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Very British - drei England-Krimis in einem Band.
Diese E-Book-Sonderausgabe beinhaltet die ersten drei Fälle der Cosy Crime Serie ′Cherringham - Landluft kann tödlich sein′ - ein Muss für Fans von Miss Marple und Sherlock Holmes!
Mord an der Themse
Cherringham - eine beschauliche Kleinstadt in den englischen Cotswolds. Ein Ort, an dem das Verbrechen unbekannt ist. Bis eines Tages die Leiche einer jungen Frau in der Themse gefunden wird. Ein schrecklicher Unfall - zumindest laut der Polizei. Sarah glaubt jedoch nicht daran. Zusammen mit Jack, einem ehemaligen Detective der New Yorker Mordkommission, beginnt sie zu ermitteln. Dabei müssen sie feststellen, dass die Dinge nicht so klar sind, wie die Polizei das gerne hätte -
Das Geheimnis von Mogdon Manor
Der Eigentümer des herrschaftlichen Mogdon Manor stirbt bei einem mysteriösen Feuer. Ein tragischer Unfall? Jack und Sarah bezweifeln das - Als mögliche Erben kommen die drei erwachsenen Kinder des Opfers in Frage. Hat einer von ihnen das Feuer gelegt, um frühzeitig an sein Erbe zu kommen?
Mord im Mondschein
Die Proben für das jährliche Cherringham Charity Christmas Konzert laufen auf Hochtouren. Doch plötzlich stirbt Kirsty Kimball, eine der Sängerinnen. Todesursache: eine allergische Reaktion auf die selbstgebackenen Kekse des Chors. Jack, der für Kirsty als Sänger einspringt, glaubt nicht an einen Unfall. Gemeinsam mit Sarah beginnt er zu ermitteln. Schon bald müssen sie erkennen, dass sich hinter den freundlichen Gesichtern der Chormitglieder eine Welt aus Missgunst und Rivalität verbirgt -
Jack und Sarah ermitteln weiter - jeden Monat erscheint ein neuer, in sich abgeschlossener Fall mit Cherringhams Ermittlerduo.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 413
Cover
Cherringham – Landluft kann tödlich sein – Die Serie
Über dieses Sammelband
Die Autoren
Die Hauptfiguren
Sammelband I
Impressum
Mord an der Themse
Das Geheimnis von Mogdon Manor
Mord im Mondschein
Im nächsten Sammelband
»Cherringham – Landluft kann tödlich sein« ist eine Cosy Crime Serie, die in dem vermeintlich beschaulichen Städtchen Cherringham spielt. Jeden Monat erscheint sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch ein spannender und in sich abgeschlossener Fall mit dem Ermittlerduo Jack und Sarah.
Dieses Sammelband beinhaltet die ersten drei Cherringham-Fälle:
Cherringham – Mord an der ThemseCherringham – Das Geheimnis von Mogdon ManorCherringham – Mord im Mondschein
Matthew Costello ist Autor erfolgreicher Romane wie Vacation (2011), Home (2014) und Beneath Still Waters (1989), der sogar verfilmt wurde. Er schrieb für verschiedene Fernsehsender wie die BBC und hat dutzende Computer- und Videospiele gestaltet, von denen The 7th Guest, Doom 3, Rage und Pirates of the Caribbean besonders erfolgreich waren. Er lebt in den USA.
Neil Richards hat als Produzent und Autor für Film und Fernsehen gearbeitet sowie Drehbücher für die BBC, Disney und andere Sender verfasst, für die er bereits mehrfach für den BAFTA nominiert wurde. Für mehr als zwanzig Videospiele hat der Brite Drehbuch und Erzählung geschrieben, u.a. The Da Vinci Code und, gemeinsam mit Douglas Adams, Starship Titanic. Darüber hinaus berät er weltweit zum Thema Storytelling.
Bereits seit den späten 90er Jahren schreibt er zusammen mit Matt Costello Texte, bislang allerdings nur fürs Fernsehen. Cherringham ist die erste Krimiserie des Autorenteams in Buchform.
Jack Brannen ist pensioniert und frisch verwitwet. Er hat jahrelang für die New Yorker Mordkommission gearbeitet. Alles was er nun will ist Ruhe. Ein Hausboot im beschaulichen Cherringham in den englischen Cotswolds erscheint ihm deshalb als Alterswohnsitz gerade richtig. Doch etwas fehlt ihm: das Lösen von Kriminalfällen. Etwas, das er einfach nicht sein lassen kann.
Sarah Edwards ist eine 38-jährige Webdesignerin. Sie führte ein perfektes Leben in London samt Ehemann und zwei Kindern. Dann entschied sich ihr Mann für eine andere. Mit den Kindern im Schlepptau versucht sie nun in ihrer Heimatstadt Cherringham ein neues Leben aufzubauen. Das Kleinstadtleben ist ihr allerdings viel zu langweilig. Doch dann lernt sie Jack kennen …
Matthew CostelloNeil Richards
CHERRINGHAM
LANDLUFT KANN TÖDLICH SEIN
Sammelband I
Folge 1: Mord an der ThemseFolge 2: Das Geheimnis von Mogdon ManorFolge 3: Mord im Mondschein
beTHRILLED
Digitale Originalausgabe
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG
Übersetzung: Sabine Schilasky
Textredaktion: Dr. Arno Hoven
Projektmanagement: Michelle Zongo
Titelillustration: © shutterstock: Buslik | Andy Poole | Adam Fraise | Perfect Vectors | Longjourneys | Peter Gudella | Paul Matthew Photography
Titelgestaltung: Jeannine Schmelzer
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-0571-5
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Matthew CostelloNeil Richards
CHERRINGHAM
LANDLUFT KANN TÖDLICH SEIN
Mord an der Themse
Aus dem Englischen von Sabine Schilasky
Mrs. Louella Tidewell – für ihre besseren Freunde schlicht »Lou« – klappte ihren Mantelkragen hoch, als ihr eine kalte Windböe vom Fluss entgegenblies. Brady, ihr Golden Labrador, rannte über die große Wiese und würde es wohl schon schaffen, so hoffte Lou, den Haufen von Pferdeäpfeln auszuweichen.
Labbis, dachte sie nicht zum ersten Mal, sind doch ausgesprochen klug.
Und wie gut ihr Bradys Gesellschaft tat, seitdem Mr. Tidewell das Zeitliche gesegnet hatte, was recht plötzlich geschehen war: In dem einen Moment hatte er noch seine Zeitung gelesen, ein Glas Sherry neben sich, und im nächsten seine Augen geschlossen – und er war tot.
Und hatte Lou allein zurückgelassen. Sie mochte viele Freunde haben, aber das war nicht ganz dasselbe, nicht wahr?
Nun ging sie weiter und schlenderte näher am Fluss entlang, der unweit des kleinen Ortes vorbeifloss. An den wenigen sonnigen Sommertagen war die Themse wunderschön, jetzt hingegen so dunkel und grau, dass sie an diesem bewölkten Morgen beinahe unheimlich wirkte.
»Ich glaube nicht, dass wir heute noch Sonne kriegen«, sagte Lou.
Es störte sie nicht, dass sie Selbstgespräche führte, wenn sie allein war. Sich selbst gegenüber konnte sie ja jederzeit behaupten, sie würde mit Brady reden, wie sie es zu Hause auch tat.
Sie drehte sich zu ihm um und bemerkte, dass der Hund unvermittelt stehen geblieben war, als hätte er ein verirrtes Kaninchen entdeckt. Vielleicht war er auch bloß in einer uralten Erinnerung an ein früheres Leben als Jagdhund versunken.
Fast sah es so aus, als wollte er auf die lang gezogene Biegung hinweisen, an der sich die Themse verbreiterte. Dort befand sich ein Wehr, allerdings strömte das Wasser selbst in dem Kanal daneben immer noch schnell, besonders nach starken Regenfällen. Und zurzeit haben wir wahrlich mehr furchtbare Wolkenbrüche, als wir verdienen, dachte Lou.
