Casting - Yvonne Richter - E-Book

Casting E-Book

Yvonne Richter

4,0

Beschreibung

Ringel ist ein Siegertyp. Geschickt bewegt er sich in der schillernden Spielewelt, deren Gesetze längst in sämtlichen Bereichen des Lebens gelten. Eine Clique von selbstverliebten Juroren hält das Karussel der Castings und Contests in Gang. Sie sorgen mit drastischen Methoden dafür, dass niemand aus der Reihe tanzt. Als Ringel sich mit Jo anfreundet, beginnt er am Sinn der strengen Regeln zu zweifeln. Das Mädchen und er gehen auf gefährliche Touren. Was sie dabei hinter den Kulissen der Vergnügungsmaschinerie entdecken, stellt alles Gewohnte infrage. Mit einigen Gleichgesinnten finden sie Zuflucht in einer alten Manufaktur und proben den Widerstand. Aber Detektive sind ihnen bereits auf der Spur. Wird es den Ausreißern gelingen, sich gegen das übermächtige System zu behaupten und ihren eigenen Ideen zu folgen?

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YVONNE RICHTER

Casting

SPIEL UMS LEBEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.© 2016 by Fabulus-Verlag, Tanja Höfliger, FellbachUmschlaggestaltung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, leonbergCover-Illustration: Ann-Kathrin Busse, vermittelt durch Agentur dieKLEINERT.deSatz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, LemfördeISBN 978-3-944788-04-3Besuchen Sie uns im Internet: www.fabulus-verlag.deDie Publikation dieses Werks erfolgt auf Vermittlung von Marion Voigt · Lektorat | Text | Agentur · Zirndorf.

Inhalt

CoverTitelImpressum1. Lovis trifft Jo2. Alles ist Casten3. Auf der Straße4. Schlawine5. Die Juroren6. Schlimmer geht immer7. Admirals Geheimnis8. Auscast9. Eine abwegige Idee?10. Der Träumer11. Erste Stolperfallen12. Irritationen13. Die alte Manufaktur14. Casting zum Aufmischen15. Neuwheyl16. Gerüchte17. Verdächtiges18. Nachschub19. Bedrohung20. Fast Bauern?21. Der Zoo der Aussterbenden22. Schwindel23. Angriff24. Gegenwehr25. Admiral in Not26. Im Ausnahmezustand27. Die Castastrophe28. Böser Spuk?Castingkategorien und Juroren

1. Lovis trifft Jo

Lovis sah nach unten. Er erspähte den nächsten Griff, holte tief Luft, stieß sich mit den Beinen ab und ließ sich fallen. Geschickt umfasste er die Halterung mit der linken Hand. Die rechte griff nach.

Den dünnen Applaus, der von oben erschallte, beachtete er nicht.

Sobald er mit den Füßen wieder Halt ertastet hatte, hangelte er sich flink nach unten weiter. Zack, rechte Hand, zack, linker Fuß, zack, linke Hand, zack, rechter Fuß, als hätte er in seinem Leben nichts anderes getan. Blätter, Äste, Ranken und Dornen streiften seine Arme und Beine. Er spürte sie nicht. Lovis sah nicht nach oben. Der Applaus entfernte sich.

Nur nicht ablenken lassen, dachte er. Lovis hatte Hunger. Und wenn er sie alle hier abhängen konnte, dann würde es endlich mal wieder richtig was zu essen geben.

Wie tief war diese steile Schlucht denn nur? Büsche und Gestrüpp versperrten die Sicht. Egal, irgendwann würde er schon unten ankommen.

Aus dem Augenwinkel nahm Lovis eine Bewegung über sich wahr. Die Konkurrenz schläft nicht, zuckte es durch seinen Kopf. Er erhöhte das Tempo, suchte nach der kürzesten Route. Der gerade Weg ist nicht unbedingt der schnellste, erinnerte er sich. Aufmerksam überblickte er die Haltegriffe und Absätze unterhalb seiner Position. Blitzschnell änderte er die Richtung und nahm scheinbar einen Umweg.

»Hast wohl die Hosen voll?«, kicherte es von oben. Ungerührt streifte Lovis’ Blick Grenuis breites Grinsen. Der Ältere zog an ihm vorbei, nicht ohne heftig nach ihm zu treten. Aber Lovis hatte bereits Abstand gewonnen.

Er durchkletterte einen Überhang und landete danach sicher in der Wand. Eilig setzte er den Abstieg fort. Das verdammte Magenknurren! Aber es hieß ja, dass der Hunger Beine machte. Lovis atmete tief ein und aus und kletterte weiter.

Da, ein Schrei! Lovis hörte Grenui aufkreischen, dann Geräusche, als ob jemand durch die Büsche klatschte, und schließlich das rhythmische Aufprallen unten einige Augenblicke später. Die Fangtrampolins, erkannte Lovis, sie haben ihn gerettet.

