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Die erfolgreiche Autorin Ella Martin recherchiert für ihre neue Romanreihe in Canterbury. Als sie beim Einkaufen auf deutsche Touristinnen trifft, die ihre Reiseleiterin Eve vermissen, bietet sie ihnen an, für sie zu dolmetschen. Auch die Polizei und das Reisebüro benötigen ihre Deutschkenntnisse und im Nu steckt Ella mitten in den Ermittlungen zu einem Raubüberfall, dem die Reiseleiterin Eve zum Opfer gefallen ist. Dabei will Ella eigentlich nur ihren Roman schreiben. Doch langsam, aber sicher kommt ihr der Verdacht, dass Eve ermordet wurde. Neben der Aufklärung des Verbrechens muss Ella auch entscheiden, ob sie nach Bonn zurückkehren oder in Canterbury bleiben soll. Dort hat sie nicht nur Freunde gefunden, sondern auch einen Mann, der gern mehr für sie sein möchte … Ein neuer Fall für Ella Martin im malerischen Canterbury!
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Seitenzahl: 230
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CANTERBURY SERENADE
Ein Krimi aus Kent
von Gitta Edelmann
Für den East Oxford Community Choir, den Chor des Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums, Bonn, und vor allem: für Toni!
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Impressum
Zum Weiterlesen
Kapitel 1
„Danke, meine Freundin ist bereits hier.“ Ella deutete auf den runden Zweiertisch, von dem aus Mary Ann ihr entgegenlächelte.
Der junge Kellner, der sie nach ihrem Platzwunsch gefragt hatte, nickte und wandte sich zuvorkommend den beiden asiatischen Touristinnen zu, die gleich hinter Ella Tiny Tim’s Tearoom betraten.
„Hi!“ Ella stellte ihre Einkaufstaschen an der Wand ab und ließ sich auf den freien Stuhl fallen.
„Und – hast du sie gekauft?“, fragte Mary Ann.
Ella grinste. „Was glaubst denn du? Klar hab ich sie gekauft. Hast du gesehen, was die mal gekostet haben? Wann kann ich mir je wieder solche Schuhe leisten: Outlet und Sale ...“ Sie verdrehte die Augen.
Mary Ann lachte. „Das finde ich sehr gut. Ich kenne auch jemanden, dem sie an dir seeehr gefallen werden.“
Ella zuckte mit den Achseln, dann beugte sie sich zu Mary Ann. „Und dir geht’s inzwischen besser?“
„Ja, es war nur die stickige Luft bei Marks & Spencers und anschließend die Sonne draußen. Sobald ich hier sitzen und etwas trinken konnte, war es wieder okay.“ Sie deutete auf ein Glas Cranberrysaft, das fast leer auf dem Tisch stand.
Ella musterte sie. Ihre Freundin hatte sich immer noch nicht ganz von ihrer Krebserkrankung erholt; hoffentlich hatte die gemeinsame Shoppingtour sie nicht allzu sehr erschöpft.
Mary Ann lachte. „Du hast das Thema gewechselt.“
„Was darf ich Ihnen bringen?“, fragte die Kellnerin in diesem Augenblick und Ella sah sie dankbar an.
„Ich hätte gerne einen kompletten Afternoon Tea“, sagte sie. „Mit Assam-Tee, bitte.“
„Hungrig?“ Mary Ann grinste und bestellte für sich eine heiße Schokolade mit Orange. Dann sah sie Ella auffordernd an. „Also, wie sieht es mit Tom aus? Du lässt den armen Jungen ganz schön zappeln.“
Ella zog eine Grimasse. „Er will heute mit mir ins Kino.“
„Und?“
„Ich muss schreiben. Das Manuskript für den Roman soll Ende nächsten Monats fertig sein und ich hinke meinem Zeitplan ziemlich hinterher.“
„Ist das ein Wunder nach den Ereignissen im Mai? Immerhin bist du angeschossen worden!“
Unwillkürlich berührte Ella ihren Oberschenkel. Manchmal fühlte sie noch ein Stechen, dort, wo die Kugel eingedrungen war, obwohl die Wunde erstaunlich schnell verheilt war.
