4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 7,99 €
Cherringham - die erfolgreiche Cosy Crime Serie jetzt in Romanlänge!
In der Nacht der Abschlussfeier an der Cherringham High School ertrinkt der junge Lehrer Josh Owen in der Themse. Und alles spricht für einen Unfall unter Drogeneinfluss! Die neue Schuldirektorin will der Sache auf den Grund gehen und bittet Sarah diskret um Hilfe. Nach vielen gemeinsamen Ermittlungen mit ihrem Freund Jack muss diese nun zum ersten Mal einen Fall auf eigene Faust lösen - nicht ahnend, dass sie einem dunklen Geheimnis auf der Spur ist, welches auch ihre eigene Familie in Gefahr bringt! Aber dann kehrt ihr alter Ermittlungspartner nach Cherringham zurück - doch unter gänzlich anderen Vorzeichen. Wird er Sarah auch diesmal wieder unterstützen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 338
Cover
Über dieses Buch
Über die Autoren
Titel
Impressum
PROLOG
1. Nach der Abschlussfeier
2. Die Brücke
TEIL 1 – Ein fragwürdiger Todesfall
3. Shuttle-Service
4. Die neue Schulleiterin
5. Schulprobleme
6. Väterlicher Rat
7. Der Alleingang
8. Beziehungen
9. Ein Spaziergang am Fluss
10. Die Überraschung
11. Tee auf der Goose
12. Drogen, Tod und Cherringham
13. Alles ist vergeben
TEIL 2 – Ein letzter Fall
14. Das Team bei der Arbeit
15. Enthüllungen
16. Wahrheit und Lüge
17. Gedankenfutter
18. Pommes mit was?
19. Dinner für zwei
20. Ein langer Abend
21. Ein Geräusch in der Nacht
22. Raushalten – aus was?
23. Ein Spalt in der Mauer
24. Ein erstaunlicher Fund
25. Neue Zusammenhänge
26. Was für nette Jungs!
TEIL 3 – Enthüllte Geheimnisse
27. Sonntagsschule
28. Ein Blick auf die Spinde
29. Die Vogelfreundin
30. Halbwahrheiten
31. Falscher Ort, falsche Zeit
32. Der Ausflug
33. Die Gloucester-Connection
34. Eine Zufahrt der besonderen Art
35. Die Farm
36. Hier ist der Boss
37. Ein Anruf aus heiterem Himmel
38. Zurück zur Schule
39. Ein Deal wird perfekt
40. Warten auf den Boss
41. Deal or No Deal
42. Zurück zum Fluss
43. Dinner im Spotted Pig
In der Nacht der Abschlussfeier an der Cherringham High School ertrinkt der junge Lehrer Josh Owen in der Themse. Und alles spricht für einen Unfall unter Drogeneinfluss! Die neue Schuldirektorin will der Sache auf den Grund gehen und bittet Sarah diskret um Hilfe. Nach vielen gemeinsamen Ermittlungen mit ihrem Freund Jack muss diese nun zum ersten Mal einen Fall auf eigene Faust lösen – nicht ahnend, dass sie einem dunklen Geheimnis auf der Spur ist, welches auch ihre eigene Familie in Gefahr bringt! Aber dann kehrt ihr alter Ermittlungspartner nach Cherringham zurück – doch unter gänzlich anderen Vorzeichen. Wird er Sarah auch diesmal wieder unterstützen?
Neil Richards (England) und Matthew Costello (USA) sind die Verfasser zahlreicher Drehbücher und Romane und die Autoren der erfolgreichen digitalen Krimiserie Cherringham mit einer ständig wachsenden Fangemeinde.
Matthew CostelloNeil Richards
Tiefer Grund
Ein Cherringham-Krimi
Aus dem Englischen von Sabine Schilasky
beTHRILLED
Digitale deutsche Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Titel der englischen Originalausgabe: Dead in the Water. A Cherringham Mystery
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Arno Hoven, Düsseldorf
Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt
Covergestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven © shutterstock: jason2009 | Maksim Shmeljov | suns07butterfly | allou
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3144-8
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
»Ist das deine Bestellung, Maddie?«, fragte Billy Leeper und schob zwei Pints Lager über die Theke. Er musste schreien, um bei der Musik und den vielen Leuten gehört zu werden.
Maddie blickte hinunter zu dem Tablett mit Getränken, die sie gerade geordert hatte.
Eine große Runde – und jetzt wurde ihr klar, dass sie vergessen hatte, ein Getränk für sich selbst zu bestellen.
»Oh, entschuldige, Billy, ein weiteres Glas Weißwein bitte. Egal, welcher, Hauptsache lecker und kalt!«
Sie sah, wie der Wirt ans andere Ende der Bar ging, und schaute sich um.
Im Ploughman war es voller denn je.
Er war Cherringhams beliebtester Pub – nicht so schick wie der Angel weiter oben in der High Street, aber auf jeden Fall die erste Adresse im Dorf für einen Umtrunk in geselliger Runde.
Und heute war hier nicht nur die übliche Freitagabend-Schar versammelt.
Eine Gruppe von Lehrerkollegen war nach der Schulabschlussfeier zu einem wohlverdienten Pint hergekommen, und einige Schüler aus dem Abschlussjahrgang hatten sich mit Freuden angeschlossen, um mit ihnen etwas zu trinken.
Manche der Jungen und Mädchen in ihren schicken Anzügen und Kleidern erkannte sie wieder. Die Teenager kippten die alkoholischen Getränke runter, als täten sie jedes Wochenende so etwas.
Na ja, dachte Maddie, tun sie wahrscheinlich auch.
»Bitte schön«, sagte Billy und stellte ein Glas Weißwein auf das Tablett. »Auf die Karte?«
»Ja, danke, Billy.«
Sie nahm das Tablett auf und drehte sich um.
»Die sind alle achtzehn, oder?«, fragte Billy mit einem Nicken zu den Schülern im Pub.
»Oh, sicher sind sie das«, antwortete Maddie, obwohl sie sich keineswegs sicher war. Eilig ging sie auf die Tische hinten im Pub zu.
Auf dem Weg dorthin kam sie am vollbesetzten Tisch neben der Dart-Scheibe vorbei und entdeckte einige Schüler aus der Zwölften, die mit Gläsern oder Flaschen in den Händen dastanden.
Also – die waren eindeutig noch nicht achtzehn. Maddie hielt unwillkürlich an.
Sollte sie etwas sagen?