Noch fünf weitere Kletterer stürzten an Lovis vorbei in die Tiefe. Vier wurden aufgefangen, bemerkte er, ohne seinen rasanten Abstieg zu stoppen. Einer nicht.

Lovis zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken, sondern kletterte bis zum Grund der Schlucht. Im Halbdunkel erkannte er die Geretteten, die mit verzerrtem Gesicht und niedergeschlagen in einer Ecke kauerten. Ein paar Aufseher überschütteten sie mit Wasser und spöttischen Sprüchen, während der Verunglückte bereits mit einem Rettungsschrauber davongeflogen wurde.

»Gratuliere, mein Junge!«, vernahm Lovis die schnarrende Stimme von Ernie Nattcräck, dem Castingchef von Topform. »Topleistung! Wir sind stolz auf dich!«

Erschöpft und erwartungsvoll sah Lovis in das braun gebrannte Ledergesicht des Chefjurors. Dessen hellblaue Augen lächelten kalt. »Du glaubst doch nicht etwa, dass es das schon gewesen ist, oder? Na, zwei Levels liegen noch vor dir! Du schaffst das! Gib alles!«

»Schon wieder alles geben?«, murrte Lovis. Aber sein hungriger Magen siegte. Er kramte in den Hosentaschen und händigte dem Juror eine Handvoll Münzen aus.

»Du musst wirklich alles geben!«, beharrte dieser und sah Lovis durchdringend an. Der errötete und holte die letzten klimpernden Münzen aus den Tiefen seiner Taschen.

»Hab ich doch richtig gehört«, sprach Nattcräck und ließ das Erhaltene in seine Gürteltasche gleiten. Er wies auf ein entferntes, mit Ranken überwuchertes Tor.

»Auf gehts, da hinten ist der Einstieg. Los, oder sollen wir dir Feuer unterm Hintern machen?«, lachte er scheppernd dem davoneilenden Knaben hinterher.

Lovis quetschte sich durch die Ranken des Tores. Stacheln kratzten über seine bloßen Arme. Eine Lautsprecherstimme ertönte: »Und hier haben wir den nächsten Castidaten: Lovis, den Sieger des Abstiegs. Wie wird er wohl den Aufstieg meistern? Lovis, zeig es uns!«

Der Junge suchte den Einstieg in die Wand nach oben. Neben ihm waren neue Gestalten aufgetaucht, Gewinner anderer Castings, die weitermachten. Seine Hoffnung auf eine Essensration schrumpfte. Er gab sich einen Ruck. Nicht aufgeben, dachte er und wartete auf das Signal. Ein scharfer Knall, alle zuckten zusammen und zogen sich an den untersten Griffmulden hoch.

Lovis kam sofort gut voran und ließ die ersten hinter sich. Beißender Geruch und aufsteigende Hitze zwangen ihn, nach unten zu sehen. Verflucht, dass das mit dem Feuer unterm Hintern wörtlich gemeint war, hätte er nie für möglich gehalten. Ihm brach der Schweiß aus. Er wischte sich mit einer Hand über die Stirn, die Augen. Er konnte nicht mehr klar sehen. Diesmal treiben sie es zu weit, Mistkerle!, dachte er wütend. Er rieb erst die eine Hand an der Hose trocken, dann die andere, dann tastete er nach dem nächsten sicheren Halt. Stück für Stück zog er sich weiter hoch. Unter sich hörte er einige Male einen Schrei, gefolgt vom mehrfachen Aufschlagen in den Fangtrampolins.

Die Luft wurde knapp. Er begann zu husten.

Seine Augen brannten und tränten wie verrückt.

Er rang nach Luft. Es würgte ihn.

Seine Hand ertastete eine Kante.

Plötzlich verzog sich der Rauch.

Lovis war oben angelangt.

»Applaus, Applaus für unseren erfolgreichen Castidaten Lovis! Ich bin sprachlos! Was für eine famose Leistung!«, umarmte ihn Ernie Nattcräck lachend. Er fasste den Jungen an den Schultern, drehte ihn und präsentierte ihn in alle Richtungen. Applaus rauschte auf. Lovis blickte sich um. Unweit der gerade bezwungenen Schlucht befand sich eine Treppbühne, gerammelt voll mit Leuten, die ihrer Begeisterung freien Lauf ließen. Einige Kameraleute standen da und filmten.

»Was sollte der Mist mit dem Feuer?«, zischte Lovis dem strahlenden Chef-Juror ins Gesicht, sodass nur dieser es hören konnte.

»Das waren Lichteffekte und Rauchpatronen, du Einfaltspinsel!«, fauchte der Ledergesichtige zurück, während er weiter unvermindert lächelte. Er hob theatralisch die Arme.