„Tja, vielleicht sollte ich mit meiner Erfahrung ‚Canterbury Rose’ lieber zu einem Krimi als zu einem Liebesroman machen. Hatte ja so was wie Recherche ...“
Mary Ann nickte langsam. „Recherche? Naja, das kann man natürlich auch so nennen. Und du hast dabei Aileens Tod aufgeklärt.“
Ella schwieg, als sie an die turbulenten Ereignisse des Frühjahrs dachte. Sie war für ein halbes Jahr nach Canterbury gekommen, um für eine neue Liebesromanserie zu recherchieren. Um Leute kennenzulernen, war sie dem Chor beigetreten, in dem auch Mary Ann und ihre Freundin Aileen sangen. Aileen war nach der Chorprobe überfahren worden. Was zuerst nach einem Unfall ausgesehen hatte, war jedoch keiner gewesen, und ohne Ella wären die Hintergründe wahrscheinlich nie aufgeklärt worden.
Die Kellnerin riss Ella aus ihren Gedanken. Sie brachte Mary Anns heiße Schokolade und eine Kanne Tee für Ella. Dazu stellte sie eine dreistufige Etagere auf den Tisch: den Afternoon Tea.
Ella bedankte sich strahlend und griff nach einem der kleinen Sandwiches auf dem unteren Teller. „Du möchtest nichts?“, fragte sie.
Mary Ann legte den Kopf schief und hob die Hand. „Das Scone willst du ja sicher nicht ...“
Ella zuckte zusammen und Mary Ann grinste.
„Nein, nein, keine Angst, das darfst du selbst essen – samt Clotted Cream und Erdbeermarmelade! Allerdings nur, wenn du mir jetzt erzählst, wie es mit dir und Tom steht.“
„Gar nichts steht da. Wir haben uns ein paar Mal getroffen ...“ Ella hob die Schultern.
„Aber heute Abend trefft ihr euch nicht“, stellte Mary Ann fest.
„Nein. Heute Abend schreibe ich. Und skype mit meiner Schwester in Deutschland, wenn ihre Kinder im Bett sind. Und ...“
„... häkelst, ich weiß. Superspannend. Hast du Angst, dass er im dunklen Kino mit dir knutschen will?“
Ella riss die Augen auf. „Also, aus dem Alter sollten wir raus sein. Nein, ich weiß nicht ... Tom ist anders als früher, er ...“
Mary Ann nickte und beugte sich zu Ella hinüber. „Es ist ihm ernst. Ich glaube, unser Frauenschwarm hat sich wirklich in dich verliebt.“
Ella seufzte. „Und genau das macht es irgendwie so schwierig. Es ist kein locker-leichter, unverbindlicher Flirt und ich fühle mich nicht ...“ Sie zögerte kurz. „Es hat doch keinen Zweck, jetzt etwas anzufangen, wo ich in einem guten Monat wahrscheinlich nicht mehr hier bin.“
„Du gehst wirklich zurück nach Deutschland? Was sagt denn dein Vater dazu?“
Ella griff nach einem der kleinen, verzierten Gebäckstücke auf dem obersten Teller der Etagere und betrachtete es intensiv. „Er versteht es.“
Ihre Worte klangen selbst in ihren eigenen Ohren nicht überzeugend – wie auch? Ihr Vater und sie hatten sich eben erst gefunden. Doch James war ein zurückhaltender Mann und ihr Verhältnis zueinander war eher vorsichtig. Ob sie zu Hause in Bonn oder hier in Canterbury war, würde daran wahrscheinlich nichts ändern.
Mary Ann musterte sie. „Also, ich werde dich vermissen“, sagte sie leise.
Als Ella am Abend an ihrem Laptop saß und eine Szene mit Rose und ihrem Lord zum dritten Mal umschrieb, bereute sie, nicht doch mit Tom ins Kino gegangen zu sein. Warum sollte sie eigentlich nicht dem Kribbeln in der Magengrube nachgeben, das er in ihr auslöste? Und wenn sie im September weg war, hätten sie beide eine schöne Zeit gehabt.
Sie seufzte. Ganz so einfach war es eben nicht.
„Rose zuckte zurück“, tippte sie. „Doch Lord Carlisles Augen ließen sie nicht los. Sein Mund unter dem dunklen Bart verzog sich zu einem leichten Lächeln. Roses Herz klopfte laut gegen ihre Rippen. Ihre Lippen öffneten sich und ...“
Ella stöhnte. Ihr Herz klopfte angesichts der inneren Bilder, die sie in Worte zu fassen versuchte, fast so laut wie das ihrer weiblichen Hauptfigur. Mist! Sie hätte Lord Carlisle nie und nimmer das Aussehen von Detective Inspector Alex Drake geben dürfen!