Sie entdeckte Callum Brady in der Gruppe. Außerdem Liam Norris. Und Jake Pawson.
Die üblichen Verdächtigen, fuhr es ihr durch den Kopf. So wurden die drei in der Schule genannt.
Sie waren in T-Shirts und Jeans und wirkten schon aggressiv, wenn sie nur im Pub herumstanden und tranken.
Garantiert würden sie Ärger machen, wenn Maddie dem Wirt sagte, dass die Jungs minderjährig waren.
An der Schule zumindest sorgten sie dauernd für Ärger.
Je früher sie abgingen, desto besser.
Jake bemerkte sie, woraufhin die ganze Gruppe verstummte und sich zu ihr umdrehte.
Diese Blicke waren blanke Provokation.
Als wollten sie sagen: Na los, versuch doch, uns rausschmeißen zu lassen!
Falls du die Eier dazu hast.
Was natürlich rein anatomisch unmöglich war. Maddie wandte sich ab und ging mit ihrem Tablett weiter.
Verdammt, wie feige bin ich denn?
Aber als sie wieder hinten im Pub angelangt war, verdrängte sie kurzerhand die Begegnung mit der Teenager-Meute an der Dart-Scheibe.
In der Zeit, die sie weg gewesen war, hatte sich ihre Gruppe sogar noch vergrößert.
Jemand hatte drei Tische zusammengeschoben.
Sie mussten nun an die zwanzig sein – Lehrer und Schüler zusammen. Alle lachten, scherzten und erzählten sich Geschichten.
Die Schüler waren froh, dass ihr letztes Jahr an der Cherringham High vorbei war. Nun warteten der Sommer, die Uni und die Zukunft.
Maddie stellte das Tablett auf den Tisch ganz vorn, und alle griffen begeistert nach den Getränken.
Sie nahm ihren Weißwein und winkte Tim zu, der in der Tischmitte saß und mit einem der Starschüler im Fach »Englisch« sprach – oder wenigstens dessen beschwipstem Geplapper zuhörte.
Er lächelte ihr reumütig zu und formte stumm mit den Lippen das Wort »Entschuldige«.
Der Junge hatte sich auf ihren Stuhl gesetzt. Lächelnd antwortete Maddie – ebenfalls lautlos: »Kein Problem.«
»Komm hierher, Maddie«, ertönte eine Stimme vom Ende eines der Tische.
Sie drehte sich um. Es war Josh Owen.
Ein Lehrer, den alle Schüler geradezu anhimmelten.
Neben ihm war ein freier Platz.
Sollte sie?
Mit einem kurzen Blick zu Tim drängte sie sich an einer Gruppe von Einheimischen vorbei, die von Schülern umgeben wurden, und schlängelte sich zum anderen Ende der aneinandergereihten Tische.
»Ich könnte behaupten, dass ich den Stuhl für dich freigehalten habe, aber das wäre gelogen«, sagte Josh.
»Wow, du verstehst es wahrlich, einer Frau zu schmeicheln! Und, wie hat dir deine erste Abschlussfeier in Cherringham gefallen?«
»War doch ganz unterhaltsam, oder?«, antwortete Josh. »Ich hatte in diesem Jahr einige richtig tolle Schüler – schade, dass sie jetzt weg sind. Nette Kids.«
»Wären doch nur alle nett!«
»Die anderen gehören auch dazu.«
Maddie trank einen Schluck von ihrem Wein. »Hast du schon mit der neuen Direktorin geredet?«
»Heute Abend nicht«, erwiderte Josh leise. »Ist nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Aber du bewirbst dich als Konrektor?«
»Und ob! Es muss sich eine Menge ändern, und nach dem, was ich bisher gehört habe, hat sie gute Pläne.«
»Hoffentlich komme ich in denen auch vor«, sagte Maddie.
»Wirst du – falls ich ein gewichtiges Wörtchen dabei mitreden darf.«
Sie lachte.
»Hör sich einer dich an, Herr Konrektor! Fängst du jetzt schon an, Leute einzustellen und zu feuern?«
»Darauf kannst du wetten. Also benimm dich anständig, Miss Brookes.«
»Immer doch …«, erwiderte sie lachend.
Sie alberte gerne mit Josh herum. Er hatte so eine besondere Art von Heiterkeit an sich, als würde er sein Leben richtig genießen.
Anders als …
Unweigerlich sah sie zu Tim, der immer noch in ein Gespräch verwickelt war.
Ihr fester Freund. Wie sie diesen Ausdruck hasste! Herrgott, sie war fast dreißig!
Vielleicht sollte ich anfangen, ihn als meinen Lebenspartner zu bezeichnen? Aber will ich das eigentlich?
Verlobter?
Obwohl es noch nicht offiziell ist …
Jemand brachte ein neues Tablett mit Gläsern, und alle griffen nach den frischen Drinks.
Während Maddie noch zu Tim hinschaute, blickte er zu ihr herüber.
Er lächelte.
Sie lächelte zurück.
Und ihr kam ein Gedanke … Was, wenn Tim nicht hier wäre?
Schließlich wurde der Stuhl neben Tim wieder frei.
Auf sein Nicken hin verließ Maddie ihren Kollegen Josh und setzte sich zu Tim.
»Da bist du ja!«, begrüßte er sie. »Ich habe eben erzählt, dass ich diesen Sommer mal einen echten Camping-Urlaub machen will, mit langen Spaziergängen … Nein, mit richtigen Wanderungen, meine ich.«
Sie nickte und bemerkte, dass er sie ansah.
»Was hältst du davon?«
Lächelnd antwortete sie: »Ja, sich das Schuljahr aus den Klamotten laufen, das klingt gut.«
Tim grinste und wandte sich wieder an die Leute, die in seiner Nähe saßen. Aus dem Augenwinkel sah Maddie, dass Josh von seinem Platz aufstand.
Für einen Moment schien er … verwirrt zu sein.
Sie blickte ihm nach, als er zum vorderen Teil der Bar ging.
Seltsam …
Aber dann ließ sie sich in das aufgeregte Geplauder über Sommerpläne verwickeln, über die herrliche Zeit weit weg von der Schule …
Maddie lächelte die Mädchen an, die sie in einer Ecke in Beschlag nahmen. Sie redeten von Prüfungen, Noten und darüber, wie fantastisch es wäre, wenn ihre Lieblingsuni sie annehmen würde.
