Choral des Todes - Jean-Christophe Grangé - E-Book
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Choral des Todes E-Book

Jean-Christophe Grangé

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Beschreibung

Sie sind Kinder - doch ihre Herzen sind finsterer als die Hölle!

Ein markerschütternder Schrei hallt durch die Kirche Saint-Jean-Baptiste. Ein Todesschrei! Der ehemalige Polizist Lionel Kasdan eilt über die steinerne Rundtreppe hinauf zur Empore. Zu spät. Der Mann an der Orgel ist tot. Eine dunkle Blutlache umgibt seinen Kopf wie ein Heiligenschein.
Der Tote und sein grauenvoller Tod lassen Lionel nicht mehr los. Die einzigen, die etwas zu wissen scheinen, sind die jungen Chorknaben. Doch sie schweigen beharrlich. Als weitere grausame Morde geschehen, stößt Lionel auf ein dunkles Geheimnis: Der Schlüssel zu dem Fall sind die Sängerknaben - und sie sind keinesfalls kleine Unschuldsengel, sondern die Ausgeburt des Bösen ...

»Der König des französischen Thrillers hat sein bestes Werk abgeliefert.« LE FIGARO MAGAZINE

Jean-Christophe Grangé führt uns auf unvergleichliche Weise in die Abgründe der menschlichen Seele und in eine Welt, in der Grausamkeit und dunkle Gesetze herrschen. Sein Markenzeichen ist Gänsehaut pur.

Weitere spannende Meisterwerke des Thriller-Genies Jean-Christophe Grangé bei beTHRILLED:

Der Flug der Störche
Der steinerne Kreis
Das Imperium der Wölfe
Das schwarze Blut
Das Herz der Hölle
Der Ursprung des Bösen
Die Wahrheit des Blutes
Purpurne Rache
Schwarzes Requiem

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Inhalt

CoverGrußwort des VerlagsÜber dieses BuchTitelWidmungTeil 1: Der MörderKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Teil 2: Die PeinigerKapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Teil 3: Die KolonieKapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67Kapitel 68Kapitel 69Kapitel 70Kapitel 71Kapitel 72Kapitel 73Kapitel 74Kapitel 75Kapitel 76Kapitel 77Kapitel 78Kapitel 79Kapitel 80Kapitel 81Kapitel 82Kapitel 83Über den AutorWeitere TitelImpressum

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Über dieses Buch

Ein markerschütternder Schrei hallt durch die Kirche Saint-Jean-Baptiste. Ein Todesschrei! Der ehemalige Polizist Lionel Kasdan eilt über die steinerne Rundtreppe hinauf zur Empore. Zu spät. Der Mann an der Orgel ist tot. Eine dunkle Blutlache umgibt seinen Kopf wie ein Heiligenschein.

Der Tote und sein grauenvoller Tod lassen Lionel nicht mehr los. Die einzigen, die etwas zu wissen scheinen, sind die jungen Chorknaben. Doch sie schweigen beharrlich. Als weitere grausame Morde geschehen, stößt Lionel auf ein dunkles Geheimnis: Der Schlüssel zu dem Fall sind die Sängerknaben – und sie sind keinesfalls kleine Unschuldsengel, sondern die Ausgeburt des Bösen …

Jean-Christophe Grangé

Choral desTodes

Thriller

Aus dem Frazösischen vonThorsten Schmidt

Für Louis, Mathilde, Ysé – die Sonnen meines Lebens

Teil 1Der Mörder

Kapitel 1

Der Schrei war in der Orgel eingesperrt.

Er sirrte in den Orgelpfeifen und hallte in der ganzen Kirche wider. Gedämpft. Dumpf. Entrückt. Lionel Kasdan machte drei Schritte und verharrte in der Nähe der brennenden Kerzen. Er betrachtete den menschenleeren Chor, die Marmorsäulen, die mit dunkel himbeerrotem Kunstleder bezogenen Stühle.

»Oben, bei der Orgel«, hatte Sarkis gesagt. Kasdan drehte sich um und schlich über die steinerne Rundtreppe hinauf zur Empore. Die Orgel in der Kirche Saint-Jean-Baptiste hat eine Besonderheit: Ihr Pfeifenwerk ragt wie eine Batterie Raketenwerfer in der Mitte auf, während sich das davon getrennte Manuale rechts befindet. Kasdan ging über den roten Teppich an dem Geländer aus blauem Stein entlang.

Der Körper lag eingeklemmt zwischen den Pfeifen und der Notenablage über dem Manuale.

Auf dem Bauch, das rechte Bein angewinkelt, die Hände verkrampft, als würde er kriechen. Eine kleine schwarze Lache um den Kopf. Partituren und Gebetsbücher waren um den Leichnam herum verstreut. Unwillkürlich sah Kasdan auf seine Uhr: 16.22 Uhr.

Für einen Moment beneidete er diesen Toten um seine Ruhe. Er hatte immer geglaubt, dass er mit dem Alter eine Angst, eine unerträgliche Furcht vor dem Nichts empfinden würde. Aber das Gegenteil war geschehen. Im Lauf der Jahre hatte sich in ihm eine ungeduldige Neugier auf den Tod entwickelt, eine Art magnetische Angezogenheit.

Endlich Frieden.

Das Schweigen seiner inneren Dämonen.

Abgesehen von dem Blutfleck gab es keinerlei Anzeichen für Gewaltanwendung. Der Mann hätte einen Herzinfarkt erlitten und sich im Sturz verletzt haben können. Kasdan setzte ein Knie auf den Boden. Das Gesicht des Toten war unsichtbar, verborgen in seinem angewinkelten Arm. Nein, es war Mord. Er witterte es.

Der Ellbogen des Opfers war auf ein Register der Orgel gestützt. Kasdan kannte sich in der Orgelmechanik nicht aus, aber er vermutete, dass die betätigte Pedaltaste die Pfeifen aus Zinn und Blei geöffnet und die Resonanz des Schreies verstärkt hatte. Wie war der Mann umgebracht worden? Warum hatte er geschrien?

Kasdan stand auf und griff nach seinem Telefon. Aus dem Gedächtnis wählte er mehrere Nummern. Bei jedem Anruf erkannte man seine Stimme. Jedes Mal erhielt er die Antwort: »Okay.« Hitze in seinen Adern. Er war also nicht tot. Nicht ganz.

Er dachte an den Film Geheimagent von Alfred Hitchcock, einer dieser Schwarz-Weiß-Filme, die er sich nachmittags zum Zeitvertreib in den Kinos des Quartier latin ansah. Zwei Spione entdeckten einen Leichnam, der in einer kleinen schweizerischen Kirche vor dem Manuale einer Orgel saß, die Finger erstarrt in einem diskordanten Akkord.

Er ging zur Balustrade und betrachtete den Saal zu seinen Füßen. An der Rückwand der Apsis das Tuch Christi, eingerahmt vom Engel des heiligen Matthäus und dem Adler des heiligen Johannes. Kronleuchter mit Kristalltropfen. Der goldene Altarvorhang. Purpurne Teppiche. Es war genau die gleiche Szene wie in dem Hitchcock-Film, allerdings in einer armenischen Spielart.

»Was machen Sie da?«

Kasdan drehte sich um. Ein Unbekannter mit flacher Stirn und mächtigen Augenbrauen stand auf der Schwelle der Treppe. Im Halbdunkel glich er einer mit schwarzem Filzstift gezeichneten Karikatur. Er schien zornig.

Statt zu antworten, machte Kasdan ein eindeutiges Zeichen: »Pst!« Er wollte weiterhin das Pfeifen hören, das kaum noch wahrnehmbar war. Als der Ton erloschen war, ging er auf den Neuankömmling zu:

»Lionel Kasdan, Kommissar bei der Mordkommission.«

Der Mann wirkte überrascht:

»Noch immer im Dienst?«

Die Frage sagte alles. Kasdan machte sich keine Illusionen mehr. Mit seiner sandfarbenen Drillichjacke, seinen kurz geschnittenen grauen Haaren, seinem um den Hals gewickelten Turbanschal und seinen dreiundsechzig Jahren auf dem Buckel glich er mehr einem Söldner, der auf einem Saumpfad im Tschad oder im Jemen vergessen worden war, als einem aktiven Polizisten.

Der andere war das genaue Gegenteil: jung, kräftig, selbstsicher. Ein Muskelpaket in einer schimmernd grünen Bomberjacke, der seine Glock im Gürtel seiner Baggy-Jeans trug. Nur in ihrer Statur glichen sie einander. Zwei über 1,85 Meter große Kraftprotze, die beide um die hundert Kilogramm wogen.

»Bleiben Sie stehen«, sagte Kasdan, »sonst verwischen Sie die Spuren!«

»Hauptmann Éric Vernoux«, erwiderte der Polizist, »Erste Kriminalpolizeidirektion. Wer hat Sie angerufen?«

Trotz seiner Erregung sprach er leise, als hätte er Angst, eine Messe zu stören.

»Der ehrwürdige Vater Sarkis.«

»Vor uns? Wieso Sie?«

»Ich bin Mitglied der Kirchengemeinde.«

Der Mann runzelte die Brauen, sodass sie eine geschlossene schwarze Linie bildeten.

»Sie befinden sich in der armenischen Kathedrale Saint-Jean-Baptiste«, sagte Kasdan, »ich bin Armenier.«

»Wie kommt es, dass Sie so schnell hier waren?«

»Ich war schon da. Im Verwaltungsgebäude auf der anderen Seite des Hofs. Als Vater Sarkis den Leichnam entdeckte, hat er mich geholt. Ganz einfach.« Er hob seine Hände. »Ich habe in meinem Auto nach Handschuhen gesucht und dann die Kirche durch das Hauptportal betreten. Wie Sie.«

»Und Sie haben nichts gehört? Ich meine, vorher. Geräusche, die auf einen Kampf hindeuten?«

»Nein, im Verwaltungsgebäude hört man nicht, was sich in der Kirche abspielt.«

Vernoux griff mit der Hand in seinen Blouson und zog ein Handy heraus. Kasdan starrte auf das Gliederarmband und den Siegelring. Ein echter Polizist. Plump. Vulgär. Dennoch rührte ihn der Anblick dieser Dinge irgendwie an.

