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Familienpackung, frisch gemacht Um Charlotte zu beschreiben, ist es hilfreich, einen Blick auf Geraldine zu werfen. Das ist einfach nicht so deprimierend: Geraldine ist hübsch, hat superreiche Eltern und alle Arten gängiger Unterhaltungselektronik, die mit dem Buchstaben »i« anfangen. Das alles ist und hat Charlotte nicht. Deswegen findet sie auch, dass Geraldine eine Kackbratze ist. Dummerweise ist die Kackbratze das beliebteste Mädchen der Klasse und hat gerade Einladungen für eine »Chill-out-Party« verteilt. Charlotte hat zwar nur durch Zufall eine abbekommen, aber das macht ja nichts. Konsequenz war noch nie ihre Stärke. Charlottes beste Freundin Maja ist umso konsequenter: »Wenn du da hingehst, kannst du mich mal!«, sagt sie. Und jetzt? Bestsellerautorin Susanne Fröhlich erzählt in ihrem ersten Roman für junge Leserinnen die Geschichte eines ganz normalen Mädchens – na ja, so ziemlich jedenfalls.
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Seitenzahl: 298
Susanne Fröhlich
Charlottes Welt
Roman
FISCHER E-Books
Für Hannah, Antonia und Karla, meine wunderbaren Patentöchter, und natürlich für meine heißgeliebte Tochter Charlotte
Es ist sechs Uhr morgens.
»Aufstehen, Lottchen«, brüllt meine Mutter. »Komm, Hase, die Schule ruft.«
Wenn man hört, wie sie mich weckt, könnte man denken, ich würde noch in den Kindergarten gehen. Lottchen und Hase! Allein der Gedanke, dass sie mich mal von der Schule abholt und genau das ruft, vor allen womöglich - oberpeinlich. Allerdings ist diese Peinlichkeit relativ unwahrscheinlich, da mich meine Mutter nie von der Schule abholt. Sie muss ja Karlchen aus dem Kindergarten holen und hat keinen Nerv, dann noch zur Schule zu fahren. Da sieht man ja wohl deutlich, wo ihre Prioritäten liegen. Jedenfalls nicht bei mir. Das Sandwich kann selbst sehen, wie es heimkommt. Fürs Sandwich ist der Bus gut genug. Ist doch nur das Sandwich!
»Zieh dich warm an, es ist kühl und sieht nach Regen aus.«
Meine Mutter hat immer Angst, ich könnte mir eine fiese Nierenbeckenentzündung holen. Oder gleich eine Hirnhautentzündung. Wenn ich mal huste, sieht sie sofort die lauernde Lungenentzündung. Ich glaube, wenn ich es zulassen würde, müsste ich spätestens ab Mitte Oktober im Schneeanzug mit Mütze, Schal und Moonboots in die Schule. Wenn sie auf einer Mütze besteht, also bei Schnee oder so, ziehe ich sie auf und, sobald die Bushaltestelle in Sicht ist, natürlich wieder ab. Es reicht schon, dass ich dicke Wollstrumpfhosen tragen muss. Ich meine, ich bin vierzehn! Also fast.
Da ich auf dem Kaff wohne, fahre ich mit dem Bus in die Schule. Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Jeder, der schon mal mit so einem Bus gefahren ist, weiß das. Für alle anderen: Es ist eine Schlacht. Im Bus herrscht Krieg. Denn leider ist es nicht mein Privatbus, sondern der allgemeine Bus nach Frankfurt. Da die meisten weiterführenden Schulen dort sind, fahren alle über zehn aus Götzenhain und den gesammelten Ortsteilen mit genau diesem Bus. Um pünktlich in Frankfurt zu sein, muss ich den Bus um 6.45 Uhr erwischen. Im Bus gibt's eine klare Hackordnung, und ich bin leider mittendrin. Alter entscheidet. Die Großen, so ab der zehnten Klasse, sitzen, und die anderen stehen. Obwohl manchmal noch Plätze frei sind. Die werden dann freigehalten. Von den Großen. Für irgendwelche Freunde, die erst kurz vor Frankfurt einsteigen. Einmal habe ich es gewagt und gefragt, ob ich sitzen darf. Nur bis der Bekannte einsteigt.
»Verpiss dich, Zwerg«, hat der Typ gesagt und mich dabei so grimmig angeschaut, dass mir klar war, da hilft auch mein orangefarbener Karate-Gurt nicht weiter. Aber der Gedanke hat was. Zu sagen: »Komm raus aus der Bank, wenn du was willst. Lass uns aussteigen und die Sache regeln!«
Trau ich mich aber nicht. Jedenfalls noch nicht. Hätte ich den braunen Gürtel oder den schwarzen, würde die Sache natürlich anders aussehen. Aber bis ich den habe, das kann noch Jahre dauern. Und dann hätte ich schon aus Altersgründen ja eh einen Sitzplatz.