Maddies Blick fiel auf Josh. Er war drüben an einem Ecktisch und schien sein Bier regelrecht hinunterzustürzen. Das wie vielte ist das überhaupt?, fragte sie sich. Dabei schaute er sich suchend im Raum um.
Obwohl sie in seine Richtung sah, gab er durch nichts zu erkennen, dass er sie bemerkte.
Sein Blick überflog weiterhin den überfüllten Pub.
Suchte er nach etwas?
Oder sieht vielleicht irgendwas?
Tim kam von der Bar zurück, legte einen Arm um Maddies Schultern und zog sie von den Mädchen weg.
»Ah, danke, Tim! Wenn ich noch eine einzige Prüfungsgeschichte höre …«
Doch Tim wirkte besorgt. »Ist irgendwas mit Josh?«, fragte er und nickte in Richtung des Kollegen. Maddie drehte sich um und sah zu Josh.
»Weiß ich nicht.«
»Der steht schon ewig so da.«
»Ist mir gar nicht aufgefallen«, sagte Maddie.
»Glaubst du, er hatte ein bisschen zu viel? Ich sehe mal nach ihm.«
Tim ging zu ihm hinüber und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Josh nickte.
Dann jedoch bemerkte Maddie, dass Josh den Kopf schüttelte.
Tim klopfte ihm auf die Schulter und kam zurück.
»Stimmt was nicht?«, fragte sie.
»Ich schätze, er hat zu viel getrunken.«
»Komisch … wie er alle ansieht.«
»Ich behalte ihn lieber im Blick«, sagte Tim. »Wenigstens ist er nicht mit dem Wagen hier … Er kommt schon klar, da bin ich mir sicher.«
Sie nickte und folgte Tim, der sich wieder zu den anderen Lehrern setzte.
Maddie sah auf ihre Uhr.
Fast elf. Die letzte Stunde hatte sie nur Wasser getrunken, und jetzt wollte sie nach Hause. Sie schaute in die Runde. Tim und die anderen unterhielten sich immer noch angeregt.
Josh allerdings konnte sie nirgends entdecken.
Vielleicht ist er schon gegangen, dachte sie.
Aber dann …
Erblickte sie ihn vorn an der Bar, wo er sich mit Billy unterhielt.
Nein, eigentlich sah es eher wie ein Streit aus.
Billy schüttelte den Kopf, und Josh wirkte noch wackliger auf den Beinen als vorhin. Er schwankte, während er mit einer Hand auf die Theke schlug.
Wie jemand, der noch einen Drink wollte.
Und ihn nicht bekam.
Dann drehte er sich von der Bar weg.
Wieder blickte er sich um, als wüsste er nicht, wie er hergekommen war und was die Leute hier eigentlich taten.
Maddie dachte: Ich könnte rübergehen und mit ihm reden.
Aber im selben Moment kam Josh schon in ihre Richtung, als hätte er sie endlich entdeckt.
Er wankte leicht und stützte sich an den Tischen ab, an denen er vorbeiging.
Schließlich baute er sich direkt vor Maddie auf. Er schwankte hin und her wie ein Baum im Sturm.
»Tim, Maddie«, sagte er. »’s war großart…«
Er verstummte. Auf einmal war Joshs Blick nicht mehr auf sie gerichtet, sondern schweifte in die Ferne.
»Josh, bist du …?«
Aber Tim sprang ein. »Josh, ab nach Hause? Gute Idee! Was für ein Abend, was?«
Maddie betrachtete Josh. Seine Augen waren glasig. Anscheinend war er betrunken. Oder stimmte etwas mit ihm nicht?
Wie gut, dass er gehen wollte.
»Ich bin … okay«, sagte Josh. »Der Krach hier. Ich kann mich nicht mal denken hören. Aber klar … ähm, jedenfalls …« Er hob den linken Arm und starrte seine Uhr an, als hätte er sie nie zuvor gesehen. »Wird Zeit. Ich lasse euch zwei dann mal in Ruhe weitermachen. Ich brauche … frische Luft … frische …«
Wieder verloren sich seine Worte.
Er lächelte Maddie zu. Es war allerdings ein trauriges, verwirrtes Grinsen.
Maddie fand, es wäre besser, wenn ihn jemand nach Hause bringen würde. Dann grinste Josh wieder, schwankte zur Tür und verschwand.
Er hat es nicht weit, beruhigte sie sich selbst. Das schafft er schon.
Und sie konnte nicht einfach Tim und die anderen sitzen lassen.
Es ist sicher nicht das erste Mal, dass er ein Bier zu viel hatte.
Zumindest redete sie sich das ein.
»Willst du noch mit reinkommen?«, fragte Tim, als Maddie ihn vor seinem Haus absetzte. »Auf einen Schlummertrunk?«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Es war ein ziemlich langer Abend. Mich reizt jetzt nur noch das Bett.«
Kaum hatte sie es gesagt, wurde ihr bewusst, dass man den Satz auch falsch interpretieren könnte.
Aber Tim nickte und nahm die freundliche Abfuhr hin.
»Komm gut nach Hause«, sagte er und beugte sich zu ihr, um sie auf die Wange zu küssen.
Maddie lächelte immer noch. »Sicher«, antwortete sie. »Gute Nacht!«
Als Tim die Wagentür geschlossen hatte und in sein Cottage ging, fuhr sie weg.
Allerdings kehrte sie nicht nach Hause zurück.
Maddie ließ das Auto, so langsam sie konnte, die Cherringham High Street entlangrollen und sah in jeden dunklen Ladeneingang und jede kleine Seitengasse.
Sie war auf der Suche nach Josh Owen.
Er hatte übel ausgesehen, und irgendwas hatte mit ihm nicht gestimmt.
Maddie, die allzeit Besorgte.
Bei seinem Haus war sie schon gewesen. Dort hatte Licht gebrannt, und die Vorhänge waren offen gewesen – aber kein Josh weit und breit.
Auch auf ihren Anruf hatte er nicht reagiert.
Und jetzt war es nach Mitternacht und im Dorf fast nichts mehr los.
Falls er irgendwo hier draußen unterwegs war, würde sie ihn finden.
Sie fuhr an kleinen Schülergruppen vorbei, die von der Feier übrig geblieben waren und nun auf Straßenbänken oder den Stufen des Gemeindesaals hockten.
Sie lachten, umarmten und küssten sich, und hier und da stiegen Rauchwolken aus den Gruppen auf.
Am Ende der High Street bog Maddie in eine ruhige Straße ab und kehrte an der nächsten Ecke wieder um.