»Auf zur entscheidenden Runde: Wer wird der Gewinner von Topform? Nur einer kann es toppen: Wird es Lovis, Jo oder Bullock sein?«

Lovis schob sich die störenden Locken aus dem Gesicht und stopfte sie wieder in den Pferdeschwanz. Er sah sich um und suchte seine Rivalen. Verflixt, mit dem hinterhältigen Bullock hatte er nicht gerechnet. Der kräftige, gut genährte Kerl stand breitbeinig da und grinste. Was zum Bratrohr hatte der hier beim Essenscasting verloren? Lag der nicht schon über der Altersgrenze? Das Mädchen Jo kannte Lovis nur vom Sehen. Sie war lang und zäh, hatte kurze schwarze Stachelhaare, einen scharfen Blick, der durch ein dickes Augenglas verstärkt wurde, und war ungefähr in seinem Alter.

»Und vergesst nicht, gebt alles!«, strahlte Nattcräck und streckte die Hand aus. Jo und Bullock leerten ihre Taschen und der Juror nickte zufrieden. Als Lovis die fordernde Geste sah, raunte er. »Ich hab doch schon alles gegeben!«

»Na, ob das dann reicht, mein lieber Lovis?«, mäkelte Nattcräck leise und wandte sich ab. Er stocherte mit dem Finger in die Luft. »Auf zum Finale! Wer wird es toppen: Lovis, Jo oder Bullock? Jo, Bullock oder Lovis?«

Unter donnerndem Applaus nahm er vor der Treppbühne Platz.

Drei Castiener eilten herbei und führen die Finalisten ein Stück weiter an den Rand der Schlucht. Dort war inzwischen ein Vorhang gespannt worden, der die Sicht versperrte. Die drei wurden aufgefordert, sich in einigem Abstand voneinander aufzustellen. Lovis atmete unruhig. Der Hunger nagte in ihm. Was erwartete ihn hier?

Der Vorhang flog zur Seite. Von der Treppbühne kam ein vielstimmiges erwartungsvolles »Ah!«.

Verblüfft starrten die Jugendlichen in die Schlucht. Nur drei kantige, schmale Felsbrücken führten hinüber. Sie sahen künstlich aus, aber nicht minder gefährlich. Sie wirkten brüchig und waren unregelmäßig gewunden. Bei der kleinsten falschen Bewegung schien der Absturz sicher. Ob da unten genug Fangtrampolins waren?

»Letzte Chance, sich das zu überlegen. Du kannst noch immer kneifen!«, spie Bullock zu Lovis herüber.

»Klappe, du Protzpraller!«, stieß Lovis aus. Er kniete sich hin und musterte die gefährlichen Grate genau. Dann zog er die Stollenschuhe aus, die ihm beim Klettern festen Halt gegeben hatten, und stopfte sie in sein Sacket. Nun steckten seine Füße nur noch in den Socken mit der dicken Sohle. Er verschloss das Sacket mit der Schnalle und befestigte es auf seinem Rücken. Als er wieder aufsah, begegnete er dem mitleidigen Blick von Bullock, der seine Schuhe anbehalten hatte. Lovis antwortete mit einem kecken Zungenblecken.

Die Castiener gaben den Befehl zur Aufstellung. Lovis klebte noch einmal kurz mit feuchter Hand sein Haar nach hinten. Er dehnte und streckte sich, bewegte die Beine durch. Er setzte einen Fuß auf den Grat. Jo und Bullock taten es ihm gleich. Als es zum Start knallte, breitete Lovis die Arme aus und ging los. Sofort spürte er, dass es richtig gewesen war, die Schuhe auszuziehen. Seine Füße tasteten sich sicher voran.

Links von ihm balancierte Jo, unbeirrt, angespannt, hochkonzentriert.

Auf der anderen Seite stiefelte Bullock, der ununterbrochen in seine Richtung pöbelte: »Du Versager, du Brechmittel, du Kotzbrocken, du schaffst keine drei Meter, ohne zu schwanken, dir geht doch noch vor der Mitte die Puste aus, du Lovislockenbaby, schreist gleich nach der Mama, du Feigsocke, dressierter Affe, lackiertes Meerschweinchen …«

Lovis durchschaute die Absicht, ihn aus der Ruhe und vor allem aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er bezwang seinen Unmut, schwieg und löste keine Sekunde den Blick vom Grat. Als die ersten Felssplitter unter ihm wegbrachen, spreizte er seine Zehen in den Untergrund, so gut es ging. Er blieb in den Knien locker und versuchte, Unebenheiten auszugleichen. Kurz taumelte er.

»Ja, jetzt geht dir der Hintern auf Grundeis, du Feldwichtel, du Waldschrat, du Komiker, Hanswurst, Witzfigur, Pappnase …!«

Das Gesotter von rechts, das er einige Zeit lang überhört hatte, drängte sich aufs Neue in sein Ohr. Lovis beruhigte seinen Atem. Er brauchte einfach mal wieder vernünftiges Essen. Davon sollte ihn kein Rivale abbringen und schon gar nicht Bullock.

Vor allem nicht zu weit nach vorn gucken. Das konnte einen entmutigen, das durfte auf keinen Fall geschehen. Lovis hatte sich gefangen und ging weiter, Schritt für Schritt.