Also stehe ich. Meistens den ganzen Weg bis zur Schule. Etwa eine halbe Stunde. Das Nervigste sind die ganz Kleinen mit ihren bescheuerten 4YOU-Ranzen. Die nehmen einen Mordsplatz weg, und wenn sie sich umdrehen, donnert einem so ein Scheißding irgendwohin. Ich kann das alles nur überstehen, weil ich mir meine Ohrstöpsel anziehe und die Musik meines iPods voll aufdrehe.
Ja, ich habe einen iPod! Für diesen iPod habe ich wochenlang gebettelt. Meine Eltern wollten mir keinen kaufen. »Du hast doch einen schönen Kassettenrekorder!«, hat mein Vater echt gesagt. Einen Kassettenrekorder? Denkt der, ich höre noch Benjamin-Blümchen-Kassetten? Soll ich vielleicht mit Kassettenrekorder in den Bus steigen? Irgendwann habe ich gewonnen und einen iPod zum Geburtstag bekommen. Natürlich den kleinsten, aber besser als nichts.
Geraldine, Frau Geldscheißerin, hat den mit Video und so. Die kann sogar Filme auf ihrem gucken. Den hat ihr ihre Mutter einfach so mal aus der Stadt mitgebracht. Ohne Anlass. So wie unsereins ein Überraschungsei bekommt. Oder einen Müsliriegel! Habe ich natürlich meinen Eltern direkt brühwarm erzählt. Sie waren ziemlich unbeeindruckt.
»Das ist gar nicht gut für so ein Kind«, haben sie gemeint. »Immer alles gleich zu bekommen, das ist auf Dauer sogar sehr schlecht.«
Bei aller Intelligenz meines Vaters, da liegt er komplett falsch. Ich kann weiß Gott nicht erkennen, was schlecht daran sein soll, viel zu kriegen. Ich habe meinen Eltern gesagt, dass mein Charakter so stabil ist, dass mir das überhaupt nicht schaden würde, und sie es doch mal auf einen Versuch ankommen lassen sollen. Aber mal wieder: keinerlei Verhandlungsspielraum. Sie haben sich nur angeschaut und blöde gelacht.
Um kurz nach sieben sind wir dann an der Schule. Das heißt, eine halbe Stunde zu früh. Aber mit dem nächsten Bus wäre ich zu spät, also hänge ich jeden verdammten Morgen eine halbe Stunde an der Schule rum. Das einzig Gute daran: Man kann noch Hausaufgaben abschreiben.
Menschen wie Geraldine haben so ein Problem natürlich nicht, denn Geraldines Eltern fahren sie morgens auf die Minute genau in die Schule. Mit einem fetten Geländewagen: schwarz, dunkle Scheiben, damit man nicht reingucken kann. Bis direkt zum Schuleingang wird die chauffiert. Könnte man zum Klassenzimmer vorfahren, würden die das glatt auch machen. Es würde mich nicht mal erstaunen, wenn die Kackbratze mit einer Sänfte bis an ihren Platz getragen würde. Manchmal sagt meine Oma: »Der Teufel scheißt auf den dicksten Haufen!«, und seit ich Geraldine kenne, weiß ich, was sie damit meint!
Geraldine ist unsere Klassensprecherin. Weil sie vor der Wahl versprochen hat, dass die, die sie wählen, dann mal bei ihr schwimmen dürfen. Ich hätte kotzen können. Wie soll man denn dagegen anstinken? Ich meine, ich könnte höchstens sagen: Ihr dürft, wenn ihr mich wählt, bei mir daheim mal baden. In unserer Wanne. Wenn ihr viel Glück habt, vielleicht sogar ohne meinen kleinen Bruder.
Als ich meinen Eltern erzählt habe, wie die Kackbratze ihre Wähler ködert, haben meine Eltern gesagt, dass das auch die Politiker machen: Versprechungen, um gewählt zu werden.
»Ob sie die dann halten, ist eine ganz andere Frage«, hat mein Vater noch gesagt. »Wenn die erst mal gewählt sind, erinnern sie sich oft gar nicht an das, was sie versprochen haben.«
Geraldine hat es so ähnlich gemacht. Als sie Klassensprecherin war, hat sie nur drei Leute eingeladen. Drei, die eh schon mit ihr befreundet waren. Ihre drei Lieblingssklaven. Aber keiner hat sich getraut aufzumucken. Weil alle immer denken: Vielleicht, wenn ich die Klappe halte, wird mich Geraldine doch noch auswählen.
Alle wären gerne mit Geraldine befreundet. Bis auf mich. Ich hasse sie. Vielleicht hasse ich sie auch nur so sehr, weil ich, ehrlich gesagt, ein bisschen neidisch bin. Das ist, ehrlich gesagt, untertrieben. Ich bin voll neidisch: auf Geraldines Aussehen, auf ihre Klamotten und auf ihre Beliebtheit.
»Aber diese Beliebtheit, die hat doch gar nicht so viel mit dem Mensch Geraldine zu tun, sondern mehr mit ihrem Status«, haben meine Eltern mich zu beruhigen versucht.
»Na und, ist doch völlig wurscht, warum man beliebt ist. Hauptsache beliebt.«
So eine Äußerung finden meine Eltern natürlich oberflächlich. Mag sein, aber stimmen tut es trotzdem.
