Prélude - Jessa M. Arnold - E-Book

Prélude E-Book

Jessa M. Arnold

4,9

Beschreibung

Was geschieht, wenn man eine neue Seite an sich entdeckt? Welche Fragen können aufkommen und wie findet man Antworten? Was kann man über sich erfahren, wenn man es wagt, diesen neuen Pfad zu betreten? Wie wird man sich fühlen, wenn man ihn geht und dazu steht? Eine Geschichte von einer jungen Frau, die sich neu entdeckt und mit Hilfe einer ganz besonderen Person lernt, zu ihrer Neigung zu stehen. Eine Geschichte über verborgene Wünsche, Vorurteile, Schubladendenken und Ängste. Es ist nur ein Weg von vielen – aber einer, der durchaus möglich ist. Leona lernt sich nach der Trennung von ihrem langjährigen Freund ganz neu kennen. Einer ersten Eingebung folgend, sucht sie im Internet nach Antworten. Die Informationsflut erschreckt sie mehr, als dass sie Klarheit bringt. Sie beschließt, dass all diese Phantasien ein Hirngespinst sind. Dann, wie aus dem Nichts, taucht er auf…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 1055

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



****

Die Autorin

Jessa sieht aus wie eine SM’lerin, da sie ständig von blauen Flecken übersät ist. Das liegt allerdings daran, dass sie ausgesprochen tollpatschig ist, jede Türklinke mitnimmt und keine Tischkante auslässt. Die wunderbare Welt des BDSM ist ihr dennoch nicht fremd und sie lebt sehr gerne in ihrem Teil davon.

Geboren 1981, schreibt seit zwanzig Jahren in ihrer Freizeit, steht mit beiden Beinen mitten im Leben, ist kreativ-chaotisch und Mutter einer Tochter.

Das Buch

Was geschieht, wenn man eine neue Seite an sich entdeckt? Welche Fragen können aufkommen und wie findet man Antworten? Was kann man über sich erfahren wenn man es wagt, diesen neuen Pfad zu betreten? Wie wird man sich fühlen, wenn man ihn geht und dazu steht? Eine Geschichte von einer jungen Frau, die sich neu entdeckt und mit Hilfe einer ganz besonderen Person lernt, zu ihrer Neigung zu stehen. Eine Geschichte über verborgene Wünsche, Vorurteile, Schubladendenken und Ängste. Es ist nur ein Weg von vielen – aber einer, der durchaus möglich ist.

Leona lernt sich, nach der Trennung von ihrem langjährigen Freund, ganz neu kennen. Einer ersten Eingebung folgend, sucht sie im Internet nach Antworten. Die Informationsflut erschreckt sie mehr, als dass sie Klarheit bringt. Sie beschließt, dass all diese Phantasien ein Hirngespinst sind. Dann, wie aus dem Nichts, taucht er auf…

Prélude – Die Erste Geige ist für Personen unter 18 Jahren nicht geeignet. Dieses Buch enthält ausführliche und detaillierte BDSM- und Sexszenen. Die beschriebenen Charaktere handeln einvernehmlich.

****

Es war schwierig zu atmen, wenn man dafür nur noch seine Nase benutzen konnte. Besonders schwierig wenn der Mund, den man zum Keuchen und Stöhnen oder Schreien benutzen wollte, außer Betrieb war. Verschlossen mit mehreren Lagen Klebeband, die sich um Gesicht und Haar windeten. Das Band ziepte, wenn sie den Kopf bewegte und ihre Lippen brannten beim Versuch sie zu öffnen. Das Klebeband rührte sich nicht. Es war viel zu fest gewickelt und sie tat sich nur selber weh, wenn sie versuchte es zu lösen. Ihre Hände konnte sie nicht zur Hilfe nehmen. Diese waren nur noch ein harter Klumpen, der sich in ihren Rücken drückte, während sie an der Wand lehnte. Auch hier hatte er nicht an Klebeband gespart und dafür gesorgt, dass sie nicht einmal einen Finger rühren konnte. Wenn sie nicht ohnmächtig werden wollte, musste sie sich beruhigen. In Gedanken auf sich einredend, beschwor sie ihre Atmung, sich zu beruhigen. Zwar konnte sie nicht durch den Mund nach Luft schnappen, aber sie konnte atmen. Sie würde auch durch die Nase ausreichend Sauerstoff bekommen, wenn sie sich nur ein wenig beruhigte. Ob er sie auch so rabiat gefesselt hätte, wenn sie nicht versucht hätte zu laufen? Wie war sie in diese Position gekommen?

Bis die Stimmung kippte, war es ein ganz normaler Abend gewesen. Irgendwann hatte er dicht vor ihr gestanden. Rückwärts laufend hatte sie sich selbst in die Sackgasse der Zimmerecke manövriert. Er hatte so nah gestanden, dass er sie bereits hätte anfassen können. Ein Ausstrecken der Hand wäre ausreichend gewesen. In diesem Moment hatte sie begonnen, sich nach einer Fluchtmöglichkeit umzusehen. Die Tür konnte sie sehen, aber der einzige Weg dorthin führte direkt an ihm vorbei. Sie hatte sich schon viel zu weit in die Enge treiben lassen für eine Flucht aber dennoch glaubte sie, es einmal versuchen zu müssen.

Er rührte sich nicht, stand stumm da und begutachtete sie. Wenn sie es versuchen wollte, dann jetzt. Ob sie genug Kontrolle über ihre Beine hatte, würde sie sehen. Ohne noch einmal darüber nachzudenken, wie sinnlos der Versuch war, hatte sie zu ihrem Sprint angesetzt. Ganze zwei Sekunden Glücksgefühl. Mehr gönnte er ihr nicht. Als sie sich schon an ihm vorbei glaubte, griff er nach ihr.

Gewaltsam hielt er sie an den Haaren fest und schleifte sie in die Ecke zurück. Sie kreischte aber wehrte sich nicht. Mit einem Stoß landete sie auf dem Boden und für einen Moment verlor sie die Orientierung. Noch während sie versuchte, sich von dem Sturz zu erholen, sah sie, wie der Mann eine Rolle silbriges Klebeband hervor zog. Ein weiterer Schubser drehte sie ein Stück und nur Sekunden später waren ihre Hände bewegungsunfähig zusammen geschnürt. Ein Ächzen drang aus ihrem Mund, als er sie drehte und fest gegen die Wand drückte.

Dann war es vorbei. Sie konnte nicht mehr schreien, sprechen oder nach Luft schnappen. Nun spürte sie ihn ganz nah, als er neben ihrem Ohr das Klebeband mit den Zähnen durchtrennte. Die Rolle fiel zu Boden und der Mann entfernte sich ein paar Schritte. Sie wagte nicht aufzusehen und eventuell auf seinen Blick zu treffen. Alles, was sie sah, waren seine Beine. Von den Knien abwärts bis zu den Schuhen. Er trug eine dunkelblaue Jeans und braune Lederstiefel. Zumindest glaubte sie, wegen der Schnürung, dass es Stiefel sein mussten. Als ob er sie nur kurz und aus größerer Entfernung ansehen wollte, kam er wieder zurück.

Ihre Atmung war inzwischen ruhig. Sie hatte sich ergeben. Es gab kein Entkommen mehr. Alles lag in seiner Hand. Was auch immer er tun wollte, würde sie erleben. Aus den Augenwinkeln sah sie seine Hand auf sie zu schnellen. Auch jetzt blieb sie still. Nach der Ohrfeige streichelte er ihre Wange und zog sie in eine Umarmung. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter

„Brave Mädchen rennen nicht weg“, flüsterte er und drehte sie sanft in seinen Armen. Seine Hände wanderten zärtlich über ihren nackten Körper. „Du bist doch mein braves Mädchen, oder?“

Sie hielt die Augen geschlossen und nickte.

„Nächstes Mal wirst du dich sofort fügen, richtig?“

Wieder nickte sie und wenn das Klebeband es nicht verhindern würde, würde sie lächeln. Natürlich würde sie sich fügen. Sie liebte es, sich zu fügen. Aber dieses Spiel heute hatte sie dazu animiert, sich zu widersetzen. Inzwischen hatte seine Hand den Weg zwischen ihre Schenkel gefunden und sie hob sich ihm entgegen.

„Nicht doch. Du hast versucht mir wegzulaufen. Glaubst du etwa, dass du dafür belohnt wirst?“, schmunzelte er. Sie wusste die Antwort darauf, aber das änderte nichts daran, dass sich ihr Körper über seine Berührungen freute und nach mehr verlangte. Mit groben Griffen wendete er sie, bis sie mit dem Bauch über seinem Bein lag.

„Alles, was du jetzt verdient hast, ist eine Tracht Prügel“, kündigte er grollend an. Mit einem lauten Klatschen landete seine Hand auf ihrem Hintern. Ihr Kopf sank hinunter. Der Teppich war rau und würde ihr die Wange zerkratzen aber das war egal. Beim zweiten Schlag stöhnte sie gegen das Klebeband. Er schlug härter zu als sonst. Sehr viel härter. Jeder Schlag toppte den vorherigen. Beim sechsten wollte sie schreien aber alles, was man hören konnte, war ein dumpfes Brummen. Mehr konnte sie nicht von sich geben. Immer wieder und wieder schlug er auf ihre Pobacken, bis sie in ihren Gedanken glühend rot aussahen. Erst als sie wimmerte und ihr Tränen aus den Augen liefen, stoppte er und legte ihren Körper bäuchlings auf den Boden. Plötzlich war er dicht über ihr.

