Circle of Night - Die geheime Akademie - Michelle C. Paige - E-Book

Circle of Night - Die geheime Akademie E-Book

Michelle C. Paige

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Beschreibung

Eine YA Urban Fantasy über eine magische Akademie und den Kampf gegen gefährliche Wesen aus dem Reich der Toten voller Plottwists und Gefühl

Josie erschreckt sich beinahe zu Tode, als ihr in Noahs eigentlich geheimer Bibliothek plötzlich Matteo gegenübersteht - ein fremder Hexer aus einem großen Londoner Hexenzirkel. Er ist auf der Suche nach einem Buch, das sich in Noahs Besitz befinden soll. Doch als er sieht, dass Josie und ihre Freunde keinen Hexenzirkel haben, bietet er ihnen an, dass sie für die Ferien die Akademie für Hexende in London besuchen können.

Josie ist zunächst misstrauisch, doch der Ausblick, mehr über Hexerei zu lernen und neue Kontakte zu knüpfen, überzeugt sie schließlich doch. Gemeinsam mit Gizem, Jason, Niklas und Louisa reist sie kurz darauf nach England.

Dort eröffnet sich ihnen eine völlig neue Welt, und sie können ihre Kräfte in der magischen Akademie verbessern. Schnell finden sie Freunde, und auch Josie und Matteo kommen sich näher.

Doch es gibt einen Haken: In London treiben dunkle Mächte ihr Unwesen, und der Hexenzirkel befindet sich mitten in einem Kampf. Untote Monster entkommen durch instabile Portale aus dem Reich der Toten - und sie greifen nicht nur die Hexenden aus London an ...

Der zweite Band der spannenden YA Urban Fantasy Reihe »Circle of Night« um die jungen Hexen und Hexer, die sich den Mächten des Bösen entgegenstellen und für Freundschaft, Liebe und eine bessere Welt alles riskieren.

ONE. Wir lieben Young Adult. Auch im eBook!

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Seitenzahl: 484

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Trigger

Kapitel 1 – Gizem

Kapitel 2 – Josie

Kapitel 3 – Gizem

Kapitel 4 – Josie

Kapitel 5 – Gizem

Kapitel 6 – Josie

Kapitel 7 – Gizem

Kapitel 8 – Josie

Kapitel 9 – Gizem

Kapitel 10 – Josie

Kapitel 11 – Gizem

Kapitel 12 – Josie

Kapitel 13 – Gizem

Kapitel 14 – Josie

Kapitel 15 – Gizem

Kapitel 16 – Josie

Kapitel 17 – Gizem

Kapitel 18 – Josie

Kapitel 19 – Gizem

Kapitel 20 – Josie

Kapitel 21 – Gizem

Kapitel 22 – Josie

Kapitel 23 – Gizem

Kapitel 24 – Josie

Kapitel 25 – Gizem

Kapitel 26 – Niklas

Kapitel 27 – Josie

Kapitel 28 – Gizem

Kapitel 29 – Josie

Kapitel 30 – Gizem

Epilog

Inhaltsinformation

Nachwort der Autorin

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

Über dieses Buch

Josie erschreckt sich beinahe zu Tode, als ihr in Noahs eigentlich geheimer Bibliothek plötzlich Matteo gegenübersteht – ein fremder Hexer aus einem großen Londoner Hexenzirkel. Er ist auf der Suche nach einem Buch, das sich in Noahs Besitz befinden soll. Doch als er sieht, dass Josie und ihre Freunde keinen Hexenzirkel haben, bietet er ihnen an, dass sie für die Ferien die Akademie für Hexende in London besuchen können.

Josie ist zunächst misstrauisch, doch der Ausblick, mehr über Hexerei zu lernen und neue Kontakte zu knüpfen, überzeugt sie schließlich doch. Gemeinsam mit Gizem, Jason, Niklas und Louisa reist sie kurz darauf nach England.

Dort eröffnet sich ihnen eine völlig neue Welt, und sie können ihre Kräfte in der magischen Akademie verbessern. Schnell finden sie Freunde, und auch Josie und Matteo kommen sich näher.

Doch es gibt einen Haken: In London treiben dunkle Mächte ihr Unwesen, und der Hexenzirkel befindet sich mitten in einem Kampf. Untote Monster entkommen durch instabile Portale aus dem Reich der Toten – und sie greifen nicht nur die Hexenden aus London an ...

Der zweite Band der spannenden YA Urban Fantasy Reihe »Circle of Night« um die jungen Hexen und Hexer, die sich den Mächten des Bösen entgegenstellen und für Freundschaft, Liebe und eine bessere Welt alles riskieren.