Die Nacht war noch warm, aber es stieg bereits erster Sommerdunst vom Fluss auf.
Er machte das Licht der Straßenlaternen diesig und dämpfte die Geräusche.
Bald kam Maddie wieder am Ploughman vorbei, wo schon alles dunkel war. Geschlossen.
Billy war gut darin, alle auf den Heimweg zu schicken. Und das Aufräumen und Saubermachen überließ er dem nächsten Morgen.
Es ist zwecklos, dachte sie.
Sie bewegte sich im Kreis.
Und womöglich wegen nichts.
Zumindest versuchte sie sich das einzureden.
Langsam tuckerte sie an der winzigen Polizeistation von Cherringham vorbei.
Dort brannte noch Licht, dennoch verwarf Maddie sofort wieder die Idee, hineinzugehen und von Josh zu erzählen.
Was könnte sie schon berichten?
Sie sah nach links und rechts. Ein letztes Mal noch, sagte sie sich im Stillen …
Als an ihre Seitenscheibe geklopft wurde.
Vor Schreck zuckte Maddie zusammen.
Es war einer der Schüler aus dem Pub: Jake Pawson.
»Problemkind« – so nannten ihn die anderen Lehrer. Und manche sprachen auch schlicht von einem »Problem«.
Maddie drückte den Knopf, und das Fenster glitt nach unten.
Über Jakes Schulter hinweg konnte sie seinen Kumpel Callum Brady sehen, der an einer Hausmauer lehnte.
Jake beugte sich hinein. Er hatte eine eklige Fahne.
»Miss, hi!« Er grinste anzüglich. »Verfahren?«
»Ich … Nein, alles okay. Ich bin nur … Ähm, alles in Ordnung mit dir, Jake?«
»Immer. Ich bin immer … in Ordnung.«
Sie nickte und wollte das Fenster wieder schließen.
»Was machen Sie hier … Suchen Sie wen?«, fragte er lallend.
Sie schüttelte den Kopf.
»Na ja, ich meine, muss doch irgendwas los sein … mit euch Lehrern. Heute Abend, meine ich.«
Jake stieß ein fieses Lachen aus, das sich in der stillen Sommernacht besonders laut und grausam anhörte.
»Egal. Sie wissen ja, wo Sie mich finden, was?«
Nun ging Jakes Lachen in einen Hustenanfall über.
»Danke, Jake! Ich fahre mal lieber …«
Er ließ seine Hände an dem Fenster, als Maddie den Knopf drückte, um die Scheibe wieder hochzufahren.
»Ey, holla! Ich dachte, wir könnten ein bisschen nett …«
In letzter Sekunde zog er die Finger weg.
Und Maddie gab wieder Gas und war wenig später erneut in Richtung Ploughman unterwegs.
Sie stand auf dem verlassenen Parkplatz des Pubs und schaute zu, wie sich Nebelfetzen um die orangefarbenen Straßenlaternen drehten.
Das ist Zeitverschwendung, dachte sie. Ich sollte nach Hause fahren und ins Bett gehen.
Da hörte sie ein Rufen – von weit weg.
Ein Rufen? Nein, mehr wie ein Heulen. War das ein Tier? Ein Fuchs vielleicht, der in einer Falle gefangen war?
Nein. Da war es wieder, und diesmal konnte sie eindeutig hören, dass ein Mensch rief. Irgendwo unten am Fluss. Es war ein jammernder, klagender Ton, der sich eine Weile in der Nachtluft hielt.
War das Josh? Sie musste nachsehen. Maddie stieg zurück in ihren Wagen und machte sich auf den Weg zur Brücke.
Eine dünne Mondsichel war über den Hügeln hinter Cherringham aufgegangen, sodass Maddie nur vage die Umrisse der Wiesen ausmachen konnte, die hinab zum Fluss führten.
Und als sie das Dorf hinter sich ließ, musste sie feststellen, dass der Nebel im Tal vor ihr stärker wurde – eine dichte wolkenartige Schicht, die dort einsetzte, wo sich die Themse von Norden her in einer Biegung dem Ort näherte, und bis zu dem Abschnitt reichte, wo der Fluss direkt an Cherringham vorbeiströmte. Das kühle Wasser traf auf warme Sommerluft.
Maddie fuhr von der einsamen Straße ab, obwohl sie noch ein gutes Stück von der jahrhundertealten Brücke entfernt war, und stellte den Motor aus.
Sie wollte nicht überstürzt vorwärtsbrausen – nicht, wenn es die Möglichkeit gab, dass sich Josh hier irgendwo befand.
Eine Dunstwolke lag wie eine Decke über der Brücke und verhüllte die Straße, die Brückenmauern – einfach alles verschwand darunter.
Sobald Maddie aus dem Wagen gestiegen war, hörte sie das Wasser unter den Brückenpfeilern hindurchgurgeln und über das Wehr rauschen.
Und dann vernahm sie die Stimme wieder!
Ein Brüllen. Sehr laut. Nein, eher ein Heulen – ein Schrei.
Josh.
Irgendwo auf der Brücke musste er sein. Doch obwohl sie in der Nähe war, konnte sie bei dem Nebel unmöglich etwas erkennen. Dicke Schwaden hingen über dem Fluss und bedeckten alles.
Maddie lief los und überlegte bereits ihre nächsten Schritte.
Sie würde ihn zu ihrem Wagen schaffen und nach Hause fahren, damit sie sicher war, dass er heil dort ankam.
Während sie rannte, rief sie laut nach ihm. »Josh!«
Dann jedoch, einfach so, verstummte das Heulen.
War Josh weg?
Um auf der Brücke nachzusehen, die sich über dem diesigen Fluss wölbte, würde Maddie in diese Nebelbank gehen müssen, die wie eine Wand vor ihr aufragte.
Als würde man eine Wolke betreten.
Noch nie hatte Maddie solche Angst gehabt.
Als sie in die Wolke hineinging, schien sich diese vor ihr nach und nach aufzulösen – als würde Maddie durch ihr Eindringen das Nebelgebilde vertreiben. Oder sie konnte einfach mehr sehen, weil sie sich jetzt direkt in dem Dunst aufhielt. Maddie erkannte die weiße Linie in der Straßenmitte und die alten Mauern der Brücke. Aber sie erblickte keinen Josh.
War er weggelaufen, als er sie rufen hörte?
