Capriccio - Jessa M. Arnold - E-Book

Capriccio E-Book

Jessa M. Arnold

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Beschreibung

Hinter Leona liegt ein chaotisches Jahr im Wechselbad der Gefühle, aus dem sie noch immer nicht aufgetaucht ist. Der Sommer mit Aleks hatte sie einst gestärkt. Jetzt löst er nur einen Wunsch aus: Sie muss wieder so intensiv fühlen. Von Sehnsucht getrieben schlittert sie mit Scheuklappen durch Begegnungen und findet sich schließlich in einem Gewirr mit drei Männern wieder. Obendrein schwebt über allem die Erinnerung an Aleksander, die sie einfach nicht loslassen will. Fortsetzung von "Prélude - Die Erste Geige" (2016)

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Die Autorin

Jessa sieht aus wie eine SMlerin, da sie ständig von blauen Flecken übersät ist. Das liegt allerdings daran, dass sie ausgesprochen tollpatschig ist, jede Türklinke mitnimmt und keine Tischkante auslässt. Die wunderbare Welt des BDSM ist ihr dennoch nicht fremd und sie lebt sehr gerne in ihrem Teil davon.

Geboren 1981, schreibt seit zwanzig Jahren in ihrer Freizeit, steht mit beiden Beinen mitten im Leben, ist kreativ-chaotisch und Mutter einer Tochter.

In den sozialen Medien auf Facebook und Instagram vertreten, freut sie sich immer über einen Besuch.

Von Jessa M. Arnold bereits erschienen:

Prélude – Die Erste Geige (2016)

Das Buch

Hinter Leona liegt ein chaotisches Jahr im Wechselbad der Gefühle, aus dem sie noch immer nicht aufgetaucht ist. Der Sommer mit Aleks hatte sie einst gestärkt. Jetzt löst er nur einen Wunsch aus: Sie muss wieder so intensiv fühlen. Von Sehnsucht getrieben schlittert sie mit Scheuklappen durch Begegnungen und findet sich schließlich in einem Gewirr mit drei Männern wieder. Obendrein schwebt über allem die Erinnerung an Aleksander, die sie einfach nicht loslassen will.

Capriccio – Die Erste Geige ist für Personen unter 18 Jahren nicht geeignet. Dieses Buch enthält ausführliche und detaillierte BDSM- und Sexszenen. Die beschriebenen Charaktere handeln einvernehmlich, allerdings zeigen einige Abschnitte auch Schattenseiten, mit körperlichen oder emotionalen Folgen.

****

Die letzten Töne waren verklungen. Wunderschöne Töne, die ihr in den letzten zweieinhalb Stunden nicht nur in die Ohren, sondern auch tief in die Seele strömten. Die Musik hatte sie gestreichelt, getröstet und umarmt. Sie ließ Leo lächeln, lachen und träumen. An ruhigen Stellen spitzte sie die Ohren, damit ihr ja kein Klang entging. An lauten Stellen hatte sie jeden Ton so intensiv gespürt, als ob die Musik ihren Körper durchdränge. Ab und an hielt sie die Augen geschlossen, um sich einfach von der Musik leiten und treiben zu lassen. Ohne visuelle Ablenkung wurde es noch eindringlicher und schöner.

Nun musste sie auftauchen. Obwohl dies einer der Orte war, den sie seit gut zwölf Monaten immer wieder besuchte und wusste, wie er aussah, war sie überrascht. Als ob sie jedes Mal vergaß, wo sie sich befand. Es war aber auch noch immer ein wenig ungewohnt. Ihr erstes Mal war ihr als etwas ganz Besonderes in Erinnerung geblieben. Mehr als einmal hatte sie sich gefragt, ob sie überhaupt dort hineinpasste. Ob man ihr ansehen konnte, wie neu es für sie war? Sie wusste so gut wie nichts über Opern oder Komponisten und kannte kaum ein Werk beim Namen. Jemand hatte ihr diese Musik nähergebracht. Das war alles, was geschehen war. Ganz allein und privat.

Als sie die neue Welt, in der alle Gäste jene Musik liebten, allein betrat, kam sie sich vor wie eine Exotin. Sollte das nun auch ihre Welt werden? Durfte sie sie besuchen? Sicher konnte ihr jeder ansehen, dass sie zum ersten Mal in die Oper ging. Das unsichere Gefühl blieb jedoch nur, bis der erste Takt erklang, das Orchester mit voller Wucht aufspielte und die kraftvolle Ouvertüre ihre ganze, musikalische Pracht enthüllte. Von diesem Moment an wusste sie, dass sie dort richtig war. Der volle Klang des Orchesters war noch immer neu. Erst einmal zuvor hatte sie das gehört und dennoch fühlte sich ihr Herz sofort zuhause. Nichts war damit vergleichbar. Die unterschiedlichen Feinheiten durch die Vielfalt an Instrumenten, die alle eine eigene Persönlichkeit besaßen und durch die Musiker zum Leben erweckt wurden. Die Stimmungen, die jedes Instrument wiedergeben konnte. Die Sanftheit, die ganz unverfälscht war, weil kein Mikrofon sie verstärkte. Der bombastische Klang, wenn sie auf ein lautes Finale zusteuerten – Leona fühlte Begeisterung auf einem Level, das ihr zuvor unbekannt gewesen war. Sie hatte sich verliebt und bedauerte, es nicht früher probiert zu haben. Allein wäre sie nie auf die Idee gekommen, in die Oper zu gehen. Verstaubt, langweilig und etwas für alte Leute. Das waren die Vorurteile, die sie einst von einem Besuch abhielten. Alles falsch! Hier klickte etwas in ihr; sie verschmolz mit dem Augenblick und es war, als ob ihr dieser Ausgleich immer gefehlt hätte.

So wie ihr etwas anderes gefehlt hatte. Beides durfte sie durch dieselbe Person finden. Wenn sie ehrlich war, war diese Person der Grund dafür, dass sie in den ersten sechs Monaten dieses Jahres so häufig ausging. Sie besuchte diverse Theater, Opern und Konzerthallen. Jeden Cent, den sie nicht anderweitig benötigte, sparte sie dafür. Erst nach mehreren Wochen konnte sie vor sich selbst zugeben, was sie tat. War sie in der Oper, ging sie vor der Vorstellung an den Orchestergraben und blickte hinab. In der Philharmonie hing ihr Blick an den Stühlen links vom Dirigenten. Warum? Weil sie sich wünschte, dieser Mensch würde dort sitzen.

Sie blieb vor Vorstellungsbeginn so lange wie möglich am Orchestergraben. Sofort fiel ihr auf, wie anders es dort roch. Überhaupt hatten die Innenräume von Theatern einen sehr eigenen Geruch, der ihr nie zuvor begegnet war. Besonders in der Nähe der Bühne. So sehr Leona sich auch bemühte – es gelang ihr nicht, diesen Geruch zu definieren oder zu ergründen, woraus er sich zusammensetzte. Bald gehörte er dazu und sie fühlte sich wohl, sobald ihre Nase diesen Duft aufnahm. Das spezielle Aroma allein signalisierte ihrem Kopf, dass sie sich gleich entspannen und gut fühlen würde. Der bisherige Tag konnte noch so mies gelaufen sein – nun würde sich alles ändern.

Es kümmerte sie nicht, wenn andere schauten, weil sie so lange am Orchestergraben stand. Über Monate hatte Leona es auf pures Interesse geschoben, bis sie sich eingestand, darauf zu warten, dass er durch die Tür kam und seinen Platz einnahm. Aber das passierte nie. Alle Plätze füllten sich mit anderen Musikern. Nur an einem Opernhaus sah sie zwei Gesichter, zu denen sie Namen kannte. Diese Musiker erkannten sie ebenfalls wieder, nickten ihr stets zu, wenn sie am Orchestergraben stand, oder sagten hallo. Wenn jemand ahnte, weshalb sie da stand und warum sie nur eine Instrumentengruppe fokussierte, dann waren es diese beiden. Leona kannte sie im Grunde kaum. Sie war nicht wegen diesen beiden hier und eigentlich auch nicht wegen des einen, der nie kam. Leona wusste, dass er nicht herein kommen würde. Vor Ort machte süßes Wunschdenken es ihr manchmal schwer, die Realität im Blick zu behalten, und sie wartete darauf, ihn zu sehen.

Waren noch nicht alle Plätze im Orchestergraben besetzt, wenn sie zu ihrem Platz ging, hatte sie sich oft vorgestellt, dass er nur spät hereinkam. So spät, dass sie ihn nicht mehr zu sehen bekam. Durch diese Phantasie wirkte die Musik auf eine Art und Weise, die vermutlich niemand sonst im Zuschauerraum wahrzunehmen vermochte. Sie war schockiert, als es geschehen war. An jenem Abend in der Philharmonie hatte sie nicht nur glücklich gelauscht. Als die Geigen zum ersten Mal aufgespielt hatten, war eine Wärme in ihr aufgestiegen, die weniger mit der Musik zu tun hatte als mit dem Mann, der sie ihr einst nähergebracht hatte. Es hielt das ganze Konzert über an. Wann immer man die Geigen klar und deutlich hören konnte, riss sie ein schweres, bisweilen schmerzhaftes Ziehen in ihrem Unterleib aus den traumhaften Klängen heraus. Ja, die Geigen zu hören, erregte sie und nicht etwa, weil sie dieses eine Instrument antörnte. Ihr Körper verband den Klang mit ihm und auch wenn er nicht da war und sie ihn nicht spielen hörte, war etwas in ihrem Schoß überpräsent.