»Was ist denn, Brady? Gibt es etwas zu jagen?«
Doch anstatt loszurennen und zu erforschen, was immer er entdeckt haben mochte, kam Brady zu ihr zurück und umkreiste sie. Eine weitere Windböe traf sie, und instinktiv fasste Lou sich an den Hals, um zu überprüfen, ob sie ihren Mantel auch tatsächlich bis ganz oben zugeknöpft hatte.
Brady winselte.
Komisch. Eigentlich gab er nur dann ein Winseln von sich, wenn er rauswollte, um sein Geschäft zu erledigen.
Plötzlich sprang Brady wieder weg. Es waren jedoch nur wenige Schritte – als forderte er sie auf, ihm zu folgen. Am liebsten wäre Lou umgekehrt und nach Hause gegangen, zurück in die Wärme. Unvermittelt musste sie an eine schöne Tasse englischen Frühstückstee und eine getoastete Scheibe Mehrkornbrot von der örtlichen Bäckerei Huffington’s denken. Lou würde den Toast mit Marmelade und – warum nicht? – mit Butter bestreichen. Und anschließend die Zeitung lesen.
Ja, genau das war es, wonach ihr der Sinn stand.
Aber da Brady sich so seltsam benahm, ging sie stattdessen in die Richtung, in die er sie scheinbar führen wollte. Der Labrador lief nun mit einer Ungeduld voran, die Lou nicht teilen konnte.
Sie musste aufpassen, wo sie hintrat, und das nicht allein wegen der Pferdeäpfel. Jenseits des Uferwegs sah der Boden zwar eben aus, war aber in Wahrheit voller Furchen und Vertiefungen, die vom dichten, hohen Gras verdeckt wurden. Zudem bog der frische Morgenwind die Halme über die Stolperfallen.
»Ist ja gut, Brady«, sagte sie zu dem kläffenden Hund. »Ich komme ja, es geht nur nicht so schnell.«
Sie holte Luft und spürte förmlich, wie die morgendliche Kälte im Innern ihrer Brust haften blieb.
Inzwischen stürmte Brady vorwärts. Sie waren nahe der Flussgabelung, wo ein Arm nach rechts zum Wehr ging, während der linke sich weiter zu den anderen Dörfern schlängelte, an denen er träge vorbeifloss.
Die mächtige Themse war hier in der Region nichts als ein verschlafenes Flüsschen.
Brady war stehen geblieben, und abermals sah er wie versteinert aus. Er stand stocksteif da und blickte hinüber zum Wehr. Seine Augen fixierten etwas im flachen Bereich des Wassers, das dort schäumte und blubberte.
Lou holte ihren Hund ein, streckte eine Hand nach unten und strich ihm ruhig über den Kopf.
»Ich habe keine Ahnung, was du da siehst, mein Freund. Auf der anderen Seite könnten Kaninchen sein, aber …«
Sie verstummte.
Zuerst war es einer dieser Momente, die sich mit dem Alter häuften. Man sah etwas und – wie es Lou jetzt immer häufiger passierte – sagte dann spontan: »Ah, das ist ja ein …« Und man glaubte, es wäre dieses oder jenes, bis man näher heranschritt, genauer hinblickte und zu der Auffassung gelangte, dass es sich doch um etwas anderes handelte.
Solch einen Moment schien Lou nun zu haben, da sie dachte, einen Kleiderfetzen zu sehen: glänzend, funkelnd, festlich irgendwie – glitzernd im trüben Morgenlicht und mit der Wasseroberfläche um die Wette schimmernd.
Lou ging näher heran. Und dann erkannte sie, dass es sich tatsächlich um Kleidung handelte.
Eine Art Rock. Und etwas stumpf Wirkendes, aber eindeutig Weißes. Eine Bluse.
Ihr Verstand ergänzte blitzschnell die Einzelheiten. Womöglich begriff ein Teil von ihr, was sie hier erblickte, noch bevor sie sich dessen richtig bewusst wurde.
Ein schlammig brauner Bereich entpuppte sich als ein nach unten geneigter Kopf, bei dem das Kinn an der Brust lag, sodass Gesicht und Augen verborgen waren.
Und als Lou das bewusst wurde, dämmerte ihr langsam, was sie sonst noch erkennen konnte: Arme, die aus einer Bluse ragten. Der eine von ihnen war fast horizontal zum Körper – seine Finger zeigten träge nach Osten -, der andere baumelte im rauschenden Wasser, die Hand unter der Oberfläche versteckt.
»Du lieber Himmel!«, entfuhr es Lou.
Brady hatte gewimmert, aber auf den Klang ihrer Stimme hin drehte er sich zu ihr und blickte sie an. Lou kam es vor, als würde er traurig gucken, so als wüsste er, dass das hier nicht gut war.
Normalerweise ließ sie ihren Hund auf dem Weg zurück ins Dorf frei laufen und nach Belieben herumschnüffeln, bis sie ihr kleines Cottage in der Nähe des Marktplatzes erreichten. Jetzt aber holte sie aus ihrer Tasche die Leine und klickte sie an Bradys abgewetztes Halsband.
Auch wenn er zog und zerrte: Sie wollte ihn an ihrer Seite haben, während sie ins Dorf zurücklief – zur Polizei, um ihre Entdeckung zu melden.
Sarah schaltete den Fernseher aus.
»Auf geht’s, Leute, sonst kommt ihr noch zu spät. Schnappt euch eure Taschen und die Brotdosen. Schnell, wir müssen los.«
Während sie die Müslischalen in der Spüle übereinanderstellte, beobachtete Sarah, wie ihre beiden Kinder, die dreizehnjährige Chloe und der zehnjährige Daniel, langsam auf den Flur zuschlurften. Zwar beklagten sie sich nicht sonderlich über die Schule, aber besonders begeistert wirkten sie morgens auch nicht.
Und Chloe schien mit jedem Tag verschlossener zu werden.
Erinnert mich an mich selbst in dem Alter, dachte Sarah. Mensch, war ich schwierig! Sie blickte sich rasch in der Küche um, denn sie wollte sichergehen, dass alle Elektrogeräte ausgeschaltet waren. Erst vor wenigen Wochen hatte eine alte Dame in einer der betreuten Wohnungen am anderen Dorfende ihren Toaster angelassen – mit dem Resultat, dass ihre Wohnung, nun ja, getoastet worden war.
Sarah hatte sich angewöhnt, alles doppelt und dreifach zu überprüfen. Sicher ist sicher. Das hätte ich auch bedenken sollen, bevor meine schöne Ehe in die Brüche ging. Da vertraut man blind darauf, ein glückliches Paar zu sein, und dann kommen plötzlich die ganzen Affären des Partners ans Tageslicht. Und was bleibt? Ein Klischee: zwei Kinder und eine alleinerziehende Mutter »in einem gewissen Alter« – was immer das heißen sollte.
Die Kinder gingen nun aus dem Haus – sie bewohnten zu dritt eine kleine Doppelhaushälfte – und trotteten auf den RAV4 zu. Der Toyota-Geländewagen war eines der wenigen Dinge, die Sarah aus den Trümmern ihres Londoner Lebens hatte retten können.
»Du kannst den Wagen haben. Und die noch fälligen zwölf Raten übernehmen«, hatte Oliver ihr damals grinsend mitgeteilt. Dieser Mistkerl!
Sie zog die Haustür fest hinter sich zu und stieg über die Fahrräder von Chloe und Daniel. Gott, der Rasen muss dringend gemäht werden! Es war nur ein winziger Flecken, dennoch sah er wie eine Wiese aus. Heute würde sie es nicht schaffen, denn sie hatte noch einen Haufen Arbeit vor sich: Drei Websites wollten gestaltet werden.
Sarah mochte es, so beschäftigt wie möglich zu sein. Und was das anbelangte, musste sie sich – mit den Kindern und dem Büro – in letzter Zeit keine Sorgen machen.