Ehrlich gesagt, wäre ich auch gerne irre beliebt, aber natürlich gebe ich das öffentlich nie zu. Ich tue so, als wäre es mir total egal. Als würde ich da drüberstehen. Und da ich weiß, dass ich bei Geraldine eh keine Chance habe, finde ich sie lieber blöd. Dabei wäre es natürlich obercool, wenn sie mich als beste Freundin auswählen würde. Aber warum sollte sie das tun? Was habe ich schon großartig zu bieten? Zwei dusselige Brüder, einer davon nahezu zwergwüchsig mit Pickelkinn, der andere ein kleiner hübscher Schleimer von fünf Jahren, und dazu viel frische Luft. Pah! Wen interessiert das schon. Wenn mein Vater einen Porsche hätte oder mein Bruder wenigstens so klein wäre, dass es krankhaft wäre - damit könnte man eventuell etwas hermachen. Aber so - keine Chance.
In netten kleinen Romanen für Teenies sind Mädchen wie Geraldine in Wirklichkeit immer entweder total scheu und zu Hause trotz all des Geldes nicht geliebt und beneiden Mädchen wie mich mit einer Familie, die sich kümmert, und die geliebt werden. Oder sie sind tief in ihrem Inneren total allein und unglücklich, weil alle sie nur wegen ihres Geldes mögen und niemand, weil sie im Grunde ihres Herzens unsagbar liebenswürdig sind und das Geld ihnen überhaupt nicht wichtig ist. Sogar eher lästig. In Romanen zeigen sie dann in irgendeiner gefährlichen Situation ihre weiche Seite und freunden sich mit Mädchen wie mir an. Mit Mädchen ohne Geld. Schöne Märchen. Wer so etwas glaubt, dem kann man sicher auch weismachen, dass es ja kein bisschen aufs Aussehen, sondern rein auf den Charakter ankommt. Das wiederum erzählen meine Eltern wahnsinnig gerne. Aber nicht mal mein Trottelbruder Max glaubt das.
Neuerdings achtet sogar der auf sein Aussehen. Er schmiert sich Tonnen von Gel in sein Haar und parfümiert sich morgens so doll, dass man im Bad kaum mehr atmen kann.
»Nützt alles nichts!«, habe ich ihm heute Morgen gesagt. »Wachse lieber mal einen halben Meter.«
Da wollte er mir ein paar ballern, ich habe mich gewehrt, und sein blödes Parfüm ist auf die Fußbodenfliesen gedonnert und war natürlich kaputt. Da hat der glatt angefangen zu heulen, und im Bad hat es gerochen, als hätte man einen fiesen moderigen Iltis geschlachtet. Die Konsequenz: Ich muss das doofe Stinkzeug, das er Parfüm nennt, bezahlen. Angeblich hat es dreiunddreißig Euro gekostet! Ich habe mich geweigert. Ich meine, es war ja mindestens halbleer. Und überhaupt: Der Pickelarsch war doch selbst schuld. Ich habe mich ja nur gewehrt. Aber keine Chance. Der Familienrat hat beim Frühstück gegen mich entschieden. Das Sandwich muss zahlen! Zwanzig Euro. Fies! Vor allem, weil ich sechs Euro fünfzig die Woche Taschengeld bekomme. Eine Summe, über die ja sogar Häftlinge lachen würden.
»Da verdient man ja im Knast mehr an einem Tag, als ich in der Woche von euch bekomme«, habe ich meinen Eltern schon vorgerechnet, aber - wie meistens - waren sie nicht verhandlungsbereit.
Angeblich (sie haben es mir sogar ausgedruckt!) gibt es eine Empfehlung, dass Jugendliche mit dreizehn Jahren zwanzig Euro im Monat bekommen sollen. »Da liegst du sogar drüber, Charlotte!«, haben sie mir gesagt und dabei geschaut, als hätten sie mir gerade eine Platin-Kreditkarte überreicht und gesagt: Geh raus und kauf dir, worauf du Lust hast.
Erwarten die für sechs Euro fünfzig auch noch Urkunden der Dankbarkeit oder Pokale für die großzügigsten Eltern weltweit? Als ich gefragt habe, ob sie eine Idee haben, wie ich mein überschüssiges Geld anlegen kann, haben sie nicht mal gelacht, sondern dieses Gott-bistdu-ein-undankbares-Kind-Gesicht gemacht, das alle Eltern weltweit richtig gut draufhaben. Ob es dafür Kurse gibt?
Was ich mich wirklich frage: Wo leben denn diese Leute, die Taschengeldempfehlungen aussprechen, unter denen dann ganze Generationen zu leiden haben? Waren die noch nie im Kino oder haben sich eine CD gekauft? Kann man die mal sprechen? Ihnen mal erklären, wie die Welt heute läuft? Was sie uns antun? Oder sie wenigstens anpumpen?
Zwanzig Euro für das Stinkzeug zu bezahlen bedeutet demnach fast drei Wochen Taschengeld an Max abdrücken. Ich könnte kotzen!