„Wehr dich nie wieder gegen mich. Verstanden?“, mahnte er streng. Ihr Nicken war sicher nur minimal sichtbar, aber zumindest bemühte sie sich. Ohne weitere Vorwarnung war er mit einem harten Stoß in ihr und sie atmete tief durch. Bevor sie es jedoch genießen konnte, ihn zu spüren, ergriff er das Klebeband an ihrem Hinterkopf und zog sie daran hoch. Der Schmerz war furchtbar. Als ob er ihr Haut und Haare abreißen würde. Wieder traten ihr Tränen in die Augen.

„Nie wieder“, zischte er und sie schüttelte, trotz des reißenden Schmerzes, den Kopf.

„So ist es brav.“ Seine Stimme wurde weicher. Noch immer war eine Bewegung des Mundes nur in Gedanken möglich aber dort lächelte sie breit und glücklich.

Ein kreischendes Geräusch durchdrang den Raum und alles wurde dunkel.

Das kreischende Geräusch wurde mit einem zielsicheren Schlag ausgeschaltet. Leona saß schweißgebadet und nass zwischen den Schenkeln in ihrem Bett. Eine Hand auf dem Wecker, der sie so gnadenlos aus dem Traum gerissen hatte, die andere wischte Schweißperlen von ihrer Stirn. Als ob sie Nachwehen von ihrem Traum spürte, keuchte sie: „Nicht schon wieder!“

Sie kannte den Traum. Es war das vierte Mal. Auch sonst waren alle Träume im Moment sehr ähnlich. Jedes Mal wusste sie nach dem Aufwachen nicht, ob sie sich beim Wecker bedanken sollte, weil er sie aus dem Traum befreite – oder ob sie ihn an die Wand feuern wollte, weil er sie weckte und sie nie erfuhr, wie der Traum zu Ende ging.

Seit sie diese Träume hatte, brauchte sie eine extra Minute, um aus dem Bett zu kommen. Dann sprang sie jedoch schneller als je zuvor aus den Federn, als ob sie die Bilder damit endgültig abschütteln konnte. Auch wenn sie es nicht mal sich selbst gegenüber zugab, aber am Wochenende blieb sie ab und an liegen und nutzte den Traum, um sich selber zum Höhepunkt zu bringen, weil er sie so scharf machte. Doch danach fühlte sie sich nie gut. Sie fühlte sich sogar regelrecht schlecht. Wie konnten solche gewaltsamen Träume sie nur antörnen? Hätte sie bloß nie diesen Film gesehen! Leona schüttelte sich. Jetzt war nicht der richtige Moment zum Grübeln. Sie musste zur Arbeit.

****

„Leo? Hallo? Erde an Leo!“ Maya schnippte mit den Fingern vor ihrem Gesicht.

„Sorry…“, sie blinzelte.

„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“

„Tut mir Leid. War in Gedanken grad woanders.“

„Wieder bei dem Trottel?“ Maya schlüpfte in ihr Shirt.

„Der Trottel ist ein Freund von dir“, murmelte Leona.

„Sicher nicht! Wer mit meiner Leo so umspringt, ist kein Freund von mir! Egal. Ich hab gefragt, ob du heute Abend mitkommst?“

„Wohin?“

„Du hast eben wirklich nix gehört, was? Leo: Ladies Night in der ECKBAR! Halber Preis beim Trinken und gratis Spaß?“ Maya grinste.

Leona richtete ihr Shirt und griff nach ihrem Gürtel, an welchem der Geldbeutel schon angebracht war.

„Ich weiß nicht“, seufzte sie. „Wer kommt denn noch?“

„Juna, Milena, Emma, ich und jetzt auch du! Das hab ich gerade beschlossen!“

Leona rollte die Augen. Das klang ja schon fast nach einem Betriebsausflug! Emma und Milena waren die beiden anderen festen Mitarbeiterinnen der Kaffee-Bar HOT CUP, in der Leona nun schon seit fast vier Jahren arbeitete und inzwischen stellvertretende Geschäftsführerin war. Juna war die Freundin von Selim - einem ihrer besten und engsten Freunde, der außerdem der Inhaber des Cafés war. Leona und Maya waren seit der Eröffnung seines Geschäfts bei ihm angestellt. Anfangs waren sie skeptisch, ob es funktionieren würde, wenn einer der Freunde plötzlich zum Chef wurde, aber es lief einwandfrei.

Dadurch, dass sie die dienstältesten Kellnerinnen und die besten Kumpels waren, bekamen sie immer die Wochenenden frei. Natürlich auch, weil sie Zeit als Freunde zusammen verbringen wollten. Auch Juna gehörte zu ihrem engsten Freundeskreis. Die Idee, einen feuchtfröhlichen Abend mit ihren Mädels zu verbringen, schmeckte ihr allerdings nicht allzu sehr. Aber es war immerhin besser als die Abende bei Juna und Selim.

Ihre Freunde hatten es gut gemeint mit diesen Treffen im vertrauten Kreis, aber es hatte ihr nur noch deutlicher vorgeführt, dass sie nun allein war und niemanden hatte, der sie in den Arm nahm. Bis vor wenigen Monaten waren die Abende bei ihren Freunden Pärchen-Abende. Das Ergebnis war, dass sie nicht mehr hin wollte. Sie fühlte sich zu sehr wie das berühmte fünfte Rad am Wagen. Einen Versuch hatte sie gemacht, doch es zog sich alles in ihr zusammen, wenn sie in der vertrauten Umgebung allein zwischen zwei Paaren saß.

Maya feuerte ihre Handtasche in den Spind, drehte sich gut gelaunt um und grinste. Das hatte sie davon, dass sie heute später angekommen war als sonst. Nun hatte Maya sie auf engstem Raum in der Umkleide mit ihrem Plan zur Abendgestaltung überrennen können. Leona antwortete nicht, sondern ging zur Treppe, die in den Gastraum führte. Mit schnellen Schritten holte Maya sie ein. Ein Wirbelwind schon am frühen Morgen.

„Jetzt komm! Du brauchst wieder ein bisschen Spaß in deinem Leben! Wir schleifen dich sonst hin!“ Maya gab ihr einen Klaps.

„Okay, okay. Ich komm ja mit!“, seufzte Leona und ließ Maya hören, wie ungern sie eigentlich ausgehen wollte. Wie machte Maya das nur? 5:45 Uhr am Morgen und sie war topfit. Obwohl Leona um diese Zeit auch schon wach und bereit war zum Arbeiten, dachte sie, dass es nur pure Gewohnheit war. Anfangs war ihr das frühe Aufstehen sehr schwer gefallen, aber man gewöhnte sich daran. Allerdings hätte sie an manchen Tagen auch überhaupt nichts dagegen, einfach weiter zu schlafen. Besonders im Winter oder wenn es ihr nicht gut ging. So wie in den letzten Monaten.

Maya war immer putzmunter, egal zu welcher Tageszeit man sie antraf. Sie arbeitete Vollzeit und wenn sie nicht dort neun Stunden lang im Stress war, war sie Ehefrau und Mutter von zweijährigen Zwillingen, die immer irgendetwas in Teamarbeit anstellten seit sie laufen konnten. Dennoch war Maya stets voller Elan. Man konnte es bewundern aber auch sehr gut hassen – je nachdem, in welcher Verfassung man gerade war. Für Leona waren Maya und Juna die besten Freundinnen. Ihre Mädels, denen sie einfach alles erzählte. Im Moment war ihr Juna aber ein bisschen lieber. Sie war viel leiser, ruhiger und versuchte nicht ständig sie, Leona, irgendwo hin zu zerren und zu Unternehmungen zu überreden. In der jetzigen Situation war Maya manchmal einfach zu anstrengend, auch wenn sie sie natürlich trotzdem sehr lieb hatte.

Fünf Minuten später saßen die zwei am Tresen des HOT CUP. Bevor um 6 Uhr geöffnet wurde, tranken die Mitarbeiter zusammen den ersten Kaffee. Leona fand dieses Ritual schön. Meistens waren sie im Stress, sobald die Tür für Gäste geöffnet wurde. Die unmittelbare Nähe zum Bahnhof und vielen Geschäften sorgte dafür, dass der Laden bereits am frühen Morgen überfüllt war mit Pendlern, die einen guten Kaffee für die Fahrt oder nach der Fahrt brauchten. Über zu wenig Arbeit konnten sie sich zumindest nie beklagen. Es hatte sich herum gesprochen, dass es bei ihnen den besten Kaffee der Gegend gab. Selim stand hinter der Theke seiner Kaffeebar und servierte seinen Mitarbeitern den Kaffee.

„Okay, die Damen: Zum Wohl! Auf einen guten Wochenabschluss für uns und eine schöne Ladies Night später für euch!“, grinste er und wusste offensichtlich schon über die Abendplanung der Frauen Bescheid. „Du gehst doch mit, oder?“

Er schaute Leona an und sie nickte.