Bei ihrem nächsten Besuch in der Philharmonie war sie absichtlich in ein Konzert mit Werken eines Komponisten gegangen, von dem er ihr nichts vorgespielt hatte. Von wem diese Stücke stammten, wusste sie; somit ließen sie sich umgehen. Vielleicht lag es ja nur an den vertrauten Melodien? Wie sie feststellen musste, war dies nicht der Fall. Selbst bei unbekannten Konzerten entfalteten die Geigen die gleiche Wirkung und sie musste sich zusammenreißen, damit sie nicht unruhig auf dem Sitz herumrutschte. Es war schön und gleichzeitig eine Tortur. Sie konnte ihn nicht sehen und auch nicht hören. Er war fort und es gab keinen Grund, jedes Mal so von Emotionen überwältigt zu werden.

Es dauerte ein halbes Jahr, bis sie sich das bewusst machen konnte. Einen Monat lang ließ sie ihre neue Sucht pausieren; danach war die Suche vorbei. Sie ging nicht mehr an den Orchestergraben und suchte auch in der Philharmonie nicht mehr die Plätze ab. Mit jedem Konzert ließ sie die Realität weiter einsickern und akzeptierte, dass er nicht auftauchen würde. An keinem Ort in Berlin. Fortan ging sie nur noch wegen der Musik aus und war damit zufrieden. Leona wusste, dass er nicht plötzlich da sein würde, ganz gleich, wie oft sie nach ihm Ausschau hielt. Von nun an ging es nur noch um die Musik. Um die Musik, den Gesang, die schönen Opernhäuser, den Geruch und die große Atempause, die ihr dies alles brachte. So konnte sie für eine gewisse Zeit von allem Abstand nehmen und reine, wahre Schönheit genießen. Es war gleichgültig, welche Banalitäten sie in ihrem Alltag quälten, stressten oder nervten – hier fand sie eine Erholung, für die sie nicht in den Urlaub fahren musste. Nach dem Schlussapplaus fühlte sie sich energiegeladen und zufrieden, beinahe als ob sie ein Aufputschmittel genommen hätte. Die einzige Variation war die jeweilige Dauer dieses Gefühls. Es kam darauf an, was in den Stunden oder Tagen danach geschah.

Leo hatte wieder begonnen zu sparen, damit jeden Monat ein Opernbesuch möglich war. Sie ging nur noch selten mehrmals im Monat, aber sie wollte die Möglichkeit haben. Da es ihr nun nicht mehr wichtig war, weit vorn zu sitzen, wurde ihr Hobby günstiger. Ein billiger Zeitvertreib würde es nie sein und nichts wäre ärgerlicher gewesen, als Sehnsucht nach Musik zu haben und sich keine Karte leisten zu können. Zwar besaß sie inzwischen auch so einige Aufnahmen, aber das war im Vergleich zu einer Vorstellung ein sehr schwacher Trost. Sie wollte das ganze Programm und Drumherum. Ohne das war die Wirkung höchstens ein kleiner Gedankenstrich, eine minimale Wirkung und nicht jene Dosis, die sie brauchte, um wirklich abzuheben und sich durch die Musik zu träumen, sich von ihr erschüttern zu lassen und zu schweben. Das war nicht das, was sie brauchte. Und sie brauchte es, ohne Frage. Das hatte er ihr gezeigt. Das – und anderes. Er spielte nicht nur eine erste Geige. Er war einst auch die ihre gewesen, in mehr als einem Sinne. Dank seiner fühlte sie sich selbst als eine erste Geige. Alle anderen Parts im Orchester ihres Ichs waren wichtig – doch ihre Geige brauchte eine besondere Melodie, um sich vollständig zu fühlen.

****

„Leck mich am Arsch, ist das kalt!“, fluchte Leona, als sie ihre Wohnung betrat. Maya glitt an ihr vorbei und schüttelte sich.

„Was erwartest du? Der Winter ist auf dem Vormarsch!“

„Kannst du mal aufhören, nasser Hund zu spielen? Du machst mir alles nass! Ja, ja, der Winter ist auf dem Vormarsch. Schön. Aber diese Kälte ist echt übertrieben.“

Sie schlüpfte aus dem Mantel und nahm Maya ihren ebenfalls ab, um ihn im Bad aufzuhängen. Der Holzboden im Flur würde sich bestimmt nicht freuen, wenn er weiter vollgetropft wurde.

„Und das von der Frau, die mir früher immer Reden gehalten hat, dass ich nicht über das Mistwetter maulen, sondern mich einfach entsprechend anziehen soll.“ Maya schüttelte den Kopf.

„Hey, nix gegen den Winter und die Kälte an sich – aber bitte erst im Winter!“, antwortete Leona aus dem Bad, während sie die Mäntel auf dem Wäschegestell über der Badewanne ausbreitete.

„Du hast ja gute Laune. Wer hat dich geärgert? War es Herr Macht-nixrichtig oder Herr Macht-was-aber-nicht-richtig?“

„Nicht lustig, Maya.“ Leona hüpfte auf einem Bein an die Badezimmertür, während sie versuchte, wieder in Mayas Blickfeld zu kommen und sich gleichzeitig einen Stiefel auszuziehen.

„Niemand hat mich geärgert. Naja, okay … nicht mehr als sonst.“

Sie verlor das Gleichgewicht und schaffte es in letzter Sekunde, sich am Türrahmen festzuhalten. Um nicht doch noch umzufallen, blieb sie stehen, zerrte sich die Stiefel von den Füssen und kehrte in den Flur zurück. Maya hatte sich ihrer Schuhe bereits entledigt und sie auf der Plastikunterlage abgestellt.

„Sicher?“ Ihre Freundin zog skeptisch die Augenbrauen hoch.

Leona schlüpfte in ihre plüschigen Hausschuhe in Form von schwarzen Katzen und bot ihrer Freundin ein paar schlichtere, dick gefütterte Latschen an.

„Danke, meine Füße sind gefroren!“

„Ich muss mich zusätzlich von innen auftauen. Willst du auch einen heißen Kakao?“

„Na logo! Ich mache mich derweil auf der Couch breit und versuche sie vorzuwärmen!“

Leona joggte in die Küche, füllte zwei Tassen mit Milch und stellte sie in die Mikrowelle. Eigentlich machte sie ihren Kakao lieber so, wie ihn ihre Oma früher gekocht hatte – in einem Topf und in aller Ruhe, so dass die Zubereitung schon ein Genuss war. Heute jedoch war sie durchgefroren und wollte, dass es schnell ging. Während sie auf das Piepsen der Mikrowelle wartete, hüpfte sie auf und ab und versuchte so, das taube Gefühl aus ihren Gliedern zu verscheuchen. Das dunkle Pulver war schnell eingerührt und Leo brachte die Tassen so schnell wie möglich ins Wohnzimmer, um auch rasch auf die Couch zu kommen und unter jene verlockende Wolldecke zu kuscheln, die die beiden sich teilten. Sie schnappten sich die Tassen und wärmten ihre Hände, bevor sie tranken.

„Jetzt geht es mir besser“, seufzte Leona.

„Mir auch. Okay – erzähl! Wer hat dich nicht mehr als sonst geärgert?“

„Eben, das ist es ja. Eigentlich ärgert mich niemand so wirklich. Aber ich glaube, es zieht dennoch ein Problem auf.“

„Ist das Problem eins sechsundneunzig groß und spielt Geige? Wenn ja: Das wäre kein Problem!“ Maya grinste und Leona stöhnte genervt auf.

„Nein. Er hat nichts damit zu tun.“

„Sicher?“, hakte Maya mit einem neugierigen Lächeln nach. Wie immer, wenn sie sich erhoffte, doch noch ein Geständnis zu hören. Leona schwieg und stierte ihre Freundin an. So ging das jetzt schon ein Jahr und ihr auf den Keks.

„Ich will nochmal raten: Er kommt bald zurück und du hast die beiden Pfeifen an der Hand?“

„Kannst du bitte endlich damit aufhören? Ich bin das Problem!“

„Okay. Sorry. Dann leg los. Von Anfang an. Tante Maya hört zu.“

„Von Anfang an? Du musst die Leier auswendig können!“

„Leo – mach einfach und lass nix aus. Ich hab einen Punkt, auf den ich hinaus will."