Kapitel 2
Nach zwei nicht wirklich zufriedenstellenden Schreibtagen marschierte Ella am Dienstagmorgen Church Hill hinunter in die Innenstadt. Das Gefängnis mit seiner Stacheldrahtkrone, das sie passierte, wirkte abweisend, auch durch die Keep-out-Schilder und die Überwachungskameras. Irgendwie war es ja lustig, dass man nun das Gebäude davor schützen wollte, dass jemand einbrach. Im März 2013 war das Gefängnis geschlossen worden, man munkelte nun, die Christ Church University, die das gesamte Gelände gekauft hatte, wolle ein Studentenwohnheim daraus machen.
In der Burgate warf Ella einen Blick ins Heart of Gold, doch der Charity-Shop, in dem ihre Freundin Agatha ehrenamtlich arbeitete, hatte noch geschlossen. Sollte sie ein Weilchen warten? Ach was, sie würden sich ja heute beim Essen sehen. Agatha hatte sie und ihren Vater vor der Chorprobe zu einem leichten Supper eingeladen. Also spazierte sie weiter zur Bibliothek in The Beaney’s und stöberte dort in Büchern über englische Gartenkunst. Zufrieden verließ sie die Bibliothek eine Stunde später mit einem Pflanzenführer, der ihr eine genauere Beschreibung des Anwesens von Roses Lord ermöglichen würde.
Sie bog zum Whitefriars Shopping Centre ab, um dort am Geldautomaten Bargeld zu holen und ein paar Kleinigkeiten im Tesco City Supermarkt zu besorgen. Am Self-checkout, den Selbstbedienungskassen, sprachen drei Frauen aufgeregt miteinander.
„... kannst du doch nicht ...“, hörte Ella.
Deutsche Touristinnen! Ella lächelte und ging geradeaus durch zu den Backwaren. Als sie einige Minuten später zurückkam, standen die drei Deutschen immer noch an derselben Stelle. Während zwei von ihnen weiter diskutierten und an der Kasse herumdrückten, sah die dritte sich hilflos um.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Ella sie.
„Sie sprechen Deutsch! Wie wunderbar! Birgit, Annette, hier spricht jemand Deutsch!“
Drei Augenpaare sahen Ella erleichtert an.
„Soll ich Ihnen mit der Kasse helfen?“, fragte Ella.
„Oh ja, bitte“, antwortete eine der Frauen. „Das ist ja doch etwas kompliziert und wir sprechen nicht wirklich gut Englisch.“
Ella nickte und trat an die Kasse. Routiniert scannte sie die wenigen Knabbereien und Getränke ein und half beim Bezahlen.
„Sie können das nächste Mal aber auch einfach dort drüben an die normalen Kassen gehen“, sagte sie, „es gibt hier eigentlich immer beides.“
„Oh, die hatten wir gar nicht gesehen. Vielen Dank! Auf Wiedersehen.“
Unter lauten Dankesbezeugungen verließen die Touristinnen den Supermarkt, während Ella ihre Einkäufe bezahlte. Doch als sie wieder auf die Straße trat, standen die drei Deutschen dort und diskutierten erneut.
„Gibt es noch ein Problem?“, sprach Ella sie an.
„Das kann man wohl sagen“, erwiderte die Frau mit den blond gefärbten kurzen Haaren und deutete auf das Handy in der Hand der Frau neben sich. „Susanne hat es schon x-mal probiert, aber es meldet sich einfach niemand. Und ins Hotel ist sie auch immer noch nicht gekommen, sonst hätte man uns Bescheid gesagt. Die anderen sind ja dort geblieben.“
„Die anderen?“
„Ja, wir sind eine ganze Gruppe ... Ach, ich glaube, wir sollten uns erst mal vorstellen. Ich bin Birgit Stoletzki, das sind Susanne Mai und Annette Schubert. Wir sind mit einer Reisegruppe gestern aus Deutschland gekommen und wollen Großbritannien kennenlernen. Wir machen eine große Studienfahrt bis hinauf nach Schottland!“
„Und jetzt wissen wir nicht ...“, warf Susanne Mai ein.
Ella schätzte sie ebenso wie die beiden anderen auf Anfang fünfzig.
„Ja, unsere Reiseleitung hat uns im Stich gelassen“, riss Birgit Stoletzki das Wort wieder an sich. „Gestern Abend kam sie ins Hotel, hat sich vorgestellt und einen Einführungsvortrag gehalten, aber heute Morgen ist sie zur angekündigten Stadtführung nicht erschienen. Und jetzt stehen wir da ...“
„Ihr Reiseleiter ist nicht mit Ihnen im Hotel?“
„Nein, die Frau – es ist nämlich eine Frau – wohnt in Canterbury und ist nach unserem Begrüßungsdrink wieder nach Hause gegangen“, erklärte Susanne Mai. „Und heute Morgen ist sie einfach nicht gekommen. Sie geht auch nicht ans Telefon!“
„Wir hätten eben doch mit einer deutschen Gesellschaft fahren sollen.“ Birgit Stoletzki runzelte die Stirn. „Dann könnten wir jetzt dort anrufen!“
„Aber vielleicht könnten ja Sie ...“, schlug Susanne Mai vor und hielt Ella ihr Handy entgegen. „Drücken Sie einfach auf Wahlwiederholung.“
Ella nickte und nahm das Handy. „Eve Steiner“ stand auf dem Display, als sie die Wahlwiederholungstaste drückte.