Michelle C. Paige

Die geheime Akademie

Eine YA-Urban-Fantasy-Reihe um die Hexen von Hamburg

Für Ryvis – für all die Jahre und so vieles mehr.

Und alle, die noch nicht wissen, wohin der Weg sie führen wird und das vielleicht auch noch gar nicht wissen müssen.

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Dazu findet ihr genauere Angaben am Ende des eBooks.

ACHTUNG: Sie enthalten Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer Team vom ONE-Verlag

Kapitel 1 – Gizem

Mist, Mist, Mist!

Wieso zur Hölle konnte Gizem nicht »Nein« sagen?

Sie fummelte die Wohnungstür auf und fiel mehr oder weniger in den offenen Wohnraum der schmalen Zweizimmerwohnung, schlüpfte hektisch aus den Schuhen und lief ins Bad, wo sie sich die schmutzigen Arbeitsklamotten vom Leib riss, die dunklen langen Haare schnell zu einem Knoten band und dann unter die kalte Dusche sprang. Minuten später sprintete sie wieder aus dem Badezimmer hinaus – immer noch halb nass –, kippte in der Küche in aller Eile einen kalten, viel zu starken Kaffee in sich hinein und würgte ihn angewidert hinunter.

Diesmal komme ich nicht zu spät!

Sie hatte Louisa die letzten beiden Male bereits warten lassen. Nur wegen ihrer nervigen Überstunden. Klar, wenn jemand verletzt war und den Notruf wählte, konnte sie nicht einfach pünktlich alles fallen lassen und nach Hause spazieren.

Aber wenn sie doch nur »Nein« gesagt hätte, als ihr Teamleiter sie heute in der Früh förmlich angebettelt hatte, eine weitere Schicht zu übernehmen, weil jemand anderes ausgefallen war! Dann müsste sie sich jetzt nicht innerhalb von zehn Minuten für ihre Verabredung fertig machen. Und sie wäre auch nicht so hundemüde, wie sie es gerade war, weil sie nachts wegen dieser nervigen Albträume von schauderhaften Schattengestalten aus dem total absurden letzten Sommer so schlecht schlief und die Chance auf ihr Nickerchen später am Tag verpasst hatte.

Der Kaffee und die eiskalte Dusche würden deshalb hoffentlich ihren Beitrag leisten. Denn jetzt hatte sie noch knapp fünf Minuten, um mit dem Auto durch die Stadt zu ihrer Verabredung zu brettern.

Nein.

Vier Buchstaben. So einfach hätte es sein können.

Wieso zur Hölle tat sie sich das also immer wieder an?

Sobald sie Louisa vor dem Kino stehen sah, vergaß sie alles, was sie noch Momente vorher genervt hatte. Die wohlige Wärme, die sie überkam, vertrieb die Gänsehaut, die die kalte Dusche hinterlassen hatte. Louisas Lächeln löste jedes Mal einen Schwung nicht enden wollender Energie in ihr aus, und Gizem kostete diese Energie aus, wann immer sie konnte.

Zwar würde sie das nie aussprechen, aber sie war froh, dass Louisa ihr Studium in den USA um ein Jahr aufgeschoben hatte. Jetzt wollte Gizem vor allem das nächste halbe Jahr mit ihr genießen, bevor Louisa ein halbes Jahr Work & Travel in Japan machen würde. Eine Idee, die Louisa gekommen war, als sie alte Briefe von der verstorbenen Annika gelesen hatte, die sie daran erinnerten, dass sie als Kinder immer zusammen nach Japan hatten reisen wollen. Sie machte das also hauptsächlich, um Annika in Ehren zu halten. Louisas Tage in Hamburg waren somit gezählt. Weshalb die gemeinsamen nun umso mehr bedeuteten.

Gizem grinste über beide Ohren, und Louisa tat es ihr nach, als sie sich zur Begrüßung umarmten. Diesmal nur fünf Minuten zu spät. Aber in diesem Moment, in Louisas Nähe, verpufften all ihre Sorgen, sodass Gizem sich kurz fallen ließ. Sie schloss die Augen, atmete tief ein, genoss den Duft von Louisas blumig riechenden Haaren und fand zum ersten Mal an diesem Tag Ruhe.

Auch wenn die restliche Gruppe des Café Morgengraus sich mittlerweile nicht mehr ganz so regelmäßig traf wie im vergangenen Sommer, waren die beiden jungen Frauen irgendwie nicht ganz voneinander losgekommen. Dafür waren sie zu enge Freunde geworden, besonders nach Annikas Beerdigung und der Zeit danach, in der Louisa eine gute Freundin gebraucht hatte. Eine gute Freundin. Mehr war sie nicht.