Wieder versuchte sie, sich einen Reim auf alles zu machen: dass Josh hier gewesen war, sein eigenartiges Benehmen nach … Tja, woher sollte sie wissen, was in dem Pub passiert war? All das passte nicht zu dem Josh, den sie kannte. Wenigstens hatte die Sache ein Gutes: Josh war nicht hier.
Dann kam Wind auf. Es war eine warme Brise, trotzdem bekam Maddie eine Gänsehaut. Und als der dünne Nebel für einen Moment weggeblasen wurde, ging Maddie hinüber zum Brückengeländer.
Auf dem Mauerwerk war ein dünner Wasserfilm, den der Dunst dort zurückgelassen hatte.
Josh war offensichtlich weggelaufen.
Zumindest war er nicht hier.
Vielleicht sollte sie einfach nach Hause fahren und morgen nach ihm sehen. Sie blickte nach unten.
Über dem Wasser waberte noch ein zarter Dunstschleier, doch auch der wurde zügig vom Wind vertrieben. Und während sich der Nebel lichtete, sah Maddie etwas im kalten Mondlicht.
Es war nur wenige Meter entfernt – dort, wo sich ein kleiner Knick in der Uferböschung befand und die starke Strömung Wellen gegen ihn trieb. Dort schlugen sie an einige kahle Felsen und warfen weißen Schaum auf. Und an der Stelle war etwas.
Etwas … das mit dem sich auflösenden Nebel an Konturen gewann.
Nein, nicht etwas.
Jemand.
Maddie starrte angestrengt auf die Stelle, um mehr zu erkennen. Bis sie sah … wusste, wer es war. Sie nahm die Hände von der Steinbrüstung, denn sie musste da runter, und zwar schnell. Um sich absolute Gewissheit zu verschaffen …
Doch die schreckliche Wahrheit konnte sie jetzt bereits deutlich erkennen.
Joshs Augen waren weit aufgerissen und hinauf zum Nachthimmel gerichtet. Sein Körper war verdreht wie der einer Marionette, die man gegen eine Wand geschleudert hatte. Jeder Arm, jedes Bein war verdreht und wies in eine andere Richtung, während die Strömung an seinem leblosen Leib zerrte.
Schließlich – als würde er einen Kampf aufgeben – riss sich der Körper von den Felsen los und trieb mit dem Wasser des dunklen Flusses unter der Brücke hindurch, immer weiter weg …
Und dann war Josh fort.
Er wurde sehr schnell flussabwärts getragen.
Im Geiste wiederholte Maddie ständig vier Wörter, als wäre das, was damit ausgesagt wurde, schlichtweg unmöglich, als könnte es niemals wahr sein.
Und dennoch war es eine Tatsache.
Josh Owen ist tot.
»Mum, die kann ich nicht anziehen! Guck doch mal!«
Sarah Edwards blickte von ihrem Schlafzimmerspiegel zur Tür, wo ihre Tochter Chloe stand und eine krause weiße Bluse in die Höhe hielt.
»Das Bügelbrett ist unten. Leg sie da hin, Schatz, und geh frühstücken«, sagte Sarah und wandte sich wieder zum Spiegel, um ihr Haar zu prüfen. »Ich bin gleich unten und bügle sie dir.«
Sarah hörte, wie Chloe auf dem Weg nach unten etwas vor sich hin murmelte. Ihre Tochter mochte siebzehn sein, war bislang jedoch nicht auf die Idee gekommen, dass sie durchaus selbst bügeln könnte.
Gott, bin ich froh, wenn das Schuljahr vorbei ist, dachte Sarah. Viel mehr von diesem Chaos verkrafte ich nicht.
Das neue Haus zu kaufen, das größer war und ein Arbeitszimmer sowie einen richtigen Garten bot, war ihr eigentlich wie eine gute Idee vorgekommen.
Jetzt hingegen, da ihr Leben mit nicht ausgepackten Kartons vollgestellt war, kamen ihr Zweifel.
Sie zog eine Strickjacke aus einem der Umzugskartons in der Schlafzimmerecke, ging um einen Bücherstapel herum und raus auf den Flur.
»Daniel, es ist fünf nach!«, rief sie, als sie am Zimmer ihres Sohns vorbeikam.
»Ich bin schon wach«, antwortete eine gedämpfte Stimme durch die Tür.
»Das solltest du auch tunlichst sein. Wir fahren in zehn Minuten los«, sagte Sarah.
Es schien zu wirken. Als sie die Treppe hinunterging, hörte sie das vertraute Poltern und Stöhnen. Es bedeutete, dass Daniel sich anzog.
Unten in der Diele stapelten sich noch mehr Kartons, und Sarah drängte sich an ihnen vorbei in den hinteren Hausbereich, wo die große Küche mit der Frühstücksecke war. Dort lehnte Chloe an der Anrichte und löffelte Müsli aus einer Schale.
Riley, der verrückte Spaniel, um den sie sich inzwischen schon seit fast einem Jahr kümmerten, hockte geduldig zu Chloes Füßen und hoffte, dass irgendwelche Krümel herunterfielen.
Er war eigentlich Jack Brennans Hund, doch mittlerweile gehörte er hier schon zur Familie.
Und wer wusste schon, ob Jack jemals aus den Staaten zurückkehrte, um seinen Hund und sein altes Leben wiederaufzunehmen?
Sarah durchquerte die Küche, legte die Bluse ihrer Tochter auf dem Bügelbrett aus und testete das Bügeleisen.
Sie mochte diesen Raum sehr. Und gerade jetzt, im Hochsommer, strömte das Morgenlicht durch die Glasschiebetüren herein, die über die gesamte Hausbreite verliefen.
Das Sonnenlicht fühlte sich wie eine Einladung an, den Tag freizunehmen, im Garten zu sitzen, ein Glas Weißwein zu trinken und den Schwalben zuzusehen, wie sie im Gleitflug über den Fluss segelten.
Was heute natürlich nicht ging.
Als Erstes stand die Tour zur Schule an. Immer wieder eine besondere Herausforderung! Und danach erwartete sie ein langer Tag im Büro am Computer, wo sie die endgültigen Entwürfe für eine Werbekampagne im Herbst durchgehen musste. Es war der große Auftrag, bei dem aller Voraussicht nach so viel Geld für sie herausspringen würde, dass Sarah gedacht hatte, alles riskieren und in dieses größere Haus am Rand von Cherringham ziehen zu können.