»Was tun Sie?«, fragte er.

»Ich rufe den Staatsanwalt an.«

»Schon erledigt.«

»Was?«

»Ich habe auch meine Teams verständigt.«

»Ihre Teams?«

Draußen, in der Rue Goujon, heulten Sirenen. Auf einen Schlag füllte sich die Kirche mit Technikern der Spurensicherung in weißen Overalls, während andere, mit verchromten Köfferchen, die Empore hinaufstiegen. Der Mann an der Spitze grinste unter seiner Kapuze. Hugues Puyferrat, einer der leitenden Beamten der Spurensicherung:

»Kasdan, du bist wirklich nicht totzukriegen!«

»Die Leiche hat noch ’nen Steifen«, meinte der Armenier schmunzelnd. »Machst du mir das Rundumpaket?«

»Geht klar!«

Vernoux’ Blick wanderte zwischen dem Mann vom Erkennungsdienst und dem Ex-Polizisten hin und her. Er wirkte verblüfft.

»Gehen wir runter! Hier gibt’s nicht genug Platz für alle«, meinte Kasdan.

Ohne die Antwort abzuwarten, stieg er die Treppe hinunter und kehrte zurück ins Kirchenschiff, während Techniker bereits zwischen den Stühlen Fingerabdrücke abnahmen und mit versiegelbaren Tüten hantierten. Blitzlichter knatterten in den vier Ecken der Kirche.

Vater Sarkis tauchte auf der rechten Seite der Apsis auf. Weißer Kragen, schmuckloser Anzug. Er hatte schwarze Augenbrauen und graues Haar und ähnelte Charles Aznavour. Zu Kasdan gewandt murmelte er:

»Es ist unglaublich. Ich kann es noch gar nicht fassen.«

»Wurde nichts gestohlen? Hast du es überprüft?«

»Hier gibt’s nichts, was man stehlen könnte.«

Der ehrwürdige Vater sagte die Wahrheit. In der Armenischen Kirche ist die Bilderverehrung verboten. Keine Statuen, kaum Gemälde. Abgesehen von einer Öllampe und einigen Thronen mit Goldverzierungen gab es in diesem Gotteshaus keine Kultgegenstände.

Kasdan musterte den Geistlichen schweigend. Der alte Mann hatte schon einiges durchgemacht. Seine verschleierten schwarzen Augen verrieten einen tiefen Fatalismus, der niemals fern ist, wenn man einem Volk angehört, das zweitausend Jahre lang verfolgt wurde. Wenn man selbst im Exil gelebt hat, wenn die eigenen Verwandten einem Völkermord zum Opfer fielen – und wenn die Urheber dieses Völkermords ihre Verbrechen nicht einmal zugeben wollen.

Er drehte sich um. Vernoux, der einige Meter entfernt mit dem Rücken zu ihm stand, wisperte in sein Handy.

Kasdan näherte sich ihm und spitzte die Ohren:

»Ich weiß nicht, was er hier treibt … Ja … Wie schreibt man das? Keine Ahnung. Wie Kasten, oder?

Der Armenier hinter ihm lachte laut auf:

»Nein, wie Cassata!«

Kapitel 2

Das erste Gemälde zeigte die armenischen Anführer in der Schlacht von Avarair im Jahr 451 – damals hatten sich die Armenier gegen die Perser erhoben. Das zweite Gemälde war ein Porträt des heiligen Mesrob Maschtoz, der das armenische Alphabet erfunden hatte. Auf dem dritten sah man berühmte Gelehrte, die während des Völkermords zwischen 1915 und 1917 deportiert und ermordet worden waren.

Aufmerksam betrachtete Éric Vernoux diese bärtigen Figuren, die auf die Hofmauer gemalt worden waren, während zwanzig Kinder ihre Kreise um ihn zogen und Fangen spielten. Er wirkte so verwirrt, als wäre er gerade auf dem Mars gelandet.

»Heute ist Mittwoch«, erklärte Sarkis. »Die Katechismus-Stunde ist gerade zu Ende. Normalerweise nehmen die meisten Jungen an der Chorprobe teil. Eigentlich hätte sie schon beginnen müssen. Ihre Eltern wurden verständigt, sie kommen, um ihre Sprösslinge abzuholen. Bis dahin können die Kinder doch genauso gut hier spielen, oder nicht?«

Der Kripo-Beamte nickte wenig überzeugt. Er blickte hinauf zu dem großen Kreuz aus Tuffstein, das die Mauer neben dem Fresko schmückte.

»Sind Sie … Katholiken?«

Kasdan antwortete mit einem Anflug von Boshaftigkeit:

»Nein. Die Armenische Apostolische Kirche ist eine autokephale orthodoxe Ostkirche. Sie gehört zu den Kirchen der drei Konzile.«

Vernoux’ Augen weiteten sich.

»Historisch gesehen«, fuhr Kasdan fort, wobei er die Stimme erhob, um die Schreie der Kinder zu übertönen, »ist die Armenische Kirche die älteste christliche Kirche. Sie wurde im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung von zwei Aposteln gegründet. Später kam es zu zahlreichen Meinungsverschiedenheiten mit den anderen Christen. Konzile, Konflikte … So sind wir beispielsweise Monophysiten.«

»Mono… was?«

»Für uns war Jesus Christus kein Mensch. Er war der Sohn Gottes, das heißt, er war ausschließlich göttlicher Natur.«

Vernoux schwieg. Kasdan lächelte. Es belustigte ihn immer wieder, welches Befremden die armenische Welt auslöste – ihre Regeln, ihre religiösen Überzeugungen, ihre Andersartigkeit. Der Polizist zog verärgert sein Notizbuch heraus. Er hatte es satt, belehrt zu werden.

»Gut. Das Opfer hieß …« Er studierte seine Aufzeichnungen. Wilhelm Götz, nicht wahr?«

Sarkis nickte mit verschränkten Armen.

»War er Armenier?«

»Nein, Chilene.«

»Chilene?«

»Wilhelm gehörte nicht unserer Gemeinschaft an. Vor drei Jahren ist unser Organist in seine Heimat zurückgekehrt. Wir haben nach einem Ersatz gesucht. Ich hörte von Götz, einem Organisten und Musikwissenschaftler. Er hatte bereits mehrere Chöre in Paris geleitet.«

»Götz …«, wiederholte Vernoux in zweifelndem Ton, »hört sich nicht gerade chilenisch an …«

»Ein deutscher Name«, mischte sich Kasdan ein, »ein großer Teil der chilenischen Bevölkerung ist deutscher Abstammung.«

Der Polizist runzelte die Stirn:

»Nazis?«

»Nein«, antwortete Sarkis lächelnd, »die Vorfahren von Götz haben sich, glaube ich, Anfang des 20. Jahrhunderts in Chile niedergelassen.«

Der Hauptmann klopfte mit seinem Filzstift auf sein Notizbuch:

»Ich blicke da nicht durch. Chilene, Armenier – was verbindet sie?«

»Die Musik«, antwortete Sarkis.

»Die Musik und das Exil«, ergänzte Kasdan. »Wir Armenier wissen, was es heißt, ein Flüchtling zu sein. Wilhelm war Sozialist. Er ist unter dem Pinochet-Regime verfolgt worden. Hier bei uns hat er eine neue Familie gefunden.«

Vernoux machte sich Notizen. Er ahnte, dass er sich da einiges aufgehalst hatte. Und doch spürte Kasdan, dass er Blut geleckt hatte.

»Hatte er Familie in Paris?«

»Weder Ehefrau noch Kinder, soweit ich weiß …« Sarkis überlegte. »Wilhelm war zurückhaltend und sehr diskret.«

In Gedanken rief Kasdan sich das Bild des Chilenen vor Augen. Der Mann spielte an zwei Sonntagen im Monat während der Messe die Orgel, und er leitete mittwochs die Chorproben. Er hatte keine Freunde in der Ephorie, der Verwaltung der Kathedrale. Ein Mann um die sechzig, schmächtig, unscheinbar. Ein Phantom, das an den Mauern entlangschlich, zweifellos gebrochen durch das Martyrium, das er erlitten hatte.

Der Armenier horchte auf, als Vernoux fragte:

»Vielleicht hatte es jemand auf ihn abgesehen!«

»Nein«, entgegnete Sarkis, »das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Keine politischen Probleme? Oder ehemalige Feinde in Chile?«

»Pinochet hat sich 1973 an die Macht geputscht. Götz kam in den achtziger Jahren nach Frankreich. Da ist wohl alles verjährt. Im Übrigen wird Chile schon seit Jahren von keiner Militärjunta mehr regiert. Und Pinochet ist kürzlich gestorben. Das sind alles alte Geschichten.«

Vernoux schrieb noch immer. Kasdan fragte sich, wie groß die Chancen des Polizisten waren, den Fall zu behalten. Normalerweise würde der Staatsanwalt die Mordkommission mit den Ermittlungen betrauen, es sei denn, Vernoux überzeugte ihn davon, dass er über stichhaltige Informationen verfügte und die Ermittlungen zügig zum Abschluss bringen könnte. Kasdan wettete auf diese Version. Er hoffte es jedenfalls. Mit dem Muskelpaket würde er leichter zurechtkommen als mit seinen ehemaligen Kollegen von der Mordkommission.

»Was hat er hier gemacht?«, fuhr der Hauptmann fort. »Ich meine: allein in der Kirche?«

»Er kam mittwochs immer früher«, erklärte Sarkis. »Er spielte Orgel, während er auf die Kinder wartete. Ich habe ihn immer zu dieser Zeit begrüßt. Das wollte ich auch heute tun …«

»Um wie viel Uhr genau?«

»16.15 Uhr. Ich habe ihn da oben gefunden und sofort Lionel angerufen, der früher Polizist war. Er hat es Ihnen bestimmt gesagt. Dann habe ich Sie angerufen.«

Kasdan fiel es wie Schuppen von den Augen: Als Sarkis die Leiche entdeckt hatte, hielt sich der Mörder vielleicht noch auf der Empore auf. Er war geflohen, als der Geistliche fortgegangen war, um ihn, Kasdan, zu verständigen. Wäre er ein paar Sekunden früher eingetroffen, wäre er ihm vielleicht auf der steinernen Treppe begegnet.