Und das sollte so bleiben, das war besser so. Außerdem hatte Gizem so eine gute Freundin mindestens genauso nötig. Neben dem Schichtdienst und ihren schlaflosen Nächten wüsste sie ohne Louisa vermutlich gar nicht mehr, wo ihr der Kopf stünde.

»Alles okay?« Louisa musterte sie aufmerksam, ließ ihren durchdringenden Blick auf Gizems Gesicht verharren.

Manchmal ertappte Gizem sich dabei zu hinterfragen, ob Louisa wirklich nicht ihre empathischen Fähigkeiten an ihr austestete. Dann fiel ihr wieder ein, dass das hier Louisa war, dass sie das niemals tun würde. Und dass Gizems Augenringe für sich sprechen mussten.

»Alles okay«, bestätigte sie und zuckte mit den Schultern. »Doppelschicht. Schlecht geschlafen. Das Übliche.« Sie zwinkerte. Sie hatte bereits mit Louisa über ihre Albträume gesprochen. Es ergab Sinn nach allem, was geschehen war. War überhaupt nicht verwunderlich, und anscheinend hatte Louisa ab und an mit ähnlichen Problemen zu kämpfen.

In Louisas wissendem Blick lag dennoch eine kleine Prise Mitleid.

Gizem winkte sofort ab. »Nein, ehrlich. Passt schon«, versicherte sie und wandte sich zum Kino-Eingang, um von sich abzulenken. »Bock auf dreißig Minuten komische Werbung und Trailer?«

»Immer doch!«, bestätigte Louisa begeistert, auch wenn sie ganz bestimmt sah, dass Gizem heute besonders fertig war. Das mochte Gizem auch sehr an ihr. Louisa wusste, wann sie nicht weiter nachbohren sollte, und machte es ihr leicht. Sie verstand einfach.

Beim Reingehen hakte sie sich bei ihr unter, und die beiden schlenderten gemütlich zur Kasse. Fast so wie ein Pärchen. Der Gedanke ließ Gizems Wangen warm werden.

Beruhige dich, Gizem. Ihr geht ständig zusammen weg.

Gute Freundinnen teilten diese Nähe eben miteinander. Das hatte rein gar nichts zu bedeuten.

Mit einer gigantischen Portion Popcorn – süß und salzig gemischt, versteht sich – und Gizem zusätzlich bewaffnet mit einer großen Cola, die hoffentlich genug Koffein und Zucker in sich hatte, um sie in dem düsteren Saal wach zu halten, suchten die beiden kurze Zeit später ihre Plätze.

Gizem stockte vor den Nummern achtzehn und neunzehn – einem Pärchensitz. Sie schluckte.

Louisa setzte sich hin, ohne mit der Wimper zu zucken, und klopfte begeistert auf den Platz neben sich. »Gut«, sagte sie. »Dann können wir ja kuscheln.« Sie zwinkerte, fühlte sich dabei offensichtlich total witzig.

Gott, dieses Mädchen macht mich fertig.

Traditionell verbrachten sie die Zeit der Kino-Werbung damit zu raten, für was genau die absurden Spots eigentlich warben, aber mittlerweile waren sie ziemlich gut darin.

Doch sobald der Film anlief und die gedimmten Lichter des Saals komplett gelöscht wurden, wurden Gizems Lider schwerer. Verzweifelt zog sie am Pappstrohhalm der Cola und flüsterte in den Anfangsminuten mit Louisa, doch dann wurde es ruhiger im Saal, und Gizem konnte sich schlechter und schlechter auf die bewegten Bilder und Töne fokussieren.

So ein Mist.

Angestrengt setzte sie sich auf, kniff die Augenbrauen etwas zusammen, um sich auf den Film zu konzentrieren, um sich auf Louisa zu konzentrieren. Es war nicht mal so, als säßen sie in einem ruhigen Drama. Im Gegenteil, auf der Leinwand tobte nach den ersten paar Minuten Action mit brennenden Autos und einer Verfolgungsjagd. Dennoch und trotz des Lärmpegels driftete sie bereits ab und ...

Als Louisa sanft ihren Arm berührte, zuckte Gizem zusammen, tauchte aus der Phase zwischen Wegsacken und Einschlafen auf. Sie verlor sich in Louisas besorgtem Blick. Louisa ermutigte sie, sich zurückzulehnen, und nahm Gizems Hand in ihre. Dann nickte sie ihr zu und bot ihr ihre Schulter an, lächelte auffordernd.

Gizem atmete auf, sank an ihre beste Freundin. Wurde ruhig, unglaublich ruhig. Da waren kein Zauber und keine Tricks, nur Louisa selbst. Das war alles, was sie brauchte, um sich von tiefer, traumloser Ruhe umarmen zu lassen.

