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Es sollte ein weiterer Gedichtband werden, schreibt Serhij Zhadan, über die östliche Landschaft im Winter, den nahenden Schnee, die Stimmen in der Luft, die Weinberge, die Stadt am Horizont, die sich mit Lärm und Licht füllt. Doch am 24. Februar 2022, mit Beginn des großen Krieges in der Ukraine, brach die Zeit, verstummte die Poesie. Erst Monate später kehrte die Sprache zurück: »Zeit neue Gedichte zu schreiben / Bei den alten weint niemand mehr.«
50 + 1 untertitelt Zhadan seinen neuen Lyrikband, der das Davor und Danach und den Riss in der Mitte dokumentiert – datierte Gedichte, zwischen Ende 2021 und Sommer 2023 geschrieben.
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Seitenzahl: 71
3
© Jürgen Bauer
5Serhij Zhadan
Chronik des eigenen Atems
50 und 1 Gedicht
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
Suhrkamp
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Die Originalausgabe ist 2023 u. d.T. Skrypnykivka im VerlagMeridian Czernowitz in Kyjiv erschienen.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der xx. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2840.
© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG,Berlin, 2024© 2024 Serhij Zhadan
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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-78168-5
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Kann ich jetzt vielleicht anfangen?
Erster Teil
Und wenn sie dich fragen: wozu?
Etwas war dort – an dem Ort, den es nicht gibt
Aus der gesamten Literatur
Groß ist deine Aufmerksamkeit
Ein gezeichneter gepeinigter Mann
Alles wie es war
Der arme Messias der Kinder
Brecht
Eine schwangere Frau wie ein Buch mit Fortsetzung
Vom anderen Ufer des Flusses eine Stimme
Und das Wichtigste haben sie nicht erzählt
Sprich das nicht laut aus
Gestern hat der September begonnen
… soll er jetzt sprechen oder schweigen
Der gütige Gott des Umbruchs packt dich am Ärmel
Hab das Licht gelöscht, das Fenster gekippt
Und es ändert sich die Bedeutung von Winter
Kerbender Linolschnitt der Schienen
Das wird dann zum ersten Mal ausgesprochen
Möge das Zeichen der Annäherung
Doch dann der Flüsse zu gedenken
Hier nun macht der Winter dieses Jahr die Bäume fahl
Nachrichten über Hartnäckige, Entschlossene und Wendige
Ist das schmerzhaft genug
Eine kurze Geschichte vom Schnee
Zweiter Teil
Vielleicht sollte ich genau jetzt beginnen
Und etwas wird unbedingt zum Ausgleich gegeben
Es erwarten Menschen den Abend
Es kommt der Moment, in dem du dich traust
Sich erinnern an jedes Haus und jede Straße
Ein der Dunkelheit entrissener Lichtzweig
Möge es Gesang sein
Es musste so kommen
Ein Gefühl, als schließe sich alljährlich
Der Schnee erwärmt sich in der Hand
So hell am Morgen
Die Sternsinger streifen durch den Schnee
Wenn jede Seele
Gib ihr den Namen eines der Vögel
Noch ein Versuch, sich dem Feuer zu erklären
Ich liebe sie sehr, diese Frau
Du sagst »Erinnerung«
Schulz. Psalmen
Sich später, irgendwann mit einem Lachen erinnern
Und man darf nicht vergessen
Groß ist die Idee und die Weisheit ist groß
Das bin ich, schau her, das bin ich
Licht
Auch darüber habe ich geschrieben
Kann ich noch etwas sagen?
Nachwort
50 und 1
Fußnoten
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9Der durchschnittliche akademisch gebildete Ukrainer verfügt nur über geringe Kenntnisse in der Sprachwissenschaft, und je geringer die Kenntnisse, desto heftiger die Debatten um die Orthografie. Die Äußerungen laufen in den meisten Fällen auf eine Verteidigung dessen hinaus, was jemand gewohnt ist oder für angemessen hält. Beginnen wir mit einer beiläufigen Notiz zur Geschichte der Rechtschreibung in den letzten einhundertfünfzig Jahren.