„Gut! Ich hatte schon überlegt, dir eine Vergnügungs-Klausel in den Vertrag zu schreiben!“, lachte er. Leona verzog das Gesicht, aber lächelte innerlich. Sie hatte die besten Freunde. Alle zusammen hatten sie aufgefangen und versuchten sie aufzuheitern. Sie nahm noch einen Schluck Kaffee. Mmh… perfekt wie immer! Ihre Familie verstand nicht, warum sie diesen Job so mochte. Kellnerin war vielleicht kein Traumjob, aber Leona machte ihn gerne. Besonders hier. Gerade jetzt war sie dankbar dafür, auch auf der Arbeit von Freunden umgeben zu sein. Dafür stand sie auch freiwillig um 4:30 Uhr auf.

Nun war es kurz vor 6 Uhr. Zeit für Selim, die Tür aufzuschließen und die Arbeit wirklich beginnen zu lassen.

„Maya, sollte sie heute Abend nicht kommen, sag Bescheid! Dann trag ich sie zu euch!“

„Wird gemacht, Chef!“, rief Maya lachend.

Kaum war die Tür geöffnet, füllte sich der Laden auch schon. Ein ganz normaler Freitagmorgen eben.

Um 15 Uhr hatte die Frühschicht Feierabend und Selim übergab sein Geschäft, für die letzten Stunden der Öffnungszeit, seinem Bruder. Milena und Emma lösten die beiden Freundinnen ab. Beide waren erfreut, von Leonas Zusage für den Abend zu hören. In der Umkleide ließen sich Maya und Leona erledigt auf die Bank fallen. Wie üblich waren Morgen und Mittag sehr stressig gewesen.

„Boah, so viel war schon lange nicht mehr los!“, seufzte Maya und lachte gleich darauf. „Da müssen wir uns erst Recht vergnügen!“

„Du musst nicht nochmal Argumente liefern – ich komm ja mit!“

„Soll ich dich abholen?“

Leona stand mit einem erneuten Seufzer auf und begann damit, sich umzuziehen. „Nein, ich kann das Stück allein laufen“

„Hast du inzwischen ausgepackt?“, auch Maya fing an, die Kleider zu wechseln – allerdings im Sitzen.

„Nein.“

„Leo, wie lange willst du das noch raus schieben? Soll ich dir helfen? Oder soll ich dir meine Kids schicken? Die sind echt verdammt gut und schnell im Ausräumen!“, lachte Maya.

„Na danke, dann finde ich auch nichts schneller als jetzt.“

„Ehrlich, Süße! Pack aus und richte dich ein, dann geht's dir bestimmt noch besser!“, Maya stand auf, um ihre Jeans hochzuziehen.

„Ja, Mama!“, gab Leona knatschig zurück. Maya sah auf ihre Uhr.

„Ui, ich muss die Zwerge von der Tagesmutter holen. Ich hoffe, sie haben nicht wieder was zerstört. Ich seh' dich um neun in der ECKBAR. Wenn du nicht kommst, kommen wir dich holen!“ Sie schnappte sich ihre Handtasche, drückte ihrer Freundin noch einen Kuss auf die Wange und rannte los.

Leona sah sich in der Umkleide um und schüttelte den Kopf. Maya war daheim die personifizierte Ordnung – aber hier ließ sie immer alles liegen. Sie sammelte die Schuhe ihrer Freundin ein und legte sie in deren Spind. Ihre beiden Schürzen wanderten nach einer kurzen Inspektion in den Wäschekorb. Vielleicht würde es ihr tatsächlich gut tun heute Abend auszugehen. Auch wenn sie jetzt noch nicht daran glauben konnte. Leona nahm ihre Tasche und ging die schmale Treppe von der Umkleide nach unten.

„Leo, vom Mittagsrush sind noch Bagel übrig, die weg müssen – Hunger?“, fragte Selim aus der Küche. Ihr Kumpel und Chef hatte selber auch schon eine Papiertüte in der Hand. Jetzt wo er es sagte, knurrte ihr Magen.

„Oh ja!“

„Bedien' dich!“ Er hielt ihr eine leere Tüte hin. Dankend nahm sie die Tüte entgegen und packte sich zwei Bagel ein. Einen mit Lachs, einen mit Frischkäse und Sprossen. Die Sorten schmeckten Leona am besten und sie freute sich, dass es ausgerechnet von ihnen Überschuss gab. Für das Mittagessen war gesorgt!

****

Bis zu ihrer Wohnung waren es fünfzehn Minuten zu Fuß. Oft lief sie auf dem Heimweg noch einen großen Umweg. Gelegentlich, weil sie noch einen kleinen Spaziergang machen wollte – aber manchmal auch, weil sie noch nicht nach Hause wollte. So konnte sie ohne Auto gut auskommen. Wohnung, Arbeit und Freunde – alles im gleichen Viertel.

Ein extremer Glücksfall, dass Selims Bruder gerade dann einen Nachmieter suchte, als sie schnell eine neue Bleibe brauchte. Die Wohnung war klein aber fein. Sehr fein sogar. Ein großer Flur, in dem ihre Freunde ihre Schränke aufgebaut hatten, so dass sie in den Zimmern keinen Platz wegnahmen. Hier stand auch eine Kommode mit dem Telefon.

Das Wohnzimmer war nicht groß aber interessant geschnitten. In einer kleinen Nische rechts neben der Tür stand ihr Sofa mit Couchtisch. Davor der Fernseher in einem sonst leeren Regal. Schräg gegenüber an der Wand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Zwischen etwa zehn Umzugskartons rankten ihre zwei Palmen empor. Eigentlich ging vom Wohnzimmer ein kleiner Balkon ab – aber selbst der war von Kisten versperrt. Das Wohnzimmer war ein Durchgangszimmer. Hinter dem Regal mit dem Fernseher lag die Tür zum Schlafzimmer. Das Schlafzimmer war winzig. Bett und Nachttisch passten hinein – und das war es auch schon. Aber mehr brauchte sie nicht.

Auch die Küche war klein. Ali, Selims Bruder, hatte ihr seine alte Einbauküche überlassen. Gott sei Dank – eine neue lag nicht in ihrem Budget. Das Highlight war für Leona das Badezimmer. Im Vergleich zu den anderen Räumen war es sehr großzügig. Natürlich mit Waschbecken und Toilette. Auch die Waschmaschine fand locker Platz. Aber die Ausstattung umfasste nicht nur eine Badewanne, sondern auch eine separate Dusche. Wenn das kein Luxus war, was dann?

Oh, und natürlich gab es noch ihren Mitbewohner: Pommes. Ein kleiner, putziger Hamster, den ihr Maya zum Einzug schenkte, damit sie nicht ganz allein war und jemanden zum Reden hatte, der garantiert nur zuhörte ohne schlaue Sprüche zu machen.

Zuhause angekommen warf Leona sich auf die Couch, aß den Lachs-Bagel und legte, als sie fertig war, die Beine hoch. Ein kurzes Schläfchen musste jetzt sein oder ihr Körper würde es sich später in der ECKBAR ungefragt holen. Sie schaltete den Fernseher ein und hoffte, dass er sie vom Grübeln abhalten würde, während sie versuchte einzuschlafen.

Um 18 Uhr wachte Leona wieder auf. Sie hatte länger geschlafen als sie gedacht hatte und netterweise konnte sie sich weder an einen verstörenden Traum, noch an einen über ihren Kummer erinnern! Sofort verfluchte sie sich dafür, das Wort „Kummer“ gedacht zu haben. Es versetzte ihr sofort einen Stich. Seit zwei Monaten war sie jetzt Single. Erik hatte sie endgültig verlassen. Schon Monate lang hatte er sie betrogen und für Leona war eine Welt zusammen gebrochen.

Fast sechs Jahre waren sie ein Paar und dann fand sie heraus, dass er sie betrog. Nachdem sie es wusste, folgte die erste Trennung. Urplötzlich wollte er sie dann zurück und Leona versuchte ihm zu vergeben. Vergessen konnte sie aber nicht und so sah sie bald wieder die deutlichen Anzeichen dafür, dass sie schon wieder betrogen wurde. Kurz danach kam der Tag, an dem er ihr mitteilte, dass er wirklich nicht mehr mit ihr zusammen sein wollte. Alles, was er ihr sagte, war, dass es langweilig mit ihr geworden sei. Langweilig. Das Unwort und Hass-Wort des Jahres! Es wäre besser gewesen, wenn er gar nichts gesagt hätte. Der musste gerade reden.

So, wie er ihre Beziehung gegen die Wand gefahren hatte, wäre Schweigen der bessere Plan gewesen. Sechs Jahre… und so plötzlich und mit so vielen Lügen war auf einmal alles aus. Wochen hatte sie fast nichts anderes getan als zu weinen. Jeder Gedanke an Erik schmerzte. Gerade in solchen Momenten erinnerte Leona sich nur an gute Zeiten und es zerriss sie erneut. Sie würde nie wieder glückliche Tage mit Erik erleben. Auch jetzt konnte sie das Kribbeln in ihren Augen spüren. Die Tränen wollten schon wieder laufen! Sie sprang auf und ging ins Badezimmer. Wenn sie sich jetzt beschäftigte, würden die Tränen nicht kommen. Ablenkung hatte sich in den letzten Tagen schon bewährt. Leona trat unter die Dusche.