Nachdem sie Chloe abgesetzt hatte, hielt sie vor der Cherringham Primary. Wochentags um halb neun verwandelte sich der Straßenabschnitt vor der Grundschule in einen Grand-Prix-Boxenstopp. Mütter und Väter strömten durch das Haupttor, Kinderwagen und Buggys waren auf Kollisionskurs; Autos hielten an, denen in Rekordzeiten Kinder entstiegen und die anschließend schnell weiterbrausten.
Wie immer gab es nirgends eine Parklücke; also hielt Sarah mitten auf der Straße.
Daniel erhob sich hinten von der Rückbank, um auszusteigen. »Heute Nachmittag hab ich Schwimmen, Mum. Da komme ich später.«
»Ist gut, Spatz, dann sehe ich dich zu Hause«, erwiderte Sarah und wartete darauf, dass die hintere Tür zugeschlagen wurde.
Bevor sie wegfahren konnte, zeigte sich ein Gesicht in ihrem offenen Fenster: die gefürchtete Angela.
»Ist das nicht entsetzlich?«, sagte Angela, deren Pausbacken gerötet waren von der Anstrengung, ein sabberndes Krabbelkind auf ihrem Arm zu tragen.
»Wie bitte? Was?«, fragte Sarah gedankenverloren. Angela war sozusagen die Linearachse in der örtlichen Gerüchtemaschinerie. Nur weniges entging ihrer Aufmerksamkeit – oder ihrem vernichtenden Urteil. Sarah wartete höflich auf die heutige Skandalmeldung.
Aber auf das, was Angela als Nächstes sagte, war sie nicht gefasst gewesen.
»Und du … du musst so traurig sein, wo sie doch deine beste Freundin war und so.«
Angelas Worte waren plötzlich so eisig und schneidend wie der kalte Wind in der Morgenluft.
»Was meinst du denn damit, Angela?«, fragte Sarah ungeduldig.
»Na, Sammi Charlton natürlich«, antwortete Angela. »Ich bin davon ausgegangen, jemand hätte es dir schon erzählt. Sie glauben, dass es eine Überdosis war. Würde mich nicht wundern, denn sie hat ja alles Mögliche genommen. Nicht, dass ich behaupten will, du hättest das auch gemacht, versteht sich.«
»Angela.« Sarah hielt ihre Stimme ruhig. Sammi und sie waren gut befreundet gewesen. Aber das war lange her – vor London und bevor Sammi verschwand. »Was ist mit Sammi passiert?«, wollte Sarah wissen, der es vor der Antwort graute.
»Na, sie haben sie heute Morgen unten am Wehr gefunden. Ertrunken. Ich dachte ehrlich, dir hätte jemand was …« Weiter sprach Angela nicht.
Sarah spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Sammi war tot …
Bei aller Verrücktheit ihrer Freundin – das schien völlig unwirklich. Und sie war nicht einfach irgendwo gestorben, es hatte sich auch noch hier ereignet, nachdem sie so viele Jahre fort gewesen war. Hier in dem Dorf, in dem sie beide aufgewachsen waren.
»Bist du sicher?«
Ein Auto hinter Sarah hupte wild.
Angela wandte sich schon ab, als sie ihr endgültiges Urteil über die Angelegenheit von sich gab: »Oh ja, meine Liebe. Daran besteht kein Zweifel. Sie ist so tot, wie man nur sein kann.«
Sarah parkte auf dem Marktplatz und holte sich bei Huffington’s einen Kaffee, ehe sie in ihr Büro ging. Die Immobilienmakler im Erdgeschoss öffneten ihre Geschäftsräume erst um zehn, und Sarah war gewöhnlich die Erste im Gebäude.
Sie sammelte die Post auf und stieg die schmale Treppe in den obersten Stock hinauf, wo sie die Computer auf ihrem Schreibtisch hochfuhr. Dann ging sie hinüber zum Fenster.
Von hier oben, drei Stockwerke hoch, konnte sie hinunter auf den Dorfplatz und über die Dächer hinweg zum Fluss und zu den weit entfernten Wiesen sehen.
Viel Platz hatte sie nicht in ihrem Büro, doch allein für diese Aussicht liebte sie es.
Von hier oben war das Wehr hinter dichten Bäumen verborgen. Allerdings konnte Sarah erkennen, dass sich der Verkehr auf der Straße Richtung Zollbrücke staute und die Wagen nur im Kriechtempo vorankamen. Dort unten musste immer noch die Polizei sein.
Sie konnte es nach wie vor nicht glauben. Sammi sollte tot sein?
Es stimmte, dass Sammi ihre Freundin gewesen war, doch traf diese Bezeichnung nicht mal annähernd das, was sie füreinander bedeutet hatten.
Sammi war ihre Verbündete gewesen, ihre beste Freundin, ihre Schulter zum Ausweinen, ihre Komplizin während der wilden Teenager-Jahre sowie durch die wichtigen Schulprüfungen – zunächst zum Abschluss der Sekundarstufe I und dann zwei Jahre später bei den A-Levels. Sie hatten in der wohl intensivsten – und möglicherweise besten – Phase ihres Lebens gemeinsam gelacht, getanzt, gespielt und getrunken.
In einem Jahr hatten sie sich sogar die Freunde geteilt! Gott, war das ein Chaos gewesen … über das sie später lachen konnten, als sie ihre Tagebucheinträge verglichen.
Und dann – komisch, wie das immer geschieht – gewöhnten sie sich schlicht daran, einander nicht mehr so oft zu sehen, weil sie unterschiedliche Wege einschlugen.
Sammi ging an die Schauspielschule, Sarah an die Uni. Sammi reiste durch die Welt, jagte ihrem Traum von der großen Schauspielkarriere nach, während Sarah nach London zog, sich einen Job suchte, Oliver heiratete und Kinder bekam.
Erst nach und nach nahm Sarah die Warnzeichen wahr, dass nicht alles gut lief.
Sammi kreuzte immer mal wieder unangemeldet auf, weil sie ein Bett für die Nacht brauchte, und nach einem angespannten Auftakt entkorkten die beiden dann eine Flasche Wein, anschließend noch eine und noch eine. Sie redeten über alte Zeiten, und Sammi erzählte bis zum Morgengrauen von ihren haarsträubenden Abenteuern. Danach verschwand sie zum Flughafen, und Sarah hörte und sah nichts von ihr – bis zum nächsten Mal.
Das letzte Mal, dass sie Sammi gesehen hatte, war vor zwei Jahren in London gewesen. Da waren Oliver und sie noch zusammen. Sammi hatte angeblich einen Model-Job in Tokio, auch wenn der sich für Sarah etwas halbseiden anhörte. An jenem Abend blieben sie, nachdem die Kinder im Bett waren, zu dritt lange auf und tranken zu viel. Und mit zunehmendem Alkoholpegel flirtete Sammi für Sarahs Geschmack zu heftig mit Oliver.
Oliver hingegen – noch so ein Alarmsignal – schien es nichts auszumachen.
Es endete mit einem mächtigen Streit, und alle gingen wütend ins Bett. Am nächsten Morgen war Sammi zum Flughafen aufgebrochen, ohne sich zu verabschieden. Seitdem hatte Sarah sie nicht gesehen. Und würde es auch nie wieder, wie ihr jetzt klar wurde.
Sarah sah hinunter zum Marktplatz – zu den Teestuben und dem Café. Zur Bushaltestelle. Zum alten Pub – The Angel. Zur Steinbank vor dem Gemeindesaal. Zur Bibliothek mit ihrer großen Veranda vorn. Früher mal hatte Sammi und ihr dieser Platz gehört. Es war ihr Platz gewesen, jeder Quadratzentimeter davon.
Sarah wischte sich über die Augen. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch, zog die Computertastatur zu sich heran und meldete sich an, um mit der Arbeit zu beginnen. Solche Dinge passierten eben, das wusste sie nur zu gut. Sie musste heute drei Websites fertigstellen, und sie hatte keine Zeit, Erinnerungen nachzuhängen.
Zumindest jetzt noch nicht.
»Bleib, Riley«, sagte Jack Brennan, als er die Läden vor der Kajütentür zuklappte und das Vorhängeschloss einrasten ließ.