„Steiner? Sie ist Deutsche?“
„Ja, aber sie lebt wohl schon lange in Canterbury.“
Ella lauschte dem Freiton, doch es meldete sich niemand. Es gab auch keine Möglichkeit, eine Nachricht auf der Mailbox zu hinterlassen.
„Für welches Reiseunternehmen arbeitet Frau Steiner?“, fragte Ella. „Vielleicht wissen die etwas.“
„Nors änd Saus Tours“, erklärte Birgit Stoletzki.
Also wahrscheinlich North and South Tours, übersetzte sich Ella.
„Aber ich habe keine Nummer von denen. Und als wir vorhin dort vorbeigegangen sind, war kein Mensch da.“
„Aber Sie wissen, wo das ist?“
Die drei nickten eifrig.
„Okay, soll ich mit Ihnen noch mal dahin gehen zum Dolmetschen?“, fragte Ella.
„Äh, wir wollten eigentlich gerade ...“
„Unser Busfahrer hat angeboten, dass er in einer halben Stunde ...“
„Er will mit uns trotzdem die geplante Stadtrundfahrt machen. Er kennt die Strecke und meint, er kann auch ein bisschen was dazu erzählen, weil er schon ein paar Mal hier war.“
Ella fühlte sich erleichtert. So gerne sie den Touristinnen helfen wollte, mit den aufgeregten Frauen durch die Stadt zu laufen, war nicht unbedingt ihre Vorstellung von einem angenehmen Vormittag.
„Wissen Sie was, dann schreiben Sie mir doch die Adresse und Ihre Handynummer auf und ich schaue, was ich für Sie rausfinden kann“, schlug sie vor. „Sobald ich etwas weiß, melde ich mich.“
„Ach, wie wunderbar. Was für ein Glück, dass wir Sie getroffen haben!“
Birgit Stoletzki ergriff Ellas Hand und drückte sie, während Susanne Mai in ihrer Handtasche wühlte, um Papier und einen Stift zu finden. Annette Schubert nickte nur bestätigend; sie schien daran gewöhnt zu sein, dass sie bei den anderen beiden eher wenig zu Wort kam.
„Aber wir wissen ja noch nicht einmal Ihren Namen“, fiel Birgit Stoletzki ein.
„Ella Martin.“
„Ach, wie diese Schriftstellerin, die Autorin von ‚Algarvewinter’? Mein absolutes Lieblingsbuch.“
„Genau so“, erwiderte Ella trocken.
Erleichtert sah sie den Frauen nach, als sie sich auf den Rückweg zum Hotel machten. Na, dann würde sie eben noch beim Reiseunternehmen nachfragen. Sicher würde sich die Sache schnell klären. Am wahrscheinlichsten war ja, dass die Reiseführerin verschlafen hatte oder die Touristen irgendetwas bezüglich der Tagesplanung falsch verstanden hatten. Es konnte natürlich auch sein, dass Ms Steiner etwas zugestoßen war.
Ella schüttelte den Kopf. Da ging doch glatt wieder die Fantasie mit ihr durch!
Kapitel 3
Das kleine Büro der North and South Tours lag kurz hinter dem Westgate in der St. Dunstan’s Street. Im Fenster mit den blau gestrichenen Rahmen hing ein großes Plakat zum Edinburgh Festival. Ella drückte die Klinke hinunter, doch die Tür war verschlossen. Hm. War hier nicht wenigstens irgendwo ein Schild mit den Öffnungszeiten?
„Oh, sorry, ich bin spät dran. Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange warten!“, sagte eine helle Stimme hinter Ella und Schlüssel klimperten.
Ella trat einen Schritt zur Seite und drehte sich um. Eine zierliche Frau mit blonden Wuschellocken kam auf sie zu. Zielsicher steckte sie einen großen Schlüssel in das altmodisch aussehende Türschloss.
„Bitte sagen Sie meinem Boss nicht, dass ich zu spät war, wenn er gleich kommt“, bat sie und hielt Ella die Tür auf.