„Arschloch.“, flüsterte sie, als das heiße Wasser begann, über sie zu rinnen. Seit ein paar Tagen fühlte es sich nicht mehr wie Liebeskummer an. Es war Wut. Pure Wut, die so plötzlich aufstieg, als wäre etwas in ihr explodiert. Wie konnte der Mann, den sie geliebt hatte – und der sie einst liebte – so mit ihr umgehen! Sie so hintergehen, belügen und dann mit einem Wort wie „langweilig“ schließlich ganz sitzen lassen? Wenn er ihr jetzt unter die Augen kommen würde, könnte sie für nichts garantieren. Am liebsten würde sie ihm nämlich zeigen, dass es bestimmt nicht langweilig war, eine fette Ohrfeige zu bekommen. Und einen Tritt! Ja, einen festen, mit Wut geladenen Tritt dorthin, wo es einem Mann am meisten wehtat!

Gut, dass sie unter der Dusche stand und nicht in der Küche war. Wann immer sie diese Wut spürte, wollte sie etwas kaputt machen. Am liebsten ein paar Gläser oder Teller werfen. Wenigstens das, wenn der Grund für ihre Wut schon nicht greifbar war und seine verdiente Ladung abkriegen konnte. Sie schaltete das Wasser aus und trocknete sich ab. Ihren Rasierer hatte sie wieder hingelegt. Es war eh zu frisch für einen kurzen Rock. Außerdem ging sie zur Ladies Night. Der Rasierer hatte keine generelle Pause. Aber noch einmal extra die Beine enthaaren, um mit Freundinnen einen zu trinken, war übertrieben. Es war ja nicht so, dass sie vor hatte jemanden abzuschleppen. Ein Mann kam ihr so bald nicht wieder ins Bett. Da konnte sie noch so heiß träumen. Jetzt war erst mal große Pause!

Kurze Zeit später stand sie nackt vor dem Spiegel im Flur. Sie sah gut aus, befand Leona. Ja, sie hatte abgenommen in den letzten zwei Monaten. Aber sie war nicht zu dünn. Definitiv nicht. Ihre Beckenknochen waren zu spüren, aber nicht deutlich zu sehen. Wenn das passieren sollte, würde sie eine Fastfood-Woche einlegen. Oder zwei. Ein Gerippe wollte sie nicht werden! Wie viele Frauen freute sie sich, dass sie völlig unabsichtlich etwas Gewicht verloren hatte, doch nun würde sie aufpassen, dass sie nicht noch weniger wurde. Leona wollte nicht in ein paar Wochen aussehen wie ein schlanker Bursche. Ihre Brüste waren nicht sonderlich groß, aber ihr gefiel die Form. Eine nette Hand voll. Gerade weil sie nicht sehr üppig ausgestattet war, wäre jeder weitere Gewichtsverlust unerwünscht.

Das Tattoo über ihrem Beckenknochen wirkte leicht ausgebeult, seitdem die Knochen etwas deutlicher durchkamen. Die Ranken mit ihren Dornen begannen kurz über ihrem Beckenknochen und liefen verschlungen fast bis zu ihrer Scham. Die Blüte hob sich auf dem Knochen hervor. Die Blumen auf ihrem Knöchel sahen noch aus wie immer. Die anderen Tattoos, in chinesischer Schrift, konnte sie nicht sehen. Sie fingen in ihrem Nacken unter dem Haaransatz an und wanderten ihre Wirbelsäule hinunter. Aber die waren sicher auch unverändert. Die Piercings saßen sowieso noch immer dort, wo sie angebracht worden waren.

Jedenfalls sehe ich nicht langweilig aus. Vielleicht gönnte sie sich ja bald die nächste Verzierung an ihrem Körper. Leona liebäugelte noch mit einigen Sachen, war sich aber noch nicht zu 100 Prozent sicher. Nachdem sie in ihre Unterwäsche geschlüpft war, tat sich ein Problem auf. Ein Problem in Form von einem beinahe leeren Kleiderschrank und fünfundzwanzig vollen Umzugskisten. Verdammt!

Das nächste Problem: Nicht alle Kisten waren beschriftet. In ihrem Zustand wollte sie nur schnell aus der gemeinsamen Wohnung entkommen, die Kisten hektisch gefüllt und mehr nicht. Beschriften fiel schnell weg, was sie jetzt zu bereuen begann. Zum ersten Mal war Leona genervt, weil sie noch nicht wirklich hier eingezogen war. So ein Mist! Nur in ihrer Unterwäsche begann sie Kisten zu durchwühlen. Maya und Juna würden ihr den Kopf abreißen, wenn sie in ihren alten Jeans und einem schlabbrigen Shirt auftauchte. Hoffnungsvoll öffnete sie eine Kiste mit der Aufschrift „KLAMOTTEN“ - und fand Tassen, Teller und zwei Laken. Großartig! In ihrer Trauer, Wut und Eile hatte sie die Kisten auch noch falsch beschriftet!

Kiste Nummer 7 brachte den gewünschten Inhalt. Ein dunkelblauer, enger Pulli, eine schwarze Jeans und zu ihrer Freude fand sich auch die Lederjacke. Die dazu passenden schwarzen Stiefel standen im Flur. Für die Lederjacke war es jetzt im Februar zu kalt und Leona bedauerte es, sie an die Garderobe hängen zu müssen.

Dennoch war sie absolut vorzeigbar! Auch, wenn sie über den schicken Sachen ihren alten, aber warmen Mantel, Schal und Mütze anlegen musste. In der ECKBAR würden die Wintersachen eh weichen und man würde sehen, dass kein Sweatshirt darunter versteckt war. Das sollte reichen, um den Freundinnen zu zeigen, dass sie ihre schickeren Klamotten nicht weggeworfen hatte!

Umgezogen stand sie wieder vor dem Spiegel. Der Pullover passte gut zu ihren ebenfalls dunkelblauen Augen. Die enge Jeans betonte ihre schlanke Figur und ihr langes schwarzes Haar wellte sich glänzend über ihre Schultern bis runter zur Hüfte. Guter Gott, sind die lang geworden! Ihr Haar trug sie meistens zusammen gebunden. So merkte man natürlich kaum wie schnell sie wuchsen. Leona lächelte. Sie war zufrieden mit sich. Ich sehe nicht aus wie eine sitzen gelassene Maus!

Pommes bekam noch frisches Wasser und eine Ration Körnerfutter und dann musste sie auch schon los.

Leona kam als Letzte des Trupps an. Sie schlängelte sich durch die Bar, welche an Ladies Nights stets randvoll war. Seit Jahren kamen sie immer wieder hier her. Es war ein überaus gemütlicher Ort, für den „Bar“ eigentlich eine schlechte Beschreibung war. Nur am Tresen konnte man stehen oder auf Hockern sitzen. Ansonsten gab es Sitzsäcke, Polster, kleinere Matratzen oder dicke Kissen, die in unterschiedlichen Anordnungen auf dem Boden lagen. Es war perfekt, wenn man am Feierabend ganz gemütlich irgendwo sitzen wollte. Besonders perfekt, wenn man den ganzen Arbeitstag stehend und laufend verbrachte. Hier und da wurden Sitzecken mit kleinen Trennwänden von anderen abgegrenzt, so dass sich die einzelnen Gruppen beinahe ungestört fühlen konnten.

Die Mädels saßen in einer Ecke mit Polstern und rückten zusammen, als Leona zu ihnen stieß. Zwischen Emma und Juna wurde ein Platz frei und sie setzte sich. Maya saß schräg gegenüber. Gut. So würde sie sich nicht ständig ducken müssen, wenn Maya zu wild gestikulierte. Bei Juna fühlte sie sich doppelt sicher. Hier bekam sie nicht versehentlich eine gewischt und wurde nicht aus nächster Nähe atemlos zu getextet. Natürlich folgten ein großes Hallo und überraschte Worte, denn so zurückgezogen, wie sie im Moment war, hatte niemand mit ihrem Kommen gerechnet. Leona winkte ab. Sie sollten jetzt bitte keine große Sache daraus machen.

Hannah, eine Kellnerin der ECKBAR, die schon hier gearbeitet hatte, als sie dieses Lokal zu ihrer Stammbar machten, kam zu ihnen. Eine Bestellung war überflüssig. Trotz wochenlanger Abwesenheit wusste Hannah noch Leonas Lieblingsgetränk und brachte ihr einen Caipirinha. Das brachte Leona zum Lächeln. Sonst stand sie gar nicht auf dieses Getränk, aber hier musste es immer ein Caipi sein. Irgendwie mixten sie ihn hier anders und sie wollte gar keinen anderen Cocktail mehr probieren. Sie blieb dem Caipi treu. Treu… wiederholte sie das Wort, schüttelte den Kopf. Nicht jetzt. Nicht schon wieder grübeln!

In den ersten Minuten berichteten alle von ihrem Tag. Juna von der Arbeit im Klamottenladen, Maya übernahm es, die Ereignisse der Frühschicht zu erzählen – die man auch einfach mit dem Wort 'Stress' hätte zusammenfassen können – aber Maya fasste nun mal nicht zusammen. Milena übernahm den Bericht der späten Schicht. Nach und nach mischten sich Geschichten über alltäglichen Frust in die Erzählungen und natürlich war beim Thema Frust schnell die Überleitung zu Leonas Situation gefunden. Leona tat sich schwer, wirklich Dampf abzulassen. Durch Erik hatte sie Maya überhaupt kennen gelernt. Eigentlich waren die zwei Freunde. Doch Maya machte klar, dass Leona ihr inzwischen viel wichtiger war als die Freundschaft zu Erik, die sie nun als bloße Bekanntschaft abtat. Sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben, nachdem er Leona so verletzt hatte. Juna fragte ganz ruhig, ob sie sich denn hätte vorstellen können, mit Erik zusammen zu bleiben, mit allem, was dazu gehörte. Vielleicht sogar heiraten und Kinder kriegen. Da musste sie nachdenken und schließlich verneinen. Auch wenn sie sich in einer glücklichen Beziehung glaubte, hatte sie nie Hochzeitsglocken gehört oder an Kinder gedacht. War das vielleicht auch ein Zeichen, dass es noch nicht der Mann war.