Wenn sie von Anfang an erzählen sollte, müsste sie weiter zurückgehen. Über ein Jahr. Da startete ihr Leben auf gewisse Art und Weise neu und dort lag der Grundstein für ihren aktuellen Zustand. Sie fasste einen Entschluss. Maya wollte die ganze Geschichte? Gut. Sie würde sie bekommen. Vielleicht erzählte sie dieses Mal wirklich alles. Auch Erlebnisse, die sie zuvor ausgelassen hatte. Immerhin wäre es eine Chance, sich alles von der Seele zu reden. Vornehmen wollte sie sich das jedoch nicht. Sie würde beim Erzählen spontan entscheiden, ob Maya etwas ganz Neues zu hören bekommen sollte. Sofern Maya sie nicht unterbrach, lag vor ihr ein langer Monolog und er begann bei dem Musiker.

Leo holte tief Luft, leierte die Erzählung genervt herunter und sah sich trotz aller Unlust in Gedanken gezwungen, das vergangene Jahr erneut zu durchleben. Der Mann, der Geige spielte, eins sechsundneunzig groß und, laut Maya, kein Problem war, hieß Aleks. Aleksander Król. Vielleicht war es Schicksal, vielleicht einfach nur ein überaus glücklicher Zufall, dass sie ihn im Sommer des letzten Jahres kennengelernt hatte. Entgegen ihren Befürchtungen – und Mayas Vermutungen – hatte sie auf seinen Verlust nicht mit großer Trauer reagiert. Natürlich hatte sie ihn vermisst. An manchen Tagen so sehr, dass es körperlich wehtat.

Von Anfang an hatte sie gewusst, dass Aleks wieder gehen würde. Das Einzige, was bis dahin unklar blieb, war die Frage, wie lange er fort sein würde. Zu Beginn vermutete er ein paar Wochen oder Monate. Dann änderten sich die beruflichen Aussichten und er bekam ein Vertragsangebot. Nun war er seit über einem Jahr fort und spielte in einem Tournee-Orchester in Amerika. Seine zweite Runde mit dieser Truppe. Sie hatten sich in der Pause zwischen den Jobs kennengelernt, als er auf Heimaturlaub nach Berlin kam.

Sie bereute die Zeit mit ihm absolut nicht, auch wenn sie nie zuvor eine Partnerschaft auf Zeit eingegangen war. Aleks hatte ihr eine Menge gezeigt, diverse Türen geöffnet und sie hineinschauen lassen. Nie zuvor hatte sie in so kurzer Zeit so viel über sich selbst erfahren können. Sie war devot. Vielleicht auch ein klitzekleines bisschen masochistisch, aber das Wort passte in ihren Augen nicht zu ihr. Devot, ja, das war sie. Erst durch ihn konnte sie dies nun aussprechen und sich dabei pudelwohl fühlen. Bevor sie ihn kennenlernte, dachte sie, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Oder gar, dass sie krank im Kopf war. Dann trat er in ihr Leben, zeigte ihr, was ihr fehlte, und dass sie sich wegen ihrer Neigung nicht schlecht fühlen musste. Sie war ihm unendlich dankbar dafür, dass er ihr diese Selbstzweifel nach und nach genommen hatte.

Selbst ein Jahr später musste Leona nur kurz daran denken und sie spürte erneut, wie sie vor einem Jahr gefühlt hatte. Wie sie zittern musste, weil sie nie wusste, was sie erwartete und sie am Ende stets überwältigt war, weil es so wunderschön wurde. Wenn sie seine Handlungen nicht verstand, konnte sie Fragen stellen und er erklärte, ohne sie wegen ihrer Unwissenheit auszulachen, warum er was von ihr verlangte. Es war unglaublich faszinierend. Sie hatten verdammt gut miteinander funktioniert. Aleks sagte stets, er könne nicht voraussagen, was er tun würde, weil es auf ihre Stimmung und Reaktionen ankam. Meistens gab es so etwas wie einen vagen Plan. Zweimal auch einen genaueren. Doch diese waren nie in Stein gemeißelt und der Großteil seiner Aktionen spontan. Er wollte schauen, wie sie reagierte und ob sie es mochte. Sie mochte, was er tat, und so ging es weiter. Gegenseitig hatten sie sich vorangetrieben – ohne dass Leona merkte, dass auch sie etwas tat. Ganz am Anfang hätte sie gedacht, dass von ihr wenig bis gar nichts kam und sich sogar faul gefühlt, weil sie nur auf sein Wort agierte. Doch genau das war es. Aleks hatte stets die kleinste Kleinigkeit einer Reaktion gesehen oder gespürt, darauf aufgebaut und nicht zuletzt seine Befriedigung genau daraus gezogen.

Auf ihren Wunsch hin hatte er ihr Safewörter gegeben. Benutzen musste sie sie nie. Was auch immer sie taten, er hatte sie im Blick und wusste früher als sie, wann es genug war. Er hatte sie gefordert, ihren Kopf zum Qualmen gebracht, sie nervös gemacht, auf die Folter gespannt und sie so tief entspannt, bis sie sich schwer fühlte wie ein sehr zufriedener Klumpen Blei. Nicht nur, dass er sie befriedigen konnte – und, oh, das konnte er – er konnte sie runterbringen, bis sie näher bei sich selber war, als sie es für möglich gehalten hatte, und nie gekannte Ruhe erlebte. Aleks hatte sie beschützt, auch vor ihr selbst, und ihr das Gefühl gegeben, immer für sie da zu sein. Im Nachhinein wusste sie, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass er ihre erste Erfahrung in dieser neuen Welt war. Es gab nicht eine Sache, die sie bereute oder nicht würde wiederholen wollen. Was für ein glücklicher Zufall, dass sie ihn, einen Schulfreund von Mayas Ehemann Nino, genau im richtigen Moment getroffen hatte. Genau dann, als sie am meisten an sich selbst gezweifelt und nicht mehr gewusst hatte, wohin sie gehörte.

Vor ihren Freunden brachte sie nicht über die Lippen, was sie fühlte. Natürlich vermisste sie ihn. Er war mehr als nur ihr erster Dom. Er war ihr Weckruf, ihr Lehrer, Vertrauter, Freund und Beschützer. Alles in einer Person. Kein Wunder also, dass sie diese Genüsse noch einmal erleben wollte und dass er, verbunden mit diesen Genüssen, für immer in ihrem Kopf und ihren Gefühlen verankert sein würde. Aber Aleks war fort. Am ersten September des letzten Jahres war er in die USA abgeflogen. Nun schrieb man Oktober. Dreizehn Monate waren vergangen. Sie hatte ihn ohne Tränen gehen lassen und trauerte ihm nicht auf eine Art und Weise nach, die man Liebeskummer nennen konnte. Leo war sich sicher, dass sie sich nicht verliebt hatte, sondern bedauerte, dass ihre Entdeckungsreise mit diesem tollen Mann so schnell vorbei gegangen war. Sie hatte Blut geleckt und sehnte sich danach, ihre Neigung wieder so ausleben zu können, wie sie es mit ihm gekonnt hatte. Erst gegen Ende seines Aufenthaltes in Berlin fühlte sie sich, als wäre sie an einem Punkt angekommen, an dem sie aufgetaut war, und es hätte richtig losgehen können. Die Frage, was danach hätte kommen können, nagte unaufhörlich an ihr.

In den ersten Wochen nach seiner Abreise hatten sie sich regelmäßig gemailt. Während der CD-Aufnahme verbrachte er zwar lange Stunden im Tonstudio, aber er kam jeden Abend in die gleiche Unterkunft zurück. Dann startete die Tournee. Wenn er nicht gerade in Flugzeug, Bahn oder Bus saß, hatte er meist Proben oder Konzerte und nicht jedes Hotel bot seinen Gästen einen freien oder bezahlbaren Zugang zum Internet. Bald darauf meldete er sich von einer anderen Nummer. Die deutsche Simkarte wurde bis zu seiner Rückkehr eingemottet. Theoretisch hätten sie nun häufiger schreiben können. Leider wurde die Zeit auf beiden Seiten immer knapper. Leo fand in ihren alten Alltag zurück und er in seinen neuen. Zweimal erreichten sie Postkarten, die nun sorgsam gehütet in ihrem Nachttisch lagen. Am selben Ort ruhten auch zwei Geschenke von ihm. Ein Ring der O und ihr Halsband. Es waren kostbare Schätze geworden.

Nie hatten sie darüber gesprochen, ob sie ihre Affäre, oder was auch immer es gewesen war, wieder aufleben lassen könnten, wenn er zurückkam. Insgeheim stellte sie sich diese Frage ständig. Sie wusste, dass seine Tournee beendet sein müsste, jedoch kannte sie keine genauen Daten. Erst recht nicht den Tag einer eventuellen Rückkehr. Würde er sie wiedersehen wollen, wenn er wieder im Land war? War er bereits zurück, aber meldete sich nicht? Ob er nun eine Freundin hatte? Oder eine neue Sub? Sie sollte an diesem Punkt besser nicht mit Steinen werfen, auch wenn der Gedanke sie wurmte. In seinen Mails hatte er nie etwas von einer neuen Freundin oder Spielpartnerin geschrieben und sie tat es auch nicht. Eigentlich wollte sie nichts wissen. Weder ob er noch Single war und sie hoffen konnte oder er neu liiert war und eine Fortsetzung ihrer Verbindung eine Phantasie bleiben würde. Allerdings gelang es ihr auch nie, ihn komplett abzuhaken.