Riley stand wartend am Flussufer, wedelte mit dem Schwanz und wollte dringend in den schönen Sommermorgen losgelassen werden, um die Freuden der weiten Wiese zu genießen. Jack steckte den Schlüssel ein und ging über die Bohlen, die sein Boot, das er auf den Namen The Grey Goose getauft hatte, mit dem Trockenen verbanden.
Aus Gewohnheit prüfte er die Festmacheleinen an Bug und Heck und musterte den großen, alten holländischen Lastkahn entlang der Wasserlinie. Ist bald Zeit für einen neuen Anstrich, dachte Jack.
Darauf freute er sich, denn er war gerne beschäftigt.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Rileys Leine in seiner Tasche war, brach er auf zu seinem Morgenspaziergang den Fußweg hinunter.
Drei Meilen hin und zurück. Jeden Morgen, seit er aus New York hergezogen war, ging Jack Brennan diese Strecke, bei Wind und Wetter.
Anderthalb Stunden dauerte sie einschließlich Kaffee und Zeitungslektüre in dem komischen kleinen Café im Dorf. Früher mal wäre er die Meilen gelaufen, doch heute wusste er seine Knie zu schätzen und hatte vor, sie noch weitere dreißig Jahre zu behalten; also war Gehen prima.
Riley lief voraus, wenn auch nie weiter als hundert Meter. Der Springer Spaniel kannte die Regeln. Einen Sommer lang hatten sie die Grundlagen ihrer Beziehung festgelegt, als Riley noch ein Welpe war, und nun saßen sie wie eine Eins. Nach interessanten Wochen und einiger Überzeugungsarbeit hatte Riley schließlich sämtlichen Bedingungen von Jack zugestimmt.
Der Hund war ein bisschen stur, ähnlich seinem Herrchen. Vielleicht mehr als ein bisschen.
Jack atmete tief ein. Heute war so ein Tag, der ihm sagte, dass die damalige Entscheidung, herzukommen und hier zu leben, richtig war. Obwohl der heutige Morgen recht kalt und nass gewesen war, hatte sich die Sonne durchgesetzt und wärmte bereits alles. Auf der anderen Seite des Flusses hing Dunst über der Wiese, und direkt über der Nebelwolke huschten Schwalben am Himmel entlang, tauchten mal im Blitzflug nach unten und schossen dann wieder steil hinauf.
Von den Möwen und Fischerbooten von Bay Ridge, New York, war es ein weiter Weg bis hierher.
All die anderen Boote auf dem Fluss erwachten gerade zum Leben. Fernseher und Radios waren zu hören, und es roch nach Schinkenspeck mit Eiern.
Ungefähr alle zwanzig Meter war hier ein Boot vertäut – ein wahrer Mischmasch von Kanalschuten, Flusskreuzern, Jachten, kleinen Booten und Speedboats. Durch und durch englisch, diese kuriose Ansammlung.
Doch was wollte man auch anderes am billigeren Ende des Dorfes erwarten? Weiter flussabwärts, auf der anderen Seite der Cherringham Toll Bridge, lagen die wuchtigen Plastik-Ungetüme: groß genug für Cocktailpartys und Dinner an Deck.
Jack nahm an, dass sich einiges an Londoner Geldadel auf diese Kähne verirrte.
Nicht, dass er jemals auf so ein Schiff eingeladen würde. Für so etwas war Jack Brennan, der Amerikaner vom alten Hausboot, der sich nicht mehr täglich rasieren musste, einfach nicht der richtige Typ. Er hatte sich daran gewöhnt, dass ihn die Einheimischen fragend musterten. Ein kurzes Lächeln, und sie zogen weiter. Gewiss wunderten sie sich, dass ein Yankee hier lebte … und dann auch noch ausgerechnet auf einem Hausboot.
Als er eine Uferbiegung erreichte, konnte er weit hinten auf dem Hügel Cherringham sehen und sogar die Kirchenglocken hören, wenn er genau hinhorchte.
Dienstag … Heute proben sie das Läuten, dachte er. Mit ein bisschen Glück waren die fertig, bevor er sich seinen Macchiato bestellen würde. Nichts gegen ein wenig Lokalkolorit – und Glockengeläut hatte durchaus seinen Charme -, aber bitte vor oder nach Jacks Frühstückszeit.
Hinter der Biegung fiel sein Blick auf etwas, das die friedliche, malerische Szenerie empfindlich störte.
Einst war Jack dieser Anblick allzu vertraut gewesen, nicht jedoch hier, in seiner neuen Wahlheimat.
Weiter vorn am Wehr standen ein Krankenwagen und zwei Streifenwagen mit blinkenden Lichtern. Unweit von ihnen stiegen Männer in weißen Anzügen aus einem weißen Van.
Jack nahm an, dass es sich um ein Team von Kriminaltechnikern handelte, obgleich die britische Version eher wie eine Seuchenschutzeinheit aussah.
Die sind hier echt anders, fuhr es ihm durch den Kopf.
Und das war der Hauptgrund, weshalb es ihn hierher verschlagen hatte. Er wollte weit, weit weg sein … von vielem …
Die Polizei hatte den Bereich um das Wehr mit schwarz-gelbem Band abgesperrt. Eine Handvoll Leute aus dem Ort beobachtete von der Brücke aus das Schauspiel.
»Riley!«, rief Jack. Widerwillig kam der Hund zu ihm zurück, und Jack nahm ihn an die kurze Leine. Riley war zwar neugierig und stur, doch er gehorchte aufs Wort.
Als sie sich dem Absperrband näherten, stellte sich ihnen ein junger Polizist in den Weg.
»Bedaure, Sir, hier gab es einen Zwischenfall. Leider müssen Sie einen Umweg machen und über die Felder gehen.«
»Kein Problem«, antwortete Jack.
Der Polizist beäugte ihn etwas genauer. Es war der Akzent. »Amerikaner sehen wir hier selten.«
Jack schlug eine ungewohnte Regung entgegen: Misstrauen.
»Wohnen Sie auf einem der Hausboote, Sir?«, wollte der junge Mann wissen.
Jack nickte. »Stimmt.«
»Na, dann wissen Sie ja den Weg«, sagte der Cop.
Jack nickte wieder und wandte sich ab.
»Komm, Riley«, befahl er seinem Hund.
Jack interessierte sich nicht für den Tatort. Solche Sachen hatte er weidlich genug in den Staaten gehabt. Was hier auch passiert war, er musste rein gar nichts darüber wissen.
Doch als er den Umweg einschlug, konnte er fühlen, dass ihn der Cop beobachtete. Merkwürdig. Wenn man hier nicht seine Nase in alles und jedes steckte, hielten die Leute einen anscheinend sofort für verdächtig.
Ja, selbst nach einem Jahr konnte ihn England immer noch verblüffen.
Sarah schaltete ihren Computer aus.
Was für ein Tag! Sie hatte zwei der drei Websites fertiggestellt, konnte sich jedoch nicht dazu bringen, die letzte von ihnen anzugehen: eine neue Website für Bassett and Son’s Funeral Directors. Sarah wünschte, sie hätte Bassett und seinem Sohn gesagt, sie könnten sie beide mal gernhaben: Der eine wollte »etwas Frisches und Heiteres«, der andere »etwas Pietätvolles und Getragenes«.
Von wegen getragen …
Sie sah auf die Uhr. Es war sechs. Ihre Kinder kamen beide spät aus der Schule, rechneten also nicht vor sieben mit einem Abendessen.
Sarah griff nach ihren Autoschlüsseln und ging hinaus.
Am Fluss unten lief der Verkehr nun wieder flüssig. Sarah parkte auf der Dorfseite der Brücke, die sie anschließend zu Fuß überquerte. Dann ging sie hinunter zu dem kleinen Parkplatz, wo noch ein einzelner Streifenwagen stand.
Weiter flussaufwärts konnte sie das Wehr und einen weiteren Polizeiwagen sehen. Anscheinend wurde der Bereich nach wie vor bewacht.