Es handelte sich um das Traumhaus, für das sie schon seit Jahren geschwärmt hatte. Und als es vor zwei Monaten plötzlich zum Verkauf angeboten wurde, hatte Sarah die Gelegenheit beim Schopf gepackt.
Und mithilfe einer unerwarteten Erbschaft – dem Himmel sei Dank für Großtanten! – konnte sie es sich gerade so leisten. Die Bank war zwar sehr skeptisch gewesen, wie eine alleinerziehende Mutter die Hypothekenraten zahlen wollte – dennoch hatte man ihren Kredit vor zwei Wochen bewilligt.
Aber was für ein Zeitpunkt für einen Umzug: einen Monat vor Ende des Schuljahres und in einer Phase, wo es bei ihr im Büro brummte!
»Ach, das hab ich ja ganz vergessen, Mum. Ich habe dir einen Tee gemacht«, sagte Chloe, stellte ihre Schale in die Spüle und brachte Sarah einen Becher.
»Danke, Schatz!« Sarah trank einen Schluck und fügte hinzu: »Kannst du Riley bitte ein bisschen durch den Garten scheuchen?«
»Klar.« Chloe zog die Glastür auf.
Sie liebte den Hund.
In dem Moment, in dem sich die Tür öffnete, schoss Riley in den Garten hinaus. Wenigstens er durfte ihn genießen!
Sarah beobachtete, wie der Hund vergnügt durch die warme Sommerluft tollte.
»Hast du meine Brotdose gesehen?«, fragte Daniel hinter ihr.
Sarah drehte sich zu ihrem Sohn um. Daniel war in Schuluniform, aber die Schuhe hatte er noch nicht angezogen. Er kratzte sich durchs zerzauste Haar und lehnte im Türrahmen.
Noch nicht ganz fertig.
»In deiner Tasche, nehme ich an«, antwortete Sarah.
»Ah, guter Tipp.« Daniel holte seine Tasche, nahm die Brotdose heraus und ging damit zum Kühlschrank. Eine Weile wühlte er darin herum.
»Darf ich den Käse haben?«, bat er.
»Ja, wenn du auch von dem Salat was nimmst.«
»Salat ist Teufelswerk«, erwiderte Daniel grinsend.
»Wohl kaum«, sagte Sarah und hängte die Bluse über eine Stuhllehne. »Der Teufel dürfte sich eher mit Ungesünderem befassen, wie mit Cheeseburgern zum Beispiel!«
»Hmm, steckt der Teufel im Cheeseburger? Erörtert dieses Thema in maximal fünfhundert Wörtern …«
»Deine Bluse ist fertig, Chloe!«, rief Sarah laut, sodass man es überall im Haus hören konnte. Dann ging sie zu Daniel, der am Kühlschrank stand. »Sieh mal, hier ist eine leckere Pastete, okay? Und Tomaten sind auch noch da.«
Sie beobachtete, wie Daniel sich Essen in die Plastikdose legte und den Deckel schloss. Der Behälter sah ziemlich schmutzig aus.
»Hast du die abgewaschen?«
»Passt schon«, meinte er und steckte die Dose in seine Schultasche. »Gestern hat sie noch nicht allzu schlimm gerochen.«
»Bringen die euch in Biologie nichts bei? Über Schimmel? Oder Bakterien?«
»Ich stehe nicht so auf Bio.«
»Schade«, befand Sarah. »Und wo wir schon von Bio-Gefahren reden – deine Schuhe sind unterm Sofa. Die würden sich an deinen Füßen ganz praktisch machen.«
Daniel grinste und schlenderte ins Wohnzimmer, um sie zu holen.
Er wird auch zu schnell groß. Wie sagen die Leute immer … Es geht so schnell vorbei. Aber wenn man mittendrin steckt, merkt man es kaum.
Außer heute, an diesem Morgen. Da merkte sie es.
Sarah trank ihren Tee aus, räumte das restliche Geschirr zusammen und in die Spülmaschine und öffnete die hintere Tür, um Riley hereinzulassen. Dann füllte sie eilig seine Wasserschale. Sie schloss die Hintertür ab, überprüfte kurz, ob Daniel den Kühlschrank richtig zugemacht hatte, schnappte sich ihre Handtasche und die Autoschlüssel. Und ab!
Sie ging in die Diele.
»Zwei Minuten, Leute, sonst sind wir wirklich zu spät!«
Da klingelte ihr Handy.
Sie sah aufs Display: Es war Tony Standish.
Ausgerechnet jetzt!
Tony war Anwalt und ein guter Freund der Familie. Vor einigen Jahren hatte er Sarah unterstützt, als sie zufällig eine Teilzeit-Privatermittlerin wurde; und seither hatte er Jack und sie auch schon einige Male bei einem Fall eingespannt.
Hetze hin oder her, Tony konnte sie nicht wegdrücken.
»Tony!«
»Sarah, meine Liebe, wie geht es dir? Was macht das neue Haus und so? Das muss der Wahnsinn sein!«
Tony klang immer wie ein Landarzt aus einem Fünfzigerjahre-Film: so beruhigend und verlässlich.
»Ach, gerade habe ich die morgendliche Schultour, du weißt schon.«
Nein, wusste er eigentlich nicht, denn Tony und sein langjähriger Partner hatten sich mit derlei ja nie herumgeplagt.
Vielleicht bedauert er ja, so etwas nie erlebt zu haben – Chaos hin oder her?
»Ach du liebe Güte! Entschuldige, dass ich gerade jetzt störe«, sagte Tony. »Also fasse ich mich sehr kurz. Mittagessen heute in meinem Büro? Sagen wir, gegen eins?«
»Huch. Na ja, ich …«
»Furchtbar kurzfristig, ich weiß. Aber, nun ja, ich brauche deine Hilfe, Sarah.«
»Natürlich.« Sie konnte nicht Nein sagen. Das ist immerhin Tony!
Rasch fügte sie hinzu: »Ich freue mich.«
»Hervorragend«, antwortete Tony. »Bis nachher!«
Sarah schaltete das Telefon aus und ließ es zurück in ihre Tasche fallen.
Inzwischen warteten die Kinder schon in ihrem alten RAV4, der auf der Kieseinfahrt parkte.
»Bis später, Riley!«, rief Sarah aus purer Gewohnheit ins leere Haus.
Dann schloss sie die Tür hinter sich ab, stieg in den Wagen, ließ den Motor an und fuhr die Straße hinauf, die in den Ortskern von Cherringham führte.
