Canterbury Blues - Gitta Edelmann - E-Book

Canterbury Blues E-Book

Gitta Edelmann

4,2

Beschreibung

Die Liebesroman-Autorin und Hobby-Detektivin Ella Martin ist zurück in Canterbury. Und will sich nicht wieder in die Aufklärung eines Verbrechens einmischen – ehrlich nicht. Es gibt ja auch weit und breit keine Leiche. Allerdings stößt sie bei der Recherche einer alten Liebestragödie auf dem Landsitz Feniston Park auf Ungereimtheiten. Amelia und Felix starben vor über siebzig Jahren, aber ist ihr Schicksal wirklich nur Geschichte? Und diese Umweltstiftung im Westflügel – geht da alles mit rechten Dingen zu? Vielleicht sollte sie Detective Inspector Alex Drake nicht nur privat treffen …

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Ähnliche


CANTERBURY BLUES

Ein Krimi aus Kent

von Gitta Edelmann

Für Anne,mit der ich zum ersten Mal in Canterbury war und in London und in Ramsgate und …

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Impressum

Zum Weiterlesen

Prolog

… und am 9. Dezember kommt diese deutsche Schriftstellerin. Sie wird, denke ich, ein paar Tage bleiben, um für ihr Buch zu recherchieren, und dann nach Canterbury zurückkehren, wo sie zu Besuch ist, wenn ich das richtig verstanden habe. Von dort aus kann sie ja auch kurz noch einmal hierher kommen, falls weitere Fragen auftreten. Ich glaube nicht, dass dieser Aufenthalt uns Umstände bereiten wird, wir werden einfach ein paar Tage lang einen Gast auf Feniston Park haben.

Bezüglich ihres Buchprojektes hat sie mir versichert, dass sie die tragische Geschichte von Amelia und Felix nur als Anregung versteht. Sie wolle kein Sachbuch schreiben, sondern einen völlig fiktionalen Liebesroman im Setting eines alten englischen Landhauses.

Ich erwarte, dass alle auf Feniston Park die Autorin bei ihrer Recherche unterstützen …

Ich erwarte blablabla. Diese E-Mail hat gerade noch gefehlt, um die Stimmung so richtig in den Keller zu treiben. Eine Liebesromanautorin auf Feniston Park! Eine Frau, die überall herumschnüffelt und alte, fast vergessene Geschichten wieder aufwärmt. Und das ausgerechnet jetzt! Wie hat sie überhaupt von Amelia erfahren? Man wird sich um diese Autorin kümmern müssen!

Kapitel 1

Ella Martin starrte auf das riesige Gebäude am Ende der Auffahrt, dem sie sich langsam näherten. »Landhaus« war nicht das richtige Wort dafür. Sie hätte es eher als Schloss bezeichnet. Eigentlich, so fand sie, hätte man jetzt unter den Reifen Kies knirschen hören müssen, doch die Familie Buckton war im 21. Jahrhundert angekommen und der Weg war glatt asphaltiert.

Kurz bevor sie das Haus erreichten, bog James hinter einer Hecke nach links in einen Parkplatz ein, der mit »Private« gekennzeichnet war.

»Alles ganz normale Autos«, stellte Ella fest. »Schade, ich hatte auf einen Rolls-Royce gehofft.«

James lachte. »Falls sie doch einen haben, steht der bestimmt in einer Garage und nicht hier.«

Ella stimmte in sein Lachen ein. »Naja, noch kenne ich mich mit adeligen Landsitzen und ihren Besitzern nicht aus. Aber ich werde sicher einiges herausfinden!«

»Das wirst du.«

Beide stiegen aus und James hob Ellas Reisetasche aus dem Kofferraum.

»Danke fürs Fahren, James!«

Er hielt einen winzigen Moment lang in seiner Bewegung inne. Ella schluckte. Warum fiel es ihr immer noch so schwer, ihn Dad zu nennen? Gut, es war kein Jahr her, dass sie einander kennengelernt hatten, und die Umstände waren auch ein wenig kompliziert gewesen. Aber obwohl sie an James durchaus als Vater dachte, brachte sie es nicht über sich, ihn so anzusprechen.

»Kein Problem.« James lächelte wieder. »Ich fahr ja gleich noch nach Rye zu einem alten Kollegen von der Uni. Ist übrigens ein malerisches Städtchen. Ich könnte es dir zeigen, wenn ich dich abhole. Müsstest nur andere Schuhe anziehen.«

Ella sah hinunter auf ihre hochhackigen Stiefeletten.