»Leider« - haha, von wegen leider! - »habe ich kein Geld, Max«, habe ich gesagt und konnte ein kleines Grinsen nicht unterdrücken. »Pech für dich!« Pickelgesicht wurde sauer. Er hat voll auf die Tränendrüse gedrückt. Schade, dass das seine ach-so-coolen Freunde nicht sehen konnten. Der hat hier rumgeflennt wie ein Dreijähriger. Ich bin in mein Zimmer gerannt und habe meine Kamera geholt. So schnell konnte der gar nicht mit Flennen aufhören, da hatte ich schon ein Foto gemacht. Jetzt habe ich den in der Hand! Wenn ich das ausdrucke und rumzeige, ist er geliefert.
Er rief nach Mama. Schade, dass ich keine Tonaufnahmen machen kann. Das wäre ja der Knüller gewesen. Ein heulender Max, der nach Mama schreit. Peinlicher geht's ja wohl kaum noch!
Karl, die kleine Qualle, übernahm das Petzen: »Charlotte hat Max fotografiert!«
Da musste ich das Foto löschen und mich entschuldigen. Außerdem hat meine Mutter diesem jammerigen Etwas versprochen, dass er die zwanzig Euro von ihr kriegt und sie mir dafür kein Taschengeld zahlt. Das ist wirklich super gelaufen heute.
»Ihr seid so was von gemein und parteiisch!«, habe ich versucht mich zu wehren, und im Gegensatz zu meinem Bruder habe ich es geschafft, nicht zu heulen. Immerhin. Ich hätte ja echt einen Grund dafür gehabt. Aber das Sandwich kann sich beherrschen. Die Blöße habe ich mir nicht gegeben. Und vor allem den anderen nicht die Genugtuung.
»Geh du mal. Das war nicht okay von dir, Charlotte!«, konterte meine Mutter, und das Sandwich konnte gehen! Toll. Ich war noch nicht mal im Bus, und der Tag war gelaufen. Allerdings bleibt eine klitzekleine geheime Freude: Ich habe mehrfach auf den Auslöser der Kamera gedrückt. Mit anderen Worten: Ich habe Bilder von der Pickelheulsuse! Und ich werde sie verwenden. Großer Bruder hin oder her. Wäre er ein bisschen netter, wäre ich es vielleicht auch. So kann der mich mal. Dem zahle ich es heim!
Der Rest dieses Vormittags verläuft ähnlich gut, wie er angefangen hat. In Erdkunde eine Vier, und Geraldine verteilt mit großer Geste Einladungen zu einer Chill-out-Party an nahezu alle. Bis auf mich und acht andere. Man könnte uns auch einen Stempel auf die Stirn drücken: Looser. Die, die keiner will! Es wäre fast einfacher gewesen, Zettel an die zu geben, die nicht geladen sind.
»Bringt ruhig Schwimmsachen mit!«, ruft die Kackbratze durch die ganze Klasse, und ich würde am liebsten in den Tisch beißen, tue aber so, als wäre ich froh, da nicht hinzumüssen.
Leonora gibt Geraldine die Einladung zurück. Man sieht ihr die große Trauer darüber an. »Ich kann nicht, meine Oma hat achtzigsten Geburtstag. Vielleicht kann ich meine Eltern überreden, damit ich zu dir kann, aber ich glaube nicht, dass es klappt. Da sind die voll streng. So eine Scheiße. Verdammt!«
Sie ist wirklich betrübt, und würde man ihr einen Deal anbieten - Oma stirbt rechtzeitig vor ihrem Achtzigsten, und du darfst auf die Party -, ich glaube, sie würde annehmen.
Geraldine, die Königin, nimmt die Einladung zurück, zieht erstaunt die Augenbrauen hoch (sie ist schließlich nicht gewohnt, einen Korb zu bekommen! Und vor allem auch nicht, für eine Achtzigjährige versetzt zu werden!) und lässt ihren Blick über die Klasse kreisen. Dann passiert ein Wunder. Sie kommt auf mich zu und streckt mir die Einladung hin. »Dann komm halt du, Charlotte«, sagt sie und reicht mir mit einem Ausdruck allerhöchster Gnade das Stück Papier.
Stück Papier ist natürlich völlig untertrieben. Als sie bemerkt, wie ich dieses aufwendige Etwas zum Aufklappen bestaune, sagt sie nur lapidar: »Das ist ein Flyer. Macht man so bei größeren Events.«
Jetzt könnte ich richtig auftrumpfen. Ihr den Flyer wieder zurückgeben und sagen Ich habe schon was vor! Ein anderes viel größeres Event, oder so ähnlich. Das wäre wirklich konsequent. Leider ist Konsequenz nicht meine Stärke, ich weiß, es ist irgendwie erniedrigend, aber immerhin: Ich bin eingeladen. Im Stillen bedanke ich mich bei Leonoras Oma und wünsche ihr ein langes Leben. Jedenfalls mindestens bis zur Party.
Schon in der nächsten großen Pause geht es nur noch darum, was man Königin Geraldine schenken könnte. Und was man am besten anzieht. Für alle, die nicht eingeladen sind, natürlich total ätzend. Für die anderen (wie mich!!!) megawichtig.