„Hey, jetzt wird alles wieder besser! Du kannst wieder machen was du willst! Das ist doch auch schön!“, hatte Maya gesagt und verstohlen gegrinst. Leona wusste sofort, weshalb eine ihrer besten Freundinnen so grinste. Maya hatte in den letzten Wochen schon Bemerkungen über Männer gemacht. Sie wollte sie zu gerne verkuppeln. Laut Maya musste es nicht mal etwas Festes sein. Aber sie sollte Spaß haben. Deshalb fuhr Leona ihr auch an diesem Abend recht grob über das Maul und warnte sie, bloß nichts in der Art zu versuchen. Das hätte ihr grade noch gefehlt!

Zum Glück schlugen sich die anderen, wie so oft, auf Leonas Seite und bremsten Maya aus. Immerhin hatte der Rest erkannt, dass es Leona schon Überwindung kostete, überhaupt auszugehen und sie wollten einen erneuten Rückzug von ihr verhindern.

****

Wider Erwarten wurde es doch ein netter Abend und sie war ziemlich glücklich darüber, ausgegangen zu sein. Ein Schritt in die richtige Richtung. Langsam wieder raus aus dem Schneckenhaus. Wenn ihr jetzt niemand auf die Fühler stupste, würde sie sich auch nicht wieder verkriechen, sondern sich immer weiter hinaus wagen.

Auf dem Weg nach Hause fragte sie sich, ob der letzte Caipi wirklich so eine gute Idee gewesen war. Sie hatte lange nicht getrunken und war deutlich angeheitert. Nachdem sie beim dritten Versuch erfolgreich war, den Schlüssel ins Loch zu bekommen und ihre Wohnung betreten konnte, fand sie ihren Zustand allerdings wieder völlig okay. Alles echt nur halb so schlimm. Die Wände und der Boden bewegten sich ein wenig aber die bösen Gedanken waren nur in weiter Ferne sichtbar. Sie konnte sie aus sicherer Distanz betrachten und fühlte sich weder Tränen nah, noch einer weiteren drohenden Wut-Explosion. Pommes lief in seinem Rad gerade zur Höchstform auf. 1:30 Uhr morgens - seine übliche Zeit, um mal ordentlich zu joggen. Betrunken war es noch lustiger, Pommes beim Rennen zuzusehen. Als er bei vollem Tempo aus dem Rad fiel, brach sie vor Lachen fast zusammen.

Leona fühlte keine Müdigkeit. Sie war schon lange auf den Beinen, hatte eine stressige Woche hinter sich gebracht und war gut angetrunken. Okay. Das „an“ konnte man streichen – sie war betrunken. Jedenfalls verspürte sie keinerlei Drang, ins Bett zu gehen. Mit unsicheren Schritten wanderte sie in die Küche und schaute mit dieser merkwürdigen Gewohnheit, die wohl jeder kannte, in den Kühlschrank. Martini, hmm… Ob das eine gute Idee war? Sollte sie sich heute wirklich komplett abschießen?

„Ach, was soll‘s!“, sagte sie erstaunlich fest. Noch ein Glas mehr würde jetzt auch nicht schaden. Bis nach Hause hatte sie es geschafft, also machte es nichts falls sie, nach einem weiteren Schluck, auf dem Boden einpennte. Das hätte nur nicht passieren dürfen, bevor sie nach Hause kam. Jetzt war es egal. Mit einem Wasserglas, halbvoll mit Martini, wanderte sie zurück ins Wohnzimmer.

Dank Pommes bekam sie direkt den nächsten Lachanfall. Ihr Hamster hangelte sich an der Käfigdecke entlang, stürzte ab und sah nach oben, als ob er dem Gitter einen stillen Vorwurf machen wollte. Es war schon schön, Pommes als Mitbewohner zu haben!

Sie kickte eine halbleere Umzugskiste mit dem Fuß aus dem Weg und schlenderte zu ihrer kleinen Sitzecke, wo sie sich auf die Couch fallen ließ. Mann, Mann… sie war gerade erst getrennt und ihre beste Freundin wollte sie schon verkuppeln. Bloß nicht! Wer wusste schon, wen oder was Maya anschleppen würde. Juna wäre sicher nur eine Mitläuferin und Maya würde die „Arbeit“ machen.

„Nee…“, seufzte sie langgezogen. Sie wollte niemanden. Nicht für lang, nicht für kurz und auch nicht einfach so zum Trösten. Leona lehnte sich zurück. Vielleicht lag es am Alkohol, aber sie dachte das erste Mal an die Zeit mit Erik zurück ohne sich den Tränen nahe zu fühlen.

„Es ist langweilig geworden“ flüsterte sie nachdenklich. Sie musste zugeben, dass dies wirklich der Wahrheit entsprach. Auch sie hatte sich gelangweilt. Nur einfach nicht genug, um fremd zu gehen. Sie war ihm treu geblieben. Die Linie ihrer Beziehung wurde in den letzten zwei Jahren komplett mit Autopilot geflogen.

Jeder hatte seinen Job, ein oder zwei Hobbies, zu Partys kam man zu zweit und sogar der Sex lief auf Autopilot. Wie oft hatte sie ihm gesagt, dass sie mal etwas Neues machen sollten, um diesem Trott zu entkommen? Unzählige Male!

Vielleicht den Urlaub woanders verbringen oder sich ein gemeinsames Hobby suchen und auch im Bett mal was Neues probieren. Alle Vorschläge zum Thema Urlaub oder Hobbies wurden direkt abgelehnt. Was den Sex anging, meinte er, dass er zufrieden sei. Ja, genau. Deshalb war er sicher auch mit einer anderen Frau in die Kiste gesprungen – weil alles so gut daheim war!

Jetzt war es zu still in der Wohnung. Im Moment konnte sie Stille nicht ausstehen. Mechanisch griff sie nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Ohne wirklich hinzusehen zappte sie durch die Kanäle und blieb bei irgendeiner Komödie hängen. Sie trank einen Schluck. Nur dieses Glas. Sonst würde sie ihren Samstag damit verbringen, einen riesigen Kater mit sich herumzutragen. Würde der Kater versuchen, Pommes zu fressen? Wobei… wenn die innere Wut-Bombe hoch ging, zerfetzte sie dann vielleicht den Kater? Leona grinste bei der Vorstellung. Was einem betrunken so in den Sinn kam!

Zur Geräuschkulisse des Films schloss sie die Augen und ließ ihre Gedanken wandern. Sie wollte es nutzen und nachdenken, wenn es im Moment schon nicht wehtat, dies zu tun. Erik war also angeblich zufrieden gewesen mit ihrem Sexleben. Aber sie? Nein. DAS war wirklich langweilig geworden.

Aber was hätten sie ausprobieren können? Wenn Erik sie gefragt hätte, ob genaue Wünsche vorhanden waren – sie hätte nein sagen müssen. Fragen stiegen in ihr empor. Was hatte ihr nur gefehlt? Was hätte anders sein sollen? Warum fühlte sie sich so unruhig? Erik legte oftmals ziemliche Pascha-Allüren an den Tag. Hauptsache, er war zufrieden und musste dafür nicht viel tun. Das galt im Grunde für alles. Den normalen Alltag sowie ihr Sexleben. Irgendwie war, vor allem in den letzten Jahren, alles zu ihrer Aufgabe geworden. Wenn sie nichts machte – dann geschah gar nichts. Oder lag das wiederum nur daran, dass die Gefühle schon nicht mehr gestimmt hatten?

Wahrscheinlich war es komplett sinnlos, jetzt darüber nachzudenken. Sie wollte ihn zwar nicht zurück – aber sie war verletzt und nun auch noch betrunken. Jetzt würde sie es sicher nicht schaffen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Alles, was Leona jetzt noch zu Stande brachte, waren „Was?“ und „Warums“. Das half ihr nicht weiter. Das konnte doch eigentlich nicht so schwer…

Um 4 Uhr morgens wachte sie auf. Unbequem auf die kleine Couch gequetscht und das Glas lag am Boden.

„Na toll…!“

Mit kleinen Augen tappte sie in die Küche, holte einen Lappen und wischte die Martini-Pfütze auf. Vom Flur aus warf sie den Lappen zurück in die Küche und staunte ein wenig, als sie tatsächlich die Ecke des Waschbeckens traf. Im Bett angekommen streckte Leona sich und kuschelte sich dann in ihre Decke. Bevor sie einschlief, schwor sie sich noch, nächstes Mal nicht weiter zu trinken, wenn sie müde und bereits angetrunken nach Hause kam. Mitten in der Nacht putzen und mit Rückenschmerzen aufwachen, weil man auf der zu kleinen Couch eingepennt war, musste man nicht wiederholen.