»Kopfsteinpflaster«, erklärte James lakonisch.

»Abgemacht!« Ella griff nach ihrer Reisetasche. Sie zögerte, stellte sie wieder ab und umarmte James zum Abschied. Dann nahm sie ihr Gepäck und steuerte den linken Seiteneingang des herrschaftlichen Gebäudes an.

Der Haupteingang würde nur in den Sommermonaten benutzt, hatte man ihr bereits am Telefon erklärt, für Führungen durch die offiziellen Räume. Klar, so einen großen Landsitz konnte sich eine Familie heutzutage kaum leisten, da mussten Touristen mit ihren Eintrittsgeldern schon mithelfen. Oder Institutionen wie die BTF, auf deren Büro im rechten Flügel von Feniston Park ein Schild an der Einfahrt hingewiesen hatte. Was wohl hinter dem Kürzel steckte?

Ein Tropfen landete auf Ellas Wange. Sie warf einen Blick zum Himmel. Vorhin, als sie durch das Dorf gefahren waren, war die Wolkendecke kurz aufgerissen, sodass Feniston Park sich bei ihrer Ankunft noch im schönsten Licht gezeigt hatte. Nun aber kündigte sich bereits der nächste Schauer an. Immerhin war sie schon fast im Trockenen.

Neben der schmucklosen dunkelbraunen Eingangstür, die in früheren Zeiten wahrscheinlich nur von Angestellten oder Lieferanten genutzt worden war, befanden sich zwei schlichte Klingelschilder mit den Initialen H. B. und E. B. Ella zögerte, klingelte dann aber bei E. B. – Edgar Buckton. Ein wenig schneller schlug ihr Herz jetzt tatsächlich. Sie wurde von einem echten Baron erwartet!

Kapitel 2

Es war nicht der Baron, der die Tür öffnete, und auch kein Butler. Stattdessen sah sich Ella einer zierlichen Frau um die vierzig gegenüber, der sie bequem auf die gescheitelten Locken schauen konnte. Sie trug Jeans und einen hellen Aran-Pullover und streckte Ella sofort die Hand entgegen.

»Sie müssen die Autorin sein«, sagte sie. »Kommen Sie schnell herein, es ist heute ein wenig feucht draußen.« Ihr Händedruck war kurz und fest. Gleichzeitig winkte sie Ella mit der Linken einladend ins Haus und schlug, kaum dass sie die Schwelle überschritten hatte, die Tür zu.

Ella zuckte zusammen.

»Sorry, die Tür verzieht sich immer ein bisschen bei diesem Wetter und schließt dann schlecht«, erklärte die Frau. »Kommen Sie, hier können Sie Ihre Jacke aufhängen.« Sie zeigte auf einen langen, schmalen Raum, der links vom Korridor abging und offenbar als Garderobe genutzt wurde.

Gehorsam hängte Ella ihre Jacke auf einen Bügel an der Kleiderstange.

»Haben Sie einen Regenmantel dabei?«, fragte die Frau, wartete aber Ellas Antwort nicht ab. »Sonst nehmen Sie sich einfach ein Cape, wenn Sie rauswollen. Es ist für die ganze Woche Regen angesagt. Andererseits kann es genauso gut auch schön werden.«

Ella nickte und sah sich um: Der Garderobenraum verfügte neben zahlreichen Haken, an denen Regenkleidung und Jacken hingen, über eine Holzbank, auf der mindestens drei Leute gleichzeitig sitzen und ihre Schuhe anziehen konnten.

»Welche Schuhgröße haben Sie?«

»Äh, sechs.«

»Dann sollten Ihnen diese Gummistiefel passen.« Die Frau zeigte auf ein Paar rote Stiefel mit weißen Punkten, das zusammen mit anderen grauen und farbenfrohen Modellen unter der Bank stand. »Sie werden ja sicher den Park und Amelias Platz besichtigen wollen.«

Bevor Ella etwas darauf erwidern konnte, hatte sich die Frau ihre Reisetasche geschnappt und eilte weiter ins Innere des Hauses.

»Ich bin übrigens Grace«, erklärte sie. »Ich bring Ihre Sachen mal nach oben – wir haben Sie im Blauen Zimmer einquartiert. Sie können auch gleich mit Ed sprechen, der wartet, glaube ich, schon. Hier ist sein Arbeitszimmer.«

Grace hielt abrupt vor einer Tür auf der rechten Seite, und Ella, die ihr schnell gefolgt war, konnte gerade noch rechtzeitig stehen bleiben, um sie nicht umzurennen. Es war eine Sicherheitstür, wie Ella am Beschlag erkannte. Warum so ein Einbruchschutz für ein Arbeitszimmer innerhalb eines Hauses? Was um alles in der Welt tat der Mann denn? Ella runzelte die Stirn. Verflixt, das hatte sie vergessen nachzulesen. Sie war einfach zu glücklich gewesen, dass ihre Anfrage, Feniston Park zur Recherche besuchen zu dürfen, so positiv aufgenommen worden war. Man hatte sie sogar eingeladen, ein paar Tage im Haus zu bleiben.