Vernoux wandte sich an Kasdan:

»Was haben Sie in der Verwaltung gemacht?«

»Ich leite mehrere Vereine, die mit der Pfarrei verbunden sind. Wir bereiten Veranstaltungen fürs kommende Jahr vor. 2007 ist das Armenien-Jahr in Frankreich.«

»Was für Veranstaltungen?«

»Wir organisieren gerade die Reise armenischer Kinder, die Französisch lernen und im Februar zum Wohltätigkeitskonzert von Charles Aznavour im Palais Garnier kommen sollen. Wir nennen sie ›junge Botschafter‹ und …«

Sein Handy läutete.

»Entschuldigen Sie bitte.«

Kasdan trat zur Seite.

»Hallo?«

»Mendez.«

»Wo bist du?«

»Was glaubst du?«

»Ich komme.«

Kasdan entschuldigte sich ein weiteres Mal bei Sarkis und Vernoux und schlüpfte durch die kleine Tür, die ins Kirchenschiff führte. Ricardo Mendez war einer der besten Gerichtsmediziner, ein alter Fuchs kubanischer Abstammung. Bei der Mordkommission nannten ihn alle nur »Mendez-France«.

Der Gerichtsmediziner kam gerade die Treppe herunter, als Kasdan den von Kerzen erhellten Haupteingang erreichte. Die beiden Männer grüßten sich knapp.

»Was kannst du mir sagen? Wie ist er gestorben?«

»Keine Ahnung.«

Der korpulente Mendez trug einen zerknautschten beigefarbenen Regenmantel. Sein Teint erinnerte an eine Zigarre, seine Haare hatten die Farbe von Zigarrenasche. Mit seiner alten Schulmappe unter dem Arm wirkte er stets wie ein Lehrer, der verspätet zum Unterricht erscheint.

»Keine Verletzungen?«

»Bis jetzt habe ich nichts gefunden. Wir müssen die Autopsie abwarten. Aber auf den ersten Blick keine Wunde, nein. Keine zerrissene Kleidung.«

»Und Blut?«

»Es gibt Blut, aber keine Wunde.«

»Hast du eine Erklärung dafür?«

»Meiner Meinung nach stammt es aus einer natürlichen Körperöffnung. Mund, Nase, Ohren. Oder eine Verletzung der Kopfhaut, solche Wunden bluten immer stark. Aber bis jetzt ist mir nichts aufgefallen.«

»Könnte sein Tod eine natürliche Ursache haben? Ich meine eine Krankheit, einen Anfall?«

»Keine Sorge«, feixte der Kubaner, »dein Typ ist kaltgemacht worden. Ohne Frage. Aber um herauszufinden, wie das passiert ist, muss ich zum Kern der Sache kommen. Heute Abend weiß ich mehr.«

Mendez lispelte leicht, sodass man leicht den Eindruck bekam, er wäre einer spanischen Operette entsprungen.

»Ich kann nicht warten«, sagte Kasdan. »In einigen Stunden wird mir die Sache entgleiten. Verstehst du?«

»Klaro. Wieso red ich überhaupt mit dir?«

»Weil das hier mein Zuhause ist und irgend so ein Dreckskerl die Kirche meiner Väter entweiht hat!«

»Sobald der Leichnam ins gerichtsmedizinische Institut überführt wurde, wird sich niemand mehr mit dir befassen, Herzchen. Dann bist du nur noch ein Polizist im Ruhestand, der mit seinen Fragen alle Welt nervt.«

»Gibst du mir ’nen Tipp?«

»Ruf mich an. Aber rechne nicht mit einer Kopie des Berichts. Ein Tipp oder zwei, mehr nicht.«

Der Kubaner reckte seinen Zeigefinger neben der Schläfe, ein Cowboy-Gruß, und ging, seine Schulmappe fest an sich drückend, hinaus. Kasdan betrachtete das Kirchenschiff, das im Licht der Scheinwerfer funkelte. Die vier Bögen rahmten den Saal ein, und der Baldachin beherbergte das Porträt der Muttergottes. Er kam jeden Sonntag hierher, um der über zweistündigen Messe beizuwohnen, die von Gesängen und Weihrauch erfüllt war. Dieser Ort war für ihn wie ein zweiter Mantel, der ihn mit einer unzerstörbaren Wärme und Solidarität umfing. Die Riten. Die Stimmen. Die vertrauten Gesichter. Und das Blut Armeniens, das in ihren Adern floss.

Schritte auf der Treppe. Hugues Puyferrat kam herunter und zog die Kapuze zurück. Der Armenier erriet sogleich, dass er etwas gefunden hatte.

»Der Abdruck einer Schuhsohle«, bestätigte der Techniker seine Vermutung, »zwischen den Blutspritzern, hinter den Orgelpfeifen.«

»Der Mörder?«

»Wohl eher ein Zeuge. Schuhgröße 36. Entweder ist dein Mörder ein Zwerg, oder es war einer der Chorknaben, was ich für wahrscheinlicher halte. Und er hat alles gesehen.«

Kinderlärm im Hof. Bislang hatte Kasdan gar nicht darauf geachtet. Er stellte sich folgende Szene vor: Ein kleiner Junge geht hinauf, um mit Götz zu sprechen. Er platzt in die Auseinandersetzung zwischen dem Organisten und seinem Mörder hinein. Versteckt sich hinter den Orgelpfeifen und schleicht sich dann, im Schockzustand, still und heimlich wieder die Treppe hinunter.

Kasdan griff nach seinem Handy und rief Hohvannès, den Küster, an.

»Kasdan. Sind alle Kinder noch da?«

»Einige brechen gerade auf. Ihre Eltern sind eingetroffen.«

»Programmänderung. Kein Kind verlässt das Gelände, bevor ich es befragt habe. Keines, verstanden?«

Er legte auf und blickte Puyferrat fest in die Augen:

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Nein.«

»Danke. Kein Wort zu Vernoux, dem Typen von der Kripo. Ich meine: nicht gleich!«

»Ich werde meinen Bericht schreiben.«

»Sicher. Vernoux wird also erst von dem Abdruck erfahren, wenn du ihm den Bericht gibst. Das gibt mir zwei oder drei Stunden Vorsprung. Kannst du das für mich tun?«

»Er wird meinen Bericht heute Abend vor Mitternacht bekommen.«

Kapitel 3

»Wie heißt du?«

»Benjamin, Benjamin Zarmanian.«

»Wie alt bist du?«

»Zwölf.«

»Wo wohnst du?«

»Rue du Commerce 84, im 15. Arrondissement.«

Kasdan notierte sich die Angaben. Puyferrat hatte ihm weitere Einzelheiten mitgeteilt. Seines Erachtens passte das Muster des Abdrucks zu einem Basketballschuh der Marke Converse. »Ich trage die gleichen«, hatte der Techniker hinzugefügt.

Kasdan hatte Hohvannès aufgefordert, den Jungen zu finden, der diese Schuhe trug. Der Küster hatte gleich sieben Kinder aufgetrieben, die alle zweifarbige Basketballschuhe anhatten. Offensichtlich war das der Schuh des Winters 2006.

»In welche Klasse gehst du?«

»In die fünfte.«

»Welches Gymnasium?«

»Victor-Duruy.«

»Und du singst im Chor?«

Kurzes Nicken. Es war der dritte Junge, den er befragte, und er erhielt nur einsilbige Antworten, zwischen denen es lange Pausen gab. Kasdan erwartete keine spontane Zeugenaussage. Er hielt vielmehr Ausschau nach Anzeichen von Nervosität oder eines seelischen Schocks bei dem Zeugen des Verbrechens. Bislang vergeblich.

»Was für eine Stimmlage hast du?«

»Sopran.«

Kasdan notierte sich das. Zwar hatte es nichts mit dem Mord zu tun, aber in diesem Stadium musste man jedes Detail festhalten.

»Was probt ihr gerade?«

»Etwas für Weihnachten.«

»Was?«

»Ein Ave Maria.«

»Ist das ein armenisches Lied?«

»Nein, ich glaube, es ist von Schubert.«

Widerstrebend hatte Sarkis diesen Verstoß gegen die Orthodoxie genehmigen müssen. Alles ging verloren.

»Spielst du außerdem noch ein Instrument?«

»Klavier.«

»Macht es dir Spaß?«

»Nicht besonders.«

»Was macht dir dann Spaß?«

Er zuckte wieder mit den Schultern. Sie befanden sich in der Küche, unterhalb der Verwaltung der Gemeinde. Die anderen Kinder warteten im Nebenraum, der Bibliothek. Der Armenier wollte den zeitlichen Ablauf der Ereignisse klären:

»Wohin bist du nach dem Religionsunterricht gegangen?«

»In den Hof. Ich habe gespielt.«

»Was?«

»Fußball, mit den anderen.«

»Bist du nicht in die Kirche zurückgegangen?«

»Nein.«

»Hast du nicht Herrn Götz aufgesucht?«

»Nein.«

»Sicher?«

»Ich bin kein Schleimer.«

Der Junge hatte das mit einer rauen, für sein Alter seltsam ernsten Stimme gesagt. Er trug ein weißes Hemd, einen Jacquard-Pullover und eine Kordhose. Eine große Brille rundete den Typ »Muttersöhnchen« ab. Allerdings spürte man bei ihm eine stumme Aufsässigkeit, den Willen, dieses Image zu zerstören. Er zappelte unentwegt in seinem Pullover, als wäre er eine Haut, die juckte.

»Was für eine Schuhgröße hast du?«

»Weiß nicht. 36, glaube ich.«

Sollte er sämtliche Paare Converse einsammeln lassen, markieren, nummerieren und zur Analyse ins Labor geben? Aber auch das würde keine verlässlichen Ergebnisse bringen, denn womöglich hatte der erschrockene Junge seine Schuhe abgespült. Und vor allem hatte Kasdan nicht die Befugnis, eine solche Untersuchung anzuordnen.