****

Die nächsten Wochen liefen genauso mechanisch ab, wie die vorherigen. Sie ging arbeiten, kaufte die nötigsten Lebensmittel, die sie zum Überleben brauchte, und saß zuhause. Erik hatte ihr ein Päckchen mit Kleinkram, den sie vergessen hatte, geschickt. Ein Teil von ihr ärgerte sich, dass er ihr das Zeug nicht persönlich übergab. Konnte er ihr nun nicht mal mehr in die Augen sehen? Aber auf der anderen Seite… wollte sie ihn wirklich sehen? Nein. Darauf konnte sie verzichten.

Wenigstens gab es noch eine positive Überraschung. Erik war scheinbar auch schon umgezogen. Viel früher als erwartet. Denn plötzlich war sie um 750 Euro reicher. Ihre Hälfte der damaligen Kaution. Sie nagte zwar nicht am Hungertuch und hatte im Grunde alles, was sie brauchte – und nur endlich auspacken müsste – aber sie wollte gerne noch viel mehr Pflanzen in der Wohnung haben und alles schön grün machen. Für solche Extras fehlte das Geld bisher.

Der Umzug und ein paar Möbel hatten einen Teil ihres finanziellen Polsters gefressen. Nun besaß sie die nötigen Taler, um sich die gewünschten Pflanzen zu kaufen. Darüber konnte sie sich ein wenig freuen. Richtig freuen würde sie sich dann, wenn sie wirklich mal Lust hatte, ihr neues Heim zu einem schönen Zuhause zu machen.

Maya versuchte sie an jedem Wochenende zum Ausgehen zu überreden. Leona war überrascht, wie viele Ausreden ihr einfielen, weswegen sie nicht mitkommen konnte. Wahrscheinlich wusste Maya, dass es Ausreden waren, aber im Moment wurde sie noch nicht sehr penetrant. Ein wenig penetrant war sie schon, aber hey: So war Maya!

Doch Leona war beim besten Willen noch nicht nach ständigem Ausgehen zumute. Sie spürte das Bedürfnis, sich zurück zu ziehen und die Rätsel in ihrem Kopf zu lösen. Es wurmte sie tierisch, dass sie Fragen über sich selbst nicht beantworten konnte. Also tat sie nur, was sie tun musste und verbrachte die restliche Zeit im Bett, auf dem Balkon oder auf der Couch und grübelte. Was war denn bloß los mit ihr? Machte sie sich wirklich nur Gedanken darüber, weswegen die Beziehung gescheitert war? Oder war es etwas Grundsätzliches, was sie allein betraf? Es machte ja keinen Sinn mehr, über die gescheiterte Beziehung nachzudenken. Die war und blieb beendet. Doch bevor sie wirklich weiter machen konnte, musste sie wissen, was mit ihr los war.

Tage und Wochen vergingen. Aber sie kam zu keinem Ergebnis und konnte nicht benennen, was es war. Kein Grund kam ihr in den Sinn. Nichts erklärte ihre Ruhelosigkeit. Nach weiteren drei Wochen ging sie erstmals wieder am Abend raus. Aber es war eine Pflichtübung. Das HOT CUP feierte vierjähriges Bestehen. Sie war stellvertretende Geschäftsführerin und arbeitete mit ihren besten Freunden. Ihre Loyalität verbot ihr, diesen Anlass zu schwänzen.

Jemand hatte vor diesem Abend ein Machtwort gesprochen. Da war sie sich ganz sicher, denn es sprach sie niemand auf ihr Schneckenhaus an. Niemand. Nicht mal Maya. Das war ein überdeutliches Zeichen dafür, dass jemand darum gebeten hatte. Anfangs traute sie der Ruhe nicht, aber als sie die erste Stunde ohne Nachfrage oder Kommentar im Laden verbracht hatte, begann sie sich zu entspannen und wirklich Spaß zu haben. Ohne das ewige Wie-geht's-Leo-Spiel fühlte sie sich direkt besser.

Manchmal musste man jemanden einfach in Ruhe lassen und nicht ständig etwas, durch gut gemeintes Nachfragen, hoch holen! Da einige von ihnen am Folgetag früh arbeiten mussten, war es ein kurzes Fest. Alle halfen, den Gastraum wieder aufzuräumen, damit es die Samstags-Crew nicht vor der Ladenöffnung tun musste.

Es war noch nicht sehr spät, als Leona wieder zuhause ankam. Unschlüssig stand sie im Flur. Wenn sie das Schneckenhaus schon ein bisschen weiter verlassen hätte, würde sie jetzt kehrt machen und in der ECKBAR was trinken gehen. Aber so weit war sie noch nicht. Ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, ging sie ins Bad und drehte den Hahn an der Wanne auf.

Das Wasser war gerade mal etwas mehr als Knöcheltief, als sie hinein stieg. Sie setzte sich in das bisschen warmes Wasser und fröstelte kurz. Jedes kleine Härchen an ihrem Körper stellte sich auf, als sie sich zurücklehnte. Sie mochte es, in der Wanne zu sitzen, während das Wasser noch lief. Es war eine Eigenheit von ihr und sie genoss, wie das Wasser höher stieg, die Wärme sie einhüllte und die Gänsehaut wieder verschwand. Erst als auch ihre Schultern unter Wasser waren, drehte sie das Wasser ab. Ungestört baden - wie herrlich war das denn? Erik hatte so ein großartiges Talent besessen, genau in solchen Momenten ins Bad zu platzen. Entweder musste er aufs Klo, ausgerechnet dann Fragen stellen oder dringend etwas erzählen. Jetzt störte keiner. Das war ein klarer Pluspunkt fürs Single-Dasein!

Dreimal ließ sie lieber heißes Wasser nachlaufen anstatt aus der Badewanne zu steigen. Erst als es zum vierten Mal kühler wurde, raffte sie sich auf. Leider konnte sie nicht ewig hier drin bleiben. Zudem war sie auch schon total aufgeweicht. Also trocknete sie sich ab, zog sich ihre Schlabberklamotten an und tappte rüber zum Sofa.

Ihr Autopilot hatte wieder übernommen. Leona nahm die Fernbedienung, schaltete den Fernseher an und zappte rum, während sie sich in ihre alte Wolldecke wickelte. Talkshow, Talkshow, Kochshow, Kochshow, Spielshow, Verkaufsshow… meine Güte! Man sollte meinen, am Freitagabend liefe nicht so viel Stuss! Es folgten Dokumentationen und ein paar Filme, die sie schon kannte. Auf einem Sender ging gerade ein Film zu Ende. Sie blieb auf dem Kanal um abzuwarten, was danach kam. Aus ihrer Handtasche kramte sie ihr Handy aus. Ein paar ungelesene SMS.

Junas Nachricht war zurückhaltend. Sie hoffte einfach, dass Leona gut heim gekommen war, dass es auch für sie ein schöner Abend war und man sich bald wieder regelmäßig sehen würde. Mayas Nachrichten waren weniger neutral. Sie klangen, als ob schon jedes Wochenende der kommenden Monate verplant und Leo fester Bestandteil dieser Pläne war. Sogar Andeutungen über Kuppelversuche konnte sie herauslesen. Na wenigstens kam das nur per SMS und nicht laut ausgesprochen vor allen anderen. Obwohl sie das alles nicht wollte, lächelte sie. Typisch Maya. Sie konnte es einfach nicht lassen. Leona gelang es, nicht böse zu werden. Es war eben einfach Maya und Maya war ein Original!

Leona schrieb beiden eine kurze Antwort, legte das Telefon weg und mummelte sich weiter auf dem Sofa ein. Ihr Blick fiel auf den Fernseher. Der neue Film hatte schon begonnen. Prima. Nun hatte sie den Anfang verpasst und wusste weder was es war, noch worum es ging. Sie sah eine junge Frau in biederer Kleidung, die irgendwo in einer trostlosen Wohngegend, ein Mobiltelefon an ihr Ohr presste und sich mit der anderen Hand das freie Ohr zuhielt. Auf dem Bildschirm war nichts, was sie interessierte. Lustlos begann sie, ein paar Spiele auf ihrem Handy zu spielen. Von dem TV Programm bekam sie nichts mehr mit.

Erst nach einigen Minuten, nachdem ihr die Spiele auf dem Telefon zu doof wurden, wandte sie sich wieder dem Fernseher zu. Sie nahm die Fernbedienung in der Hand, da sie sicher war, gleich umschalten zu wollen. Nun stand eine junge Frau in irgendeinem Appartement. Am Fensterbrett hinter ihr lehnte ein Mann im Anzug. Die Frau war nicht mehr in unscheinbare Kleidung gehüllt, sondern in ein kurzes schwarzes Kleid mit einem tiefen Ausschnitt und einem Schlitz an der Seite. Es verbarg nicht viel. War das noch das gleiche Programm? Oder war sie vielleicht versehentlich auf eine Taste der Fernbedienung geraten? So lange hatte sie sich doch nun auch wieder nicht mit ihrem Handy beschäftigt.

Die junge Frau sollte sich bewegen, für den Mann tanzen und das Kleid dabei ausziehen. Doch der Strip schien in der Umsetzung nicht leicht zu sein. Immer wieder und wieder stoppte sie der Mann, korrigierte sie und ihre Haltung und sie musste von vorne beginnen.