Nach sechs Monaten konnte man ihre Verbindung nur noch als sporadisch bezeichnen –wenn man es nett sagen wollte. Kurze Zeit danach brach der Kontakt vollends ab. Leo wollte nicht spionieren und Nino mit Fragen, ob er etwas von seinem Freund gehört hatte, belästigen. Sie wollte nicht zu neugierig erscheinen oder den Eindruck machen, ihm auf die Pelle zu rücken oder hinterherzurennen, weil sie seinen guten Freund ausquetschte. Wenn er sich nicht meldete, gab es sicher einen Grund dafür. Obendrein wollte sie nicht zugeben, dass sie ihn noch immer vermisste. In der damaligen Situation war Aleks ein Segen gewesen. Nun war die Zeit mit ihm teils zum Fluch geworden. Sie wollte wieder spüren, was sie damals gespürt hatte, und musste lernen wie unglaublich schwer es war, einen passenden Partner zu finden.

Erst einmal glaubte sie, dass sie sich sehr glücklich schätzen konnte. Gerade als die Lust wieder aufkam, traf sie durch Zufall eine alte Affäre wieder. Kein Dom, aber jemand, an den sie tolle und geile Erinnerungen besaß. Mit Oliver hatte sie vor Jahren, als sie gerade nach Berlin gezogen war, gute Tage und noch bessere Nächte verbracht. Eines Tages stand er ihr nun als Kunde in der Kaffeebar gegenüber. Nach ein paar Minuten hatte er seinen Kaffee und sie beide eine Verabredung am Abend. Leo sah diesem Treffen mit viel Vorfreude entgegen. Oliver war der Mann, mit dem sie den besten Sex ihres Lebens gehabt hatte. In der Zeit vor dem Violinisten, heißt das. Nachdem sie ein halbes Jahr totalen Verzicht geübt hatte, gierte sie auf dieses Treffen. Zwar hatten sie sich nur verabredet und nichts geplant, aber es war bereits damals immer so gekommen. Sie wollten sich oft genug einfach so treffen wollen und landeten im Bett. Immer. Deshalb ging Leona auch davon aus, dass es wieder passieren würde.

Das Gute: Sie behielt Recht. Immerhin täuschte sie sich nicht, was die Anziehung zwischen Oliver und ihr anging. Es knisterte so stark zwischen ihnen, dass sie im Nullkommanix im Bett landeten. Allerdings schüttelte Leona ab diesem Zeitpunkt innerlich den Kopf und wollte nicht wahrhaben, was da geschah. Das war, was sie als tollen Sex in Erinnerung hatte? Es war nicht schlecht. Aber sie konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken fortglitten, was früher bei Oliver nie passiert war, und sie am Ende ernüchtert war. Sie hatte sich mehr erwartet und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, war sie nicht sicher, ob sie jemals wieder mit ihm würde schlafen wollen. Etwas fehlte. Leona war so verwirrt von diesem überraschend schalen Erlebnis, dass sie niemandem davon erzählte.

„Waaas?”, kreischte Maya und unterbrach Leonas Jahresrückblick. Diese hatte nun beschlossen, nur noch eine einzige Sache in ihrem Bericht zu verschleiern – nämlich, wie oft Aleks in ihrem Kopf herumspukte. Das war, worauf Maya geierte und sie wollte ihr keinen Anlass geben, mehr darauf herumzureiten, als sie es eh schon tat.

„Wieso hast du mir nie davon erzählt?”, wollte ihre Freundin wissen.

„Weil es zu seltsam war und mir später unwichtig erschien. Ein ONS, der kein Brüller war. Nicht sehr aufregend, oder? Es ist maximal lustig, weil es ausgerechnet Oliver gewesen ist, aber ich glaube, jeder ONS hätte mir dieses Gefühl gegeben.” Leona zuckte mit den Schultern.

Insgeheim hatte sie eine Erklärung für sich gefunden. Als sie Oliver damals kennengelernt hatte, war sie noch sehr jung gewesen und er der scheinbar so erfahrene Mann – obwohl er gerade mal Ende zwanzig war. Bis zum Beginn ihrer Affäre hatte Leona nur Sex erlebt, der sie denken ließ: Und darüber reden alle? Zumindest das änderte er. Jetzt war sie Ende zwanzig. Das, was Oli ihr damals voraus hatte, war nun auch bei ihr geschehen. Sie hatte gelebt, ausprobiert und kurz zuvor realisiert, was ihr schon immer gefehlt hatte. Was Oliver ihr geben konnte, war nicht mehr neu und aufregend, sondern etwas, was sie kannte und das nicht mehr reichte, um Erfüllung zu finden. Sehr genau konnte sie ihrer Freundin ansehen, dass sie Details wollte, aber Leona winkte ab. Diese eine Nacht spielte in ihrer aktuellen Gefühlswelt keine Rolle.

„Na gut, dann erzähl weiter. Sofern du nicht noch was unterschlagen hast, geht's mit der Episode weiter, richtig?” Mayas Kopf zuckte in die Richtung von Leonas Laptop. Jetzt konnte sie nicken. Genau genommen gab es beim Thema Internet und allem anderen Überschneidungen, aber das nächste große Kapitel folgte nach Oliver.

Vier Monate nach Aleks' Abreise meldete sie sich auf einer BDSM-Plattform im Internet an. Er erwähnte, dass er dort auch ein Profil besitze, sein letzter Log-In jedoch ewig her sei und er von dieser Seite eh abraten würde. Genau das war ein guter Grund, sie zu nehmen. Sie kannte seinen Nickname nicht, wollte nicht über sein Profil stolpern und wenn er dort nie reinschaute, würde er sie ebenfalls kaum ausfindig machen und sehen können, was sie trieb. Damals sah sie sich nur kurz um, fand das ganze Tam Tam dort allerdings ziemlich lächerlich und konnte sich nicht vorstellen, dort jemals ernsthaft einen Partner zu suchen oder gar zu finden. Schon einen Tag nach ihrer Registrierung war das Portal vergessen. Nach der Nacht mit Oliver änderte sich das. Wenn der Sex mit ihm zwar toll war, aber sie nicht befriedigte, dann ging es vielleicht nicht mehr ohne. Och doch, es würde gehen. Das war nur nicht mehr das, was sie wollte.

Es passierte, wovor Aleks sie gewarnt hatte. Kaum war sie online, quoll ihr Postfach über. Obwohl ihr Profil kaum etwas hergab. Viele Männer störte das nicht. Allein die Angaben, dass sie weiblich und devot war, schienen ausreichend, um ihren Posteingang zu überfluten. Die meisten Anschreiben waren schlichtweg dumm. Dort ließ sich kein Zuckerguss drüber kippen. Dumm, niveaulos, plump und höchstens noch unfreiwillig komisch. Sie staunte, wie viele x-beliebige Doms der Meinung waren, dass sie sofort tun müsste, was die von ihr wollten. Oder dachten, dass intimste Fragen zu ihrem Körper ein guter Einstieg in ein Gespräch seien.

Leona löschte und löschte und glaubte mehr als einmal, dass es einfacher und besser wäre, ihr ganzes Profil auszuradieren und diesen Versuch für gescheitert zu erklären. Sie drückte den „Löschen“-Button so oft, dass sie sich fragte, was sie dort wollte. Es war erschreckend, wie selten sie auf „Antworten“ klicken konnte. Bei halbwegs netten Anschreiben verfasste sie eine Erwiderung und lernte: Manche schrieben eine wunderbare erste Nachricht und entpuppten sich bei der zweiten oder dritten als Idioten. Als ob sie glaubten, die Frau würde nach einer super Mail schon Vertrauen gefasst haben und sie unbedingt wollen. Es dauerte Wochen, bis es einen gab, der immerhin so gescheit schrieb, dass sie sich mit ihm auf einen Kaffee traf.

Allerdings hakte sie auch diesen Kontakt nach dem Kaffeetrinken direkt wieder ab. Live und in Farbe sprach er auf einmal ganz anders und Leo war froh, als sie gehen konnte. Auch, weil sie dringend schallend lachen wollte. Dieser Mann wollte mit „Meister“ angesprochen werden. Meister. Nicht in naher oder ferner Zukunft, nein. Er bestand sofort auf dieser Anrede, denn schließlich sei sie ja Sub und zu dem Treffen erschienen. Also wolle sie es doch auch! Leona war versucht, sich umzusehen. Irgendwo musste eine versteckte Kamera hängen. Das konnte er nicht ernst meinen. Deutlich sichtbar hatte sie den Kopf geschüttelt. Erstens würde sie jemanden, den sie nicht mal mehr sympathisch fand, nie so hoch betiteln. Zweitens würde es nicht weitergehen und sie würden niemals auf einen Punkt kommen, an dem sie über Titel und Anreden debattieren würden, und drittens: Meister? Der Titel ging für sie gar nicht. Ihr Kopf zeigte ihr bei diesem Wort nur Putzmittel und einen rothaarigen Kobold.