»Okay«, sagte er, »du kannst gehen.«

Der Junge verschwand. Kasdan warf einen Blick auf seine Liste. Der Erste, Brian Zarossian, war am redseligsten gewesen. Ein Junge von neun Jahren. Nach seiner Befragung hatte Kasdan auf seinen Zettel geschrieben: nein. Der zweite, Kevin Davtian, elf Jahre, war widerspenstiger gewesen. Kräftige Statur, breite Stirn, kurz geschorenes schwarzes Haar. Auf die Fragen Kasdans hatte er nur mit einzelnen Lauten geantwortet. Aber keine Anzeichen von Nervosität. Nein.

Es klopfte. Der vierte Junge trat ein. Ein spilleriger Typ mit zerzaustem Haar. Ein enger schwarzer Parka, ein weißes Hemd, dessen Kragen zwei blasse Fittiche auf seine Schultern zeichnete. Er glich dem Anführer einer Rockband.

David Simonian, zwölf Jahre, wohnhaft in der Rue d’Assas 27, 6. Arrondissement. In der zweiten Klasse im Montaigne-Gymnasium. Alt. Schuhgröße 37.

»Du bist der Sohn des Gynäkologen Pierre Simonian?«

»Ja.«

Kasdan kannte den Vater des Jungen, der seine Praxis am Boulevard Raspail im 14. Arrondissement hatte. Nach der Befragung schwieg er und beobachtete den Jungen aus den Augenwinkeln. Noch einmal versuchte er, eine verborgene Regung von Angst aufzuspüren. Nichts. Er probierte es anders:

»War Monsieur Götz sympathisch?«

»Es geht.«

»Streng?«

»Na ja. Er war …« Der Junge schien nachzudenken. »Er war so wie seine Partituren.«

»Das heißt?«

»Er redete wie ein Roboter. Sachen wie ›halte deinen Ton‹, ›deine Luftströmung‹, ›sing klar und deutlich‹, immer dasselbe. Er gab uns sogar Punkte.«

»Punkte?«

»Punkte für Gesang, Ausdruck, Körperhaltung … Nach jedem Konzert gab er uns Zensuren. Aber damit konnte er uns mal.«

Kasdan stellte sich vor, wie Götz den Knabenchor dirigierte, besessen von Details, die nur ihn interessierten. Was konnte jemanden dazu veranlassen, einen so harmlosen, verschrobenen Mann umzubringen?

»Hat er außerhalb des Gesangsunterrichts mit euch gesprochen?«

»Nein.«

»Hat er nie sein Heimatland Chile erwähnt?«

»Nein.«

»Weißt du, wo Chile liegt?«

»Nicht genau, nein. In Geographie nehmen wir gerade Europa durch.«

»Hast du vorhin im Hof gespielt?«

»Ja. Wie jeden Mittwoch nach dem Religionsunterricht.«

»Ist dir nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Zum Beispiel?«

»Wirkte einer deiner Kameraden vielleicht verängstigt? Hat einer geweint?«

Der Junge warf ihm einen verständnislosen Blick zu.

»Okay, sag dem Nächsten, er soll reinkommen.«

Kasdan starrte auf das Kreuz an der Mauer über dem Kühlschrank. Sein Blick wanderte zu dem Spülbecken aus rostfreiem Metall und dem Wasserhahn – er hatte einen trockenen Mund, wollte aber nichts trinken. Sich nicht entspannen, nicht nachlässig werden. Er sagte sich noch einmal, dass einer der Jungs den Mörder gesehen hatte. Verflixt. Ein Augenzeuge, das ist schon mal was …

Die Tür ging auf. Der fünfte Junge trat herein. Klein, aber schon ein Dandy. Gründlich zerzaustes schwarzes Haar, das bis in die Augen fiel. Sehr helle, fast milchige Augen. Er trug einen militärischen Drillichanzug und einen Rucksack, der mit Steinen gefüllt schien. Mit eingezogenen Schultern und mürrischer Miene spielte er an einem flachen Kasten. Ein Videospiel. Kasdan musterte den Gegenstand und verspürte einen jähen Schwindel. Handy, Internet, MSN … eine Multimedia-Generation, übersättigt mit Bildern, Tönen und unverständlichen Hieroglyphen.

Er stellte seine Fragen. Harout Zacharian, zehn Jahre. Rue Ordener 72, 18. Arrondissement. In der fünften Klasse der Grundschule in der Rue Cavé. Sopran. Schuhgröße 36. Der Junge spielte unbeeindruckt weiter. Keine Spur von Nervosität. Kasdan versuchte es mit einigen indirekten Fragen, auf die er jedoch nur nichtssagende Antworten erhielt. DerNächste.

Ella Kareyan, elf Jahre. Rue La Bruyère, 34. In der Sexta des Condorcet-Gymnasiums. Bass. Schuhgröße 36. Besondere Merkmale: Geiger und Judoka. Redete wie ein Wasserfall. Jeden Mittwoch nach dem Gesangsunterricht betrieb er Kampfsport. Heute hatte er wegen »dieser Sache« den Kurs verpasst. So würde er es nie zum orangefarbenen Gürtel bringen. Der Nächste.

Timothée Avedikian, dreizehn Jahre. Ein kurzer Blick auf seine Schuhe genügte Kasdan, um zu begreifen, dass das nicht sein Zeuge sein konnte. Er war hoch aufgeschossen und hatte mindestens Schuhgröße 39. Der Form halber befragte er ihn. Rue Sadi-Carnot 45, in Bagnolet. In der Quarta. Bass. Der Junge hatte eine Passion: Gitarre, E-Gitarre. Der Ex-Polizist musterte ihn eingehend: glattes Haar, runde Brille. Er wirkte eher wie ein Streber als wie ein »Gitarrenheld«.

Zwischen vier Uhr und halb fünf war Timothée im Hof gewesen, um sich auf dem Handy mit seiner »Freundin« zu unterhalten. Ein letzter Blick auf die Brille. Keine Doppelbödigkeit, keine Geheimniskrämerei.

»Du kannst gehen«, sagte der Armenier schließlich.

Die Küchentür fiel leise in Schloss.

Kasdan betrachtete seine Liste: Fehlanzeige.

Er hatte seine beste Chance, voranzukommen, vertan.

19.30 Uhr.

Kasdan stand auf. Er wusste, wie er weiter vorgehen würde.

Aber zuerst musste er nach Alfortville fahren – Lebensmittel holen.

Kapitel 4

Die Marmorbüsten der ehemaligen Direktoren des Gerichtsmedizinischen Instituts standen in der Eingangshalle des Gebäudes. Orfila (1819-1822), Tardieu (1861-1879), Brouardel (1879-1906), Thoinot (1906-1918) …

»Offen gesagt, du wirst lästig.«

Kasdan drehte sich um: Ricardo Mendez im grünen Kittel, eine Plakette mit der Aufschrift »GMI« um den Hals, war gerade erschienen. In diesem Aufzug wirkte er so, als wäre er aus einer spanischen Operette direkt in eine Folge von Emergency Room versetzt worden. Aber mit seinem dunklen Teint bewahrte er etwas Sonniges, den Charme der Karibik.

Kasdan zwinkerte ihm zu und zeigte auf die Statuen:

»Glaubst du, dass eines Tages deine Büste auch hier stehen wird?«

»Du gehst mir echt auf den Wecker. Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich anrufe.«

Der Armenier schwenkte eine Flasche und eine Plastiktüte.

»Du brauchst eine kleine Pause: Das lese ich in deinen Augen. Ich habe das Abendessen mitgebracht!«

»Keine Zeit. Hab alle Hände voll zu tun.«

Der ehemalige Polizist deutete auf den in Dunkelheit gehüllten Garten im Innenhof des Gebäudes, hinter den Fenstern.

»Ein Picknick im Freien, Ricardo. Wir essen, stoßen an, und schon bin ich wieder weg.«

»Du bist eine richtige Nervensäge.« Mendez zog seine Handschuhe aus und stopfte sie in die Tasche seines Kittels. »Fünf Minuten und keine Sekunde mehr!«

Seit den neunziger Jahren war der Innenhof des Leichenschauhauses auf Betreiben von Frau Professor Dominique Lecomte, der Direktorin des Gerichtsmedizinischen Instituts, in einen Blumengarten verwandelt worden. Ein Ort der Andacht, verziert mit Buchsbäumen, Maiglöckchen, Osterglocken und Fliederbüschen. Linker Hand bildete eine Weide ein Gegengewicht zu dem ausgetrockneten Brunnen in der Mitte, der mit seinem hellen, runden Becken wohltuend wirkte. In den Backsteingewölben der rechten Fassade befanden sich sogar Fresken: halb verblasste, sanftmütige Frauen in schmachtenden Posen.

Die beiden sechzigjährigen Männer ließen sich auf einer Bank nieder, die so aussah, als wäre sie in einem öffentlichen Garten gestohlen worden. Kasdan zog in Alufolie eingeschlagene kleine Päckchen heraus. Vorsichtig öffnete er eines davon und murmelte:

»Pahlavas – mit Honig und Nüssen gefüllte dünne Pfannkuchen.«

»Hast du die unter den Achseln gerollt?«, gluckste Mendez.

»Probier, bevor du meckerst!«, sagte Kasdan und hielt ihm eine Papierserviette hin.

Der Gerichtsmediziner griff nach einem der Pfannkuchen, die in dreieckige Stücke geschnitten waren, und biss herzhaft hinein. Kasdan folgte seinem Beispiel. Schweigend genossen die beiden Männer ihre Mahlzeit. Aus der Ferne hörte man den dumpfen Verkehrslärm von der Schnellstraße, die hinter dem Leichenschauhaus entlangführte, und hin und wieder das Pfeifen der Hochbahn.