Ella lächelte und nickte. Sie musterte die Schuhe der Frau – bei dieser Absatzhöhe war es kein Wunder, dass sie nicht schnell genug hatte gehen können, um pünktlich zu sein.
„Ich bin Gloria Heppington. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Mit einer fließenden Bewegung ließ die Frau ihre Handtasche hinter den Schreibtisch fallen, bot Ella einen der Stühle an, die in der Ecke standen, und setzte sich auf einen anderen. Geschickt schlug sie die Beine übereinander, um trotz ihres Superminirocks keine Einblicke zu gewähren. „Wir haben derzeit eine sehr schöne Wochentour nach Cornwall im Angebot, oder ...“ Sie sah suchend auf die Wand mit Prospekten für verschiedene Ausflüge.
„Nein, danke“, sagte Ella. „Ich möchte nicht buchen. Ich bin nur für eine deutsche Reisegruppe hier, sozusagen als Dolmetscherin.“
„Deutsche? Aber doch nicht etwa Eves Frankfurter?“ So, wie sie es aussprach, klang „Frankfurter“ nach Würstchen.
„Ich weiß nicht, woher die Leute kommen. Ich habe nur zufällig mitgekriegt, dass ihre Reiseleiterin fehlt und dass sie kein Englisch sprechen.“
„Wer fehlt?“
„Eve Steiner, sie sollte die Gruppe heute Morgen zur Stadtrundfahrt abholen.“
„Eve?“ Verblüfft sah Gloria Heppington Ella an. „Eve ist die Zuverlässigkeit in Person! Sie ist selbst Deutsche“, sagte sie, als würde das alles erklären.
In diesem Moment ging die Tür auf und ein Mann trat ein. Gloria Heppington sprang auf.
„Hi, Boss, wir scheinen ein Problem zu haben. Oder weißt du, wo Eve ist?“, empfing sie ihn. In ihren letzten Worten schien eine gewisse Spannung zu liegen. War diese Eve Steiner vielleicht doch nicht so zuverlässig, wie sie eben behauptet hatte?
„Eve?“ Der Chef runzelte die sowieso schon faltige Stirn. „Was ist mit ihr?“ Er nickte grüßend zu Ella, zögerte einen Moment, gab ihr dann aber die Hand. „Roger Wetherley“, stellte er sich vor.
„Die Dame hier sagt, Eve ist heute Morgen nicht zu den Frankfurtern gekommen“, erklärte Gloria Heppington und setzte sich wieder.
„Sie gehören zur Gruppe?“, fragte Roger Wetherley.
Ella schüttelte den Kopf. „Ich bin nur hier, weil die Reisenden Schwierigkeiten mit der Sprache haben. Sie haben wohl mehrfach versucht, Ms Steiner unter der Nummer, die sie ihnen gestern gegeben hat, anzurufen, doch es meldet sich niemand. Nun sind die Leute natürlich etwas in Sorge.“
Roger Wetherley rieb sich über seine Glatze. „Aber Eve ist doch sonst immer so pünktlich ...“ Er griff nach dem Hörer des Telefons auf dem Schreibtisch, tippte auf ein paar Tasten und lauschte. Schließlich legte er wieder auf. „Tatsächlich. Sie geht nicht ans Handy.“ Er sah ratlos aus.
„Hat sie einen Festnetzanschluss?“, fragte Ella.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist ja meistens unterwegs. Canterbury ist für sie nur so etwas wie ein Basislager. Ich kann ihr aber noch eine SMS schicken, die sieht sie, sobald sie aufs Handy schaut. Vielleicht hat sie einfach nur verschlafen und kommt gleich.“ Er zog sein Mobiltelefon aus der Anzugtasche und tippte eine Nachricht. Dann sah er auf.
„Gloria, schau mal bitte, wer notfalls für Eve übernehmen kann, falls sie krank geworden ist. Und fahr den Computer hoch, vielleicht hat sie gemailt.“
Gloria Heppington sprang erneut auf, stöckelte um den Schreibtisch und ließ sich am Computer nieder. Ihr Chef wandte sich an Ella: „Könnten Sie den Herrschaften ausrichten, dass ihre Reiseleiterin so bald wie möglich bei ihnen sein wird? Ich muss jetzt leider gleich zu einem Termin bei der Bank, aber Gloria kümmert sich um alles.“ Er nickte freundlich und beruhigend, doch seine Stirnfalten sprachen eher von Sorge. Kurz darauf verabschiedete er sich und verließ das Reisebüro wieder.