Die Party ist in zwölf Tagen. Samstagabend. Neunzehn Uhr. Maja, meine Freundin, die keine Einladung hat, ist beleidigt. Sie kann nicht verstehen, dass ich echt vorhabe, auf diese Party zu gehen.
Ich tue so cool wie möglich: »Ich will doch nur mal sehen, was die da machen. Ist eine Art Undercovereinsatz! Mehr nicht.«
Sie findet, ich hätte diese Almoseneinladung auf keinen Fall annehmen dürfen. Es fallen Worte wie demütigend und peinlich. Hätte sie die übrig gebliebene Einladung bekommen, wäre sie auf keinen Fall hin, schon weil ich keine bekommen habe, ist ihre Argumentation. Klingt super, ist aber zu hundert Prozent gelogen. Das wissen wir beide, ich habe ihren sehnsüchtigen Blick auf den Flyer gesehen.
Umgekehrt hätte ich es auch voll fies von ihr gefunden, aber es ist nun mal nicht umgekehrt!
»Ich erzähle dir alles!«, verspreche ich ihr, aber sie ist richtig angewidert.
»Wenn du da hingehst, kannst du mich mal!«, kontert sie.
Das finde ich jetzt wieder etwas übertrieben. Ich meine, Maja ist meine beste Freundin, und die könnte mir ja wohl mal was gönnen. Von einer besten Freundin kann man das doch erwarten. Ich hätte es ihr gegönnt. Also, ich hätte es jedenfalls versucht. Ob ich es geschafft hätte, ist eine andere Frage.
»Soll ich jetzt wegen dir absagen, oder was?«, frage ich noch mal nach und hoffe natürlich, dass sie sich besinnt.
»Ja!«, sagt sie nur und schaut mich wütend an. Das grenzt ja fast an Erpressung.
»Aber was nützt dir das, wenn ich auch nicht gehe?«, hake ich nach.
»Schleimerin!«, zischt sie und dreht mir den Rücken zu. Sie gesellt sich zu den restlichen sieben, die nicht geladen sind. Ein bedauernswerter Haufen.
Warum kann in meinem kleinen Leben nicht mal was glattlaufen? Da hätte ich tatsächlich mal Grund zur Freude, und dann versaut mir ausgerechnet meine beste Freundin alles. Nachdem die Schule aus ist, sagt sie nicht mal Tschüs. Mann, ist die beleidigt.
Im Bus schaue ich mir die Einladung noch mal ganz genau an. Ein Hammer. Sie ist glänzend pink, wie gelackt, und außen steht mit großer Glitzerschrift Geraldine fourteen drauf. Wusste gar nicht, dass die Kackbratze englischer Herkunft ist. Ist ja eigentlich auch gar nicht so eine Kackbratze. Ich meine, sie hat mich eingeladen. Das spricht ja durchaus für ihren guten Geschmack. Dass sie eigentlich lieber wollte, dass Leonora kommt, habe ich erfolgreich verdrängt, also besser, ich versuche gar nicht mehr, dran zu denken. Und jetzt, wo sie mich eingeladen hat, wird sie bestimmt merken, dass ich viel cooler bin, als man auf den ersten Blick ahnt. Die Frage ist nur, wie ich Maja beruhigen kann. Total blöd von der, das Theater. Ich kann mich gar nicht so freuen, wie ich mich gerne freuen würde. Ich hoffe, sie regt sich noch ab.
Heute gibt's Fisch. Nicht unbedingt mein Lieblingsessen. Hat meine Mutter garantiert extra gemacht wegen der Parfümgeschichte heute Morgen. Dazu Rosenkohl. Fast noch fieser als dieser labbelige weiße Fisch.
»Ich will nur Kartoffeln!«, sage ich entschieden.
»Du isst auch ein bisschen Fisch und Gemüse!«, bestimmt meine Mutter. »Der war teuer und ist irre gesund, du bist in einem Alter, in dem du Eiweiß brauchst.«
Pickel-Max freut sich. Einfach nur, weil ich es abkriege. Jungs sind wirklich leicht zu erheitern. Echt schlicht. Wenn der das mit dem Foto wüsste, würde er bestimmt aufhören, so hohl zu grinsen. Dass wir dieselben Eltern haben, ist unvorstellbar. Was für ein Volltrottel. Wenn der morgen verschwunden wäre, würde mir das echt nichts ausmachen.
Um ihn zu ärgern, zeige ich meine Einladung zur Party. Und tatsächlich, er hört auf zu grinsen. Ist richtig beeindruckt.
»Ich denk, die kann dich gar nicht leiden?«, fragt er erstaunt und scheint fast zu vergessen, dass wir zwei Streit haben.
»So viel zu deinem Denken«, sage ich nur und fühle mich super.
Er guckt neidisch. »Kannst du mich mitnehmen?«, fragt er dann tatsächlich.
Ich meine, der tickt doch nicht richtig. Wie kommt der auf so eine wahnwitzige Idee? »Lieber hätte ich einen Pickel mitten auf der Nase!«, antworte ich und fange an zu grinsen. So schnell kann sich die Lage verschieben.