Wegen der Schimpfkanonade von rechts war Lovis entgangen, was links von ihm geschah. Eigentlich nicht viel. Nur dass Jo mittlerweile ein paar Schritte weiter war als er. Lovis blendete die Schmähtirade aus und verdoppelte seine Anstrengungen, um aufzuholen. Mann, wieso war die schneller? In Topform hatte er sich immer gut geschlagen. Und stets hatte er darauf geachtet, trainiert zu bleiben!

Lovis holte auf. Das Mädchen war nur noch einen halben Schritt vor ihm. Er sammelte all seine Kräfte. Doch plötzlich zuckte er zusammen.

»Nein, verd…«, verebbte ein Schrei. Bullock war ins Straucheln geraten. Er stürzte in die Tiefe. Lovis konnte nicht anders. Entsetzt erwartete er den Aufprall. Doing, dadoing, doing, dadoing: Das war der Rhythmus eines Fangtrampolins. Aufatmen.

Jo erreichte die andere Seite der Schlucht, vor Lovis.

Das Geplärr von Nattcräck nahm Lovis kaum wahr, als er sich mit hängendem Kopf aus dem Wettbewerbsgelände schlich: »Unser Star des Tages: Jo! Sie ist in Topform! Sie hat gewonnen. Ein Riesensuperduper-Essenspaket für eine Woche. Für die andern ist Schmalhans mal wieder Küchenmeister, hahaha! Freust du dich, Jo, freust du dich? Seht, meine Damen und Herren, wie Jo sich freut, unsere Top-Performerin!«

Jo entwand sich dem Schreihals, klemmte sich die Kiste mit dem Gewinn unter den Arm und schlenderte davon.

Abseits, draußen, im Abenddämmer, hatte sich Lovis auf einem Stein niedergelassen. Alles umsonst! Wieder mal gab es keine Aussicht auf etwas Gescheites zum Essen. Nun musste er zusehen, ob er in einem der Restehäuser etwas von dem geschmacksfreien verdünnten Kartoffelstampf, Reisbrei oder Nudelpfampf abbekam, den sonst keiner wollte.

In sein Blickfeld schoben sich ein paar staubige Stiefel. Lovis blickte hoch. Er sah in Jos Gesicht. Sie lächelte, öffnete eine Kiste, aus der es verführerisch duftete, und sagte einfach: »Teilen wir?«

2. Alles ist Casten

Lovis hatte es die Sprache verschlagen. Er brachte nur ein heiseres »Bloß weg hier!« heraus.

Jo folgte ihm bis zu den eingezäunten Wohnblocks. Die Kiste trugen sie zu zweit. Lovis machte vor einem der Häuser halt und bedeutete Jo, die Last abzusetzen. Ihre Augen wurden immer größer, als er einen kleinen Summer herausholte und an den Eingang eines Wohnturms hielt. Die Tür summte beiseite. Ungläubig bestieg Jo nach ihm den Lifter, der sich gleich in Bewegung setzte und hochsauste. Sobald der Lifter anhielt, betraten sie einen langen Gang mit vielen Türen. Wieder richtete Lovis den Summer auf eine Tür, die aufschwang und den Blick auf ein Einraumflatt freigab.

»Du hast Wohngewinn? Krass gut!«, sagte Jo und sah sich anerkennend um. Durch das dicke Augenglas schien ihr Auge doppelt so groß zu sein. Es gefiel ihr sichtlich, das gemütliche Zimmer mit Kochnische und Badezelle. In der Wand war der unvermeidliche Filmrahmen eingelassen, der die Fülle der Castings in alle Flatts brachte, aber Lovis ließ ihn abgeschaltet.

Lovis nahm Jo das Sacket ab und hängte es zusammen mit seinem an den Türhaken. Geschickt klappte er die Tischplatte herunter, faltete einen zweiten Stuhl auseinander und winkte einladend. Jo stellte ihre Kiste ab, öffnete sie, packte aus und befüllte verschiedene Schüsseln auf dem Tisch. Kurz darauf waren beide mit Essen beschäftigt. Lovis schaufelte abwechselnd Krabbenstäbchen, Apfelfritten, bunten Tuttifruttisalat, verschieden gefüllte Explosionskekse und Berge von Dominocreme in sich hinein.

»Hast länger nix Richtiges gegessen?«, mümmelte Jo zwischen zwei Bissen.

Lovis nickte. Er kaute und schluckte nur. Erst nach einer geraumen Weile machte der Junge eine Pause. Er wischte sich schnell mit dem Handrücken über den Mund und schaute Jo an. »Hast du Familie?«, fragte er.

»Alle unterwegs. Keiner hat Wohngewinn. Treffen uns nur manchmal. Und du?«

»Hab nur meine Ma, die ist draußen. Schaffts nicht mehr. Sie hat untercastet, macht ›Arbeit statt Armut‹, lebt jetzt in einer Fabrik, aber da ist kein Platz für mich.«

»Könnte doch hier wohnen«, erwiderte Jo.