Sie lief den Uferweg entlang, der von der untergehenden Sonne beschienen wurde und wo es immer noch warm war. Der Jasminduft wirkte unpassend, denn sie wollte zu der Stelle, an der ihre beste Freundin gestorben war, und nicht durch die Landschaft spazieren gehen.
Sarah hatte lange mit sich gerungen, ob sie hierherkommen sollte. Doch letztlich war es ihr richtig erschienen.
Die Polizei hatte den Bereich um das Wehr herum mit Absperrband gesichert, das nun ein einsamer Polizist wieder entfernte.
Sarah kannte ihn. Wie oft hatte er sie schon gebeten, mit ihm auszugehen, seit sie ins Dorf zurückgekommen war? Und wann würde er damit aufhören?
»Hallo, Alan!«, rief sie ihm zu, als sie nahe genug war.
Der Polizist drehte sich um. Das Absperrband war in großen Schlaufen um seine Arme gewickelt.
»Ah, bei dir wollte ich sowieso noch vorbeischauen. Weil es doch Sammi ist und so, nicht? Ich dachte, du bist bestimmt, na ja, traurig.«
»Was ist überhaupt passiert?«
»Du weißt, dass ich dir das nicht sagen darf, Sarah. Und wir ermitteln noch. Aber du kennst doch Sammi.«
»Kannte. Komm schon, Alan«, forderte sie ihn auf.
»Es gibt Regeln, an die ich mich halten muss; Vorschriften, nicht?«
»Mein Gott noch mal!«, rief sie verärgert. »Sammi, du und ich haben früher da unten Cider getrunken. Muss ich vielleicht jeden daran erinnern, dass du damals mit ihr beim Nacktbaden erwischt wurdest?«
Er grinste unglücklich. »Denkst du, das habe ich vergessen? Bloß weil ich diese Uniform trage, ist es für mich nicht leichter, okay?«
Sarah war gerührt.
»Ja, ich weiß.«
»Das ist … das ist doch Mist, dass ich ganz alleine hier unten bin!«
Sarah legte eine Hand auf seine Schulter und hoffte, dass er es nicht falsch deutete.
»Tut mir leid, Alan.«
Er nickte. Ihr Trost tat ihm sichtlich gut.
»Wir hatten gute Zeiten, nicht?«, fragte er.
»Ja, hatten wir. Man ahnte nie, was ihr als Nächstes einfiel, unserer Sammi.«
Alan lachte. »Bis sie unserem alten Cherringham den Rücken kehrte, was? Ab nach London, ins rauschende Leben. Kann ich ihr eigentlich nicht verdenken.«
Sarah nickte. »Stimmt. Also, was ist passiert?«
Alan zuckte mit den Schultern und trat einen Schritt näher an Sarah herein. Die Wärme des Sommertages ließ allmählich nach.
»Na gut, aber das hast du nicht von mir, okay? Eine alte Frau hat sie heute Morgen gefunden. Die Leiche hatte sich im Wehr verfangen, war halb unter Wasser. Die Kriminaltechniker meinen, dass sie weiter oben reingefallen ist und hierher getrieben wurde. Und dann ist sie vorm Wehr hängen geblieben.«
»Hast du gewusst, dass sie nach Cherringham zurückgekommen ist?«
»Nee. Obwohl ich gehört habe, dass sie gestern Abend im Ploughman gewesen sein soll. Da hat sie angeblich einiges getrunken.«
»Einiges zu viel, meinst du?«, fragte Sarah.
Wie sie Sammi kannte, könnte noch anderes außer Pints und Kurzen im Spiel gewesen sein. Diesen Teil des ausschweifenden Lebens hatte Sammi ebenfalls ausgekostet.
»Schätze schon. Wenn du mich fragst, ist sie runter ans Wasser, um eine zu rauchen. Ein bisschen ausgeflippt war sie ja immer, nicht? Jedenfalls hatte sie zu viel intus, geht am Ufer entlang und fällt rein. Oder sie will schwimmen. Verrücktes Ding …«
»Wo hat man sie hingebracht?«
»Die Leiche? Nach Swindon«, antwortete er. »Die machen die Autopsie.« Er schnupperte in die Luft. Der Sherlock Holmes von Cherringham. »Ich schätze, es war ein Unfall. Sie ist schlicht ertrunken.«
Sarah sah Alan an, und für einen winzigen Moment erkannte sie in seinem Gesicht den Teenager, mit dem sie zur Schule gegangen war.
»Ich gehe mal ein Stück am Ufer entlang. Flussaufwärts. Ist das okay?«
»Ja, sicher. Du musst bestimmt ein bisschen nachdenken, den Erinnerungen nachhängen und so … Hier ist ja nicht mehr gesperrt. Aber … geh nicht zu dicht an den Rand, ja?« Er lächelte nicht.
»Ich pass auf«, versprach Sarah.
Sie nickte ihm zu und ging weiter, wobei sie dachte, dass er recht hatte, was die Erinnerungen und so betraf. Aber die allein waren es nicht. Sammi – ertrunken? In den kalten Fluss gefallen?
Das ergab absolut keinen Sinn.
Jack lehnte sich auf seinem Liegestuhl zurück, paffte sanft an einer Cohiba – einer echten Havanna – und schaute zu, wie die Sonne gemächlich hinter dem weiter weg gelegenen Ort versank.
Solche Momente, an lauen Sommerabenden wie diesem, waren Vollkommenheit schlechthin.
Vor ihm floss die Themse; hier war sie tief und breit genug, um kleine Jachten, Kajaks und Ruderboote zu einem Abendtörn zu locken.
Neben ihm auf dem warmen Holzdeck schlummerte Riley, als wüsste er, dass er außer Dienst war. Und an seiner anderen Seite stand ein Wodka-Martini auf dem kleinen Kartentisch. In der klaren Flüssigkeit fing sich das Farbenspiel der untergehenden Sonne.
Der silberne Shaker neben dem Glas schwitzte.
Damals in Marty’s Bar in Sheepshead Bay musste Jack dem Besitzer erst erklären, wie man den perfekten Martini machte. Für Marty gehörte die »höhere Mathematik« von Bier und Schnaps schon zu dem Kompliziertesten, mit dem er zuvor konfrontiert worden war.
Katherine hatte auch sehr gern Martini getrunken. Bis zum Schluss.
Er nahm einen Schluck. Auf Katherine, dachte er.
Auf seinem Schoß hatte er eine kleine Schachtel mit Schwimmern, Schnur, Federn und Haar, aus denen er sich seinen allerersten Fischköder basteln wollte. Er mochte über fünfzig sein, aber es gab immer noch Dinge zu lernen, und Fliegenfischen war eines davon.
Zufrieden atmete er aus. Vollkommenheit? Nun, die hätte er vielleicht, wenn er nicht alleine wäre. Aber er hatte sich ja geschworen, nicht mehr an die Vergangenheit oder die verlorene Zukunft zu denken.
Und es wurde mit jedem Tag ein bisschen leichter.
»Entschuldigung!«
Die Stimme war laut – lauter als nötig an solch einem stillen Abend – und klang irgendwie ungeduldig. Riley stand auf und spitzte die Ohren, um zu sehen, was das Getue sollte.
Jack drehte sich mühsam auf seinem Liegestuhl um, sodass er zum Ufer sehen konnte. Eine Frau stand an seiner Laufplanke und guckte zu ihm nach oben. Sie war Ende dreißig, schlank – ungefähr eins siebzig groß und um die hundertvierzig Pfund schwer -, hatte blaue Augen, eine blonde Stachelfrisur und sah ein bisschen elfenhaft aus.
Sie trug eine weiße Bluse, lange blaue Shorts und Turnschuhe. Ihren Beinen und der Taille nach zu urteilen war sie gut in Form, eventuell eine Läuferin. Und sie wirkte professionell, wie eine Geschäftsfrau.
Du kannst deine Arbeit als Detective an den Nagel hängen, aber du wirst immer ein Detective bleiben, dachte er. Nach wie vor achtete er auf Details. Jedes Bild und jedes Profil erzählte eine Geschichte.
»Darf ich an Bord kommen?«
Jack überlegte.