Obwohl sie ihm eine Abfuhr erteilte, ließ er es sich nicht nehmen, ihr eine DVD mitzugeben, die sie anschauen sollte. Um etwas über SM zu lernen. Erst war sie versucht, dieses Geschenk in den nächsten Mülleimer zu werfen. Dann packte sie den quadratischen Umschlag doch wie automatisch ein. Beim Ausmisten ihrer Handtasche entdeckte sie ihn nach einigen Tagen und die Neugier siegte. Im Grunde bekam sie zu sehen, was sie schon beinahe erwartet hatte. Ein paar BDSM-Pornoclips. Die meisten bestanden aus Vorführungen mit einer großen Zahl von Zuschauern, die später alle einmal ran durften. Neben der sexuellen Benutzung glaubte sie noch eine Vorliebe des selbsternannten Meisters zu erkennen. Beinahe jeder Clip beinhaltete etwas, was sie erschaudern ließ. Von Nadeln hatte sie inzwischen ja schon gelesen. In diesen Filmchen wurden der Sub allerdings Reißzwecken in die Haut gedrückt, bis sie aussah, als hätte sie einen seltsamen Ausschlag. Kopfschüttelnd spulte sie die Stellen vor und fühlte sich darin bestätigt, dass sie Nadeln und dergleichen zu Recht als Tabu einsortiert hatte. Das musste nun wirklich nicht sein. Nicht einmal sehen wollte sie es. Keine der Szenen auf der DVD traf ihren Geschmack. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte sie jetzt allerdings sagen können, dass die Reißzwecken-Nummern dafür sorgten, dass ihre Erektion erfolgreich gekillt wurde. Mochte jemand diese Spielarten – schön und gut. Aber einem fremden Menschen solche Szenen zeigen? Das war daneben.

Während der Zeit ihrer Onlinesuche lernte sie ein neues Wort, das sie sofort nicht leiden konnte. Spielbeziehung. An und für sich, wenn sie von den Fakten ausging, genau das, was sie wollte. Sie spürte den Drang und den Wunsch, ihre Neigung wieder auszuleben, wollte aber keine feste Beziehung. So ähnlich lautete die Erklärung. Zwei oder mehr Menschen, die sich hauptsächlich trafen, um BDSM zu leben. Der Alltag wurde nicht geteilt, keine großen Pläne geschmiedet und es würde nicht darin enden, dass man zusammenzog und gemeinsam Vorhänge aussuchte. In ihren Worten war so etwas eine Affäre mit BDSM. Diese neue Bezeichnung war nicht schön und irgendwie fand Leona sie einengend. Als ob dann wirklich nichts anderes drin wäre als zu „spielen”. Übrigens auch ein Wort, das sie nach einigen Mails möglicher Anwärter nicht mehr hören konnte oder wollte. Spielen war nicht das, was ihr vorschwebte. Sie wollte sein und leben. Die Praktiken an sich konnte sie ebenfalls nicht mit diesem Wort verknüpfen. Was allerdings viel schwerer wog, war das, was so manche aus dieser Beziehungsform machten. Wie sie sich diese vorstellten. Viele sahen den Stempel ganz offensichtlich als Freibrief und ganz praktisch: Sie konnten sich austoben, aber mussten sich nicht kümmern, weil es ja nur eine Spielbeziehung war.

Leona begann nachzudenken. War das, was sie und Aleks verbunden hatte, eine Spielbeziehung gewesen? Im Grunde schon. Es ging nicht um die großen Gefühle, sie malten sich keine gemeinsame Zukunft aus … und doch war er immer für sie da gewesen, war mit ihr ausgegangen und hatte viel Zeit mit ihr verbracht. So stellten sich jedoch die wenigsten ihrer Schreibkontakte eine Spielbeziehung vor und spätestens da wurden die Unterhaltungen eingestellt. Wieso sollte sie jemandem vertrauen, der sofort klarmachte, dass sie nur für eine Sache gut war? Oftmals waren es verheiratete Männer, die sich heimlich austoben wollten und keine Zeit für mehr hatten. Das wollte sie nicht.

Mit dem neuen Wissen, ordnete sie Aleks – auch wenn sie das Wort hasste – als Spielbeziehung ein. Als eine, die das Vorbild für ihre Zukunft sein sollte. Man konnte Spaß haben, für einander da sein und Zeit verbringen, ohne sich fest zu binden. Ihre Erfahrung war das beste Beispiel. Sie hatte Aleks nur so schnell vertrauen können, eben weil er sie stets mit Respekt behandelte, greifbar war und sie nicht auf eine Sache reduzierte. Jemand, der ihr von Beginn an sagte, dass sie nur das haben würden, sie nur Sub sein sollte und sonst nichts? Nein. Das konnte sie sich nicht vorstellen. Leona benutzte die neue Vokabel, um klarzustellen, was sie wollte, und verbrachte dann einige Zeit damit zu erklären, wie sie sich diese Beziehung vorstellte. Innerlich blieb sie bei ihrem ersten Gedanken: Was für ein beschissenes Wort!

Es folgte eine weitere Bekanntschaft. Leona konnte es nicht anders ausdrücken: Sie war kurz davor, die Wände hochzugehen. Vom Gefühl her hatte sie gerade erst mit dem Ausleben angefangen und wollte jetzt nicht verzichten. Diese neue, frisch befreite Seite schrie nach Aufmerksamkeit. Bereits jetzt fühlte sie sich, als müsste sie diese Neigung wieder zurückdrängen und in den Keller sperren, weil es keine Möglichkeit gab, sie zu zeigen, geschweige denn zu leben, und das fehlte ihr. Leona vermisste es, sich ganz zu fühlen. Darum geschah etwas, was sie nicht für möglich gehalten hatte. Ihr Gehirn schaltete sich aus. Nicht auf die gute Art und Weise. Sie verspürte einen Druck, den sie vorher nie gekannt hatte. Es gab so vieles, was sie spüren wollte. Leo wollte die Kontrolle abgeben, sich in die Hände des Partners begeben, vertrauen, die Macht und sogar den Schmerz spüren. Zwar hielt sie ihre masochistische Seite für gering, aber auch das fehlte. Sie wollte ihre Grenzen aufgezeigt bekommen und an sie heran geführt werden.

So geriet sie kurze Zeit später an Heiko. Ein überaus attraktiver Mann in den Vierzigern, mit dem sie locker reden konnte. Beides trug dazu bei, dass sie anderes übersah. Was geschah, konnte sie nur als Tunnelblick – mit zwar temporärer, aber dafür totaler – Blindheit beschreiben. Alles passierte zu schnell. Der Drang, wieder zu fühlen, nahm überhand und Leona stellte nicht die Fragen, die sie eigentlich stellen wollte und sollte. Alles, was sie in ihrem Zustand sah, war eine Chance. Ihr Versprechen an Aleks, sich covern zu lassen, brach sie nicht. Maya wusste genau, wo sie war und auch mit wem. Aber das half ihr in diesem Moment nicht.

Nach zwei Kaffeedates hatte Leona eingewilligt, sich bei ihm zuhause zu treffen. Zwei Stockwerke unter seiner Wohnung befand sich ein Café, in dem Maya saß. Er wusste, dass ihr Cover in der Nähe war, und da er es okay fand, wiegte sie sich in Sicherheit. Heiko hatte sie in der Mitte des Raumes aufgestellt, ihre Hände mit Manschetten gefesselt und an einem Haken über ihrem Kopf befestigt. So begann ihre Session. Kein weiterer Vorlauf. Kein Warmwerden zusammen. Völlig ohne Umschweife in die Vollen. Schlimm fand sie das nicht. So unter Druck wollte sie nicht reden, kuscheln oder sonst etwas. Ganz tief in ihrem Inneren wusste Leo, dass sie nichts für diesen Mann empfand. Er war nicht wichtig und sie übersah, wie unbekannt er ihr eigentlich war. Er sah gut aus und war einverstanden mit ihren Sicherheitsmaßnahmen. An mehr dachte sie nicht. Sie spürte Bammel aufkeimen, als Heiko mit einem Rohrstock auf sie zukam, war aber voller Hoffnung.