»Nee, sie hat keinen Wohngewinn und die kontrollieren das, weißt du doch. Sie besucht mich hin und wieder.«

Jo nickte. »Blöd.«

»Und Lerncast? Hast du da mitgemacht?«, wollte Lovis wissen.

»Oft. Ich kann lesen und schreiben, rechnen ganz gut. Halt bis Stufe sechs. Alleskunde, na ja, geht so. Und du?«

»Ja, Ma wollte das. Ich habs bis Stufe acht geschafft«, entgegnete Lovis widerwillig. Jo zog bewundernd die Brauen hoch.

»Aber in letzter Zeit nicht mehr, war zu hungrig«, fuhr er fort.

Lovis streckte sich, genoss seinen gut gefüllten Bauch. Er zögerte kurz, dann fragte er das Mädchen. »Wieso teilst du mit mir?«

Jo lächelte. »Dieser Popel von Bullock. Ich fand es ultra, wie du den hast auflaufen lassen. Am Ende hat er sich nur selbst rausgeworfen statt dich, haha! Und ich hab gesehn und gehört, wie hungrig du warst.«

»Maxi-Popel!«, bekräftigte Lovis. Dann sah er Jo an und lächelte. »Danke!«

Jo nickte nur und stand auf. Sie untersuchte die Kochnische. »Hast du nen Kaltfrisch?«

Lovis öffnete die untere Klappe der Kochnische. Nur Leere gähnte aus dem Kaltfrisch. Das Mädchen grinste Lovis an und begann, Dosen und Schalen mit Essen hineinzustapeln.

»Du willst alles hierlassen?«, fragte der Junge verblüfft.

»Ja, wo soll ichs denn hintun? Das verdirbt doch sonst.«

Erfreut sah Lovis zu. Jo hörte erst auf, als alle Fächer voll waren. Den Rest verstaute sie in dem Oberschrank, neben dem wenigen Geschirr.

Lovis stupste Jo an. »Wenn du mal ein richtiges Bett brauchst oder dich mal ausschlafen willst …« Er wies auf das versteckte Senkbett in der Wand.

Jo riss den Mund auf. »Bist du sicher?«

»Klar!«, sagte Lovis.

»Und wenn du kontrolliert wirst?«

»Da wird uns schon irgendwas einfallen.«

»Aber wo schläfst du dann?«, fragte sie.

»Am Boden. Das geht schon mal«, lächelte er. Jo lächelte zurück.

Zusammen verließen sie Lovis’ Flatt in Richtung Infodrom.

Schon von Weitem blinkten die farbigen Schriftbänder von der Spitze der riesigen Kuppel des Infodroms:

Caste dich hoch! Nicht rasten, sondern casten! Neu –Nasenrallye! Wer wagt, gewinnt! Erspiel dir deine Welt! Täglich neue Spitzencasts! Dem Sieger lacht der Ruhm!

Die beiden mischten sich in den nicht abreißen wollenden Strom von Menschen, die von allen Seiten zum Infodrom strömten. Die meisten waren jung. Einige kannten sich, lachten, begrüßten sich oder pöbelten sich an. Als sie sich dem blinkenden, palastartigen Gebäude näherten, schwoll der Lärm an. Jo und Lovis hielten sich eng aneinander und drängten durch einen der acht Eingänge hinein.

Sie wurden einige Male aufgehalten, als eine schnatternde Zweierreihe Kinder ihren Weg kreuzte, begleitet von zahlreichen Cast-Assistenten, die die Kleinen liebevoll und wachsam durch das Getümmel schleusten, während deren Mütter dazwischen herumwuselten, Lockenwickler an den Haaren der Winzlinge hinein- oder herausdrehten, Tipps gaben, die keiner hörte, oder die Kleidung der Kleinen zurechtzupften.

»Baby-Casting!«, schnaubte Lovis und zog Jo weiter.

Während sie sich im Inneren zu einem der Terminals schoben, versuchten sie anhand der Leuchtschriften, die über ihren Köpfen schwebten, das Richtige zu finden.

»Was meinst du?«, fragte Lovis und las vor, er musste schreien, damit Jo ihn hörte: »Topform an Terminal 1 hat zurzeit: Lebendmikado, Kopfstanddreh, Solofinger, Handklapp, Hoch- und Tief- oder Blindsprung?«

Jo hielt sich das Ohr zu und versuchte, mit ihrem Augenglas etwas zu erkennen, aber Lovis war schneller: »Auf Terminal 2 ist Topkult, nicht so mein Ding.«

»Was läuft denn da grad?«, fragte sie und zwickte die Augen zusammen, um besser lesen zu können.

»Nasenringgewichtheben, Zahnlückenpfeifen, Achselhaarzopfflechten, Augapfelrollen, Langhaarschleudern, Fingernagelweitschnipsen, Zähnerasseln, Ohrwiegen, Zehenmalen, Topkuss oder Popokneifen.«

»Igitt!«, schüttelten sich beide.