Ihr erster Reflex war sofort den Sender zu wechseln, aber aus irgendeinem Grund blieb sie auf dem Kanal. Sie erkannte tatsächlich die zierliche Frau vom Anfang wieder. So anders bekleidet hatte Leona erst geglaubt, es wäre eine andere Person. Das Mädchen bewegte sich schlecht. Furchtbar ungelenk. So schlecht, dass sie sich fremdschämen wollte, obwohl es nur ein Film war.

Wieder wurde die Frau unterbrochen. Als sie bei einem Stopp zu lachen begann, legte der Mann sie kurzerhand übers Knie, versohlte ihr den Hintern und befahl ihr dann, weiter zu machen. Irgendwann würde sie es richtig machen – und wenn es die ganze Nacht dauerte.

Leo fand plötzlich, dass es ein schönes Bild war. Die hübsche junge Frau, in einem schönen Kleid und bei ihr, im Dunkel des Zimmers, der Mann, der auf die Erfüllung seines Wunsches wartete. Irgendwo fühlte sie sich beschämt. Weil sie die Bilder schön fand, hier allein saß und überhaupt so einen Film ansah. Aber offenbar galt es noch nicht als Porno. Oder liefen auf dem Dritten jetzt auch schon so eindeutige Filme?

Wieso sollte sie sich eigentlich schämen, etwas Erotisches zu schauen? Es war zwar schon ewig her, dass sie und Erik sich mal zusammen etwas angeschaut hatten, aber das war nun wahrlich nicht ihr erster Erotikfilm. Hin und wieder nutze sie das breite Angebot ja auch, um sich anzutörnen. Warum war das jetzt so anders? Weil es keine der üblichen 08/15-Nummern war?

Der Mann griff der jungen Frau grob ins Haar. Schmerzerfüllt verzog sie das Gesicht, während er sie ermahnte, diese Aufgabe ernster zu nehmen. Dann musste sie weiter machen. Immer weiter und immer wieder von vorne, obwohl sie sich mit der Zeit geschmeidiger bewegte.

Leona hatte keine Ahnung, wie lang die Szene schon ging. Sie lehnte sich wieder zurück und sah weiter zu. Hier brauchte sie sich wirklich nicht schämen. Sie war ganz allein. Bis auf Pommes – aber der schlief. Irgendetwas wirkte faszinierend auf sie. Es folgte ein plötzlicher Schnitt. Die Frau war völlig verschwitzt aber endlich nackt. Wahrscheinlich hatte sie ihre Aufgabe nun korrekt zu Ende geführt. Der Mann schien zufrieden. Leona wusste nicht, wen er darstellte. Ihren Mann? Ihren Freund? Oder gar einen Kunden? Das wurde für sie nicht deutlich.

Nach dem Schnitt war die junge Frau auf einmal gefesselt. Mehrere Seile schlangen sich um ihren Körper und ein lautes Surren vermittelte dem Zuschauer, dass sie einen Vibrator in sich trug, während sie allein in einer Ecke saß. Die Kamera schwenkte weiter. Der Mann war noch da aber nicht mehr allein. Das Zimmer war gut gefüllt mit weiteren Gästen, von denen einige Masken trugen. Die Leute saßen überall im Raum verteilt. Einige hockten direkt bei der Gefesselten, beobachteten sie und redeten, für den Zuschauer nicht hörbar, auf sie ein. Einer der maskierten Männer neben ihr führte seine Hand zwischen ihre Schenkel und bewegte sie sehr schnell. In einiger Entfernung zu der Frau auf Knien stand ein Bett, in welchem sich der Mann mit einer anderen Frau vergnügte. Im Gegensatz zur gefesselten Frau war diese sehr selbstbewusst. Oder eher arrogant. Das Paar war voll dabei und kommentierte herablassend die Position der Gefesselten. Während die zwei es trieben, hagelte es demütigende Worte, dass die andere es nicht verdient hätte, auch zum Zuge zu kommen und sie lachten sie aus. Die Frau neben dem Bett schien es allerdings nicht fertig zu machen. Sie starrte auf das Paar, die Lippen geöffnet, und stöhnte.

Leona schloss kurz die Augen. Wirklicher Sex wurde kaum gezeigt. Ganz im Gegensatz zu anderen Filmen, wo man deutlich mehr geboten bekam. Überhaupt hatte Leona nichts von dem gesehen, was sie sonst anmachte, aber dennoch war ein Losreißen unmöglich. Solche Szenen waren ihr vollkommen unbekannt.

Als die Szene letztendlich vorbei war, atmete sie tief durch. Vielleicht vermisste sie es einfach, Sex zu haben? Oder warum hatte sie sich nicht davon abwenden können? Leona vermutete aus irgendeinem Grund, dass diese Szene sie noch eine Weile verfolgen würde, und sie sollte Recht behalten.

****

Relativ früh am Morgen wachte sie auf. Sie hatte geträumt, dass sie die junge Frau war, die die Wünsche des Mannes erfüllen musste, gedemütigt und von Fremden berührt wurde. Mit einer Hand strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Sie war verschwitzt. Aber nicht nur verschwitzt, sondern auch erregt und zwar ganz gewaltig. Sollte das wirklich an dieser bestimmten Situation dieser einen Szene liegen?

Zum ersten Mal seit Wochen legte sie sich im Bett zurück und fuhr mit einer Hand zwischen ihre Beine. Sie war nass. Nicht feucht – nass. Grübeln würde sie auf später verschieben. Es konnte ja glücklicherweise niemand in ihren Kopf schauen und sehen, was sie so erregte. Ihre Augen schlossen sich und sie beschwor die Bilder des Films noch einmal herauf. Sie brauchte keine fünf Minuten, bis sie zum Höhepunkt kam. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, schob sie einen Zusammenhang mit der Szene rasch beiseite.

Quatsch, sie hatte einfach lange keinen Orgasmus mehr gehabt und vermutlich war ihr Körper der Meinung gewesen, dass es mal wieder höchste Zeit war. Im Grunde war es erniedrigend, wie man mit dem Mädel umgegangen war. Darin lag doch nichts Schönes. Aber auch wenn sie versuchte, sich einige Dinge ein- und andere auszureden – die Szene blieb in ihrem Kopf. Als ob sie jemand angetackert hätte. Sollte sie sich schämen, dass sie so was angemacht hatte? Normal war das doch nicht, oder?

Eine SMS von Maya riss sie aus den Gedanken.

„Soll ich noch was mitbringen für nachher?“

Leonas Kopf begann zu rattern. Nachher? Was war nachher? Waren sie verabredet? Upps! Ja, waren sie!

Juna und Maya wollten ihr ein wenig mit der Wohnung helfen und später ein paar Filme schauen. Das würde wieder vorwurfsvolle Blicke geben, wenn die zwei sahen, dass sie noch nix an der Wohnung getan hatte. Wenn die Zeit reichte, würde sie noch was machen, bevor die Freundinnen kamen, damit es wenigstens ein bisschen anders hier aussah. Filme-Abend schloss eigentlich Nino und Selim mit ein, aber damit sie nicht zwischen zwei Pärchen saß, wurde das Treffen kurzerhand zum Aufräum- und Mädelsabend umgewandelt.

Immerhin dachte sie so eine Weile nicht über den Film nach. In Windeseile duschte sie, zog sich an und raste in den nächsten Supermarkt um die Ecke. Wenigstens ein paar Getränke, Kaffee, Milch, ein paar mehr Lebensmittel – außer Brot – und ein wenig Knabberkram für später sollte sie im Haus haben. Innerhalb von vierzig Minuten war sie wieder daheim und hatte die Sachen verstaut.

Wo sollte sie anfangen? Sie brauchte wirklich keine Standpauke der beiden. Ein paar Minuten stand sie ratlos in ihrem Umzugschaos. Normalerweise fand sie es nicht so schlimm. Jetzt kam es ihr vor, als stünde sie im Kistenwald. Letztendlich seufzte sie und öffnete den Karton, der direkt neben ihr stand. Kleidung. Okay, dann würde sie halt ihren Kleiderschrank weiter einräumen. Sie schleifte die Kiste in den Flur und begann zu sortieren. Pullover, Shirts, Jeans.

Sie lächelte. Irgendwie war es doch schön, ein paar ihrer Lieblingsklamotten wieder zu sehen! Allerdings befanden sich in diesem Karton hauptsächlich wärmere Sachen. Der Sommer stand in den Startlöchern. Vermutlich war es höchste Zeit, die Sachen auszuräumen. Sonst würde sie ein recht ungewöhnlicher Tod ereilen: Geschmolzen wegen Winterkleidung im Sommer. Nicht etwa, weil sie keine dünnen Sachen besaß, sondern weil sie zu träge war sie auszupacken.

„Ran an den Speck!“

Im Nu war ein Karton leer und konnte zusammengefaltet werden. Sie ging zurück ins Wohnzimmer und hob ein paar Kisten an. Eine mit Kleidung müsste ja relativ leicht sein. So klapperte sie alle Kisten ab.

Natürlich war es erst die allerletzte. Das musste wohl so sein. Ganz oben lagen ihre Lieblingskleider. Ein schwarzes Sommerkleid mit weißen Punkten, das berühmte kleine Schwarze, ein ärmelloses Stretch Kleid – im gleichen Blau wie dem ihrer Augen. Wann sie die Kleider wohl wieder anziehen würde? Im Moment war ihr noch nicht danach, sich so schick anzukleiden. Die Hotpants würden auch noch eine Weile auf ihren Einsatz warten. Aber sie fand auch ein paar dünnere Stoffhosen, ihre Shirts und Blusen. Juchuuu! Der Sommer konnte kommen – sie wusste wieder, wo sie ihre Sachen finden würde, wenn die Temperaturen stiegen! Ganz unten in der Kiste kamen dann noch ihre Bikinis zum Vorschein. Ja, jetzt durfte offiziell Sommer werden!