Gloria Heppington seufzte. „Ja, ja, Gloria kümmert sich um alles“, murmelte sie. „Was erwartet der Mann? Soll ich persönlich losziehen und Eve wachrütteln?“ Sie sah Ella auffordernd an.
„Ich könnte ja ...“, rutschte es Ella heraus.
„Oh, das wäre wunderbar!“ Gloria Heppington strahlte und griff nach den Post-its und einem Kuli. „Ich gebe Ihnen Eves Adresse, klingeln Sie einfach kräftig. Vielleicht war es mal wieder eine sehr lange Nacht.“
Oho, Glorias Lieblingsperson war Eve auf jeden Fall nicht.
Ella stand auf und nahm den Zettel mit der Adresse entgegen.
„Der Bus dorthin fährt gleich hier um die Ecke“, erklärte Gloria, sprang auf und hielt Ella die Tür auf.
Ehe sie sichs versah, stand sie an der Bushaltestelle und kramte nach Kleingeld. Naja, damit hatte sie dann aber wirklich ihre gute Tat für den Tag getan.
Kapitel 4
Eve Steiner wohnte in einer ruhigen Straße nicht allzu weit von der University of Kent entfernt. Vor ihrem Haus parkte ein schwarzer Wagen, die Haustür stand offen. Sie war wohl gerade dabei, sich auf den Weg zu machen.
Hätte ich mir den Aufwand sparen können, dachte Ella und ärgerte sich ein kleines bisschen. Da sie aber sowieso schon einmal hier war, konnte sie sich die Frau gleich persönlich anschauen und ihr vermitteln, dass sie ihre Reisegruppe in ziemliche Probleme gestürzt hatte.
Entschlossen trat sie auf die offene Tür zu, klopfte ein paar Mal laut und rief ins Haus: „Frau Steiner?“
Schritte eilten die Treppe herunter, Männerschritte. War es das, was Gloria Heppington mit der langen Nacht hatte andeuten wollen? Eine Affäre? Vielleicht eine unpassende?
Ella sah dem Mann entgegen, der Stück für Stück sichtbar wurde: Schuhe, Anzughose, Jackett, Gesicht. „Jay!“, rutschte es ihr heraus. „Äh, Detective Sergeant Patil!“ Den Kollegen von Alex Drake hätte sie hier nun wirklich nicht erwartet.
„Ms Martin?“ DS Patil sah ebenso überrascht aus, wie sie sich fühlte.
„Ella“, korrigierte sie unwillkürlich und lächelte.
„Ms Martin, wie kommen Sie hierher?“
„Mit dem Bus ...“ Angesichts seines ernsten Gesichts riss sich Ella zusammen. „Ich wollte Ms Steiner abholen – sie hat sich verspätet und ihre deutsche Reisegruppe wartet.“
Ihr Herz begann deutlich schneller zu klopfen, als weitere Männerschritte die Treppe herunterkamen. Wenn DS Patil nicht Eve Steiners Affäre, sondern am Ende dienstlich hier war, musste das sein Partner Alex Drake sein. Sie hatte Alex in den letzten Wochen kaum gesehen, er schien für den freitäglichen Pubbesuch im White Swan keine Zeit mehr zu haben. Oder mied er sie etwa? Er war ziemlich wütend über ihre Einmischung in Aileens Fall gewesen, aber eigentlich hatte sie immer das Gefühl gehabt ...
Mit einem Zischen atmete sie aus, als der Mann auf der Treppe sichtbar wurde: ein Fremder, um die vierzig, nicht allzu groß und rothaarig. DS Patil drehte sich um. „Ms Martin wollte Ms Steiner abholen, weil ihre Reisegruppe wartet“, erklärte er. Er sprach den Namen wie „Stiener“ aus. „Detective Chief Inspector O’Brien – Ella Martin.“
Der Detective Chief Inspector musterte Ella von oben bis unten. „Doch nicht etwa Drakes Ella Martin?“, fragte er überrascht.
Ella spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.
„Man hat bei der Kent Police einiges von Ihnen gehört.“ Seine Mundwinkel zuckten, doch er blieb ernst. „Aber dass Sie so schnell bei einem neuen Fall sind ...“ Er schüttelte den Kopf.