Er trat aus ihrem Blickfeld heraus und ohne Vorwarnung kam der erste Schlag. Leona konnte nicht atmen. Nicht schreien, weinen oder sprechen. Der Schmerz war so überwältigend, dass kein Ton aus ihr kam, obwohl sie am liebsten das Safeword gebrüllt hätte. Sie war sogar zu überwältigt, um Panik zu spüren, weil sie gefesselt war und keine Möglichkeit hatte, ihm vollständig auszuweichen. Ein Schockzustand. Noch weit entfernt davon, den ersten Schlag verdaut zu haben, musste Leona den zweiten einstecken. Wieder raubte er ihr jede Möglichkeit, etwas zu sagen. Ein paar wenige Schläge später war sie in der Lage, den Mund aufzumachen. Sie tat es nicht bewusst. Etwas in ihr hatte begriffen, dass sie wenigstens dieses eine Wort sagen musste, da er sonst nicht aufhören würde. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie nicht völlig fertig mit den Nerven, sondern so wütend, dass sie Heiko den Rohrstock abnehmen und auf ihn einprügeln wollte. So sprach sie nicht, sondern zischte stinksauer und einem erstaunlich bedrohlichen Klang in der Stimme: „Mayday!“

Heiko bekam einen allerletzten winzigen Pluspunkt, der nichts mehr retten würde, weil er tatsächlich sofort aufhörte. Leo war erschüttert, wie zornig sie war. Ihr ganzer Körper bebte und kochte. Der Teil ihres Kopfes, der in Rage geraten war, versuchte abzuwägen, wie und womit sie am besten zurückschlagen sollte. Sie konnte sich nicht erinnern, je so wütend gewesen zu sein. Obwohl sie gegen Gewalt war, fand sie die Vorstellung, ihm – gegen seinen Willen! – zu zeigen, wie sehr solche Schläge schmerzten, absolut passend, und lobte insgeheim ihre Selbstbeherrschung, weil sie es nicht tun würde. Von den Fesseln befreit, wollte sie umgehend auf ihn losgehen. Das Verlangen, ihn zu prügeln war riesig, doch sie tat es nur verbal. Sie erschlug ihn mit einem Schwall von Flüchen, der sich verstärkte, als sie über ihren Hintern fuhr und die Handfläche rot zurückkam. Nur wenige Schläge und sie blutete! Leona war außer sich. Jedes zarte devote Gefühl, von dem sie sich ein aufblühen erhofft hatte, war mit einem Knall verschwunden. Heiko versuchte sich zu wehren, kam allerdings kaum zu Wort, wurde immer hilfloser und war mit der Lage sichtlich überfordert. Selbst während sie sich anzog, konnte sie nicht aufhören, ihn anzuschnauzen. Er brachte das kleinlaute Argument an, dass sie doch SMler seien und solche Hiebe dazu gehören würden. Nächstes Mal wüsste er dann, dass sie empfindlich sei. Dies brachte Leona nur dazu, zig neue Namen für ihn zu finden, von denen keiner etwas mit SM zu tun hatte oder lieb war. Eine unsicher vorgebrachte Entschuldigung, die eher wie eine Frage klang, überhörte sie. Annehmen konnte sie sie eh nicht. Stinksauer versicherte sie ihm, dass es kein zweites Treffen geben würde. Nun meinte ihr Gegenüber offenbar, dass er lang genug angemeckert worden war, und stellte abfällig fest, dass sie nicht maso sein könne, wenn sie sich nach dem bisschen so aufführte und vermutlich auch nicht devot, wenn sie so mit ihm sprach. Jetzt reichte es wirklich und Leona richtete drei letzte Worte an ihn: „Fick dich, Arschloch.“ Dann war sie aus seiner Wohnung verschwunden. Im Stechschritt marschierte sie in das Café, rief ihrer Freundin zu, dass sie jetzt gehen würden, und wartete ungeduldig vor der Tür, bis Maya bezahlt hatte. Natürlich wollte diese sofort wissen, warum sie schon wieder da war. Leona winkte ab. Berichten würde sie erst, wenn sie sich weiter entfernt hatten und Maya Heiko nicht die Tür eintreten konnte.

„Boah, ich könnte immer wieder austicken, wenn ich daran denke!”, rief Maya erzürnt dazwischen und ballte ihre Hände zu Fäusten.

„Ich wusste, dass du mich an der Stelle unterbrechen würdest”, seufzte Leo. Nie konnte sie Heiko erwähnen, ohne dass ihre Freundin ausflippte.

„Und ich wünschte, du hättest mir das damals sofort gesagt! Weißt du eigentlich, wie oft ich überlegt hab, den mal abzupassen? Hallo, ich war dein Cover und konnte nix tun! Wie kannst du so ruhig davon erzählen?”

„Richtig. Mein Cover. Nicht mein Hooligan. Ich bleibe ruhig, weil ich das am liebsten nur vergessen und nicht Energie dafür verschwenden will, als wäre es wichtig. Wenn ich zu genau daran zurückdenke, zieht es mich nur runter. Darf ich weitererzählen?”

„Na klar. Ich bin ruhig. Ehrenwort”, versprach Maya und verschloss pantomimisch ihre Lippen. Leo zog die Brauen hoch. Vermutlich war dies nicht die letzte Unterbrechung; daher setzte sie rasch ihren Bericht fort.

Die Reaktion, die sie direkt nach Heikos Schlägen erwartet hatte, kam zuhause. Leo warf sich auf ihr Bett und heulte. Sie heulte mehrere Stunden und konnte nicht aufhören. Erst jetzt spürte sie, wie sehr ihr Hintern wehtat, und sie hasste es, dass diese Schläge Spuren verursachen würden. Sie wollte keine Spuren von diesem Idioten! Neben all der Wut auf Heiko verfluchte sie vor allem sich selbst. Obwohl sie geglaubt hatte, auf der Hut zu sein, war sie blindlings in diese Situation gerannt. Alles hatte sie gewollt. Am liebsten sofort. Das war das Ergebnis. Sie hatte sich nicht die Zeit gegeben, ihn gründlich zu beschnuppern, und nicht auf eine Meldung ihres Bauchgefühls gewartet. Hätte sie es nicht besser wissen müssen? Himmel, selbst bei Affären ohne BDSM hatte sie besser aufgepasst und jetzt, wo es darum ging, sich schlagen und wehrlos machen zu lassen, agierte sie vollkommen kopflos? Heiko hatte sie blutig geschlagen … Aleks hatte aufgehört, bevor dies geschehen konnte.

Leona dachte an ihre erste Begegnung mit dem Rohrstock. Bevor Aleks abreisen musste, hatte sie ihn gebeten, sie so zu schlagen, dass sie es noch lange sehen würde. Er hatte eingewilligt, war auf ihre Bitte eingegangen und hatte dafür den Rohrstock ausgewählt. Ihr Wunsch ging in Erfüllung und ihr Arsch trug überdeutliche Zeichen. Keine Striemen – ein großer Fleck auf jeder Pobacke. Nach ihrem Abschied am Flughafen, war sie nach Hause gefahren und hatte in den Spiegel gesehen. Einen Tag nach der Aktion waren die Flecken nicht mehr rötlich gewesen. Ein Farbenspiel aus Blau, einem dunklen Violett, das sich am Rand der Male verdunkelte und beinahe schwarz wirkte. Er hatte gestoppt. Sie war so berauscht in einer Spirale aus Schmerz, Frust – über seine bevorstehende Abreise – und auch Lust gefangen gewesen, dass sie ihn angebettelt hatte, weiter zu schlagen. Als sie ihren Hintern schließlich zum ersten Mal begutachtete, war sie froh, dass er sie vor sich selbst beschützt hatte. Ein paar Schläge mehr und es wäre genau das auf ihren Wunsch passiert, was Heiko ohne ihr Einverständnis hinbekommen hatte: Aufgeplatzte Haut. Bei Aleks hätte nicht mehr viel gefehlt und in dem Moment wäre es egal gewesen. Später erschreckte es sie. Besonders, als sie das Endergebnis ihrer missglückten Einmal-Session sah.

In sehr kurzen Augenblicken wunderte sie sich, weil sie sich dies hatte antun lassen und es auch weiterhin wollte. Gedanken dieser Art gehörten jedoch schnell der Vergangenheit an. Sie kamen und gingen binnen Minuten, sobald ihr bewusst wurde, wie gut es ihr bei Aleks getan hatte. Immer wieder war sie zum Spiegel gewandert, hatte sich glücklich die Spuren besehen. Glücklich und stolz. Es war kein Traum gewesen. Sie hatte es für sich – und ihn – durchgehalten, gebraucht, genossen und es sich nicht eingebildet. Die Spuren waren ein sichtbarer Beweis; sie trug sie mit großer Freude. So stolz war sie darauf, dass sie umgehend Fotos machte. Diese Selfies gerieten allerdings etwas zu schief und sie wollte Aleks' Spuren anständig, auf einem guten Bild, festhalten. So kam Maya zu der Ehre, die geliebten Male zu sehen und zu fotografieren. Ihre Freundin hatte auf ihre sonst üblichen, überschwänglichen Kommentare verzichtet. Anerkennend pfiff sie durch die Zähne und machte Fotos. Jetzt besaß Leo drei tolle Bilder. Eines, das sie stehend zeigte, eines, auf dem sie auf dem Bett lag. Das dritte Bild war ihr Liebling. Sie kniete und drückte den Rücken ins Hohlkreuz, um ihren Hintern richtig zur Geltung zu bringen. Vermutlich mochte sie es so gern, weil sie auch diese Position lieben gelernt hatte. Die Bilder waren frisch nach seiner Abreise entstanden, als ihr Kontakt noch stand. Sie hatte ihm die Fotos geschickt. So nahm auch er etwas Sichtbares aus ihrer gemeinsamen Zeit mit.