Grace klopfte viermal kräftig, es summte und sie schob die Tür auf. »Ella Martin ist hier«, verkündete sie und verschwand umgehend mit Ellas Gepäck.

»Ah, Ms Martin. Kommen Sie herein! Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, tönte eine Männerstimme.

Ella trat ein. Der Mann hinter dem ausladenden Schreibtisch mit zwei stattlichen Bildschirmen stand auf und lächelte. Auch er war nicht besonders groß. Er kam ihr entgegen, schüttelte ihr die Hand und wies auf die Sessel im Erker, deren Bezüge große, violette Chrysanthemen schmückten.

»Ich freue mich auch, Lord Buckton.« Ella lächelte höflich und war froh, dass sie auf der Website von Debrett’s nachgelesen hatte, wie man einen Baron anredete.

»Ach, nennen Sie mich doch Ed!«, sagte er.

Wunderbar, das war noch einfacher.

»Ella.« Sie hätte besser die flachen Stiefeletten anziehen sollen. Es war ein komisches Gefühl, einen englischen Baron so von oben herab anzuschauen, obwohl er das gewohnt sein musste. Ella setzte sich schnell.

Wie alt er wohl war? Vierzig? Fünfundvierzig? Trotz seiner geringen Körpergröße sah er gut aus, glatt rasiert, mit vollem Haar und einer Brille, die entweder besonders stylisch oder doch irgendwie nerdig war.

»Ich habe leider recht wenig Zeit, mich um Sie zu kümmern«, erklärte Ed. »Aber Sie können sich jederzeit an Grace wenden, sie ist sehr umtriebig und weiß immer eine Lösung.«

Ella lächelte und nickte.

»Und was die Familiengeschichte angeht – da finden Sie einiges an Unterlagen auf dem Tisch in der Bibliothek. Ich habe Ihnen schon etwas herausgesucht. Außerdem lebt meine Tante Heather im Haus. Sie hat als Kind Amelia noch gekannt. Sie interessieren sich ja wohl hauptsächlich für die tragische Geschichte meiner Großtante, nicht wahr?«

Ella nickte erneut und setzte zu einer Erklärung an, doch Ed erhob sich bereits.

»Nun, dann wünsche ich Ihnen schöne Tage auf Feniston Park. Wir sehen uns später beim Abendessen.« Er ging zur Tür und hielt sie für Ella auf.

Kaum stand sie auf dem Gang, wurde die Tür auch schon wieder geschlossen. Ob der Baron immer so kurz angebunden war? Hoffentlich waren wenigstens seine Frau und seine Tante ein bisschen offener. Ella atmete tief durch und ging weiter in die Richtung, in die Grace zuvor verschwunden war.

»Hello?« Ellas Stimme hallte durchs Treppenhaus. An die Eichentür mit dem Messing-Türklopfer neben der Treppe hatte sie bereits geklopft – ohne Erfolg.

»Kommen Sie rauf!«, rief eine fröhliche Stimme zurück. »Rechts rum in die Küche.«

Erleichtert stieg Ella die Holzstufen hinauf, deren weinrote Teppichmatten ihre Schritte dämpften, und wandte sich dann zögernd nach rechts. Der Korridor, von dem mehrere Türen abgingen, war schlicht weiß gestrichen, doch an den Wänden hingen einige Gemälde, die zumindest auf den ersten Blick nach wertvollen Originalen aussahen. Aus der halb offen stehenden zweiten Tür auf der linken Seite drang Musik, die von lautem Geschirrklappern unterbrochen wurde. Es duftete nach frisch gebackenem Kuchen. Ella öffnete die Tür ganz und betrat eine große Küche. Vor einem riesigen, schwarz glänzenden AGA-Herd, bei dem eine der fünf Türen offen stand, balancierte Grace einen Kuchen in den Händen, die in Topfhandschuhen steckten.

»Ah, da sind Sie ja. Entschuldigen Sie, dass ich so schnell verschwunden bin, ich hatte noch was im Ofen.« Sie stellte den Kuchen zum Abkühlen auf ein längliches Drahtgestell auf dem Mittelblock und ließ die Topfhandschuhe daneben gleiten.