Kurz nachdem die zweite Kiste geleert war, klingelte es an der Tür. Juna und Maya kamen bepackt mit Taschen die Treppe hoch.

„Hey, ich dachte, ihr wolltet helfen – jetzt schleppt ihr noch mehr Zeug an?“, maulte sie gespielt sauer.

Die beiden sagten nix, lachten, gaben ihr Küsschen zur Begrüßung und gingen weiter durch in die Küche. Juna öffnete ihren Kühlschrank.

„Joghurt, Milch, Margarine und Frischkäse Wow. Kein Wunder, dass du immer weniger wirst!“, sie schüttelte tadelnd den Kopf und stellte ihre Stofftasche ab. „Gut, dass Selim mal wieder übertrieben hat beim Kochen!“

Juna packte ein paar Plastikboxen aus, räumte sie in den fast leeren Kühlschrank und sagte augenzwinkernd zu Leona: „Und brav alles aufessen – sonst gibt's Ärger vom Chef!“

„Ihr könnt mir ja nachher beim Aufessen helfen“ meinte Leona.

„Nix da!“, mischte sich Maya ein, nachdem sie auch einen Blick in die Leere des Kühlschranks geworfen hatte. „Das ist dein Essen für morgen. Wir bestellen nachher was. Keine Widerrede – du bist eingeladen“

„Maya…“, Leona wollte protestieren.

„Keine Widerrede, hab ich gesagt!“, winkte ihre quirlige Freundin ab und machte einen Schritt ins Wohnzimmer.

„Leo, hier sieht's ja genauso aus wie letztes Mal! Noch nix gemacht?“

„Habe ich doch“, erwiderte Leona trotzig und deutete auf die zwei zusammengefalteten Kartons, die im Flur an der Wand lehnten.

„Wow, ganze zwei Kisten in wie vielen Wochen? Gerade eben schnell ausgepackt, was?“, Maya klang vorwurfsvoll aber sie grinste. Leona schwieg. Maya hatte Recht – das wollte sie nicht bestätigen.

„Na, dann wollen wir mal!“, Maya klatschte in die Hände und öffnete eine Box. „Sieht nach Küchen-Kram aus. Ihr wisst, wo ihr mich findet!“

Mit diesen Worten nahm Maya den Karton und verschwand wieder in die Küche. Juna kam nun rüber ins Wohnzimmer und legte Leona einen Arm um die Schultern.

„Such dir eine aus“, forderte Juna sie auf. Leona stieß lustlos mit dem Fuß gegen einen Karton.

„Der da.“

Juna drückte sie kurz und öffnete den Karton und Leona schielte hinein. Bücher, DVDs und CDs. Juna schleifte die Ladung zum Regal.

„Na komm, Leo. Auf auf!“

Sie, Leona, rollte mit den Augen und folgte Juna zum Regal. Als ob man etwas wirklich Ekelhaftes von ihr verlangte, begann sie langsam auszupacken. Bei den Klamotten kam ja noch etwas wie Freude auf, aber jetzt hier mit ihren Freundinnen, die sie dazu anspornen wollten oder mussten, verließ sie plötzlich die Lust. Sie wollte auspacken und einrichten, wenn ihr danach zumute war, nicht wenn die beiden sie dazu nötigten. Wenn sie die nächsten Wochen noch nicht auspacken wollte, dann war das doch ihre Sache, oder? Total unmotiviert und in Zeitlupe räumte sie das Regal ein.

Juna machte sich derweil über die anderen Kisten her. Sie öffnete eine nach der anderen und verschaffte sich einen Überblick über den Inhalt, bevor sie die Kartons verschob. Zwei wanderten in die Küche und einer ins Bad. Wenn heute nicht alles leer gemacht wurde, hatte Leona nun immerhin einen Anhaltspunkt, wo sie was suchen musste.

Juna kam nicht zurück ins Wohnzimmer. Entweder räumte sie die Sachen im Badezimmer ein oder half in der Küche. Viele Optionen gab es ja nicht. Leo fand eine ihrer Lieblings-CDs. Aus Mangel an einer Stereoanlage, warf sie die CD in den DVD-Player und laute Musik ertönte. Schon besser! Ihre beiden Freundinnen ließen sie in Ruhe. Keiner kam nachschauen, ob sie auch weiter brav einräumte. Nach einer halben Ewigkeit hatte Leona ihre Kiste geleert. Sie klappte den leeren Karton zusammen und lehnte ihn vorerst an das Regal.

Sie war noch immer nicht motiviert, aber ging trotzdem zu den verbliebenen Kisten im Wohnzimmer zurück. Gerade als sie sich fragen wollte, warum Juna diese nicht geöffnet hatte, entdeckte Leona die Aufschrift „Privat“. Es war ihre Schrift, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, eine Kiste so beschriftet zu haben. Sie klappte den Deckel auf. Ein paar Kuscheltiere, Fotos, Unterlagen und… oh! Jetzt wusste sie wieder, warum sie diese Box so passend gekennzeichnet hatte.

Ihre Sextoys waren soeben wieder aufgetaucht! Schnell zog sie die Kiste ins Schlafzimmer. Mit beiden Freundinnen redete sie zwar über alles, doch sie mussten nicht genau sehen, mit was sie sich allein vergnügte. Es war nicht viel und so stopfte Leona alles in die Schublade ihres Nachttisches. Während sie das weiche Silikon des Vibrators spürte, fiel ihr der Film wieder ein.

Oh, Leo - nicht jetzt!, tadelte sie sich in Gedanken. Das war kein Moment, um weiter daran zu denken. Schnell landete das Teil ganz hinten in der Schublade. Sie konnte sich nicht mal mehr erinnern, diese Dinge gekauft zu haben. Es war ewig her, dass etwas davon in Benutzung war. Noch ein Mini-Vibrator, etwas Gleitgel, das sich bei Hautkontakt erwärmte, Liebeskugeln und ein schmaler Analdildo. Meine Güte, letzterer stammte noch aus der Zeit vor Erik. Also über sechs Jahre alt und auch genauso lange nicht mehr benutzt. Mit ihrem Ex-Freund hatte sie es mal probiert. Aber die Erinnerung daran war schon sehr verblasst. Es überraschte sie, dass sie dieses Toy überhaupt behalten hatte. Es kam ebenfalls in den Nachttisch. Das Teil hatte ja kein Mindesthaltbarkeitsdatum. Leona zuckte zusammen, als sie ihren Namen hörte und drehte sich um. Maya stand im Türrahmen.

„Komm futtern! Wir wollten dich nicht von der Arbeit abhalten und haben bestellt. Hast du die Klingel nicht gehört?“

Leona schüttelte den Kopf, stand auf und folgte Maya ins Wohnzimmer. Auf dem kleinen Couchtisch standen zwei Pizzen, Bruschetta, kleine Pizzabrötchen und ein Teller mit Tomate und Mozzarella.

„Ihr spinnt doch!“, entfuhr es ihr.

„Nein, du mit deiner Kaffee-Joghurt-Brot-Diät spinnst! Jetzt maul nicht rum und hau rein!“

Juna hatte es gesagt - in einem Ton, wie man ihn von Maya kannte. Wenn man lang genug befreundet war, färbte man wohl aufeinander ab. Wieder rollte sie mit den Augen, setzte sich aber zu den beiden um den Couchtisch herum auf den Boden. Die Couch war zu klein für drei Personen, daher saßen sie nun im Schneidersitz um das kleine Tischchen herum. Leona wollte es zwar nicht zugeben, aber sie bekam nun wirklich Hunger. Bevor ihr Magen anfangen konnte verräterisch zu knurren, nahm sie sich ein Pizzabrötchen.

„Ich hoffe, du findest in der Küche alles wieder – ich habe nach meiner Logik eingeräumt“, meinte Maya, während sie kaute.

„Werde ich schon“, murmelte Leona. Ihr fehlte noch die Lust, wieder zu kochen, weshalb sie bezweifelte, dass sie so bald etwas suchen würde. Ein paar Minuten aßen sie in aller Stille. Das Essen war richtig lecker. Leona fand aber, dass die beiden übertrieben hatten. Keiner von ihnen schwamm im Geld und dieses Mahl schmeckte nicht nach einem günstigen Lieferservice!

„Nur noch vier Kisten, Leo. Machst du die allein oder sollen wir dich zwingen, sie heute auszupacken?“, fragte Maya.

„Mach ich allein“ sagte sie knapp. Sie wollte wirklich nicht mehr

„Wirklich?“

„Jahaaaa!“, Leona war leicht genervt aber lachte.

„Und wann?“, nun grinste Juna provokant.

„Och, kommt schon, Leute. Es ist keine Total-Baustelle!“, protestierte Leona.

„Ja, jetzt nicht mehr! Was, wenn mal anderer Besuch kommt… nicht wir? Deine Eltern zum Beispiel?“, fragte Juna.

„Sicher nicht. Die sind zu weit weg und wohl auch nicht interessiert.“