Diese Belege für ihr Erlebnis befanden sich zusammen mit einem Selfie von ihr und Aleks seit letztem Jahr auf ihrem Handy. Ihr einziges gemeinsames Bild war spontan im Auto entstanden, nachdem sie an einem besonders heißen Tag kurz einkaufen gegangen waren. Sie sahen fertig und verschwitzt aus, doch Leona liebte das Bild. Einfach, weil es sie beide zeigte. Zu einer Zeit, in der sie absolut glücklich war. Es war nicht nur die pure Freude, ein gemeinsames Bild als Andenken an ihn zu haben. Ihres Wissens besaß Leona kein Bild, auf dem sie so euphorisch, ausgeglichen und froh aussah. Manchmal war sie versucht, es zu löschen, um die Zeit mit ihm gehen zu lassen und wirklich neu anzufangen. Die Fotos waren auch auf ihrem Laptop gespeichert. Sie wären also nicht ganz weg. Was hielt sie davon ab? Darüber dachte sie gar nicht erst nach und brachte es weiterhin nicht übers Herz, die Bilder zu markieren und dann das kleine Symbol in Form eines Mülleimers zu drücken.

Anfangs hatte sie sich die Fotos sehr oft angesehen. Dann kam eine Phase, in der sie die Fotos ignorierte oder so schnell wie möglich an ihnen vorbei scrollte. Dann schaute sie die Bilder doch wieder verträumt und sehnsüchtig an. Wenn sie auf jene mit den gewaltigen Spuren sah, war die Erinnerung an den Schmerz sehr vage. Sie hatte in dieser Nacht geschrien und geheult. Doch Grund für ihre Tränen war nicht nur der Schmerz. Nach den ersten Hieben mit dem Rohrstock wollte sie abbrechen, da sie glaubte, es nicht aushalten zu können und sich mit ihrem Wunsch übernommen zu haben. Zum Glück hatte sie das nicht getan. Für jemand anderen, Juna zum Beispiel, mussten diese Fotos schrecklich sein. Leona hingegen saß da und vermisste es. So sehr, dass sie alles in Kauf nehmen und über jeden Schatten springen würde, wenn sie noch eine Chance mit ihm bekommen könnte. Jetzt, wo sie nicht mehr an sich zweifelte oder wegen ihrer Neigung fertig machte. Wie herrlich könnte es jetzt werden?

Als die Flecken sich veränderten, setzte ein schlimmer Countdown ein. Sie wurden zu einem helleren Lila, grünlich, gelblicher und vor allem immer blasser. Mit jedem Farbwechsel verlor sie etwas, was ihr sehr am Herzen lag. Leona wollte nicht, dass die Male verschwanden, da sie keine neuen bekommen würde. Die Zeit lief erbarmungslos weiter und sie konnte nichts dagegen tun. Eines Tages waren die letzten Erinnerungen, die er ihr auf den Körper gemalt hatte, fort und sie betrauerte den Verlust. Sie wünschte sich neue. Von ihm. Ihm, der ihr weh tat, für sie da war und auf sie aufpasste.

Ein paar Wochen mit Aleksander – und nun konnte sie mit keinem Mann, den sie kennenlernte, so wirklich mehr etwas anfangen. Einige waren nur nett, viele jedoch auch nervig oder seltsam. Sie reichten einfach nicht an ihn heran. Hätte sie mit einem anderen glücklich werden können, wenn sie Aleks nie kennengelernt hätte? Vielleicht. So glücklich wie mit ihrem letzten festen Freund, bei dem sie noch nicht gewusst hatte, dass ihr etwas fehlte, und bei dem sie sich, beinahe resigniert, mit dem Üblichen zufriedengegeben hatte. Durch Aleks lernte sie eine Vielseitigkeit kennen, die sie nie zuvor erlebt hatte. Nicht nur dass der Sex mal schmerzhaft, mal leidenschaftlich und animalisch, mal sehr hart oder sehr sanft war. Auch sonst boten sich Gegensätze und Eigenschaften, die man einfach mögen musste. Aleks konnte gut zuhören, er nahm sie ernst und machte sie nicht klein wegen ihres Jobs. Man konnte mit ihm herumalbern und wenn sie Fragen wegen ihrer neu entdeckten Neigung hatte, erklärte er ihr alles ruhig auf eine Art, die ihr nur so geringfügig peinlich war, dass sie in der Lage war, eine Unterhaltung fortzusetzen. Nie musste sie sich für Fragen schämen. Er besaß ein feines Gespür und wusste, wann sie keinen Scherz oder Lacher verkraften konnte, weil sie unsicher war. Noch dazu seine Leidenschaft für Seile und die Musik. Man konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Schrank von einem Mann so atemberaubend und lieblich Geige spielen konnte, doch nachdem sie es einmal gesehen hatte, war dies der schönste Anblick überhaupt. Sie hatte ihn in ihrem Leben gebraucht. Von nun an würde sie immer auf der Suche sein, so etwas wieder zu erleben. Mit weniger zufriedengeben? Auf keinen Fall.

Diese Erinnerungen an Aleks – direkt nach dem Treffen mit Heiko – verstärkten den Tränenfluss erneut. Jedoch riefen sie ihr auch etwas in Erinnerung. Etwas, woran sie besser denken sollte, solange sie auf der Suche war: Nicht jeder wusste was er tat. Nicht jeder war empathisch und sah, was er anrichtete oder anrichten konnte. Manche lebten ein ganz anderes BDSM. Etwas, was für sie schrecklich war, konnte für eine andere der siebte Himmel sein. Sie musste besser auf sich aufpassen, viel mehr reden und lieber zu oft nein sagen. Bevor sie jemanden richtig gut kannte, konnte sie nur ihrem Gefühl vertrauen. Sollte es ein weiteres erstes Mal mit jemandem geben, wären Fesseln zu Beginn tabu. Nie wieder wollte sie solche Hiebe kassieren und nicht ausweichen können.

Leona blieb auf der BDSM-Kontaktseite. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, dass wahnwitzige Anschreiben an der Tagesordnung waren. Mit den vorherrschenden Standards wurde sie jedoch nicht warm. Sich dem anzupassen, kam ihr nur kurz in den Sinn – dann schüttelte sie den Kopf. Keine fünf Minuten würde sie es schaffen, so zu reden und zu tun, als wäre das ihr Stil. Ganz abgesehen davon wollte sie doch endlich sie selbst sein und sich nicht an etwas anpassen, was ihr nicht gefiel. Irgendwo da draußen musste es jemanden geben, der sie so nahm, wie sie war.

Zu Beginn glaubte sie, sich verlaufen zu haben. Dann, dass hier alle einen Listen-Fetisch haben mussten. Ständig ging es um Listen. Der eine wollte einen Neigungsfragebogen, der andere schickte ihr eine Vorlieben-Liste zum Ankreuzen oder Benoten. Einmal hatte sie versucht, so etwas auszufüllen, da offenbar kaum jemand ohne den Kram auskam. Sie scheiterte. So konnte und wollte sie nicht. Aleks hatte sie auch intime Dinge gefragt, noch vor ihrem ersten Kuss. Doch da saßen sie zusammen und es war schon klar, dass die Chemie stimmte und sie sich wollten. Im Internet verlangten Wildfremde diese Infos. Typen, die sie noch nie gesehen oder gesprochen hatte, und das kotzte sie an. Wieso gaben die sich keine Mühe, jemanden kennenzulernen? Woher sollte sie wissen, ob sie jemandem einen würde blasen wollen, den sie nicht kannte? Hätte Aleks ihr im Nachhinein so eine Liste vorgelegt, hätte sie vieles positiv ankreuzen können. Aber so? Klar, ein paar Dinge sprachen sie an. Aber würden sie sie noch immer ansprechen, wenn der Besitzer des Profils vor ihr stand? Diese Typen schienen das Pferd von hinten aufzäumen zu wollen und fanden das offensichtlich völlig normal. Oder es war egal, ob es menschlich passte. An oberster Stelle stand die Neigung und diese Reihenfolge fand Leo falsch. Auf jeden Fall war sie falsch, wenn einer diese Fragen noch vor dem ersten Date beantwortet haben wollte. Kontakte, die ihr so kamen, erhielten eine Absage. Sie würde nichts mehr ausfüllen, keine Phantasien erzählen oder sonst etwas. Wollte dieser jemand sie dann gar nicht mehr treffen, war ihr das nur recht. Wer sie, Leona, nicht ein wenig besser kennenlernen oder treffen wollte, würde niemals ihre Vorlieben erfahren.

Dann kam er. Zwar warf dieser Mann nicht mit Listen um sich, jedoch gelang es auch ihm, sich in Rekordzeit Spitznamen von Maya einzufangen: Pfeife und Herr-macht-was-aber-nicht-richtig. Seit dem bösen Rohrstock-Zwischenfall war erst wenig Zeit vergangen und das Erlebnis noch so präsent, dass sie eigentlich die Schnauze voll von alledem hatte. So voll, dass sie überlegte, diese BDSM-Plattform zu verlassen und sich eine andere zu suchen. Oder ob sie sich löschen und die Onlinesuche generell für gescheitert erklären sollte. Just in diesem Moment, wo sie ausschließlich schwarzsah, tauchte ein scheinbar normaler Zeitgenosse auf.