Ella trat einen Schritt näher.

»Ich hoffe, Sie mögen Apple Pie.«

Ella bejahte aus vollem Herzen. Die Pie duftete nicht nur so, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief, sie war auch bildschön. Durch die kunstvoll ausgestochenen, apfelförmigen Löcher in der oberen Teigschicht konnte Ella gebackene Apfelwürfel und Rosinen erkennen. Der Baron und seine Frau schienen in Grace eine echte Perle gefunden zu haben.

»Fein, die gibt es heute zum Nachtisch. Haben Sie jetzt schon Hunger? Wir essen hier immer recht spät zu Abend, aber Sie können bis dahin gerne noch ein Sandwich haben. Oder soll ich Ihnen gleich mal die Bibliothek zeigen?« Grace wartete nicht auf eine Antwort, sondern eilte an Ella vorbei zurück auf den Korridor und winkte ihr mitzukommen.

Ella blieb keine Zeit, sich genauer in der Küche umzusehen.

»Die Bibliothek ist der einzige Raum im Haupttrakt von Feniston Park, den wir halbwegs regelmäßig privat nutzen«, erklärte Grace und steuerte zielstrebig auf eine breite Flügeltür zu. Sie drückte die Klinke herunter und hielt die Tür für Ella auf. »Jetzt ist keine Touristen-Saison, da können Sie sogar hier in Ruhe arbeiten, wenn Sie wollen. Oder eben oben im Blauen Zimmer. Dort gibt es auch einen Schreibtisch. Kommen Sie, ich zeig es Ihnen.«

Wieder konnte Ella nur einen kurzen Blick ins Innere des Raumes werfen: alte, dunkle Bücherregale, ein großer Tisch, Ledersessel und ein Fenstererker mit Aussicht auf den Park.

»Kommen Sie!«, wiederholte Grace und schloss die Tür. »Die Schlafzimmer sind oben.«

Ella folgte ihr zwei weitere Treppen hinauf und dann nach links. Dort stand eine der Türen offen. Grace blieb daneben stehen und deutete hinein.

»Das ist Ihr Zimmer«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie mögen Blau.«

»Oh ja«, antwortete Ella und trat ein.

Das Zimmer war völlig anders, als sie es sich vorgestellt hatte. In diesem Haus hatte sie dunkle altmodische Möbel und groß geblümte Tapeten erwartet. Stattdessen fand sie sich in einem hellen Raum mit weißen Möbeln und blau gemusterten Stoffen wieder, der wunderbar in einen IKEA-Katalog gepasst hätte.

»Impressionen des letzten Schwedenurlaubs«, erklärte Grace. »Fühlen Sie sich wie zu Hause. Das Bad ist zwei Türen weiter. Abendessen gibt es um acht, kommen Sie einfach runter in die Küche! Ach ja, und falls Sie vorher noch in den Park wollen, ein Haustürschlüssel liegt auf dem Schreibtisch.« Sie wedelte mit der Hand in Richtung Fenster, dann schloss sie die Tür hinter sich.

Ella atmete tief durch und sah sich um. Dies mussten früher einmal zwei Zimmer gewesen sein, denn es gab eine zweite Tür ein paar Meter neben der, durch die Grace sie geführt hatte. Dennoch – übermäßig geräumig war der Raum nicht: ein breites Bett, ein Schreibtischchen mit einem bequem aussehenden Bürostuhl, ein kleines Sofa und ein großer Schrank, vor dem Ellas Tasche stand.

Für die paar Tage lohnt es sich eigentlich nicht, die Sachen in den Schrank zu räumen, dachte Ella.

Sie trat an den Schreibtisch, der halb vor dem Fenster stand, das bis fast zum Boden reichte. Es musste angenehm sein, hier zu schreiben und zwischendurch in den Park hinauszuschauen, wenn die Sonne schien und Blumen blühten. Doch jetzt dämmerte es schon und die Aussicht war ernüchternd: schräge Regenschnüre vor grauem Hintergrund mit den Gespenstern kahler Bäume.

Genau so hatte es vor drei Wochen in Bonn ausgesehen, als sie von Sylvia nach Hause gelaufen war – bis auf die Haut durchnässt, aber zu stolz, um zurück zu ihrer Schwester zu gehen und den Schirm zu holen, den sie nach ihrem Streit liegen gelassen hatte. Ella erinnerte sich nur zu gut an jenen Abend.