»Hast du die Nachrichten gesehen?«, fragte Kasdan, um von seinem eigentlichen Anliegen abzulenken. »In der Nationalversammlung tut sich etwas in unserem Sinne. Sie beraten über einen Gesetzesentwurf, der …«

»Ich warne dich«, unterbrach ihn Mendez mit vollem Mund, »wenn du mir vom Völkermord an den Armeniern erzählst, spring ich gleich über die Mauer und werfe mich auf die Schnellstraße.«

»Du hast recht. Ich muss aufpassen. Ich komme ins Schwafeln.«

»Du warst schon immer ein Schwätzer.«

Kasdan lachte und kramte wieder in seiner Tasche. Er zog zwei Plastikbecher heraus und füllte sie mit einer zähen weißlichen Flüssigkeit:

»Mazoun«, erklärte er, »hergestellt auf Joghurtbasis. Wusstest du, dass die Armenier den Joghurt erfunden haben?«

Sie stießen an. Mendez schnappte sich noch einen Pfannkuchen:

»Sind gut, deine Leckereien. Hast du sie selbst gemacht?«

»Nein, eine Bekannte, eine Witwe aus Alfortville.«

»Eine Affäre, wie?«

»Eine Puppe.«

Die Hochbahn kreischte über ihren Köpfen.

»Die Witwen …«, wiederholte der Kubaner nachdenklich, »ich sollte auch mal dran denken. In meinem Metier mangelt es daran nicht.«

Kasdan füllte ihre Becher ein weiteres Mal und verschränkte die Arme:

»Ich glaube, ich werde verreisen.«

»Wohin?«

»In meine Heimat. Diesmal werde ich eine Rundreise machen.«

»Eine Rundreise?«

»Mein alter Freund, wenn du mir öfter zugehört hättest, wüsstest du, dass Armenien in empörender Weise zerstückelt und zurechtgestutzt wurde. Von den 350.000 Quadratkilometern des historischen Armeniens ist nur noch ein kleiner Staat übrig, der gerade einmal ein Zehntel dieser Fläche umfasst.«

»Was ist mit dem Rest passiert?«

»Den hat sich hauptsächlich die Türkei einverleibt. Ich werde meinen Namen ändern und die Grenze nach Anatolien überschreiten.«

»Wozu deinen Namen ändern?«

»Weil du schikaniert wirst, wenn du in die Türkei kommst und dein Name auf ›an‹ endet. Und wenn du dann noch den Berg Ararat besteigen willst, drängen sie dir eine militärische Eskorte auf, und du kannst nie sicher sein, ob du zurückkommst.«

»Was willst du da unten machen?«

»Die ältesten Kirchen der Welt besichtigen! Als die Christen noch in römischen Zirkussen zerfleischt wurden, bauten wir Armenier bereits unsere Kirchen. Ich möchte der Route dieser Stätten folgen, die ab dem fünften Jahrhundert erbaut wurden. Martyria – Mausoleen, in denen die sterblichen Überreste von Märtyrern liegen, in Felswände geschlagene Kapellen, Stelen … Anschließend werde ich mir die Basiliken des siebten Jahrhunderts des Goldenen Zeitalters, ansehen. Ich habe meine Route bereits geplant.«

Mendez nahm noch einen Pfannkuchen:

»Wirklich gut, deine Schweinereien …«

Kasdan lächelte. Er wartete darauf, dass die Speisen ihre Wirkung taten. Der Honig, die Nüsse, der Zucker. Sobald diese Nährstoffe ins Blut des Kubaners gelangten, würden sich all seine Widerstände auflösen. Der Gerichtsmediziner kaute noch immer, ohne zu ahnen, dass der Pfannkuchen seinerseits an ihm kaute.

»Schön«, sagte der Armenier schließlich, »was erzählt der Leichnam?«

»Herzanfall.«

»Du hast mir doch versichert, dass es ein Mord wäre!«

»Wart’s ab. Ein Herzanfall, ausgelöst durch einen starken Schmerz.«

Kasdan dachte an den Schrei, der in der Orgel eingesperrt war.

»Um genau zu sein, ein Schmerz in den Trommelfellen. Das Blut kam aus den Ohren.«

»Hat man ihm die Trommelfelle durchstochen?«

»Die Trommelfelle und den Rest des Gehörorgans, ja. Eine HNO-Spezialistin ist gekommen, um all dies zu überprüfen. Man sieht auf den ersten Blick, dass der Mörder mit großer Gewalt einen spitzen Gegenstand in jedes Ohr getrieben hat. Wenn ich sage ›mit großer Gewalt‹, dann meine ich das so. Wenn es plausibel wäre, würde ich von einer Stricknadel oder einem Hammer sprechen.«

»Kannst du dich etwas genauer ausdrücken?«

»Wir haben das Organ durch einen Ohrenspiegel betrachtet. Die Spitze hat das Trommelfell durchbohrt, die Gehörknöchelchen zerstört und ist in die Schnecke eingedrungen. Um so tief vorzustoßen, muss man jemanden wirklich hassen. Dein Chilene hatte keine Chance. Sein Herz ist plötzlich stehen geblieben.«

»Ist das so schmerzhaft?«

»Hast du schon mal eine Ohrenentzündung gehabt? Der Gehörapparat ist gespickt mit Nervenbahnen.«

Während seiner vierzigjährigen Laufbahn als Polizist war Kasdan noch nie eine solche Geschichte untergekommen.

»Kann man tatsächlich vor Schmerzen sterben? Ist das keine Legende?«

»Es wäre zu kompliziert, dir alles im Detail zu erläutern, aber der Mensch besitzt zwei Nervensysteme, das sympathische und das parasympathische. All unsere Vitalfunktionen basieren auf dem Gleichgewicht zwischen diesen beiden Systemen: Herzschlag, Blutdruck, Atmung. Starker Stress kann dieses Gleichgewicht stören und gravierende Folgen für diese Mechanismen haben. Das geschieht beispielsweise, wenn ein Mensch beim Anblick von Blut in Ohnmacht fällt. Der emotionale Schock erzeugt ein Ungleichgewicht zwischen den beiden Systemen und bewirkt eine Erweiterung der Arterien. Man wird sofort ohnmächtig.«

»Aber hier war es keine einfache Bewusstlosigkeit.«

»Nein, der Stress war wirklich stark. Das Gleichgewicht wurde augenblicklich zerstört. Und das Herz hat versagt. Der Mörder wollte, dass das Opfer vor Schmerzen stirbt. Das war das Ziel der Übung. Was hatte Götz getan, dass ihn jemand derart hasste?«

»Was kannst du mir über das Tatwerkzeug sagen?«

»Eine sehr lange, sehr widerstandsfähige Nadel, zweifellos aus Metall. Morgen werden wir mehr wissen.«

»Wartest du auf die Ergebnisse der Analysen?«

»Ja. Wir haben Knochen aus dem Felsenbein entnommen, das die Schnecke enthält. Wir haben die Probe zum Nachweis von Metallresten ins Labor für Biophysik des Hôpital Henri-Mondor geschickt. Meines Erachtens werden sie winzige Metallsplitter finden, die von der Spitze abgerieben wurden, als sie am Knochen scheuerte.«

»Bekommst du die Ergebnisse der Analysen?«

»Zuerst meine HNO-Spezialistin.«

»Wie heißt sie?«

»Vergiss es. Ich kenne dich. Du wirst sie mitten in der Nacht anrufen.«

»Wie heißt sie, Mendez?«

Ricardo seufzte, während er einen Zigarillo aus seiner Tasche zog:

»France Audusson, HNO-Klinik im Klinikum Trousseau.«

Kasdan schrieb den Namen in sein Notizbuch. Seit einigen Jahren ließ sein Gedächtnis nach.

»Und die toxikologischen Analysen?«

»In zwei Tagen. Aber man wird nichts finden. Der Fall ist klar, Kasdan. Nicht banal, aber klar.«

»Was kannst du mir über den Mörder selbst sagen?«

»Große Kraft und große Schnelligkeit. Er hat die beiden Trommelfelle durchstochen, tschak-tschak, und schon brach der Organist zusammen. Die Handbewegung wurde sehr schnell und präzise ausgeführt.«

»Glaubst du, dass er anatomische Kenntnisse besitzt?«

»Nein, aber er ist geschickt und hat richtig gezielt.«

»Kannst du etwas über seine Größe und sein Gewicht sagen?«

»Nein, nur über seine Kraft. Man muss eine gewaltige Kraft aufwenden, um den Knochen zu durchbohren. Es sei denn, er hätte eine Technik angewandt, an die ich noch nicht gedacht habe.«

»Hast du keine Fingerabdrücke auf seinem Körper gefunden? Etwa auf den Ohrläppchen? Speichelreste oder Spuren anderer Stoffe, an denen man eine DNA-Analyse vornehmen könnte?«

»Fehlanzeige! Der Mörder hat sein Opfer nicht berührt. Der spitze Gegenstand war der einzige Kontakt.«

Kasdan erhob sich und legte die Hand auf die Schulter des Gerichtsmediziners:

»Danke, Mendez.«

»Nichts zu danken. Ich gebe dir noch einen guten Rat: Lass die Finger davon. Das ist nichts mehr für Leute in deinem Alter. Bei den Typen von der Mordkommission ist der Fall in guten Händen. Sie werden den Mistkerl, der das getan hat, in weniger als zwei Tagen identifiziert haben. Bereite dich auf deine Reise vor und belästige niemanden mehr.«

Kasdan murmelte, wobei sein Atem in der kühlen Luft kondensierte:

»Der Mörder hat mein Territorium geschändet. Ich werde ihn finden. Ich bin der Tempelwächter.«

»Du bist vor allem die größte Nervensäge.«

Kasdan schenkte ihm sein schönstes Lächeln:

»Ich lass dir die Pfannkuchen.«

Kapitel 5

Wilhelm Götz wohnte in der Rue Gazan 15-17, gegenüber dem Park Montsouris.

Kasdan überquerte die Seine auf dem Pont d’Austerlitz und fuhr den Boulevard de l’Hôpital hinauf bis zur Place d’Italie. Dort folgte er der Hochbahn bis zum Boulevard Auguste-Blanqui und fuhr weiter zur Place Denfert-Rochereau, wo er in die Avenue René-Coty einbog, die bereits die Stille und die Weite des Park Montsouris am Ende der Verkehrsader in sich trägt.

Vor dem Park bog er nach links ab und stellte sein Auto in der Avenue Reille ab, etwa dreihundert Meter von seinem Ziel entfernt. Reine Vorsichtsmaßnahme.