»Topsong ist auf Terminal 3, das kann ich vergessen«, fuhr Lovis fort, mit einem Seitenblick zu Jo, die heftig nickte. »Auf Terminal 4 haben sie Toptext. Läuft grad Sprücheklopfen, Haarspalten, Schaumschlagen und Gedichtweitwurf, hm, eher nicht.«

Lovis überflog schnell die Leuchtsätze, die über ihnen durchblitzten: »Ou, Terminal 9 hat endlich mal wieder Topkoch! Das wär doch was: Schuppenwürfeln! Da gibts immer was zu essen. Was meinst du?«

»Kannst du denn kochen?«, fragte Jo.

»Nicht so besonders. Aber für ein paar Runden wirds schon reichen«, meinte Lovis.

»Lass doch erst mal gucken, was es sonst alles gibt«, schlug Jo vor. So rätselten sie noch über die Angebote von Topbio auf Terminal 5: Wasserflohlausen, Miniwolf, Elritzenkitzeln, Silberfischchenputzen, Drehwurm, Wollmausen, Grasmückensäen und Fleißiges Gießchen; die Castings von Terminal 6 mit Toptrick: Zauber der Fingerknoten, Dreibeiner, Wisch und Weg, Spiegeleiern, Formlosen oder Perpendickeln; Topschlau an Terminal 7 bot Listikuss, Gescheitern, Besserwisser, Schlaumeier, Neunmalklug, Durchblicker und Großhirnschinden; Toptortur an Terminal 8 jagte den beiden eher Schauer über den Rücken; nach Topwitz an Terminal 10 war ihnen gerade gar nicht zumute und zuletzt Terminal 11 mit Toprisiko ließ allerhand Böses ahnen.

»Schau einfach, was es zu gewinnen gibt«, sagte Jo.

Lovis entschied sich für die Verlängerung seines Wohngewinns, Kleidung und Schulbesuch. Jo lockte eher eines dieser neuen Redfons, eine drahtlose Sprechverbindung, die ans Ohr geklemmt wurde, und ein paar Einheiten im Spielodrom.

»Neue Hosen könnte ich auch gebrauchen«, sagte sie dann mit einem Blick auf ihre durchgescheuerten Knie.

Sie beschlossen, sich bei Topschlau an Terminal 7 zu Neunmalklug anzumelden. Dort lockten im ersten Durchgang Schuhe, dann Hosen und für den Gewinner eine komplette Garnitur neue Kleidung. Danach würden sich ihre Wege erst einmal trennen.

»Warte«, sagte Lovis und zog seinen Summer heraus. Er blickte auf das flache Kästchen und nannte Jo eine Zahlenkombination.

Als sie verständnislos dreinsah, sagte er: »Besuchercode! Dass du immer bei mir reinkannst, auch wenn ich mal nicht da bin.« Er wiederholte die Zahlenfolge und Jo sprach sie ihm einige Male nach. Dann schoben sich die beiden vorwärts in Richtung Terminal 7.

3. Auf der Straße

Lovis und Jo flogen in der dritten Runde von Neunmalklug raus. Sie verließen das Casting dennoch höchst zufrieden.

»Guck mal, passen wie angegossen!«, sagte Jo und schwang ihren Fuß Lovis unter die Nase.

»Und sehen saustark aus«, bemerkte Lovis, während er geistesgegenwärtig den Kopf vor den Stollen von Jos neuem Kletterschuh zurückzog. Jo lachte vergnügt, während sie neben ihm einherhüpfte.

»Deine sind auch bärenstark!«, lobte sie Lovis’ Gewinn, in dem seine Füße steckten.

»Und die neuen Hosen machen alles mit«, freute sich Lovis und zeigte ein paar Kniebeugen. Jo tat es ihm nach.

»Hat sich gelohnt«, sagte sie. Zusammen kehrten sie in Lovis’ Zimmer zurück, um etwas zu essen.

»Wie lange reicht eigentlich dein Wohngewinn?«, wollte Jo wissen.

»Drei Monate«, antwortete Lovis. Jo nickte anerkennend.

Nach dem Essen stand sie auf. »Ich geh jetzt mal.«

Lovis fragte: »Weißt du den Code noch?«

»Nulleinssechssiebendreizwoachtdreivierzwosiebenachtzwonullneunbeh!«, stieß Jo wie aus der Pistole geschossen hervor. Lovis musste lachen, hob dann die Hand und winkte Jo zu. Die winkte zurück, drehte sich um und draußen war sie.

Lovis blieb nachdenklich zurück, aber er fühlte sich gut. Es war das erste Mal seit Langem, dass ihm ein Altersgenosse nicht nur vertraute, sondern sogar etwas mit ihm teilte. Sonst hatte jeder um ihn herum nichts anderes im Sinn, als sich möglichst viele Vorteile zu verschaffen.