Kapitel 3

»Und – alles ruhig?« Sylvia ließ sich neben Ella auf das Sofa plumpsen, griff in deren Chipstüte und steckte sich ein paar Chips in den Mund. Dann runzelte sie die Brauen und sah die Tüte genauer an.

»Alles ruhig«, antwortete Ella. »Lisa musste vorhin noch mal Pipi, aber die Kleinen schlafen tief und fest.« Sie zeigte in Richtung des Babyfons, dessen Gegenstück im Kinderzimmer am anderen Ende der Wohnung stand.

»Danke, dass du eingesprungen bist. Sven wollte ja eigentlich heute zurück sein, aber …«

Ella winkte ab. »Kein Problem.«

»Was guckst du? Was Historisches?« Sylvia wandte sich dem Fernseher zu, in dem den altmodisch-eleganten Gästen einer Gartenparty gerade eine gewisse Agatha Christie vorgestellt wurde, und zog die Beine an.

»Äh, nicht ganz«, gab Ella zu. »Ich mach besser aus.«

»Nee, lass mal!« Sylvia griff nach der DVD-Box, die auf dem Couchtisch lag. »Ach du dickes Ei – nicht schon wieder! Doctor Who. So langsam glaube ich, du brauchst einen Doktor, aber einen richtigen.«

»Ich hab doch gesagt, ich mach aus!« Ella schnappte sich die Fernbedienung und das Bild einer riesigen Wespe verschwand.

Sylvia schüttelte den Kopf. »Ella, ehrlich: Du isst Chips mit Essiggeschmack, schaust eine Staffel von dieser komischen Doctor-Who-Serie nach der anderen und machst Großeinkäufe im English Shop. Wäre es nicht einfacher, du würdest zurück nach Canterbury gehen?«

»Aber …«

»Ich glaube, heute ist ein ernstes schwesterliches Gespräch fällig. Ich hol uns jetzt mal ein Bierchen. Kölsch?«

»Lieber ein Guinness, wenn du noch eins hast.«

»Siehst du!«, rief Sylvia auf dem Weg in die Küche. »Wusste ich’s doch. Wir müssen reden.«

Aber Ella war nicht nach Reden zumute. Nicht, wenn es um das halbe Jahr ging, das sie zur Recherche für ihren Roman in England verbracht hatte. Natürlich hatte sie Sylvia nach ihrer Rückkehr alles ausführlich berichtet: von ihren neuen Freunden im Chor und der Clique im Pub, von den beiden Kriminalfällen, in die sie zufällig geraten war, und von Tom und Alex. Doch statt Ellas Entscheidung, nach Deutschland zurückzukehren, zu verstehen und gutzuheißen …

»Bitte schön!« Sylvia knallte Ella eine offene Flasche Guinness so auf den Tisch, dass ein wenig von dem dicken, weißen Schaum aus der Öffnung trat und am dunklen Glas hinunterlief. Sich selbst hatte sie eine Flasche Kölsch mitgebracht. »Gläser gibt’s heut nicht, die Spülmaschine ist kaputt«, erklärte sie und ließ sich neben Ella aufs Sofa fallen. Sie hob ihre Flasche und sah Ella auffordernd an.

Ella griff nach dem Guinness und stieß mit ihrer Schwester an. Schweigend tranken beide einen Schluck. Hoffentlich hatte Sylvia das angekündigte ernste Gespräch vergessen, sie schien jetzt ihren eigenen, trüben Gedanken nachzuhängen. Verständlich – so eine kaputte Spülmaschine war in einer Großfamilie mit kleinen Kindern ein echtes Problem.

»Hast du inzwischen mal was Neues geschrieben?«, fragte Sylvia nach einer Weile.

Ella schüttelte den Kopf. Dieses Thema war zum Glück unverfänglich.

»Ich warte aufs Lektorat von meinem Canterbury-Roman.«

»Sonst hast du immer schon am nächsten Buch gearbeitet, sobald du ein Manuskript abgegeben hattest.«

Ella zuckte mit den Achseln. »Diesmal eben nicht.«

»Du sitzt also rum und hängst deinen Erinnerungen nach«, Sylvia kräuselte die Lippen, »statt dort vor Ort mal ein paar Sachen zu klären und dann mit deinem Leben so oder so weiterzumachen. Was ist jetzt mit diesem Police Inspector?«

»Detective Inspector«, verbesserte Ella automatisch. »Und nichts ist. Ich habe nichts von Alex gehört.«

»Hast du dich bei ihm gemeldet?«

»Nein.«

Sylvia rollte mit den Augen. Sie griff nach Ellas Handy, das auf dem Couchtisch lag, und streckte es ihr entgegen.