»Nein, bedaure.«
Die Frau sah entsetzt aus, als hätte er sie eben beleidigt.
»Ah, verstehe.«
Jack sah ihr an, dass sie über ihren nächsten Schritt nachdachte. Da er sich bisher nicht den Höflichkeitsritualen, antiquierten Manieren und allgemeinen Verhaltensregeln der Engländer angepasst hatte, war er derartige Reaktionen mittlerweile fast gewöhnt.
»Entschuldigen Sie vielmals«, sagte sie. »Was ich meinte, war, ob ich Sie kurz sprechen dürfte.«
»Wie kann ich Ihnen helfen?« Er paffte an seiner Zigarre, deren silbrige Aschenspitze wuchs.
»Nun … Es ist etwas passiert, auf dem Fluss. Eventuell sind Ihnen die vielen Polizisten aufgefallen. Und ich habe mich gefragt, ob Sie letzte Nacht auf Ihrem Boot waren?«
»Kann schon sein.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Arbeiten Sie undercover, Officer?«
Hierüber schmunzelte sie und strich sich durchs Haar.
»Nein, Verzeihung. Es ist nur so, dass ich mich gefragt hatte, ob Sie irgendetwas gehört haben.«
Jack dachte eine Minute lang nach.
»Nein. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss …«
»Ich meine, ob Sie irgendwas Ungewöhnliches gehört haben; Sie wissen schon.«
»Ich sagte bereits, nein.«
»Dann haben Sie gar nichts gehört?«
»Die Antwort bleibt dieselbe – nein.«
»Wissen Sie, die Sache ist die, dass eine Freundin von mir … Nun, die Polizei sagt, sie ist in den Fluss gefallen und ertrunken, wissen Sie. Letzte Nacht, gleich da unten.«
»Aha! Ich habe die Blaulichter gesehen. Und um ehrlich zu sein, hat es mich nicht sonderlich interessiert.«
Er paffte noch einmal an seiner Zigarre und trank den letzten Schluck Martini aus seinem Glas. Zeit für einen zweiten.
»Am Wehr«, fuhr sie fort. »Jemand hat sie dort gefunden. Sie war am Wehr hängen geblieben. Tot. Heute Morgen. Meine Freundin Sammi. Jedenfalls habe ich überlegt, als ich hier langging, ob sie irgendwo hier ins Wasser gefallen sein kann. Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie letzte Nacht etwas gehört haben.«
Die Frau lächelte, als könnte sie ihn so bewegen, ihr doch helfen zu wollen. Fast tat sie ihm leid. Wie konnte sie auch wissen, dass er mit alldem abgeschlossen hatte?
Endgültig.
»Nein. Nichts.«
Sie runzelte die Stirn und nagte an ihrer Unterlippe.
Offensichtlich war sie enttäuscht. Nur konnte er daran rein gar nichts ändern. Und sowieso war das Letzte, was er jetzt wollte, eine Unterhaltung über ein armes Mädchen, das in den Fluss gefallen und ertrunken war. Er wollte sich wieder seinem Köder widmen und dem Sonnenuntergang zusehen, der beinahe vorbei war.
Doch die Frau blieb.
Die ist wirklich beharrlich.
Schließlich sagte sie: »Na gut! Okay. Danke für Ihre Hilfe.«
Beharrlich und sarkastisch. »Kein Problem.«
Sie ging einen Schritt weg, dann drehte sie sich wieder um. »Ja, sicher, kein Problem für Sie. Aber falls Sie sich zufällig doch an etwas erinnern, könnten Sie es vielleicht der Polizei erzählen? Das wäre wirklich sehr … nett von Ihnen. Meinen Sie, das könnten Sie machen?«
»Sicher. Ich merk’s mir.«
Sie ging weg, und Jack glaubte, schwören zu können, dass er sie leise Dämlicher Yankee fluchen hörte.
Allerdings konnte er auch nicht behaupten, die »besonderen Beziehungen« zwischen Engländern und Amerikanern gefördert zu haben.
Riley sah der Frau hinterher, ehe er wieder zu seinem Platz neben Jack tapste und sich hinlegte.
Jack lehnte sich auf seinem Liegestuhl zurück, nahm den Shaker, schenkte sich ein und trank einen großen Schluck des mittlerweile geschmolzenen Eiswassers. Dann blickte er auf das tiefe, fließende Wasser der Themse, das an seinem Boot vorbeiglitt.
Schließlich nahm er die kleine Schnurrolle und eine winzige rote Feder auf und begann, die Haken auf dem Kartentisch auszulegen.
Sie glaubten also, dass die Tote hier oben in den Fluss gefallen war? Plötzlich dachte er weder an den Köder noch an die Zigarre oder die am Horizont versinkende Sonne.
Na, das ergab keinen Sinn. Überhaupt keinen Sinn.
Sarah betrachtete das Kunstwerk des Marketingchefs von Bassett and Son’s Funeral Directors und schloss die Augen. War dies jetzt wirklich das, was aus ihrem Leben geworden war? Vor drei Jahren um diese Zeit hatte sie noch Klienten in Cannes mit ihren Ideen für tolle Social-Media-Kampagnen umgehauen.
Jetzt war sie bei: »Ein Begräbnis bezahlen, eines umsonst.« Musste sie den Kunden wirklich erklären, warum das bei Pizza funktionierte, nicht aber beim Sterben?
Und, Gott, tat ihr der Kopf weh!
Gestern Abend hatten die Kinder ihr Abendessen anbrennen lassen, sodass der Rauchmelder losgegangen war. In dem Chaos hatte Sarah völlig vergessen, selbst etwas zu essen. Danach hatte sie alleine eine Rotweinflasche geleert – Erinnerungen an Sammi nachgehangen – und war auf dem Sofa bei einer blöden Frauenserie eingeschlafen, die sie immer guckte und jedes Mal blöd fand.
Grace stellte ihr einen Kaffee auf den Schreibtisch und lächelte.
»Ah, du bist ein Schatz! Was würde ich nur ohne dich tun, Grace?«
»Wahrscheinlich ein winziges bisschen Gewinn machen. Aber ich beklage mich nicht.«
Sarah lachte. Grace war ein echter Glücksgriff – achtzehn Jahre, fleißig, klug und ehrgeizig. Hach, noch einmal achtzehn sein!
Sarah legte den Kopf auf ihre verschränkten Arme, die auf dem Schreibtisch lagen. Eventuell half ein kurzes Erfrischungsnickerchen. Das Telefon läutete. Grace nahm ab und stellte das Gespräch zu Sarah durch.
»Irgendein Typ für dich. Er sagt, es ist wichtig.«
Sarah formte lautlos mit ihren Lippen die Frage: Wer ist das?
»Keine Ahnung. Die Stimme hört sich amerikanisch an, würde ich sagen.«
Sarah stutzte. In letzter Zeit hatte sie nur mit einem einzigen Amerikaner geredet, und sie wollte keine Sekunde mehr mit ihm etwas zu tun haben. Er konnte es einfach nicht sein.
Sie nahm den Hörer auf.
»Sarah Edwards.«
Die Stimme am anderen Ende kam direkt zur Sache.
»Ihre Freundin Sammi. Ich habe über diese Theorie nachgedacht, dass sie weiter oben am Fluss ins Wasser gefallen ist. War das Ihre Idee oder die der Polizei?«
»Das hat die Polizei gesagt. Indizien, schätze ich.«
»Tja, die Polizei liegt hier falsch. Wollen Sie wissen, was wirklich mit ihrer Freundin passiert ist?«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen …«, sagte Sarah.
»Viel klarer kann ich mich wohl kaum ausdrücken. Möchten Sie wissen, wie Ihre Freundin Sammi gestorben ist?«
Wo war der feindselige Yankee geblieben?
»Ja. Ja, natürlich will ich das.«
»Gut, denn ich bezweifle, dass sie ins Wasser gefallen ist.«
»Genau das dachte ich auch.«
»Okay. Haben Sie jetzt Zeit? Wir treffen uns um zehn am Wehr.«
»Aber …« Die Leitung war tot. Sarah starrte eine kleine Weile ins Leere. Dann griff sie nach ihrer Handtasche und ihrem Handy.