Seine Mutter wagte fast nie, sich zu beklagen. Aber neulich, als sie sich allein mit ihm wähnte, brach es aus ihr heraus: »Nichts mehr kriegst du ohne. Für jeden Schnurz musst du im Casting kämpfen und wer nicht vorn dabei ist, kann schauen, wo er bleibt. Das war früher nicht so schlimm. Da hast du in deinem Beruf gearbeitet, Geld verdient und gekauft, was du brauchtest. Waren das noch Zeiten, als ich als Gärtnerin arbeiten konnte! Aber irgendwann hat das Geld hinten und vorn nicht mehr gereicht. Immer mehr Castings kamen und immer mehr Leute sind hingegangen, weil sie hofften, auf diese Art mehr zu ergattern. Was für ein mieses Leben!«

An diesem Nachmittag beschloss Lovis, seine Mutter zu besuchen. Er packte etwas Essen ein und machte sich auf den Weg. Bald hatte er das Viertel mit den Flatttürmen hinter sich gelassen. Er erreichte die wenig befahrene Straße, die zu einem der trostlosen Fabrikgelände in den Außenbezirken führte. Es war noch ein ganzes Stück bis dorthin. Lovis winkte bei jedem vorbeifahrenden Laster, doch ohne große Hoffnung, mitgenommen zu werden. Das kannte er von den anderen, viel zu seltenen Ausflügen zu seiner Mutter.

Diesmal hatte Lovis Glück. Ein Laster hielt an. Ein staubig und ungepflegt wirkender Fahrer öffnete die Tür. Lovis musterte ihn kurz. Man konnte ja nie wissen. Der Fahrer sah okay aus, fand Lovis und stieg ein. Nach einer guten halben Stunde Fahrt ließ der Mann ihn an der Abzweigung zur Fabrik Gemüse III aussteigen und brauste weiter. Lovis kannte den Weg. Als die Tuten der Fabrik zum Schichtwechsel erschollen, stand er am Tor der riesigen Anlage. Hier wollte er seine Mutter abpassen, bevor sie zu den Wohndosen der Arbeiter hinüberging.

Inmitten der Schar von Erschöpften kam sie heran. Lovis begann heftig zu winken und das Gesicht seiner Mutter leuchtete auf, als sie ihn erkannte.

»Das ist ja mal ne Überraschung!«, lachte sie und drückte ihn an sich. Dann sah sie auf die Uhr. »Aber über Nacht bleiben kannst du nicht. Das weißt du«, meinte sie besorgt.

»Ist klar!«, nickte er beschwichtigend.

Sie erreichten den sauberen Hof, der von zweistöckigen Kleinflatts eingerahmt war. Leitern führten zu den Einheiten hoch, die Platz boten für eine schmale Liege, ein Regal mit einem Hocker und ein Schränkchen. Eine schmale Tür führte in eine Nasszelle, in der man sich gerade noch um die eigene Achse drehen konnte. Das wars.

Die beiden setzten sich auf eine der Bänke im Hof und Lovis packte Jos Schätze aus.

»Hast du das gewonnen?«, fragte seine Mutter erfreut.

»So ähnlich«, nickte Lovis, dann ließen sie es sich schmecken.

»Hast du immer noch deine Wohnung?«, wollte seine Mutter wissen.

»Drei Monate noch«, sagte er.

»Das ist gut!«, seufzte sie erleichtert. »Wenigstens bist du gut untergebracht. Du musst versuchen zu verlängern! Und wie ist es mit Schulgewinn? Schau, dass du so viel wie möglich ercasten kannst. Das ist wichtig! Und Kleidung hast du auch, wie ich sehe.«

Lovis erinnerte sich gut an früher, als er mit seiner Mutter in einem kleinen Flatt am Stadtrand gewohnt hatte. Viel besaßen sie nicht, aber im Hof gab es einen Garten, den seine Mutter bewirtschaftete. Da wuchsen Tomaten, Karotten, Zwiebeln und anderes Gemüse, mit dem sie ihren kargen Speiseplan aufbesserten. Und sie waren zusammen. Dann wurde es mit den Castings immer schlimmer. Seine Mutter und er hasteten von Wettbewerb zu Wettbewerb, um überhaupt die lebensnotwendigen Dinge zusammenzubekommen. Bis ihr eines Tages die Kraft ausging. Sie hatte schneller untercastet als befürchtet. Lovis und seine Mutter mussten das Flatt verlassen. Und er durfte nicht bei ihr bleiben. Wer älter als zehn Jahre war, konnte sich allein in der Castingwelt zurechtfinden, hieß es. Seine Mutter hatte keine andere Wahl, als in eine der abgelegenen Fabriken zu ziehen. Dort waren all jene untergebracht, die zum Arbeiten taugten, aber nicht mehr zum Casten. Sie schufteten zwölf Stunden täglich, dafür bekamen sie gerade mal Essen und Unterkunft. So sah es aus. Lovis wusste, er war auf sich selbst gestellt.

Liebevoll strich sie ihm über das Haar und die Schultern.