»Los – ruf ihn an! Oder schick wenigstens eine SMS.«

Ella nahm das Handy und legte es zurück auf den Couchtisch. »Es ist kompliziert.«

»Weil du mit Cousin Tom was hattest, während du in Alex verliebt warst?«

»Ich dachte doch, er sei verheiratet.«

»Manchmal bist du zu anständig.« Sylvia schüttelte den Kopf und trank ein paar Schlucke. »Was ich nicht verstehe: Jetzt weißt du, dass er frei ist, mit Tom ist Schluss, und du sitzt trotzdem hier rum. Aber vielleicht hast du es auch nur mal wieder gebraucht, unglücklich nach Hause zu fliehen. So wie mit Lucas – als eure Ehe schwierig wurde, hast du ihn kurzerhand in Australien zurückgelassen.«

Ella wollte protestieren, doch Sylvia hob die Hand und redete weiter. »Und João in Portugal.«

»Der hatte mich betrogen …«

»Und jetzt Alex in England. Verdammt, Ella! Wenn’s nicht glatt läuft, haust du einfach ab.« Ella öffnete den Mund, doch Sylvia ließ sie nicht zu Wort kommen. »Und dann lässt du dich hier wieder aufpäppeln. Aber ich hab vier Kinder und genug eigene Probleme. Ich mag nicht mehr. Geh zurück nach Canterbury und bring das in Ordnung, statt bei mir rumzuhängen!«

Ella sprang auf. »Du verdrehst da einiges«, zischte sie. »Ich war heute hier, um auf deine Kinder aufzupassen. Und das nicht zum ersten Mal, weil dein lieber Gatte das mit Beruf und Familie nicht auf die Reihe kriegt und dich immer wieder im Stich lässt. Wenn du glaubst, jemand sollte was klären, dann mach du das!«

»Ich weiß nicht, warum du so aggressiv werden musst.« Sylvia schüttelte den Kopf. »Ich mein’s doch nur …«

»Verdammt, misch dich einfach nicht ein!« Ella holte ihre DVD aus dem Player und steckte sie in die Hülle.

»Du bist feige, Ella.«

Ella kniff die Lippen zusammen, warf DVD und Handy in ihre große Beuteltasche und zog energisch den Reißverschluss zu. »Ich hab keine Lust zu streiten«, sagte sie, schlüpfte in ihre Stiefeletten und verließ das Zimmer. Im Flur griff sie nach ihrem Mantel und öffnete die Haustür.

»Nimm dein Bier mit!«, fauchte Sylvia und kam ihr nach, um ihr die halb volle Flasche in die Hand zu drücken und sie aus dem Haus zu schieben.

Die Tür schlug ins Schloss. Ella fand sich auf der Straße wieder, den Mantel in der einen, die Flasche Guinness in der anderen Hand. Mist! Zuletzt hatten Sylvia und sie gestritten, als sie zehn Jahre alt gewesen waren. Sie zögerte. Ein Bus fuhr an ihr vorbei, der nächste würde erst in einer halben Stunde kommen. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als zu laufen. Sie stellte die Flasche vor Sylvias Haustür und machte sich auf den Weg durch schräge Regenschnüre vor grauem Hintergrund. Die kahlen Bäume auf der Poppelsdorfer Allee standen Spalier wie zwei Reihen wachsamer Gespenster.

Kapitel 4

Mit einem Ruck fand sich Ella in der Gegenwart wieder. Sie lächelte. Natürlich hatten Sylvia und sie sich am nächsten Tag versöhnt. Sylvia hatte sie dabei gebeten, noch einmal als Babysitter einzuspringen, um tatsächlich mit ihrem Mann in Ruhe und auf dem neutralen Boden eines Restaurants über die familiäre Arbeitsteilung zu reden. Und Ella hatte eine Mail nach England geschickt. Nicht an Alex, aber immerhin an ihre Freundin Mary Ann. Es war eine ganz allgemeine gewesen mit der Frage, wie es denn allen so gehe.

Wie gewohnt hatte Mary Ann zunächst einmal nicht reagiert. Erst drei Tage später war ihre Antwort per Mail eingetrudelt, gerade während Ellas Telefonat mit dem Verlag über das nächste Buch. Ella hatte sie natürlich sofort angeklickt und gelesen.