»Grace, ich muss kurz weg.« Auf einen spontanen Einfall hin fügte sie hinzu: »Und falls ich nicht zurückkomme, sag der Polizei, dass ich mit diesem Amerikaner vom Hausboot weiter oben am Fluss verabredet war.«
»Mit diesem Amerikaner? Was ist los, Sarah?«
Doch Sarah war schon weg.
Sie stellte ihren Wagen auf dem Parkplatz am Wehr ab.
Das Absperrband war verschwunden. Niemand käme darauf, dass man erst vor vierundzwanzig Stunden eine Leiche aus dem schäumenden Wasser gezogen hatte. Das Dorf und seine Bewohner machten schon wieder weiter wie bisher: nett und ordentlich.
Beim Geräusch eines Außenbordmotors drehte Sarah sich um. Ein Ruderboot kam auf sie zu, und in ihm saß der unhöfliche Amerikaner, dem zu begegnen sie gestern das Pech hatte. Neben ihm hockte sein brauner Springer Spaniel.
Wenigstens blickte der Hund freundlich.
Der große Amerikaner wirkte in dem kleinen Boot fast komisch. Er war braun gebrannt, trug ein weißes Polohemd sowie eine Jeans und hatte den selbstbewussten, sturen Gesichtsausdruck von jemandem, den es nicht im Mindesten kratzte, was die Welt von ihm hielt.
Sein grau meliertes Haar war zerzaust wie das eines Jungen, der einen ganzen Sommer lang in keinen Spiegel geguckt hatte. Allerdings waren die Bartstoppeln von gestern Abend weg.
Und als das Boot näher kam, konnte Sarah sehen, dass seine Jeans zwar ausgeblichen, aber gebügelt war.
Er nickte ihr zu, drosselte den Außenbordmotor und lenkte das Boot an den Anleger. Sarah erschrak ein bisschen, als er ihr ein Tau zuwarf, fing es aber geistesgegenwärtig und wickelte es um einen Poller.
»Hüpfen Sie rein«, sagte er zu ihr. »Riley, mach mal Platz!«
Der Hund huschte zum Bug. Sarah blieb, wo sie war.
»Was ist? Haben Sie Angst vor Wasser?«, fragte er. »Oder ist es das Boot?«
»Mich schreckt weniger das Boot als Sie. Waren Sie ein Bootsmann in den Staaten?«
»Bootsmann?« Er lachte. »Ist schon okay. Ich weiß, was ich tue. Mehr oder weniger. Ich war oft zum Fischen draußen vor Breezy.«
»Breezy? Wo auch immer das sein mag … Also, Sie wollen, dass ich zu Ihnen in Ihr Boot steige, obwohl ich nicht mal weiß, wie Sie heißen?«
»Jack Brennan.«
»Und Sie sind hier, um …? Sie könnten alles Mögliche sein: sogar der nette Serienmörder – was auch immer.«
»Nein, der bin ich nicht. Ich war früher ein Cop, ein Detective beim NYPD, um genau zu sein. Wenn Sie artig sind, werde ich Ihnen sogar meine Dienstmarke zeigen. Ich habe Auszeichnungen erhalten, stand in der Presse – der ganze Zauber. Sie können mich überprüfen. Aber im Moment möchte ich Ihnen etwas zeigen, das im Hinblick auf Ihre Freundin Sammi wichtig ist.«
»Warum?«
»Weil ich es hasse, wenn Cops ihre Hausaufgaben nicht machen und bei der einfachsten Ermittlungsarbeit schlampen.« Er schnupperte in die Luft. »Und das tun sie manchmal.«
»Und Sie denken, dass ihnen das in unserem Fall passiert ist?«
»Oh ja! Mächtig sogar. Springen Sie rein, dann zeige ich es Ihnen.«
Jack hielt das Boot ruhig und blickte sie erwartungsvoll an.
Sarah kam der flüchtige Gedanke, dass dieser Moment ihr Leben verändern würde. Dann verschwand er wieder.
Sie nahm seine ausgestreckte Hand und stieg neben dem Hund des Amerikaners an Bord.
Jack wickelte das Tau ab, startete den Außenbordmotor und wendete das Boot, bevor er vom Kai wegsteuerte.
Sarah saß mit Riley im Bug und hatte das Gesicht Jack zugewandt, während er sie flussaufwärts schipperte. Keine Sekunde ließ sie ihn aus den Augen.
Er lächelte vor sich hin.
»Entspannen Sie sich.«
»Woher hatten Sie meine Telefonnummer? Besser gesagt, woher wussten Sie überhaupt, wie ich heiße?«
»Wie ich bereits erwähnt habe, war ich früher ein Cop.«
»Stimmt. Das werde ich überprüfen.«
Sie verstummte. Jack lenkte das Boot an den vertäuten Hausbooten vorbei und drosselte das Tempo, als sie sich der Grey Goose näherten.
»Jetzt sagen Sie schon. Wie haben Sie meinen Namen und meine Nummer herausbekommen? Ich bin bloß neugierig.«
Er grinste. »Wo gehen Sie denn hin, wenn Sie in diesem Ort irgendwas erfahren wollen?«
»Zur Bäckerei Huffington’s.«
»Richtig«, sagte er. »So hat die Welt vor Google überlebt, mit Cafés und Bars. Wie auch immer – sehen Sie das Holzscheit unten bei Ihren Füßen? Würden Sie es bitte aufheben.«
Jack beobachtete, wie sie das schwere, nasse alte Holzstück unter der Sitzbank hervorholte. Sie war stark, fand er. Eine Frau, die es gewohnt war, Dinge selbst zu erledigen. Das und der fehlende Ring legten nahe, dass es keinen Mr. Edwards gab.
»Was jetzt?«, fragte sie.
Jack wendete das Boot, lenkte es seitlich zu den vertäuten Booten und stellte den Motor ab. Das Boot wippte langsam stromabwärts.
»Werfen Sie bitte das Scheit über Bord.«
Sie hievte es über den Bootsrand. Es landete platschend im Fluss und begann vor ihnen herzutreiben.
»Also«, sagte er, »stellen Sie sich vor, das ist Ihre Freundin Sammi. Sie ist in den Fluss gefallen. Es ist mitten in der Nacht, und keiner kann hören, wie sie gegen die Strömung kämpft.«
»Danke für die bildhafte Beschreibung.«
Jack startete wieder den Motor und stellte ihn so ein, dass sie neben dem Holzstück blieben.
»Sehen Sie, wie schnell sie treibt?«
Sarah nickte.
»Sobald man an die Biegung kommt, wird der Fluss schneller«, erklärte er.
Jack konnte sehen, dass Sarah das Holzscheit nun aufmerksam beobachtete.
»Sehen Sie das Wehr da hinten?«
Wieder nickte Sarah.
Jack öffnete das Drosselventil und steuerte auf das Ufer mit dem Anlegesteg zu. Nun verloren sie das Holzscheit aus dem Blick, das sich weiter flussabwärts bewegte.
»Sehen Sie?«, fragte er.
Sarah drehte sich zu ihm und starrte ihn an.
»Als sie vor Jahren das Wehr bauten, hoben sie daneben einen tiefen Kanal aus. Jeder Müll, der flussabwärts treibt, fließt direkt in den Kanal. Deshalb ist das Wehr immer sauber. Kein Reisig, keine Äste … und keine Leichen.«
»Demnach ist Sammi nicht weiter oben in den Fluss gefallen?«, schlussfolgerte Sarah.
»Nein. Ich schätze, dass sie in dem seichten Wasser ertrunken ist, in dem sie gefunden wurde; genau dort an der Stelle.«
»Aber wieso sollte irgendwer da ins Wasser steigen?«
»Ja, wieso? Und das ist nicht alles. Sehen Sie das Ufer da, gleich beim Wehr?«
Er wies zu dem Schlammstreifen unterhalb des Parkplatzes und der Anlegestelle.