»Wenn ich nur für dich sorgen könnte.« Sie senkte den Blick.

»Sei nicht traurig«, versuchte Lovis, sie aufzumuntern. »Bei mir läufts grade gut.«

Und dann erzählte er von Jo. Ungläubig hörte seine Mutter zu. »Dass es so was gibt! Aber pass auf, nicht dass sie irgendwas im Schilde führt!«

Lovis schüttelte nur den Kopf. Jo war schwer in Ordnung, das wusste er genau.

Vor Einbruch der Dämmerung machte Lovis sich auf den Rückweg. Seine Mutter hatte einen der Gemüsefahrer überredet, ihn in die Stadt mitzunehmen. Dann war sie in ihre enge Wohneinheit hinaufgestiegen. Bekümmert dachte Lovis noch eine Weile daran, wie es ihr dort wohl ging.

In der nächsten Zeit tauchte Jo öfter mal bei ihm auf. Mit etwas Geschick schafften es die beiden, das Essenspaket auf zwei Wochen zu strecken, sie organisierten sich dazu aus den Restehäusern Reis, Kartoffeln, Brot und Nudeln. Wenn Jo bei ihm übernachtete, überließ Lovis ihr sein Bett und schlief auf dem Boden. Dann quatschten und erzählten sie, bis ihnen die Augen zufielen.

Manchmal zogen sie gemeinsam zu Wettbewerben. Es störte sie nicht, dass sie hier Konkurrenten waren. Und wenn sie Glück hatten, gewannen sie etwas, was sie teilen konnten.

»Hat das Nudellöckchen eine neue Freundin?«, stänkerte es dabei einmal von hinten. Beide wandten sich um, erkannten Bullock und machten auf dem Absatz kehrt. Doch bald danach, als Jo gerade Lovis besuchte, drehte sich auf einmal ein Schlüssel von außen in der Flatttür. Die zwei schreckten hoch. Lovis sprang zum Tisch, schob mit einer einzigen Handbewegung Jos Teller in den Mülleimer, wo er scheppernd zerbrach, und sah sie aus dem Augenwinkel mit ihrem Sacket durchs Fenster verschwinden.

Gerade noch rechtzeitig. Denn nun standen zwei Castrolleure in der offenen Tür. Einer sagte knapp: »Flattkontrolle«, während ihm der andere seinen Dienstausweis unter die Nase hielt.

»Personenkontrolle! Deine IK, bitte!«, schnarrte er.

Lovis holte sein Sacket und kramte die Identitätskarte aus der Innentasche. Der Mann löste ein schwarzes Kästchen vom Gürtel, schaltete es ein, scannte Lovis’ Gesicht, verglich es mit dem Code auf der IK und den Daten in seinem Gerät.

»Hast noch drei Monate«, stellte er fest, als handelte es sich um eine Gefängnisstrafe.

In der Zwischenzeit hatte sich der andere bereits umgesehen und fummelte hier und da mit seinen behandschuhten Händen hinein. Lovis zerriss es fast vor Zorn und Angst, während er versuchte, so unbeteiligt wie möglich zu wirken.

Die Castrolleure begutachteten das aufgeklappte Bett, Reste eines gerade verzehrten Abendessens und das geöffnete Fenster.

»Hast den Filmrahmen gar nicht an!«, tadelte der eine.

»Ich wollte eben schlafen gehen«, beeilte sich Lovis zu sagen.

Sie spähten in den Schrank, prüften die wenigen Kleidungsstücke, schauten in der Badezelle nach und fanden Waschutensilien für eine Person. Sie bückten sich, um unter das Bett zu sehen, und untersuchten die kleine Küchenzeile. Als der mit den Handschuhen sich am Mülleimer zu schaffen machte, gefror Lovis das Blut in den Adern.

»Die Wohngewinnler werden auch immer trotteliger«, wandte sich der Mann zu seinem Kollegen, fasste eine der Scherben und richtete sich wieder auf. »Wenn sie zu lange in den Hutzen waren, können sie nicht mal mehr ordentlich mit Messer und Gabel essen«, sagte er, als wäre Lovis nicht da, und ließ das Bruchstück in den Müll fallen. Der andere zuckte die Schultern, beide drehten sich um und verließen grußlos das Flatt. Lovis wartete noch kurz, bevor er die Tür wieder schloss. Sogleich sprang er zum Fenster.

»Hilf mir hoch, ich kann nicht mehr!«, keuchte Jos Stimme unter ihm. Er sah ihre Hände an den unteren Rand der Fensterbrüstung geklammert und packte sie schnell. Mit aller Kraft half er Jo, sich hochzuhieven und ins Zimmer zu klettern.

»Verdammt, wieso sind die grade jetzt gekommen?«, fluchte Jo.

Lovis zog die Brauen zusammen. »Bullock, denke ich.«

»Wir müssen aufpassen. Ich geh jetzt besser«, sagte Jo.

»Wo wirst du schlafen?«, fragte Lovis.