Während der Fahrt hatte er darüber nachgebrütet, weshalb er nichts aus den Kindern herausgebracht hatte. Er hatte sich auf diese Chance gestürzt und nichts daraus gemacht. Eine verpatzte Vernehmung war eine verbrannte Chance. Aus den Jungen würde man nichts mehr herausbekommen. Er hatte wirklich Mist gebaut.

»Das ist nichts mehr für Leute in deinem Alter«, hatte Mendez gesagt. Vielleicht hatte er recht. Aber Kasdan konnte diesen Mörder nicht laufen lassen. Dass die Gewalt ihn in seinem Refugium heimgesucht hatte, war ein Zeichen. Er musste den Fall lösen. Dann ab durch die Mitte. Die große Reise. Die urchristlichen Kirchen. Die steinernen Kreuze. Die frühgeschichtlichen Stelen.

Kasdan vergewisserte sich, dass die Avenue tatsächlich menschenleer war, dann schaltete er die Deckenleuchte ein. In der Ephorie hatte er die Karteikarte von Wilhelm Götz mitgehen lassen, die dieser selbst bei seinem Dienstantritt ausgefüllt hatte. Der Chilene hatte sich kurz gefasst. Geboren 1942 in Valdivia (Chile). Junggeselle. Wohnhaft in Paris seit 1987.

Zum Glück hatte Sarkis den Musiker selbst befragt und unten auf dem Blatt mit Bleistift einige Notizen hinzugefügt. Götz hatte bis 1964 in Valparaiso Musik studiert. Klavier, Orgel, Harmonie- und Kompositionslehre. Anschließend hatte er sich in Santiago niedergelassen, wo er am Konservatorium Professor für Klavier geworden war. Er hatte damals am politischen Leben des Landes teilgenommen und Salvador Allende bei seinem Aufstieg zur Macht begleitet. 1973 folgte dann der Staatsstreich von Pinochet. Götz war verhaftet und verhört worden. Dann ein schwarzes Loch. 1987 tauchte Götz als anerkannter politischer Flüchtling wieder in Frankreich auf.

In zwanzig Jahren hatte sich der Chilene eine Existenz in Paris aufgebaut; er war Organist in etlichen Kirchengemeinden gewesen und hatte einige Chöre geleitet. Hinzu kam privater Klavierunterricht. Nicht gerade umwerfend, aber es genügte, um seinen Lebensunterhalt in der Hauptstadt zu sichern und dort die Annehmlichkeiten einer guten alten Demokratie zu genießen. Wilhelm Götz hatte den Traum jedes Einwanderers verwirklicht: in der Masse aufgehen.

Kasdan rief sich das Äußere des Chilenen vor Augen. Ein rotes Gesicht, schneeweißes Haar, eine hoch angesetzte kräftige Mähne, gekräuselt wie Schafsfell. Ansonsten keine besonderen Auffälligkeiten. Tief sitzende Augen unter dichten Brauen. Ein ausweichender Blick. Kasdan hatte ihm immer misstraut. Ein Odar – ein Nicht-Armenier …

Der Ex-Polizist verscheuchte diese unvermittelt in ihm aufschießenden rassistischen Gedanken. Ihm wurde klar, wie wenig Mitgefühl er für den Toten empfand. War er gefühllos? Oder war er einfach zu alt, um etwas zu empfinden? Im Verlauf seines Berufslebens hatte er sich ein immer dickeres Fell zugelegt. Vor allem in den letzten Jahren, bei der Mordkommission, wo kalte Körper und scheußliche Geschichten an der Tagesordnung waren.

Kasdan schaltete die Deckenleuchte aus, nahm aus dem Handschuhfach eine Stiftlampe Searchlight, Chirurgenhandschuhe und ein Stück von einer Röntgenaufnahme. Er stieg aus dem Wagen, verriegelte ihn und musterte im Vorbeigehen die Karosserie. Vorsichtig kratzte er ein kleines Häufchen Vogeldreck ab und betrachtete anschließend voller Zufriedenheit das Fahrzeug. Seit fünf Jahren hegte und pflegte er den Volvo-Kombi, den er sich bei seiner Pensionierung gekauft hatte. Tadellos.

Er ging die Avenue Reille in Richtung der Rue Gazan hinunter, entlang an dem eisernen Gitterzaun des Parks. Dabei atmete er die besondere Atmosphäre dieses Viertels ein, das an das 14. Arrondissement angrenzt. Ruhe. Stille. Wäre da nicht der ferne, dumpfe Lärm vom Boulevard Jourdan gewesen, hätte man glauben können, sich in einer Provinzstadt zu befinden.

An diesem 22. Dezember war die Luft beunruhigend mild. Diese unerklärliche Milde des Jahres 2006, die allen Menschen Angst einflößte, da sie in der mehr oder minder fernen Zukunft das Ende der Welt ankündigte.

Dieser Gedanke rief einen anderen hervor. Kasdan dachte an die künftigen Generationen. An seinen Sohn, David, von dem er seit zwei Jahren nichts gehört hatte – seit dem Tod seiner Frau Nariné. Ein Stich im Bauch. Wo war David heute? Befand er sich noch immer in Eriwan in der Republik Armenien? Als er fortgegangen war, hatte er angekündigt, dass er »Armenien erobern« werde. Als ob das nicht vor ihm schon Generationen von Eindringlingen beschlossen hätten …

Das Brennen in seinem Magen verwandelte sich in Wut. Man hatte ihm alles genommen – seine Familie und mit ihr die Möglichkeit, jene Mission zu schützen, die sein Leben fast dreißig Jahre lang bestimmt hatte. Hätte sich sein Zorn nur gegen den Himmel, gegen das Schicksal gerichtet! Aber er richtete sich im Grunde gegen ihn selbst. Wie hatte er seinen Sohn nur weggehen lassen können? Wie hatte er es zulassen können, dass Stolz, Zorn und Starrsinn sie auseinandergebracht hatten? Er hatte für seinen Sohn alles geopfert, und ein Krach, ein einziger, hatte genügt, um alle Brücken zwischen ihnen abzubrechen.

Die Rue Gazan kreuzte die Avenue Reille. Das Gebäude Nr. 15-17 befand sich einige Hausnummern weiter rechts, einer dieser hässlichen Häuserblocks aus den sechziger Jahren, deren Anblick schon genügte, um einen trübselig zu machen. Eine beige verputzte Fassade. Verdreckte Fensterscheiben. Verschmutzte Balkone mit Eisengittern. Der Chilene hatte diese Sozialwohnung zweifellos wegen seines Status als politischer Flüchtling erhalten.

Kasdan benutzte seinen Universalschlüssel und betrat die Eingangshalle. Halbdunkel, Marmorimitat, Glastüren. Der Armenier hatte jahrelang in einem Gebäude dieser Art gewohnt. Gebäude, die für den Wohnungsbau das waren, was Formica fürs Holz ist: ein billiges, äußerlich glänzendes Imitat, wo Generationen von Menschen dasselbe gleichförmige Leben führen, ohne Spuren zu hinterlassen.

Er näherte sich den Briefkästen und entdeckte ein Verzeichnis, in dem die Namen der Mieter und ihre Wohnungsnummern angegeben waren. Götz wohnte im zweiten Stock, Wohnung 204. Stumm stieg Kasdan die Treppe hinauf und ließ den Blick über den Flur schweifen. Niemand. Nur das gedämpfte Geräusch eines Fernsehers war zu hören. Er näherte sich der Nummer 204. Eine lackierte braune Sperrholztür. Das Schloss passte zum Rest. Ein »Zweipunkt«-Schloss, das keine Probleme bereitete. Kein Balkenschloss quer über den Rahmen. Die Polizisten waren noch nicht da gewesen. Es sei denn, Vernoux hätte – unauffällig – vorbeigeschaut. Er musste die Schlüssel in Götz’ Taschen gefunden haben …

Kasdan hielt das Ohr an die Tür. Nichts zu hören. Er zog das Fragment der Röntgenaufnahme heraus, das er in seiner Tasche zusammengerollt hatte, und zog es zwischen Tür und Rahmen durch. Die Tür war nicht verschlossen – Götz hatte keinerlei Argwohn gehegt. Rasch und energisch zog Kasdan das Fragment von oben nach unten durch den Spalt und drückte gleichzeitig mit der Schulter gegen die Tür. Wenige Sekunden später befand er sich im Innern der Wohnung.

Kaum hatte er die Diele betreten, hörte er ein Geräusch.

Eine Fenstertür wurde aufgestoßen.

Er schrie: »Polizei, stehen bleiben!« und stürmte durch den Flur. Gleichzeitig griff seine Hand ins Leere – er hatte keine Waffe dabei. Er stieß gegen ein Möbelstück, fluchte, eilte weiter, warf nervöse Blicke in die dunklen Räume, an denen er vorbeikam.

Am Ende des Gangs fand er das Wohnzimmer.

Die Fenstertür stand offen, und die Gardine bauschte sich im Wind.

Kasdan sprang auf den Balkon.

Ein Mann lief am Eisengitter des Parks entlang.

Wie hatte der Typ aus dem zweiten Stock springen können? Dann erblickte der Armenier den Lieferwagen, der direkt unter dem Balkon stand. Sein Dach war an der Stelle des Aufpralls eingedellt. Ohne weiter nachzudenken, kletterte Kasdan über die Brüstung und sprang.

Er prallte auf dem Blech auf, ließ sich auf die Seite rollen, hielt sich ungeschickt am Dachgepäckträger fest und purzelte neben der Tür herunter. Nachdem er sich aufgerappelt hatte, brauchte er einige Sekunden, um sich zu orientieren: die Straße, die Gebäude, die Gestalt, die einen Rucksack trug und bereits nach links in die Avenue Reille einbog.

Kasdan schäumte vor Wut:

»Verdammter Mist!«

Er rannte los. Seine tägliche Disziplin – allmorgendliches Joggen, Muskeltraining, strenge Diät – würde sich nun endlich auszahlen.

Avenue Reille.