Dabei überlegte sie …
Tony Standish braucht Hilfe? Früher konnte das nur eines heißen. Eine ganz bestimmte Art von Problem. Und vielleicht …
Bedeutete dies einen neuen Fall.
Aber gleich darauf dachte sie: So etwas mache ich nicht mehr.
Sarah schloss die Bürotür hinter sich und stieg die drei Treppen hinunter. Dann trat sie hinaus auf die High Street und begann sich zwischen den Touristen hindurchzuschlängeln.
Es war Anfang Juli, also noch nicht mal Hochsaison in Cherringham – aber die Busse kamen bereits im Stundentakt und entluden Besucher aus aller Welt auf ihren Rundfahrten durch die Cotswolds.
Sarah beklagte sich allerdings nicht. Die Touristenmassen waren gut für die Wirtschaft in dieser Region, und das kam letztlich auch ihrem Geschäft zugute.
Sie ging an dem alten viktorianischen Gebäude vorbei, in dem sich das Gemeindezentrum befand, und blieb vor Huffington’s Tea Rooms stehen, um eine Gruppe japanischer Touristen vorbeizulassen.
Was ist, wenn Tony tatsächlich einen Fall für mich hat?, fragte sie sich.
Bin ich wirklich durch damit? Oder könnte ich auch allein ermitteln?
Seit Jack vor einem Jahr Hals über Kopf nach L.A. gereist war, hatte sich Sarah auf ihre Webdesign-Agentur konzentriert und damit abgefunden, dass sie beide wohl nicht mehr nebenher ermitteln würden.
Und, Mann – wie Jack sagen würde –, die Arbeit als Privatdetektivin fehlte ihr doch sehr!
Sie wartete, bis die Touristen hinter ihrem Fremdenführer weitergetrottet waren, und überquerte die Straße.
Tony Standishs Kanzlei befand sich in einem vornehmen Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert – mit direktem Blick auf den Marktplatz von Cherringham. Es hatte hohe Fenster, eine geschmackvolle graue Fassade und ein dezentes Messingschild neben der weiß gestrichenen Eingangstür aus massiver Eiche.
Sarah klingelte, und Tonys Sekretärin öffnete ihr. Mary war fast so alt wie Tony und wie er eine feste Institution in Cherringham.
»Hallo, Mary«, grüßte Sarah.
»Ah, Miss Edwards«, sagte die Frau – auch sie könnte einem alten Film entsprungen sein –, als sie Sarah hineinließ und leise die Tür hinter ihr schloss. »Mr Standish ist mit seinem Besuch oben im Konferenzraum. Gehen Sie einfach hinauf.«
Besuch? Tony hat mir nichts von einem Besuch gesagt.
Und Sarah musste zugeben, dass sie ein bisschen neugierig wurde. Vielleicht war sie sogar gespannt. Was auch immer. Bald würde sie erfahren, was los war.
Sarah ging an Tonys Büro vorbei und stieg die geschwungene breite Treppe mit dem Mahagoni-Geländer hoch, auf der Messingstangen den Teppichläufer hielten.
Da oben die Tür zum Konferenzraum offen war, ging Sarah direkt hinein.
Tony stand mit einem Glas Sherry am Ende des langen Eichentisches. Der Tisch war für drei Personen gedeckt.
Neben ihm war eine große Frau in einem eleganten Kostüm – wahrscheinlich Mitte vierzig. Als sie sich lächelnd umdrehte, erkannte Sarah sie sofort.
Die neue Direktorin von Chloes und Daniels Schule.
Die gerade einen Sherry trinkt!
»Sarah, darf ich dir Louise James vorstellen?«
Sarah trat vor und schüttelte Louise die ausgestreckte Hand. Wie immer war sie elegant gekleidet – und sehr passend für eine Frau, die eine wichtige berufliche Position innehatte.
»Wir sind uns kurz begegnet, als Sie im Mai herkamen«, sagte Sarah. »Sicher erinnern Sie sich nicht an mich, bei den vielen Eltern, die dort waren.«
»Doch, ich erinnere mich recht gut«, erwiderte Louise und lächelte. »Sie haben mir Glück gewünscht. Darüber freue ich mich immer.«
»Ich dachte, dass Sie es brauchen können. Wie haben Sie sich eingelebt?«
Sarah bemerkte, dass Louise zu Tony sah und kurz zögerte. »Ich bin noch dabei, mich in der Schule zurechtzufinden«, antwortete Louise. »Und in dem neuen Haus ist alles noch sehr chaotisch.«
»Wem sagen Sie das? Wir sind vor ein paar Wochen umgezogen und leben immer noch aus den Kartons«, gestand Sarah. »Wir sollten uns mal auf einen Drink treffen – Erfahrungen austauschen.«
»Das wäre schön.«
»Alle paar Jahre ein neuer Job und ein neues Haus: Ich weiß nicht, wie Sie das schaffen, Louise«, sagte Tony.
»Eigentlich müsste ich langsam Routine darin haben, aber leider ist das nicht der Fall.«
»Und dann noch der Unfall des armen Mr Owen«, merkte Sarah an, der plötzlich wieder einfiel, was letzte Woche passiert war. »Das muss für Sie alle furchtbar gewesen sein.«
»Das war es«, bestätigte Louise. »Ganz besonders für seine Jahrgangsstufe. Die Schüler werden nur schwer damit fertig.«
»Weiß die Polizei schon, was er auf der Brücke wollte?«, fragte Sarah. »Ich meine – war er vielleicht nach der Abschlussfeier in einer zu übermütigen Stimmung?«
Wieder bemerkte sie, dass Tony und Louise einander anblickten.
»Louise«, sagte Tony, »ich habe Sarah noch nicht erklärt, warum ich sie zum Mittagessen hergebeten habe.«
»Ach so.« Louise wandte sich wieder zu Sarah. »Demnach wissen Sie auch nicht, warum ich hier bin?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Sarah lächelnd. »Aber ich vermute, dass es etwas Vertrauliches ist. Das ist es normalerweise immer, wenn einer von Tonys berühmten Büro-Lunches ansteht.«
»Oh ja, vertraulich ist es allemal«, bekräftigte Louise und sah Tony ernst an.
»Wollen wir es uns dann bequem machen?«, schlug er vor und zeigte zu den drei gedeckten Plätzen. »Das Mittagessen wird gleich da sein, und vielleicht könnten Sie in der Zwischenzeit schon mal, äh, die Situation schildern, Louise?«
Sarah zog einen der Regency-Stühle hervor und setzte sich Louise gegenüber hin, während Tony sich am Kopfende des Tisches niederließ.