Mama wird sauer. »Ich bin euren ständigen Streit wirklich leid«, beginnt sie ihren Vortrag, und wir beide wissen, wie das weitergeht: »Ihr seid Geschwister, da sollte man zusammenhalten ...«
Blablabla, laber, rhabarber ...! Hab ich mir den vielleicht ausgesucht? Wollte ich einen Max? Hat mich da jemand gefragt? Großer Bruder klingt toll, aber das, was da neben mir beleidigt am Tisch sitzt, ist wohl kaum das, was man unter einem großen Bruder versteht. Schon das Wort groß im Zusammenhang mit dem Pickelzwerg ist ja ein Witz. Große Brüder sind cool, haben coole Freunde und machen coole Sachen. Sind so Surfertypen, braungebrannt, mit tiefsitzenden Hosen und Six-Pack-Bauch. Max mag Physik, trägt Cordhosen und ist das, was man einen kompletten Nerd nennt. Er hat nicht mal eine Freundin. Wie auch? Die müsste ja blind und taub sein. Und bei seinem Parfümverbrauch am besten auch noch ohne Geruchssinn.
»Zeig mal die Einladung her!«, fordert Mama mich auf und unterbricht meine Gedanken. »Chill-Out und Nacktschwimmen, also, ich weiß nicht. Das ist ja nun nicht das, was man altersadäquat nennen würde«, empört sie sich direkt.
Denkt die vielleicht, Topfschlagen und Reise nach Jerusalem wären angemessen? Oder Würstchenschnappen und Schnitzeljagd? Vielleicht auch Eierlauf oder Mumienwickeln? Meine Mutter ist wirklich nicht unnett, jedenfalls für eine Mutter, aber so was von altmodisch. Die will einfach nicht kapieren, dass wir keine fünf mehr sind. Bis auf Karl natürlich. Außerdem steht in der Einladung nichts von Nacktschwimmen sondern Nachschwimmen!
Ich kläre sie über den Irrtum auf und teile ihr direkt mit, dass ich für den Event einen neuen Bikini brauche. Sie lacht. Als hätte ich einen irren Witz gemacht. Ich weiß nicht, was an dieser Bemerkung komisch war, aber sie kann sich kaum halten.
»Mal langsam, Lottchen, ich muss erst mal mit deinem Vater besprechen, ob ihr da überhaupt hingehen dürft!«
Das kann ja nicht ihr Ernst sein. Erster Fehler: der Plural. Sie hat ihr gesagt.
»Mama, es ist nur meine Einladung!«, wage ich eine kleine Korrektur. »Und ich muss gehen! Das geht gar nicht anders. Alle gehen!« «
»Kommt Maja auch?«, fragt meine Mutter.
Jetzt fragt die ausgerechnet nach Maja. Nur sieben sind nicht eingeladen, und zielsicher pickt Mama sich eine von denen raus. Wenn ich jetzt nein sage, wird das Ganze noch schwieriger.
»Klar«, behaupte ich, »so gut wie die ganze Klasse kommt. Es ist quasi eine Klassenparty.«
»Aber ich dachte, du magst diese Geraldine gar nicht besonders?«, geht die Fragerei weiter.
»Da hast du was verwechselt, Geraldine ist total cool. Außerdem gehen alle.«
Mama runzelt die Stirn und guckt unentschieden. »Wir werden sehen, Charlotte. Ich rede mit Papa drüber.« Ich glaube, das mit dem Schwimmen macht ihr Sorgen. Neben ihrer Angst vor herabfallenden Ästen und abgefahrenen Fingern beim Schlittschuhlaufen findet sie nämlich auch Wasser ausgesprochen furchteinflößend. Sie würde uns am liebsten noch heute, trotz goldenem Schwimmabzeichen, Flügelchen anziehen, sobald wir uns einer Pfütze auch nur nähern. Oder wenigstens solche Badeanzüge mit Styropor drin.
Mir fällt Erdkunde ein. Die Scheiß-Vier. Wenn ich die jetzt zücke, ist das kein Joker. Ich muss sehen, dass ich sie heute Abend Papa unterschiebe. Vielleicht, wenn er schon einen Rotwein intus hat. Ich lasse jedenfalls nicht zu, dass mir eine Erdkunde-Vier alles kaputtmacht.
Jetzt die Vier zu präsentieren wäre eh heikel, weil Max mal wieder eine Eins in Physik geschrieben hat. Neben einem Superstreber wie Max sieht man selbst mit einer Zwei nicht glänzend aus. Eine Vier ist für meine Eltern richtig schlecht. Dabei bedeutet Vier an sich ja ausreichend. Und ausreichend, sagt ja schon das Wort: reicht aus. Besonders in Erdkunde. Wofür muss ich wissen, wie das Klima im Regenwald ist? Glaube nicht, dass wir da je hinfahren, also stellt sich die Frage, ob ich einen warmen Pulli mitnehmen muss, ja gar nicht. Auch Erdschichten und Erosion sind mir so was von schnuppe. Bin ich ein Maulwurf, oder was?