Der Schatten lief zweihundert Meter vor ihm. In der Dunkelheit glich er einem Hampelmann, der am Schnürchen gezogen wurde: Er ruderte mit den Armen, und der Rucksack schlug im Rhythmus seiner Schritte gegen seine Schultern. Offenbar ein junger Mensch. Der unregelmäßige Takt seiner Schritte verriet seine Panik. Dagegen hatte Kasdan das Gefühl, dass sein Körper immer besser in Schwung kam. Er würde den Mistkerl einholen.

Der Hampelmann überquerte die Avenue René-Coty. Doch er bog nicht rechts in Richtung Denfert-Rochereau ab – Kasdan hätte gewettet, dass er diese Richtung nehmen würde –, sondern lief auf dem linken Gehsteig weiter geradeaus, entlang dem Trinkwasserspeicher von Montsouris. Kasdan wechselte seinerseits auf die andere Straßenseite. Er kam näher. Nur noch hundert Meter. Die Schritte der beiden Läufer hallten in der finstren Straße an der Außenmauer des riesigen Gebäudes wider, eine Art gigantischer Maya-Tempel mit Abdachungen.

Noch fünfzig Meter. Kasdan behielt den Rhythmus bei. Doch er musste den Jungen so schnell wie möglich einholen. In einigen Minuten würde er nicht mehr genügend Kraft haben, um ihn mit einem Satz zu Boden zu drücken. Außerdem begriff er, dass sich der Flüchtige in dem Viertel auskannte. Er war nicht zufällig in diese Straße hineingerannt. Er hatte einen Plan. Ein Auto?

Der Mann überquerte unvermittelt die Avenue und lief auf eine Bushaltestelle zu. Er hielt sich an dem Streckenschild des Pfostens fest, zog sich mit einem Klimmzug hoch und langte mit der anderen Hand nach dem Schild an der Pfostenspitze. Dann setzte er einen Fuß auf die Oberkante des ersten Schildes, stieß sich ab und sprang auf die Mauer des Speichers. Der ungelenke Mann bewies plötzlich eine überraschende Behändigkeit. Er rollte sich auf die Seite, erhob sich und lief mit sicheren Schritten weiter über die Mauerkrone. Das alles hatte keine fünf Sekunden gedauert.

Kasdan widerstrebte es, das gleiche Husarenstück zu wagen. Zumal weder der Pfosten noch das Schild seinen hundert Kilo standhalten würden. Doch es war zu spät, um eine andere Lösung zu finden. Er überquerte die Straße. Griff mit einer Hand nach dem oberen Schild, zog sich mit einem Satz hinauf. Das Schild gab nach, doch mit der anderen Hand hatte er bereits die Mauerkrone erreicht. Er hielt sich an ihr fest, stützte sich mit einem Ellbogen ab, machte einen Klimmzug und rollte sich plump über die Seite ab. Er hustete, spuckte aus und stand auf. Heftiges Herzklopfen und ein Gefühl des Stolzes. Er hatte es geschafft.

Er blickte auf. Der Flüchtige lief über den Gipfel des Hügelgrabs; seine Gestalt zeichnete sich deutlich vor dem pechschwarzen Hintergrund des Himmels ab. Eine kinematografische Vision. Würdig eines guten alten Hitchcock-Films. Der vor dem Nachthimmel laufende Schatten, eingerahmt von den beiden Aussichtsterrassen, die im Mondlicht glänzten.

Ohne nachzudenken, eilte Kasdan die Steinstufen hinauf, schwang sich über das Eisengeländer der Außentreppe und stürmte zum Flachdach der Pyramide hinauf. Am Ende seiner Kräfte und außer Atem kam er oben an.

Das, was er sah, raubte ihm den letzten Atem.

Drei Hektar Rasen, ein echtes Fußballfeld, das über Paris schwebte. Die Lichter der Straßen unter ihm erzeugten einen unwirklichen Lichthof, der den Mayatempel in ein lumineszierendes Raumschiff verwandelte.

Und dicht über dieser Fläche lief noch immer der Schatten, der die Einsamkeit des Menschen im Universum zu symbolisieren schien. Obwohl die Adern in seinem Kopf pochten und seine Lungen brannten, gestattete sich Kasdan noch einen kleinen ästhetischen Vergleich. Der Anblick erinnerte an ein Bild de Chiricos. Leere Landschaft, ins Unendliche laufende Linien. Allgegenwart des Nichts.

Kasdan lief wieder los, schnaufend, am Rand der Ohnmacht. Er hatte jetzt Seitenstechen und Schmerzen in den Knien. Er überquerte die riesige Fläche, den Spiegel der Nacht, spürte die Weichheit des Rasens unter seinen Sohlen. Der kleine Mann lief noch immer vor ihm …

Plötzlich hielt der Typ inne. Ein gläserner Pilz ragte vor ihm auf. Er beugte sich herab, hob eine Platte hoch, die im Mondlicht aufblitzte, und verschwand.

Der Mann war in den Speicher von Montsouris gesprungen.

Kapitel 6

Der Armenier gelangte zu der Dachluke, die offen stand. Es war so, wie er vermutet hatte: Der Flüchtige kannte sich hier bestens aus. Es war ihm gelungen, das Klappfenster blitzschnell zu öffnen. Hatte er die Schlüssel dafür? Das alles war wie ein Albtraum. Kasdan presste die Hand auf die Stelle, wo er das Seitenstechen spürte, und stieg die Treppe hinunter, die direkt in die Finsternis führte.

Spirale. Eisengeländer. Und dann schon die Feuchtigkeit. Am Fuß der Treppe blieb er stehen und wartete, bis sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten und der Ort, an dem er sich befand, im Halbdunkel Gestalt annahm. Er wusste, wo er war. Im Fernsehen hatte er einen Dokumentarfilm über diesen Wasserspeicher gesehen. Ein Drittel des Trinkwassers, das die Pariser täglich verbrauchten, wurde hier gespeichert. Tausende von Hektolitern Quellwasser, von mehreren Flüssen abgezweigt, geschützt gegen Wärme und Verunreinigungen, bis die Pariser es zum Trinken, Duschen, Geschirrspülen etc. verwendeten …

Kasdan hätte Zisternen erwartet, abgedeckte Becken. Aber das Wasser war da, zu seinen Füßen, ohne Abdeckung. Eine riesige grüne Fläche, gespickt mit Hunderten roter Säulen, die im Dunkeln schemenhaft zu erkennen waren. Zu dieser Nachtstunde stand das Wasser in den Becken sehr hoch. Offensichtlich nicht die Zeit, um eine Dusche zu nehmen. Kasdan zog seine Lampe heraus und senkte den Lichtkegel auf die Wasserfläche. Auf dem Boden des Beckens erkannte er Zahlen, die wie versunkene antike Mosaiken in die Füße der Säulen eingeschrieben waren: E 34, E 38, E 42 …

Kasdan lauschte. Kein Geräusch aus der Tiefe der Höhle, abgesehen von einem sanften Plätschern und einem seltsamen tiefen Widerhall. Wo war der Flüchtige? Entweder schon über alle Berge, nachdem er einen Weg eingeschlagen hatte, von dessen Existenz Kasdan nichts ahnte, oder ganz nahe, zusammengekauert in einer Nische, die er schon bald entdecken würde …

Kasdan ließ den Lichtkegel durch den Raum gleiten, um seine Umgebung besser zu erkennen. Er stand auf einer schmalen Galerie, die auf beiden Seiten in einen Gewölbekorridor mündete. Er entschied sich für die rechte Seite und tauchte in den schmalen Stollen ein. Die Wände schwitzten. Der Boden war übersät von Pfützen. Stellenweise reichte die Mauer auf der linken Seite nur bis in Hüfthöhe und gab den Blick auf die Becken frei. Eine flüssige Masse in Grüntönen, klar, unbewegt. Die Pfeiler mündeten in Rundbögen, ähnlich wie in einem romanischen Kloster. Die Farben – das Grün des Wassers, das Rot der Säulen – weckten Erinnerungen an maurische Motive in lebhaften Emailtönen. Eine Alhambra für Höhlenbewohner.

Der Lichtkegel seiner Lampe fiel auf Aquarien, die in die linke Steinwand eingelassen waren. Darin huschten Forellen über einem Kiesbett hin und her. Der Ex-Polizist erinnerte sich an eine Reportage. Früher wurden die Forellen in den Becken ausgesetzt, um die Sauberkeit zu überprüfen, denn diese Fische gingen bei der geringsten Verschmutzung des Wassers ein. Heute verfügten die Brunnenmeister über andere Überwachungsmethoden, doch sie hatten die Forellen behalten. Zweifellos aus Nostalgie.

Noch immer kein Laut. Er würde sich noch in diesem Irrgarten verlaufen. Ein anderer Vergleich drängte sich ihm auf. Das halb unter Wasser gesetzte Labyrinth des Minotaurus. Er stellte sich ein Meeresungeheuer vor, das seine Opfer verfolgte und sie in diesem stehenden Gewässer zu Tode hetzte …

Ein Hüsteln von irgendwoher.

Das Geräusch war so kurz, so unwirklich, dass Kasdan glaubte, geträumt zu haben. Er schaltete seine Lampe aus. Die Kälte drang ihm in die Knochen und tat ihm seltsamerweise wohl.

Wieder ein Hüsteln.

Der Mann verbarg sich irgendwo – und er schlotterte. Kasdan ging blind weiter, so leise wie möglich. Das Geräusch war nur dreißig, vierzig Meter entfernt gewesen.

Ein erneutes Hüsteln.

Nur noch ein paar Schritte.

Kasdan lächelte. Dieses kraftlose, kränkliche Hüsteln verriet Schwäche. Eine Verwundbarkeit, die zu der Gestalt passte, die er am Eisengitter des Parks gesehen hatte.

»Komm raus aus deinem Versteck!«, sagte er in beruhigendem Ton. »Ich tu dir nichts.«

Stille. Plätschern. Kasdans Füße versanken im Morast. Der modrige Geruch eines überfluteten Kellers stach ihm in die Nase.