Ella blickte von ihm zu DS Patil und wieder zurück. „Was ist los?“, fragte sie. „Neuer Fall? Ist Ms Steiner etwas passiert?“
DCI O’Brien nickte und legte dann den Kopf schief, um sie genauer zu betrachten. „Ja, my dear, Evelyn Steiner ist heute in den frühen Morgenstunden tot aufgefunden worden. Und Sie können mir gleich mal erzählen, was Sie darüber wissen.“
Im Gegensatz zu ihrer allerersten Befragung durch die Polizei, als Alex sie verdächtigt hatte, war das Gespräch mit DCI O’Brien im Auto auf dem Weg zu North and South Tours fast freundschaftlich. Nun ja, sie hatte Eve Steiner schließlich überhaupt nicht gekannt und DCI O’Brien zweifelte offenbar nicht an ihren Worten, als sie ihm von der Zufallsbegegnung im Supermarkt und ihrer Hilfestellung im Reisebüro erzählte.
„Was soll ich denn nun der Reisegruppe mitteilen?“, fragte Ella, als sie endlich gegenüber von North and South Tours ausstiegen.
„Das klären wir gleich alles. Kommen Sie doch einfach mit hinein“, schlug DCI O’Brien vor. „Wir müssen die armen Leutchen ja nicht unnötig aufregen. Und eigentlich ist das auch nicht Ihre Aufgabe.“ DS Patils Gesichtsausdruck war ausgesprochen neutral, er ließ nicht erkennen, was er von der unorthodoxen Vorgehensweise seines Vorgesetzten hielt.
„Sie haben also einen neuen Partner?“, fragte Ella ihn leise, als sie den beiden Polizisten in das kleine Reisebüro folgte.
„Nur für die Urlaubszeit!“, rief DCI O’Brien über seine Schulter. „Drake ist noch in Spanien.“ Dann zückte er seinen Ausweis und stellte sich der aufgeregten Gloria Heppington vor.
Eine Viertelstunde später traten die Polizisten und Ella wieder vor die Tür. Sie hatte nach Absprache mit DCI O’Brien und Gloria Heppington Susanne Mai angerufen und ihr, ohne ins Detail zu gehen, gesagt, dass sich für die Reise Änderungen ergeben würden. Außerdem hatte sie ein kurzes Treffen im Hotel vereinbart. Dort wollte Gloria Heppington den Touristen die traurige Nachricht vom Tod ihrer Reiseleiterin persönlich überbringen. Natürlich mit Ellas Hilfe, denn Deutsch sprach sie ja nicht. Wieso Ella zugesagt hatte, wusste sie selbst nicht, denn ein wenig seltsam fühlte sie sich angesichts ihrer Aufgabe schon. Andererseits hatten die Leute ja Eve Steiner nur einmal gesehen, es war also nicht so, als ob sie den Mord an einer nahen Angehörigen verkünden würde.
Wie kam sie auf Mord? War es nicht vielmehr im wahrsten Sinne des Wortes Totschlag, wenn das Opfer bei einem Raubüberfall in einer dunklen Gasse einen solchen Schlag abbekam, dass es daran starb? Obwohl die Polizei natürlich auch untersuchte, ob sich etwas Persönliches hinter dem „Mugging“ verbergen könnte, ging DCI O’Brien vom Überfall eines Unbekannten aus, da Eve Steiners Handtasche durchwühlt war und ihr Portemonnaie und das Handy fehlten. Zumindest hatte er ihr das vorhin im Auto auf der Fahrt zum Reisebüro so erklärt.
„Sollte nicht jemand von der Polizei dabei sein, wenn ich mit den Leuten rede?“, fragte Ella ihn jetzt.
„Nein, nein, Sie und Ms Heppington machen das schon. Zum einen muss sich selbstverständlich das Reisebüro darum kümmern und zum anderen ... DS Patil und ich sprechen sowieso kein Deutsch, da könnten Sie ja alles Mögliche erzählen. Sorgen Sie nur dafür, dass die Leute morgen in der Polizeistation antanzen, sagen wir um zehn. Und Sie kommen bitte auch, dann können Sie gleich dolmetschen. Die Kollegin, die Deutsch spricht, ist nämlich gerade in Urlaub. Natürlich bezahlen wir Ihre Arbeit.“
Nun gut, einen kleinen Nebenverdienst würde sie nicht ablehnen. Und ein bisschen Recherche im Polizeirevier – so leicht würde sich eine solche Gelegenheit nicht wieder ergeben.
Einigermaßen zufrieden machte sich Ella zusammen mit Gloria Heppington auf den Weg zum Hotel, wo die Reisegruppe nach ihrer Busrundfahrt inzwischen auf sie wartete.