Dummerweise findet mein Vater Erdkunde richtig interessant. »Man sollte schon wissen, wo man lebt!«, argumentiert er gerne. Weiß ich doch. In Götzenhain. Und dass hier nichts ist, kann ich ohne Erdkunde auch gerade noch erkennen.
»Iss deinen Fisch, Charlotte!«, ermahnt mich meine Mutter, und ich denke an die Party und schiebe mir tapfer noch zwei Gabeln rein.
Max betont mehrfach, wie lecker der Fisch ist. Ein Fünfzehnjähriger, der seine Mutter vollschleimt. Es schüttelt mich.
»Jetzt bin ich aber so was von satt!«, behaupte ich, und tatsächlich hat meine Mutter ein Einsehen, und ich kann den Rest liegenlassen.
Ich schiebe meinen Teller in Richtung Max und frage,
ob er noch was will. »Dir schmeckt es doch so toll, nimm ruhig!«, sage ich ganz, ganz freundlich.
»Von dir nicht!«, antwortet er und fängt dafür auch mal einen strengen Mutterblick.
»Ich muss Hausaufgaben machen!«, sage ich und darf in mein Zimmer. Heute ist Max mit Tischabräumen dran. Immerhin, so modern sind meine Eltern schon. Auch Jungs müssen helfen. Wäre ja auch noch schöner!
Natürlich mache ich nicht direkt Hausaufgaben, sondern fange an zu überlegen, wie ich bei der Party auflaufen werde. Ich brauche auf jeden Fall was Neues zum Anziehen. Und einen Bikini. So einen mit Push-up-Dingsbums. Wenn man schon kaum Brust hat, muss das ja nicht jeder merken. Und Strähnchen wären super. Geraldine hat Strähnchen. So goldglänzende. Blond natürlich. »Highlights heißen die!«, hat sie uns Unwissenden in der Klasse mitgeteilt. Und ich muss die Nägel lackieren. Auch die Fußnägel. Und die Beine enthaaren. Gut, viele Haare sind da nicht, aber - das weiß ich nun definitiv - Haare an den Beinen haben nur Tiere und Müslimädchen. Also so Öktussen. Und ich. Weil meine Mutter das lächerlich findet, dass sich Knapp-Vierzehnjährige die Beine enthaaren. Sie wacht über meine Haare, als wären es ihre. Sie selbst allerdings enthaart ihre Beine. »Das ist was anderes, Lottchen! Sei mal froh, dass du das noch nicht machen musst!«, wollte sie mich trösten. Argumentativ eher schwach.
Was solche Dinge angeht, kann sich meine Mutter sowieso voll anstellen. Auch Schminke findet sie unnötig. »Du hast so jugendlich schöne Haut, die musst du dir doch nicht zukleistern!«, ist ihr Hauptargument. Natürlich schminke ich mich trotzdem. Eben erst, wenn ich das Haus verlassen habe. Da spare ich mir morgendliche Diskussionen. Ich weiß auch gar nicht, warum sie so rumzickt. Ich nehme nur Wimperntusche, Kajal und Lipgloss. Make-up habe ich gar keins. Aber vielleicht sollte ich mir welches für die Party besorgen. Wasserfestes am besten. Und ich brauche ein richtig fettes Geschenk.
Meine Eltern finden Bücher die besten Geschenke. Am liebsten kaufen sie welche, die auf so Empfehlungslisten stehen. Pädagogisch wertvoll. Evangelischer Jugendbuchpreis und so was. Was übersetzt so viel heißt wie: saulangweilig. Wenn ich bei Geraldine mit so einem Teil ankomme, wäre das ja so, als würde ich mich beim Fußball absichtlich ins Abseits stellen. Geraldine liest Glamour und InStyle. Sie hat sogar ein Abo. Für beide! Was will die denn mit Krabat, Tintenherz oder Ronjas Räubertochter? Allein der Gedanke: peinlich. So kindisch.
Ein Gutschein für Douglas oder so wäre cool. Oder was von Zara. Dafür brauche ich allerdings Geld. Da reichen die zwölf Euro fünfzig, die meine Eltern für ein Geschenk in der Regel zahlen, nicht. Und mein Taschengeld der nächsten Wochen wird ja gepfändet. Für den Pickelzwerg. Phantastisch. Ich brauche einen Push-up-Bikini, Strähnchen, wasserfestes Make-up und haarlose Beine und alles in den nächsten zwei Wochen. Ohne auch nur einen Euro zu haben. Eine ganz besondere Herausforderung. Nicht zu vergessen, die Unterschrift unter meiner Erdkunde-Vier.