Jurij Scheweljow, »Kriterien für die offizielle ukrainische Orthografie«
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Kann ich jetzt vielleicht anfangen?
Bislang hörte man den nahenden Schnee, hörte
ihn sich auftürmen an der Naht des
November, hörte das Erstarren, mit dem
die östliche Landschaft sich vorbereitet,
die lästige Schwere des Weiß anzunehmen, den Strahl
der Verkahlung, in dem die Bäume stehen.
Bislang konnte man die Unfähigkeit,
laut »Schnee« zu sagen, ihn klingen, aussprechen, von den Hunden
der Phonetik aufspüren zu lassen, mit der Sorge
erklären,
bislang konnte man ihn
bestenfalls mit Wörtern bezeichnen, die
Verzerrung bedeuten, Übergang,
Verlust.
Doch
das Winterpanorama über der Stadt ist schon grundiert,
und wir hinterlassen einen Abdruck im warmen Gips unseres Wartens;
kann ich vielleicht die Verantwortung übernehmen für dieses
herausgerissene Herz, das dem herausgerissenen Türstock in einem alten Haus gleicht,
als Erster preise ich den Kegel des verblassenden Lichts,
das Buntglas des Gedichts, durch das die schrägen Strahlen der Stimme
12fallen, Abglanz des Gesangs, Flimmern des Atems.
Bislang ist es das Gefühl des Erwachsenwerdens am Winteranfang.
Der Himmel ist wie ein Schüler, der zum ersten Mal
die Odyssee lesen muss,
die Fenster sind warm wie Frauen, die in Liebe geboren haben,
die Sprache ist wie ein Rasierer:
höchst sicher, höchst nah.
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Und wenn sie dich fragen: wozu? –
weißt du nichts zu sagen. Und dennoch,
es ist Zeit, neue Gedichte zu schreiben:
bei den alten Gedichten weint keiner mehr.
Denn die alten Gedichte sind alt geworden,
und die Jugendlichen stehen da wie verhaftet
und warten auf frische Reime,
um erwachsen zu werden und zu leiden.
Denn die alten Gedichte hinterlassen Stille.
Und in dieser Stille machst du keinen Schritt.
Die Dichter gibt es nicht, die ein Gedicht hätten,
um das Leid dieses Jahres zu fassen.
Und die Jugendlichen – abgerissen, rätselhaft –
können sich untereinander nicht einigen.
Wie sollen sie den Klumpen in der Sprache nennen,
den sie immer Liebe nannten?
Wie sollen sie die Verdunklung im Herzen nennen
und das Klingen in der Stille vernehmen?
Die Sterne haben dies Jahr kein Erbarmen.
Es ist Zeit, neue Gedichte zu schreiben.
Denn die alten Gedichte haben keine Kraft mehr,
und die alten Dichter müssen nicht mehr sterben.
Sie haben vergessen, worum man sie bat.
Wer bitte braucht noch ihre Ratschläge.
16Die Rhythmik, kleine Schwester der Barmherzigkeit,
kommt ohne Vorwürfe und ohne Not.
Doch wer braucht ein Gedicht über Unsterblichkeit,
wenn es dort dann nichts gibt über ihn.
Lass uns die Dinge von Neuem reimen,
lass uns den Geheimnissen Klang geben.
Alle brauchen neue Dichter,
alle brauchen einen, der Unfug redet.
Unser tiefer Glaube liegt im Klingen.
Unsere Sprache ist leise, gewöhnlich.
Sie hängt am Atem und am Gaumen.
Unwiederbringlichkeit. Ungeduld.
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Etwas war dort – an dem Ort, den es nicht gibt, in dieser Wüste,
in dem langen, wider die Nacht gesprochenen Leben,
an dem Ort des Scheiterns, mitten im Gedächtnis, für das Schweigen.
Etwas war noch außer Vorwürfen und Lektionen.
Irgendwo dort war der Anfang. Der Anfang der Worte. Der Anfang einer Zeile.
Wenn du in der Stille erwachst, und die Stille ist so,
als würden jene singen, die unter Wasser stehen, als sei es ihr Gesang,