnung nicht zerstören. Außerdem hat ihre Enkelin Antonella sehr unter dem Verschwinden ihres Zwillingsbruders gelitten.« Rosa seufzt. »Und jetzt …«

»Warten wir erst einmal die Ergebnisse der Polizei ab«, rät Danilo, der seine nonna beruhigen will. »Auch mit Rücksicht auf die Angehörigen. Für die wird es schlimm genug, wenn die alten Wunden wieder aufgerissen werden. Und wenn es nicht die beiden sind, wird es noch schlimmer, weil sie dann wieder nicht mit diesem Unglück abschließen können.«

Nonna Rosa tätschelt ihrem Enkel die Hand. »Junge, du hast recht. Das, was wir hier bereden, bleibt in diesen vier Wänden.«

»Grazie, nonna.