Kapitel 5
Das Hotel lag in der Nähe des Castle, der Ruine der normannischen Burg, und schien nicht billig zu sein. Aber die drei Frauen, die Ella kennengelernt hatte, hatten auch nicht arm ausgesehen. Eher so, als ob sie jedes Jahr eine mehrwöchige Studienreise unternahmen. Als Ella und Gloria Heppington den Speisesaal betraten, eilte ihnen Birgit Stoletzki entgegen. Ella sah sich um: Die Deutschen hatten sich an drei Tischen zusammengefunden. Tatsächlich war die Gruppe relativ homogen, alle Teilnehmer der Studienfahrt waren schätzungsweise fünfzig bis sechzig Jahre alt und durchweg gut gekleidet. Fünf Männer und fünf Frauen, die es im Leben offenbar zu etwas gebracht hatten und nun eine exklusive Reise machten. Der sechste Mann war deutlich jünger und fiel mit seinem verblichenen T-Shirt völlig aus dem Rahmen – das musste der Busfahrer sein.
Elf Augenpaare sahen Ella so erwartungsvoll an, als würde sie bei einer Premierenlesung ihren neuesten, lange erwarteten Roman vorstellen. Sie räusperte sich.
„Hallo! Sie haben sicher gehört, dass ich für Sie beim Reiseunternehmen nachgefragt habe.“
Mehrere Leute nickten.
„Das ist Gloria Heppington von North and South Tours“, stellte Ella ihre Begleiterin vor. „Es hat sich leider eine Schwierigkeit ergeben. Ihre Reiseleiterin, Frau Steiner, ist in der letzten Nacht überfallen worden ...“
„Oh Gott, ist ihr was passiert?“, rief eine der Frauen.
Ella schluckte. So einfach war das doch nicht und eigentlich war es auch gar nicht ihre Aufgabe. Sie wies auf Gloria Heppington, aber die schien ihr gern das Wort zu überlassen und sah sie nur auffordernd an. Ella presste kurz die Lippen zusammen. Sie hätte darauf bestehen sollen, dass DS Patil oder DCI O’Brien mit ihr kamen. Die hätten sicher die passenden Worte gefunden, die sie einfach nur übersetzen musste.
„Es tut mir sehr leid“, sagte sie schließlich. „Frau Steiner ist an den Folgen ihrer Verletzung gestorben.“
Aufgeregtes Gemurmel und entsetzte Gesichter folgten ihren Worten.
„Ja, aber was ist denn dann mit unserer Studienfahrt?“, fragte einer der Männer.
„Herr ...“
„Herzog, Rolf Herzog“, stellte er sich vor.
Ella wechselte ein paar englische Worte mit Gloria Heppington, die offenbar immer noch nicht direkt zu ihren Reisegästen sprechen wollte, was Ella ein wenig ärgerte. Selbst wenn die Touristen nicht ausreichend Englisch verstanden, wäre ein offizielles Statement des Reiseveranstalters passend gewesen, fand sie. Aber sie konnte es wohl nicht ändern. Also fasste sie Gloria Heppingtons Auskunft kurz zusammen: „Herr Herzog, ich kann Ihnen nur sagen, dass die Leute von North and South Tours sehr bemüht sind, schnellstmöglich einen Ersatz-Reiseleiter zu finden. Heute wird es aber nicht mehr klappen – leider. Sie haben also alle den Nachmittag zur freien Verfügung.“
Wieder schlug Ella Stimmengemurmel entgegen. Sie hob die Hand, um die Aufmerksamkeit zurück auf sich zu lenken.
„Da Frau Steiner gestern Abend noch hier bei Ihnen im Hotel war, würde die Polizei gerne auch kurz mit Ihnen allen sprechen, und zwar morgen Vormittag um zehn.“
„Aber mein Englisch ...“, warf eine der Frauen ein.
„Ich werde für Sie alle dolmetschen“, erklärte Ella. „Das Polizeirevier ist nicht weit von hier – ich zeige Ihnen gleich auf der Karte, wo Sie hinmüssen. Und nach Ihrer Befragung morgen ist wahrscheinlich schon eine neue Reiseleitung da und sagt Ihnen, wie es weitergeht.“
Gloria Heppington nickte und lächelte. Das konnte sie gut. Dann verabschiedete sie sich mit einem etwas zu fröhlichen „Bye-bye“ und ließ Ella mit der Reisegruppe zurück.
„Ach, was für ein Glück, dass wir Sie heute Morgen getroffen haben!“ Birgit Stoletzki griff nach Ellas Hand und schüttelte sie. „Vielen Dank! Wenn Sie nicht auch hier im Urlaub wären ...“
„Keine Ursache, und ich bin hier nicht im Urlaub, ich lebe in Canterbury“, erklärte Ella, „zumindest im Augenblick.“