Er änderte seinen Tonfall:

»Komm raus! Ich bin bewaffnet.«

Nach ein paar Sekunden:

»Hier …«

Kasdan schaltete seine Taschenlampe ein und richtete sie auf die Stelle, von der das Hüsteln kam. In einem Gewölbe mit abblätterndem Putz kauerte ein Mann. Der Armenier richtete den Lichtkegel seiner Lampe auf den Jungen, um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen. Der Typ duckte sich noch tiefer. Kasdan hörte das Klappern seiner Zähne – das war weniger die Kälte, sondern Angst. Langsam musterte er seine in die Enge getriebene Beute, indem er den Lichtstrahl vom Gesicht über die Schultern bis zu den Füßen gleiten ließ.

Ein Inder.

Ein junger Mann mit dunkler Gesichtsfarbe und schwarzem Haar.

Allerdings hatte der Junge grüne Augen – Augen von übernatürlicher Klarheit, als trüge er Kontaktlinsen. Eine Klarheit, die auf seltsame Weise mit der Farbe des unbewegten Wassers in dem Becken hinter ihnen übereinstimmte. Kasdan dachte an die kreolischen und holländischen Mischlinge, denen man auf bestimmten Karibik-Inseln begegnete.

»Wer bist du?«

»Bitte, tun Sie mir nichts!«

Kasdan packte ihn, zog ihn aus seinem Versteck und stellte ihn auf die Beine. Sechzig Kilo, total durchnässt.

»WERBISTDU?«

»Ich heiße …« Der Junge hustete und fuhr dann fort: »Ich heiße Naseerudin Sarakramahata. Aber alle nennen mich Naseer.«

»Du überraschst mich. Woher kommst du?«

»Von der Insel Mauritius.«

Die Exotik schien kein Ende zu nehmen. Ein armenischer Polizist befragte einen Mauritier über einen chilenischen Chorleiter. Das war keine Vernehmung mehr, sondern eher »World Kitchen«.

»Was hast du bei Götz gemacht?«

»Ich hab meine Sachen geholt.«

»Deine Sachen?«

Ein mattes Lächeln trat auf die rosa Lippen des Inders. Ein Lächeln, das ihm Kasdan am liebsten mit Faustschlägen ausgetrieben hätte. Er begann zu erahnen, worum es sich handelte.

»Ich bin ein Freund von Willy … ich meine von Wilhelm.«

Kasdan lockerte seinen Griff.

»Das heißt?«

»Sein Freund … also sein Boyfriend.«

Kasdan musterte seinen Gefangenen. Schlanke Figur, schmale und zarte Handgelenke, Ringe und Armbänder, Jeans mit tiefer Taille. Alles schien zu passen.

Die Karten wurden neu gemischt. Der Armenier musste sein Spiel überdenken.

Wilhelm Götz hatte einen Grund dafür gehabt, dass er sich über sein Privatleben in Schweigen hüllte. Ein Schwuler alten Schlages, der seine sexuellen Neigungen verheimlichte, weil er sich ihrer schämte.

Kasdan sog die feuchte Luft tief ein und befahl dem Jungen:

»Erzähl!«

»Was … was wollen Sie wissen?«

»Alles.«

Kapitel 7

»Ich habe Willy auf der Polizeipräfektur kennengelernt. Wir standen wegen unserer Aufenthaltsgenehmigungen an.«

Als er noch Polizist war, hatte Kasdan solchen Aussagen immer Glauben geschenkt. Je absurder sich eine Geschichte anhörte, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie stimmte.

»Wir waren beide politische Flüchtlinge.«

»Du ein Asylant?«

»Seit dem Wahlsieg der Partei Mouvement Socialiste Mauricien und Anerood Jugnauths Rückkehr an die Macht bin ich …«

»Deine Papiere!«

Der Mauritier tastete seinen Blouson ab und zog eine Brieftasche heraus. Kasdan riss sie ihm aus der Hand. Fotos von der Insel, von Götz, von eingeölten jungen Männern. Kondome. Dem Armenier wurde übel. Er kämpfte gegen seinen Ekel und den spontanen Impuls, dem Jungen eine runterzuhauen.

Schließlich fand er den Ausländerausweis und den Reisepass. Kasdan steckte die Dokumente ein und warf dem jungen Mann den Rest an den Kopf:

»Eingezogen!«

»Aber …«

»Halt die Klappe. Wann hast du ihn kennengelernt?«

»2004. Wir haben Blicke gewechselt … und uns verstanden.«

Die kleine Tunte sprach mit näselnder Stimme und in ungerührtem – halb indischem, halb kreolischem – Tonfall.

»Seit wann bist du in Paris?«

»Seit 2003.«

»Hast du bei Götz gewohnt?«

»Ich habe an drei Abenden pro Woche bei ihm geschlafen. Aber wir haben jeden Tag telefoniert.«

»Hast du noch andere Liebhaber?«

»Nein.«

»Erzähl mir keine Märchen!«

Der Junge rekelte sich affektiert. Kasdans Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er reagierte allergisch auf Tunten.

»Ich treff mich mit anderen Männern, ja.«

»Bezahlen sie dich?«

Der exotische Vogel antwortete nicht. Kasdan richtete die Lampe auf sein Gesicht und musterte ihn eingehend. Ein dunkles Katzengesicht mit vorstehenden Kinnbacken. Eine kurze Nase, kleine runde Nasenlöcher, die wie Piercings am Nasenrücken klebten. Sinnliche Lippen, die heller waren als die Haut. Und helle Augen, die, umrahmt von leicht geschwollenen Boxerlidern, aus diesem rötlich braunen Gesicht strahlten. Für Leute, die Gefallen daran fanden, musste dieser goldbraune Junge zum Anbeißen sein.

»Ja, sie geben mir Geld.«

»Auch Götz?«

»Ja.«

»Warum hast du ausgerechnet heute Abend deine Sachen geholt?«

»Ich …« Er hustete ein weiteres Mal und spuckte dann aus. »Ich will keine Schwierigkeiten.«

»Wieso solltest du Schwierigkeiten kriegen?«

Naseer warf ihm einen schmachtenden Blick zu. Tränen verstärkten den Glanz seiner Augen.

»Ich weiß über Willy Bescheid. Er ist tot. Er wurde ermordet.«

»Woher weißt du das?«

»Wir waren heute Abend verabredet. In einem Café in der Rue Vieille-du-Temple. Er ist nicht gekommen. Ich hab mir Sorgen gemacht. Ich habe in der Kirche angerufen. Saint-Jean-Baptiste. Ich hab mit dem Pfarrer gesprochen.«

»Saint-Jean-Baptiste ist eine armenische Kirche. Wir haben keinen Pfarrer, sondern Patres.«

»Ja richtig … mit einem Pater. Er hat es mir gesagt.«

»Woher hast du die Telefonnummer der Kathedrale?«

»Willy hatte mir einen Terminkalender gegeben, eine Art Stundenplan. Die Orte, die Zeiten, Adressen und Telefonnummern der Kirchen und der Familien, wo er unterrichtete. Daher wusste ich immer, wo er war …«

Er lächelte kurz. Zuckersüß, dachte Kasdan angewidert.

»Ich bin ziemlich eifersüchtig.«

»Gib mir diesen Terminkalender.«

Ohne Widerworte nahm Naseer seinen Rucksack ab, öffnete die Tasche an der Vorderseite und zog ein gefaltetes Blatt heraus. Kasdan nahm es und überflog es. Einen besseren Fang hätte er sich nicht wünschen können. Die Namen und die Adressen der Pfarrgemeinden, für die Götz arbeitete, sowie die Anschriften und Telefonnummern aller Familien, in denen er Klavierunterricht gegeben hatte. Um an diese Informationen zu gelangen, würde Vernoux mindestens zwei Tage brauchen.

Er steckte die Liste ein und wandte sich wieder dem kleinen Inder zu:

»Das scheint dich nicht sonderlich zu erschüttern.«

»Erschüttert bin ich schon, aber nicht überrascht. Willy war in Gefahr. Er hatte mir gesagt, dass ihm etwas zustoßen könnte …«

Kasdan beugte sich interessiert zu ihm herab.

»Hat er dir gesagt, wieso?«

»Weil er etwas gesehen hat.«

»Was hat er gesehen?«

»In Chile, in den siebziger Jahren.«

Da war sie wieder, die politische Spur.

»Okay«, sagte Kasdan, »jetzt mal ganz langsam. Du erzählst mir ganz genau, was Götz dir darüber gesagt hat.«

»Er hat nie darüber gesprochen. Ich weiß nur, dass Willy 1973 ins Gefängnis kam. Er wurde verhört und gefoltert. Er hat Entsetzliches durchgemacht. Angesichts der neuen Umstände hatte er beschlossen, auszusagen.«

»Was für Umstände?«

Erneut trat ein Lächeln auf Naseers Gesicht. Aber diesmal wirkte es leicht verächtlich. Kasdan vergrub die Fäuste in den Taschen, um ihn nicht zu schlagen.

»Wissen Sie denn nicht, dass die Folterknechte von damals heute gerichtlich verfolgt werden? In Chile? In Spanien? In Großbritannien? In Frankreich?«

»Ich habe davon gehört, doch.«

»Willy wollte gegen diese Dreckskerle aussagen. Aber er hatte das Gefühl, dass man ihn überwacht …«

»Hat er sich an einen Richter gewandt?«

»Willy hat nicht darüber gesprochen. Er sagte, je weniger ich davon wüsste, desto besser für mich.«

Die Geschichte kam Kasdan abenteuerlich vor. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich der Organist wegen dieser 35 Jahre zurückliegenden Geschichten derart bedroht fühlte. Und wegen Prozessen, die platzten, weil die Beschuldigten vor dem Ende des Verfahrens eines natürlichen Todes starben. Auch Augusto Pinochet hatte vor wenigen Tagen das Zeitliche gesegnet.

»Hat er Namen genannt?«

»Ich sage Ihnen noch einmal, dass er nichts gesagt hat! Aber er hatte Angst.«

»Diese Leute wussten also, dass er reden wollte?«

»Ja.«

»Und du hast keine Ahnung, was er enthüllen wollte?«

»Ich weiß nur, dass es um die Operation Condor ging.«

»Die was?«

»Sie haben ja keine Ahnung!«

Kasdan hob die Hand. Der Inder zog den Kopf zwischen die Schultern. Im Vergleich zu dem Armenier wirkte er geradezu winzig.