Sie nahm die Serviette aus dem silbernen Ring – bei Tony ging es wie immer »stilvoll« zu – und breitete sie auf ihrem Schoß aus.
Anschließend sah sie Louise an und wartete auf deren Ausführungen.
»Sie erwähnten Josh ja schon«, begann Louise schließlich und blickte Sarah direkt an. »Nun ja, leider geht es bei dieser Sache um ihn.«
Sarah musste sich erneut in Geduld üben, da Louise nicht weiterredete, sondern Tony anblickte. Anscheinend wünschte sie sich irgendeine Bestätigung von ihm, ehe sie ihr eigentliches Anliegen ansprechen wollte.
»Nun, am Samstag meldete sich Tony mit einigen recht verstörenden Neuigkeiten bei mir«, fügte Louise hinzu.
»Wie du weißt, Sarah, bin ich im Schulrat«, erklärte er. »Darüber hinaus habe ich als Anwalt einige nützliche Kontakte bei der Polizei, die ich, ähm, über die Jahre hinweg gepflegt habe; und dazu gehören auch recht hochrangige Personen. Einer von ihnen war so freundlich, mich am Wochenende anzurufen und mir ein paar Informationen zukommen zu lassen, bevor sie öffentlich gemacht werden.«
Sarah hörte stumm zu.
»Nach dem vorläufigen Autopsie-Bericht war der Sturz die Todesursache – Josh erlitt ein starkes Schädeltrauma«, fuhr Tony fort. »Was natürlich nicht weiter überraschend ist. Aber da gibt es noch etwas …«
Er lehnte sich vor, als wollte er den Ernst dessen betonen, was jetzt kommen würde.
»In dem Bericht heißt es außerdem, dass unser Mr Owen neben Alkohol auch eine große Menge gewisser Substanzen im Blut hatte.«
»Substanzen?«, fragte Sarah. »Was meinst du damit? Verschreibungspflichtige Medikamente?«
»Nein«, antwortete Louise. »LSD.«
»Wie bitte?«, entfuhr es Sarah.
»Und, um ganz genau zu sein, auch Spuren von MDMA«, ergänzte Tony.
»Ecstasy?«, rief Sarah. »Mein Gott!«
»Ein wirklich bedenklicher Cocktail«, merkte Tony an.
»Bisher wissen nur Tony, der Schulrat und ich davon«, erklärte Louise. »Aber ich fürchte, dass diese Information bald an die Öffentlichkeit kommt.«
»Ich kann das gar nicht glauben.« Sarah lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Ich meine, Josh war Chloes Erdkundelehrer. Ich habe ihn beim Elternabend kennengelernt. Da kam er mir so … geerdet vor. Niemals wäre ich bei ihm auf so etwas gekommen.«
»Eben«, sagte Louise hastig. »Ganz meiner Meinung. Ich kannte ihn leider nicht lange, aber auch mir fällt es schwer zu glauben, dass er Drogen genommen haben soll.« Sie holte tief Luft. »Das scheint mir undenkbar.«
Sarah sah von Louise zu Tony.
»Könnte er die Drogen versehentlich genommen haben?«, fragte sie.
»Möglich wäre es«, antwortete Tony, »aber unwahrscheinlich. Wie hätte das passieren können? Und woher hätten sie kommen sollen?«
»Was sagt die hiesige Polizei?«, wollte Sarah wissen. »Weiß sie schon Bescheid? Hast du mit Alan geredet?«
Alan Rivers war Cherringhams einziger Polizist. Früher hatte er oft ein Auge zugedrückt, wenn Sarah und Jack etwas unorthodox ermittelten, und war ihnen sogar manchmal dabei behilflich gewesen.
Die Tatsache, dass er Sarah mochte – ohne jede Ermutigung ihrerseits –, hatte wohl ebenfalls geholfen.
»Oh, Alan hat die Akte gesehen. Er hat mir mitgeteilt, dass ›die Sache von denen weiter oben überprüft wird‹«, sagte Tony. »Aber egal, was sie machen … Sobald das hier bekannt wird, und das wird es -«
»Es ist schon schlimm genug, wenn Schüler ein Drogenproblem haben«, unterbrach Louise ihn. »Doch wenn sich herausstellt, dass auch Lehrkräfte mit Drogen zu tun haben …«
»Gibt es denn tatsächlich ein Drogenproblem an der Schule?«, fragte Sarah erschrocken. Dort wurden ihre eigenen Kinder unterrichtet! »Ich wusste nicht -«
Doch bevor sie ihren Satz beenden und Louise antworten konnte, erschien Mary mit einem Tablett an der Tür.
»Ah, wunderbar!«, sagte Tony. »Hier ist unser Lachs.«
Sarah beobachtete schweigend, wie die Sekretärin, die zugleich als Kellnerin fungierte, vorsichtig Platten mit Frühkartoffeln, Salat und kaltem, pochiertem Lachs auf den glänzenden Tisch stellte.
»Das sieht köstlich aus, Mary«, lobte Tony. »Ich denke, wir kommen dann allein zurecht. Würden Sie bitte die Tür schließen? Vielen Dank!«
Als die Sekretärin fort war, wandte er sich an die Schulleiterin. »Louise, bitte, verzichten wir auf Förmlichkeiten.« Er bedeutete ihr, sich zu bedienen. Während sie es tat, ging Tony zu einem Sideboard und holte von dort eine Flasche Wein.
»Möchtest du ein winziges Glas Chablis trinken, während wir den Fall besprechen, Sarah?«, fragte er und hielt die Flasche so, dass er sofort einschenken konnte. »Er ist schön gekühlt.«
Und ausnahmsweise beschloss Sarah – angesichts all dieser Enthüllungen und des eindrucksvollen Rahmens –, dass sie heute Mittag etwas trinken würde.
Sarah schnitt ein wenig von dem schimmernden Lachs ab und tunkte ihn in einen kleinen Klacks Dillsoße: Es schmeckte absolut köstlich!
»Hervorragend!«, rief Louise.
»Mary kann es einfach«, sagte Tony.
»Das Essen ist wunderbar«, stimmte Sarah höflich zu, auch wenn sie sich dringend wünschte, endlich eine Antwort von Louise zu erhalten.
Schließlich legte die Direktorin ihr Besteck ab.