»Könnten Sie sich vielleicht doch vorstellen«, hatte die Stimme der Programmleiterin geträllert, »statt des Künstlermilieus so ein richtig schönes altes englisches Landhaus als Hintergrund der Story zu nehmen? Und ein paar Adelige? In unserer Vertreterkonferenz …«

»Wir vermissen dich«, hatte Ella gleichzeitig gelesen. »Im Pub wird es auch immer einsamer, seitdem du weg bist und Tom letzte Woche nach Kanada abgeflogen ist. Er hat dort einen neuen Job. Hast du nicht Lust, uns zu besuchen?«

»Oh ja!«, war es ihr herausgerutscht.

»Gut«, hatte die Programmleiterin gesagt, »dann schicken Sie uns doch so bald wie möglich eine kurze Inhaltsangabe, damit unsere Grafikerin schon mal einen Covervorschlag machen kann.«

Wie die Jungfrau zum Kind, dachte Ella. Das mit dem Multitasking war in diesem Fall ziemlich nach hinten losgegangen, denn auf englische Adelige und Landhaus hatte sie eigentlich keine Lust gehabt. Doch der Verlag wollte auf den Erfolgszug von Downton Abbey aufspringen, und so war es gekommen, dass sie nun im Blauen Zimmer von Feniston Park stand und versuchte, sich zu erinnern, was Grace über das Badezimmer gesagt hatte. War das nebenan?

Ella trat hinaus auf den Gang. Ebenso wie in den unteren Stockwerken hingen hier Bilder, allerdings sahen diese wie liebevoll gerahmte Kinderzeichnungen aus. Die Bucktons hatten eine Tochter, erinnerte sich Ella – ob sie die Künstlerin war?

Vorsichtig öffnete Ella die Tür nebenan und sah hinein. Es war nicht das Bad, sondern ein weiteres Gästezimmer, das fast so aussah wie ihres, nur dass statt blau-weißer Polster, Kissen und Tagesdecke alle Textilien rot-weiß waren. Das musste also das Rote Zimmer sein.

Gespannt drückte sie die nächste Türklinke herunter und spähte in den Raum. Das Bad – sehr gut!

Zufrieden kehrte Ella ein paar Minuten später zurück. Die Dusche hatte modern und funktionstüchtig ausgesehen und das Wasser war beim Händewaschen angenehm warm geworden. In ihrem Zimmer war es inzwischen ziemlich dämmrig. Sie blieb an der Tür stehen und schaltete das Licht ein. Ah, besser! Sie ging durch den Raum, knipste auch die Schreibtischlampe an und machte sich daran, den Laptop und ihre Unterlagen auszupacken. Beides platzierte sie auf dem Schreibtisch und beschloss, doch einige Kleidungsstücke in den Schrank zu legen. Sie öffnete die beiden linken der vier Türen. Der Schrank wirkte unbenutzt – entweder die Bucktons hatten nie Gäste oder das Zimmer war erst kürzlich frisch renoviert worden. Oder die vorherigen Besucher lebten so gerne aus dem Koffer wie Ella und ihre Schwester.

Die verbleibenden Stunden bis zum Abendessen verbrachte Ella am Schreibtisch. Sie sah ihre ersten Notizen durch und runzelte die Stirn. Englische und deutsche Passagen standen wild durcheinander. Sollte sie sich nicht besser auf eine Sprache konzentrieren? Das Manuskript würde sie auf Deutsch schreiben, aber ihre Informationen auf Englisch bekommen. Ach, im Grunde war das egal, schließlich waren es ihre Notizen und niemand anderes musste sie lesen können.

Als Grundlage für den neuen Roman diente ihr eine echte Liebesgeschichte, die ihre Freundin Agatha ihr erzählt hatte. Die alte Dame war sogar persönlich mit der Cousine des Barons bekannt. Ein echter Glücksfall! Ob man Ella sonst hierher eingeladen hätte, bezweifelte sie. Nun musste sie nur noch schauen, wie sie das vom Verlag gewünschte Happy End hinkriegte. Vielleicht über ein paar Nebenfiguren? Die Tragik der eigentlichen Geschichte zu ruinieren wäre irgendwie Verschwendung.

Felix und Amelia – starcrossed lovers –, unglücklich Liebende wie Romeo und Julia: er ein Findelkind und sie die Tochter eines Großindustriellen. Natürlich war ihre Familie gegen die Verbindung mit einem jungen Mann ohne Vermögen und mit zweifelhafter Abstammung gewesen – Ende der 1920er Jahre hatte noch eine Menge Standesdünkel geherrscht. Amelias Schwester dagegen hatte einen Baron geheiratet, das hatten ihre Eltern sicher gern gesehen. Felix war zur Marine gegangen, um dort Karriere zu machen, und die Liebenden hatten sich trennen müssen. Wahrscheinlich waren sie jahrelang nur mit Mühe und heimlich in Kontakt geblieben. Kaum vorstellbar heutzutage.