Wo soll ich bloß das Geld herkriegen? Letztlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Geld verdienen oder klauen. Geld verdienen wäre natürlich besser. Aber wie? Mithilfe im Haushalt? Auf Karl aufpassen? All das, was ich sowieso schon tue. Und zwar bisher unbezahlt. Meine Eltern finden dummerweise, dass solche Tätigkeiten eine Selbstverständlichkeit sind. Es sich quasi gehört, als Familienmitglied etwas zum Haushalt beizusteuern. Insofern wird es verdammt schwierig werden, ihnen zu verklickern, dass ich ab sofort gerne Geld dafür hätte. Ich glaube, schwierig ist untertrieben. Es ist unmöglich. Die werden im Leben nicht zahlen. Also muss ich was finden, das nicht selbstverständlich für meine Eltern ist. Leider wachsen Jobs für Dreizehnjährige nicht auf Bäumen. Im Gegenteil. Die Möglichkeiten sind sehr beschränkt: Nachhilfe geben, Hunde ausführen oder Zeitungen austragen. Nachhilfe kann ich haken. Wer will sich von mir schon unterrichten lassen. Vor allem in welchem Fach? Womöglich Erdkunde???
Also bleiben zwei Möglichkeiten des Geldverdienens: Hunde gassiführen oder Zeitungen austragen. Beides lockt mich nicht besonders. Ich mag Hunde, habe aber ein bisschen Schiss, sobald sie größer als ein Meerschweinchen sind. Kommt natürlich von meiner Mutter. Die hat sogar Angst vor Hamstern. Angeblich, sagt jedenfalls meine Mutter, können die ihre kleinen, aber sehr spitzen Zähne in der menschlichen Haut verkeilen und ganze Fleischbatzen rausreißen. Als wir mal Meerschweinchen hatten, nach langem jahrelangen Haustiergebettel, hat meine Mutter Handschuhe getragen, wenn sie sich dem Käfig auch nur genähert hat. Was Hunde angeht, ist meine Mutter echt behandlungsbedürftig. Sie ist der festen Überzeugung, dass sich selbst die liebsten Hunde von einer zur nächsten Sekunde in tolldreiste Bestien verwandeln können. Wer's glaubt! Außerdem, wie schon erwähnt, hasse ich Spazierengehen. Aber bei guter Bezahlung würde ich mich eventuell überwinden, und wenn es nicht so ein Riesenvieh ist, sollte ich es doch schaffen. Zeitungen austragen ist (habe ich jedenfalls gehört) mies bezahlt, und man muss sich fast nachts aus dem Bett quälen. Frühes Aufstehen finde ich mindestens so ätzend wie Spazierengehen. Ich glaube auch nicht, dass meine Eltern erlauben würden, dass ich vor der Schule zum Zeitungenverteilen durch die Straßen ziehe.
Eine weitere Möglichkeit wäre: klauen. Kein Bereich, in dem ich besonders viel Erfahrung habe. Im Laden habe ich noch nie was mitgehen lassen. Maja, meine - bis gestern - beste Freundin, macht das ab und an. Ich traue mich einfach nicht. Der Gedanke, erwischt zu werden, ist zu schrecklich.
Maja hat mich deshalb schon oft ausgelacht. Sie findet es völlig in Ordnung, manchmal was zu klauen. »Ich nehme ja nur kleine Sachen, das macht so einem Kaufhaus doch nichts. Die haben doch massenweise Zeug. Außerdem klaue ich nur in großen Läden. Bei kleinen fände ich das mies«, argumentiert Maja.
Einmal war ich dabei, als sie einen Lidschatten geklaut hat. Sie hat ihn mir blitzschnell vorne in den Kapuzenpulli gestopft. Ich habe gedacht, ich bekomme einen Herzstecker.
»Nimm das da wieder raus!«, habe ich sie angezischt, aber sie hat nur gelacht und gesagt: »Nachher gerne!«
Ich habe, obwohl es draußen höchstens dreizehn Grad war, geschwitzt wie nur was und bis auf die Straße ständig gedacht, gleich packt mich der Kaufhausdetektiv, und dann müssen mich meine Eltern hier oder bei der Polizei abholen. Kein besonders schöner Gedanke. Ich glaube nicht, dass meine Eltern das witzig finden würden.
Maja hat sich fast kaputtgelacht über meine Panik, mir aber dann versprochen, nicht mehr zu klauen, wenn ich dabei bin. »Du bist eh nicht die richtige Klaupartnerin. Zu uncool. Man merkt es dir zu sehr an.«
Maja sieht das mit dem Klauen anders als ich. Mehr so als ausgleichende Gerechtigkeit. »Ich kann ja nichts dafür, dass ich als Kind von armen Schluckern geboren bin«, sagt sie. »Wäre ich eine reiche Kackbratze wie Geraldine, dann würde ich auch nicht klauen! Ich bin gar keine Diebin, sondern eigentlich eine Kommunistin! Oder eine Art Robin Hood in weiblich.«
Das klingt erst mal ganz einleuchtend, so eine Art Umverteilungsprinzip, aber, ehrlich gesagt, ist Maja ja nun auch nicht wirklich arm. Ihr Vater hat sogar einen ziemlich neuen BMW. Er ist Ingenieur. Also, arm ist irgendwie was anderes. Wenn sie vor lauter Hunger ab und an Lebensmittel stehlen würde, dann könnte ich es schon verstehen. Oder alles, was sie klaut, an wirklich Arme verschenken würde. Aber Lidschatten? Gibt es ein Anrecht auf den Besitz von Lidschatten? Tragen Kommunisten überhaupt Lidschatten? Kann ich mir nicht vorstellen.