Tom war dreißig, somit zwei Jahre älter als sie, blond, eins achtzig groß und laut eigener Aussage seit sechs Jahren BDSMler. Im Gegensatz zu anderen fand sie ihn nach einem ersten Treffen noch immer sehr nett und sie trafen sich wieder. Auch bei ihm hielt sie sich an das Versprechen, das sie Aleks gegeben hatte und ließ sich von Maya oder Nino covern. Wenn es machbar war, befand sich einer von ihnen in der Nähe. Ihr Cover wusste stets genau, wo sie sich befand, und erhielt auch alle bereits vorhandenen Daten des Mannes. Nach dem letzten Erlebnis hatte sie dem Versprechen an Aleks eine kleine, eigene Regel hinzugefügt: Mindestens drei Treffen fanden öffentlich statt. Er sprach damals meistens vom ersten Treffen – Leona erhöhte auf drei. So wollte sie sich selbst zur Ruhe zwingen und mehr Zeit nehmen, jemanden kennenzulernen, ohne in Versuchung zu geraten, gleich loszulegen. Erst danach würde sie entscheiden, ob mehr drin war und sie weiter gecovert werden wollte. Bis dahin würde sie sich besser fühlen, wenn ihre Freunde im Bilde waren und schnell vor Ort sein könnten, sollte irgendwas passieren oder falsch laufen.

Er war ein sympathischer Typ, an dem Leo eigentlich nichts auszusetzen hatte. Sie plauderten über dieses und jenes und auch immer häufiger über ihre Neigungen. Anfangs machte ihr einzig der Umstand Sorgen, dass sie nicht den geringsten Hauch von Dominanz erahnen konnte. Er strahlte nichts Derartiges aus und so verspürte sie nicht mal im Ansatz den Wunsch, sich zu unterwerfen. Allerdings hoffte sie, dass Tom diese Seite einfach nicht nach außen kehrte, solange nichts anderes ausgemacht war. Das wäre auch nichts Schlechtes. Von Männern, die meinten, sie müsse sich ihnen sofort unterwerfen, hatte sie eh genug. Hier stand nun ein netter junger Mann, es lief nichts schief und Leo fühlte, wie sie auftaute. Etwas, worauf sie bei Heiko verzichtet hatte.

Beim dritten Treffen gingen sie abends gemütlich essen und landeten später in einer Kneipe. An diesem Ort küsste er sie und Leona glaubte erstmals etwas anderes in seinen Augen zu sehen. Vielleicht das, wonach sie suchte. In diesem Moment entschied sie, sich auf Tom einzulassen und es einfach zu probieren. Sie mochte ihn und er schien kein Psychopath oder Blender zu sein. Warum also nicht? Vielleicht war er es ja. Der, auf den sie hoffte. Es konnte ja nicht immer beim ersten Treffen funken. Tom konnte gut küssen und ihr Körper signalisierte ihr, dass er gerne mehr hätte. Allerdings entschied sie, diese Rufe zu ignorieren. Dafür war Tom ihr dann doch zu unbekannt und sie wollte es nicht überstürzen. Nicht eine schnelle Nacht, nur um es mal wieder gemacht zu haben.

Die Schmetterlinge im Bauch und die Aufregung, die sie letztes Jahr gespürt hatte, blieben aus. Damals waren auch andere Gründe im Spiel gewesen. Sie wusste noch nicht über sich Bescheid und Aleks war es sehr viel direkter angegangen. Allerdings bedauerte sie es ein wenig, dass diese Aufregung sich nicht einstellte. Geschah das vielleicht nur beim ersten Dom? Wenn sie jetzt mal SM wegließ … Ja, bei ihrem ersten Freund hatte es dauerndes Nervenflattern und Bammel vor jedem weiteren Schritt gegeben, weil sie natürlich keinen Plan hatte, was kommen könnte und wie es sich anfühlen würde. Beim zweiten Freund gab es auch noch Aufregung und Schmetterlinge im Bauch – und davon auch nicht wenig. Aber sie hatte ein paar Erfahrungen gesammelt und es war nicht mehr so fremd. Die große Sorge vor unbekannten Dingen war weg. War dies hier genauso? Der Vergleich hinkte und das wusste sie. Ihre Reise, die Neigung zu erkunden, hatte gerade erst begonnen. Mit Sicherheit gab es noch genug Dinge, die sie erschrecken und verunsichern konnten. Warum fehlte dann der Nervenkitzel? Oder kam das, wenn es wirklich losging?

Das vierte Treffen fand bei ihm daheim statt. Leona wollte ihn nicht in ihre Wohnung lassen. Die Erfahrungen im Internet hatten sie misstrauisch gemacht und sie glaubte, dass es leichter wäre, aus einer Wohnung abzuhauen, als einen Typen der größer und kräftiger war, aus der ihren zu werfen. Obendrein fühlte er sich nicht vertraut genug an, um ihn in ihr Heim zu lassen. Gerade weil sie sich nicht vollständig sicher fühlte und natürlich noch kein großes Vertrauen da war, gab es die Ansage, dass die Wohnungstür unverschlossen sein sollte und der Schlüssel sichtbar dort zu bleiben hatte. Leona war darauf bedacht sich abzusichern, wo sie nur konnte. Bevor Tom überhaupt zum Zug kam, musste er sich die Sachen anhören, über die sie nicht verhandeln und ohne deren Abklärung es nicht losgehen würde.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie der Vorfall mit Heiko verändert hatte. Obwohl sie weitergehen wollte, sah sie nun die Mauer aus Unsicherheit, Ängsten und Sorgen. Als ob ihr urplötzlich aufgefallen war, was alles ausgenutzt und ihr angetan werden konnte. Ja, man war sehr wohl in der Lage, sich nach etwas zu sehnen und dennoch Furcht genau davor zu empfinden. In all den Monaten hatte sie sich nicht ausgemalt, was alles geschehen könnte und auch wenn Tom ihr bisher keinen Anlass zur Sorge bot, bekam er das zu spüren. Die Mauer aus Vorsicht und Horrorszenarien war da und würde sich nicht binnen Minuten wieder einreißen lassen. Die Zukunft würde zeigen, ob sie es gemeinsam schaffen würden, diesen Schutzwall abzubauen. Bis dahin musste Tom damit leben, dass neben ein paar identischen Tabus wie Kaviar, Blut und Klinik vorerst auch Fesselspiele und Augenbinde ablehnte. Tom war zwar nicht begeistert, nahm es aber hin und meinte, er könne sie verstehen.

Auch wenn er es akzeptierte, kam es für sie so rüber, als ob er glaubte, diese Punkte wären nach ein oder zwei Treffen erledigt. Nur eine Maßnahme für das erste Mal. Ob das so kommen würde? Sie bezweifelte es und lehnte alles ab, was er nun ansprach. Nicht, dass sie auf manches nicht neugierig gewesen wäre, sondern weil es ungelegte Eier waren und er tatsächlich ablas. Ja, bis zu diesem Punkt war sie von Papierkram und Listen verschont geblieben. Wusste Tom so wenig, was er wollte, dass er es vorher aufschreiben musste? Oder war er extrem vergesslich? Jedenfalls enttäuschte es sie, dass er nicht frei sprach. Ein paar Dinge – wie Natursekt – lehnte sie ab, weil es wirklich Tabus waren. Anderes hingegen wollte sie einfach noch nicht zugeben. Später, mit mehr Vertrauen, wäre das etwas anderes. Im bisher beschlossenen Rahmen gab es genug Möglichkeiten sich auszuleben. Vor Beginn mussten keine vollkommen unbekannten Techniken und grenzwertige Dinge für eine hoffentlich bald folgende Umsetzung debattiert werden. Selbst dann nicht, wenn sie im Stillen neugierig war. Als Tom fertig war und sie fragte, ob ihr noch etwas eingefallen wäre, konnte sie nicht anders und legte nach. Tom sah aus, als wollte er genervt aufstöhnen. Nun erklärte sie ihr Alltagsleben für tabu. Nur bei den Treffen würden sie Dom und Sub sein. Zwischendurch normal reden – ja. Sich von ihm diktieren lassen, was sie tat oder anzog – nein. Dieses Treffen verlief bisher ohne das erhoffte Knistern und so entschied sie, dass sie das, was sie bei Aleks so schätzte, von Tom nicht wollte. Zumindest nicht von Anfang an. Aktuell wollte sie ganz nüchtern eine Spielbeziehung, wie sie oft beschrieben wurde. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war nicht stark genug, um ihn in ihren Alltag oder ihre Freizeit eingreifen zu lassen. Natürlich war er nicht begeistert, als sie ihn abschließend darauf hinwies, dass ins Gesicht oder in den Mund abzuspritzen tabu war – aber hey, sie sprang auch nicht gerade euphorisch an die Decke. Sie mussten sich halt herantasten und schauen, wie sich ihre Beziehung entwickelte. Oder ob es überhaupt eine werden konnte.