In dem nicht allzu ausführlichen Artikel, den Agatha Ella aus einem ihrer alten Bücher über Landhäuser in Kent kopiert hatte, hieß es noch, dass Amelia bei ihrer Schwester auf Feniston Park gelebt hatte und »kränklich« gewesen war. Doch was bedeutete das? War sie körperlich krank gewesen oder vielleicht depressiv? Letzteres schien wahrscheinlich, wenn man an ihr späteres Schicksal dachte. Oder hatte sie ihr Leiden nur vorgeschoben, um nicht einen anderen Mann heiraten zu müssen? Sie hatte sich um die Kinder ihrer Schwester gekümmert, Rupert und Heather. Und Heather, die Tante des Barons, die jetzt wieder hier im Haus lebte, sollte Ella am Abend kennenlernen. Das war ein weiterer Glücksfall – wann sonst konnte sie die Figuren einer Geschichte persönlich befragen? Andererseits musste sie vorsichtig sein mit dem, was sie schrieb, um niemanden vor den Kopf zu stoßen.

Amelia hatte sich umgebracht – nur zwei Tage bevor Felix während seines Fronturlaubs nach Feniston Park gekommen war, um sie endlich zu heiraten. Hatte sie davon gewusst? Oder hatte sie die Hoffnung aufgegeben, ihn je wiederzusehen? Wahrscheinlich eher Letzteres. Sicher hatte er seine freien Tage im Krieg nicht planen können. Und die Briefe von der Front hatten damals vermutlich nicht alle ihr Ziel erreicht, geschweige denn pünktlich. Vielleicht hatte Amelia sogar geglaubt, Felix sei gefallen, weil sie nichts von ihm gehört hatte.

Nun, was auch immer geschehen oder nicht geschehen war, sie war schließlich ins Wasser gegangen und Felix hatte zwei Tage später ein Trauerhaus vorgefunden. Daraufhin hatte auch er seinem Leben ein Ende gesetzt. Wie alt war Heather damals gewesen? Sieben oder acht. Ja, in dem Alter konnte man Erinnerungen speichern.

Ella stand auf, ging um den Schreibtisch herum zum Fenster und starrte hinaus in den Regen. Sie selbst war sieben gewesen, als ihre Mutter gestorben war.

Kapitel 5

Ellas Magen knurrte gewaltig. Sie hätte Grace’ Angebot, ihr ein Sandwich zu machen, doch besser annehmen sollen. Und vielleicht konnte sie nachher auch ein Glas und eine Flasche Wasser mit nach oben nehmen. Diese Lauferei zum Bad, um sich etwas zu trinken zu holen, war lästig und der Zahnputzbecher auch nicht ideal.

Sie zog ein tannengrünes Strickkleid und flache Schuhe an – sicher gehörte sich in dieser Umgebung das Umziehen fürs Dinner. Dann ging sie ein letztes Mal ins Bad, um vor dem Schminkspiegel etwas Lippenstift aufzulegen. Zarter Essensduft stieg ihr in die Nase. Sie schnupperte – irgendetwas Asiatisches. Ihr Magen knurrte erneut und sie warf einen Blick auf die Armbanduhr. Noch zehn Minuten musste sie überbrücken; sie wollte auf keinen Fall zu früh zum Essen erscheinen. Ob sie ihr Haar doch schnell hochstecken sollte? Es war nun überschulterlang und sah offen ziemlich langweilig aus.

Ella hob einzelne Strähnen an und probierte die Wirkung aus. Dann entschied sie sich dagegen. Schließlich war sie nicht hier, um einen umwerfenden optischen Eindruck zu hinterlassen. Sie grinste ihr Spiegelbild an, schaute erneut auf die Uhr – noch vier Minuten. Sehr, sehr langsam verließ sie das Badezimmer und schritt die halbrunde Treppe hinab, dem Curryduft und dem Klappern von Geschirr entgegen.

Grace, immer noch in Jeans und Pullover, stellte gerade Schüsseln in die Spülmaschine, als Ella durch die Tür trat. Von den Bucktons war nichts zu sehen.

»Ah, da sind Sie ja schon. Ich hoffe, Sie erwarten kein vornehmes Dinner. Wenn keine Gäste da sind, essen wir immer in der Küche.«

Aha, dachte Ella. Ich bin also kein Gast?