»Das sind Reifenspuren. Und sie sehen frisch aus, nicht älter als einen Tag.«
»Da ist jemand mit dem Wagen runtergefahren?«
»Ja. Jemand ist rückwärts runter zum Wehr gefahren. Und hatte hinterher reichlich Schwierigkeiten, wieder raufzukommen. Die Reifen sind im nassen Schlamm durchgedreht und haben sich immer tiefer eingegraben.« Er holte Luft. »Muss ziemlich nervenaufreibend gewesen sein. Komisch ist, dass die Polizei die Spuren gesehen haben muss.«
»Augenblick mal! Was sagen Sie da? Wollen Sie mir erzählen, dass Sammi ermordet wurde? Von demjenigen, der den Wagen fuhr?«
Jack wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. »Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass es kein Unfall war. Ich habe hinreichend Leichen aus Manhattans Gewässern gezogen, um so viel zu wissen. Und wenn es Mord war, werden wir eine Menge brauchen …«
»Wir? Und was brauchen?«
»Verdächtige. Motive. Beweise.«
Er sah sie an. »Ihre nette hiesige Polizei mag sich ja eine Geschichte zu dem Fall zurechtgelegt und anschließend einfach mit der Arbeit weitergemacht haben. Nun aber, da Sie, sagen wir mal, mich neugierig gemacht haben, können Sie und ich – sprich: wir – nicht gerade viel vorweisen, um mit der Arbeit weiterzumachen.«
Und dann ging es ihr auf.
Sarah begriff, dass er meinte, sie beide – gemeinsam – sollten den Mord an Sammi aufklären; denn er sagte ja, dass sie ermordet wurde.
Sie würden zusammenarbeiten. Und Sarah fand diese Vorstellung nicht beängstigend. Nein, ihre Freundin verdiente es, und außerdem dachte Sarah …
Das könnte spannend werden.
Und auf einmal waren sie dabei, einen Plan zu schmieden. Sarah war ganz gefangen von dem, was Jack erklärte, und von der Art und Weise, wie er die eindeutig falschen Schlussfolgerungen der örtlichen Polizei in der Luft zerriss.
Nachdem sie nun wusste, dass Sammi nicht in den Fluss gesprungen war – betrunken und unter Drogen –, hatte Sarah das Gefühl, sie schuldete ihrer lange verlorenen Freundin noch etwas.
Herauszufinden, wer es getan hatte.
Und Jack hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er trotz all seines Fachwissens auf ihre Hilfe angewiesen war. Ihm waren die Abläufe in der englischen Provinz ebenso wenig geläufig wie der Umgang mit Behörden, die alles hübsch und friedlich haben wollten und jede Unannehmlichkeit am liebsten rasch beseitigten – notfalls auch unter den Teppich kehrten.
Diese Leute hatten eine plausible Erklärung für Sammis Tod, und sollte die Autopsie nichts Gegenteiliges ergeben, war für sie der Fall erledigt.
Nur dass Sarah jetzt wusste, dass er keineswegs erledigt war und auch nicht sein würde – solange sie beide nicht die Wahrheit aufgedeckt hatten.
Doch wo sollten sie anfangen?
Jack meinte, dass die hiesige Polizei ein guter Ausgangspunkt wäre. Sie vereinbarten, sich gleich nach dem Mittagessen vor dem Polizeirevier zu treffen. Das bedeutete höchstwahrscheinlich, dass sie Alan begegneten.
Sarah dachte, dass dies heikel sein könnte, weil sie beide mit Sammi befreundet gewesen waren. Aber irgendwie würde sie es schon durchstehen.
Fürs Erste beschloss sie, Grace nicht zu erzählen, was sie vorhatte. Bin bei einem Meeting, rief Sarah ihr zu, als sie das Büro verließ.
Als sie nach draußen auf den Marktplatz eilte, stellte sie fest, dass der sonnige Vormittag in einen bewölkten Nachmittag übergegangen war.
Wie passend, dachte sie.
Jack stand vor dem Polizeirevier. Er hatte sich eine Baumwollhose und ein beiges Hemd angezogen, in der Hoffnung, so unter den Leuten nicht zu sehr aufzufallen.
Als er die Einheimischen beobachtete, die an ihm vorbei die Straße entlanggingen, musste er leider zugeben, dass sein Outfit wohl doch ein wenig zu rustikal war. In einer Kleinstadt im Mittelwesten der USA mochte eine solche Kleidung angehen, doch hier sahen die Leute aus, als würde schon ein Gang zum Schlachter nach besserer Kleidung schreien.
Außerdem war es kühl geworden. Dieses englische Wetter war wirklich gewöhnungsbedürftig. Im Nu konnte es sich radikal ändern: Im einen Moment war es sonnig und warm, wenige Augenblicke später bedeckt und kalt. Es ähnelte einer Fahrt auf einem Ozeanriesen durch den Nordatlantik. Nun ja, wenn man es recht bedachte, war der Unterschied zwischen einem Ozeanriesen und dieser Insel auch nicht so groß, denn sie lag schließlich im Meer, wo über ihr die Wolken und die Sonne Fangen spielten.
Er blickte auf seine Uhr, wartete auf Sarah und dachte … Will ich das wirklich machen? Mich auf diesen Schlamassel einlassen?
Mord hin oder her, was ging es ihn an? Was war aus seinen Plänen geworden, sich Köder zu basteln, ein bisschen zu angeln und die Sonnenuntergänge des sogenannten »englischen Sommers« zu genießen, welche die Götter ihm schenkten?
Andererseits hatte die jahrelange Beschäftigung mit Toten – von Unschuldigen bis hin zu denen, die es verdienten – in Jack die Überzeugung gefestigt, dass man diejenigen finden musste, die dafür verantwortlich waren.
Und meistens war ihm das gelungen. Einige Male nicht, und die ließen ihm bis heute keine Ruhe.
Seine ungeklärten Mordfälle verfolgten ihn. Und wenn er hier nichts tat, würde es genauso enden … Nachdem er nun wusste, dass es kein Tod durch Ertrinken war, konnte er nicht einfach die Sache auf sich beruhen lassen. Diese Sammi, diese junge Frau, die man tot in einem Fluss entdeckt hatte, war ihm wichtig geworden.
»Hallo! Tut mir leid, aber ich musste noch einige Sachen regeln.«
Jack drehte sich zu Sarah um.
Ein Lächeln. »Kein Problem. Ich bin ganz fasziniert von der Dorfszenerie.«
»Ja, ziemlich aufregend«, sagte sie.
»Für mich schon. Es ist nicht der Times Square.«
»New York City. Ich habe es früher geliebt. Damals mal …«
»Ja, es hat etwas. Also, bereit, reinzugehen und mich vorzustellen?«
Sie nickte, und er spürte, dass sie unsicher war. »Es könnte ein bisschen komisch sein, Fragen zu stellen, und so.«
»Mit ‚komisch’ kann ich umgehen.«
Wieder ein Nicken, dann ging sie voraus in das Polizeigebäude.
Als hätte er sie erwartet, stand Alan mit einem Stapel Papiere in der Hand vorne am Empfangstresen. Jack blieb einige Schritte hinter Sarah.
»Alan.«
Er wandte sich zu ihr um. »Sarah?« Er musterte Jack hinter ihr, der sich im Eingangsbereich umblickte.
»Alan, das ist Jack Brennan. Er ist …«
Der Polizist trat einen Schritt näher und senkte die Hand, in der er die Papiere hielt. »Ich weiß. Sie sind der Yankee, der auf dem alten Fischerkahn wohnt.«
Jack nickte. Ein paar Sekunden lang schwiegen alle drei.
Dann bat Sarah: »Alan, können wir hier irgendwo ungestört reden? Jack hat, nun ja, einige Ideen. Was Sammi anbelangt. Was passiert sein könnte.«
»Du meinst, was das Ertrinken anbelangt?«
Sarah antwortete darauf nicht. Stattdessen fragte sie: »Können wir in dein Büro gehen? Nur kurz? Wir haben ein paar Fragen.«
Sie bemerkte, wie Alan sich versteifte. Das lief gar nicht gut.