»Gut geschlafen?« Louisa schmunzelte, als sie nach dem Film den Saal verließen.

»Sehr, sehr gut«, gab Gizem zu und gähnte. »Keine Albträume, nichts.« Sie atmete tief ein und lächelte selig. »Vielleicht solltest du öfter mal einfach nur zum Schlafen vorbeikommen.« Um Gottes willen, Gizem, hast du das gerade wirklich laut gesagt?

Sie verpasste sich eine innerliche Kopfnuss.

»Klingt gut.« Louisa grinste schelmisch. »Dann hab ich endlich einen Grund, dich zu zwingen, meine Lieblingsserien mit mir zu schauen. Erst schauen, dann darfst du schlafen, versteht sich.«

Gizem stöhnte, als wäre es tatsächlich eine Qual für sie, noch mehr Zeit mit Louisa zu verbringen.

Verdammt, reiß dich zusammen, Gizem!

»Tut mir aber total leid«, wich sie schnell aus. »Also, dass ich weggenickt bin. Wollte den Film echt sehen. Aber die Schicht heute hat richtig reingehauen. Wirklich. Sorry.«

»Alles gut«, beschwichtigte Louisa. »Nächstes Mal sagst du einfach Bescheid, und wir verschieben unser ›Date‹.« Sie zwinkerte und hakte sich wieder bei Gizem ein.

Diese wich ihrem Blick aus, ertrug es nicht, Louisa anzusehen, die alles, was sie sagte, so völlig aufrichtig meinte. Die mit dem Wort »Date« rein gar nichts implizierte, was über Freundschaft hinausging, obwohl Gizem am liebsten alles implizieren wollte, was mehr als das war. Oder zumindest die Idee davon.

»Quatsch. Der Job und so laufen mir ja nicht weg. Du schon, Lou. Also hast du Prio.« Gizem stupste sie mit der Schulter an.

»Aber ich kann auch wirklich mal bei dir vorbeischauen. Wir müssen nicht immer rausgehen, wenn du so viel um die Ohren hast.«

Gizem erwiderte Louisas ermutigenden Blick nur zaghaft. Es war merkwürdig für sie, Leute zu sich nach Hause einzuladen. Die Wohnung, die sie sich mit ihrer Mutter teilte, war klein und fast schon schäbig, nicht so ein großes, schickes Haus wie das, in dem Louisa wohnte. Das Haus, in dem neuerdings sogar Niklas untergekommen war.

Gerade puzzelte Gizem in ihrem Kopf die richtigen Worte zusammen, um das irgendwie elegant zu verpacken, als sie abrupt stehen blieb, weil sie bekannte Gesichter und Stimmen bemerkte. Gesichter und Stimmen, denen sie lange aus dem Weg gegangen war und die sie gerade in diesen Moment so gar nicht gebrauchen konnte: Sie gehörten zu drei jungen Frauen, mit denen sie zur Schule gegangen war. Mittlerweile mussten sie im Abschlussjahrgang sein. Gizems Augen weiteten sich, suchten sofort nach einem Ausweg. Einer Hintertür, aus der sie sich klammheimlich wegstehlen konnte.

Zu spät.

Eins der drei Augenpaare erspähte sie, und die Erkenntnis erreichte sichtlich das Gehirn einer ihrer ehemals besten Freundinnen – Sia – binnen weniger Sekunden. »Gizem!«, quietschte sie, worauf sich zwei weitere Köpfe zu ihr umdrehten.

Gizem blieb wie angewurzelt stehen. Wenn bitte jetzt sofort jemand ein großes Erdloch unter ihr aufreißen könnte? Danke.

Aber der klebrige Vorraum-Teppich des Kinos war so undurchdringlich, dass Gizem gefangen war im Kreuzfeuer der Aufmerksamkeit. Es gab kein Entkommen.

»Oh, hey!« Schnell wischte Gizem sich die schwitzigen Hände an ihrer Hose ab. »Lange nicht gesehen.«

»O mein Gooooott!« Sia kam ihr entgegen, zog sie in eine ungefragte Umarmung, die Gizem kaum erwiderte. Ja, nein, die Zeiten waren vorbei.

Die anderen beiden, Jess und Elif, folgten Sia etwas zurückhaltender, musterten sie interessiert. Dann wanderten ihre Blicke neugierig zu Louisa, die zwischen ihnen und Gizem hin- und hersah. Gizem konnte den Moment nicht ganz fassen, denn hier trafen Welten aufeinander: ihre Gegenwart auf ihre Vergangenheit. Und auf einmal fühlte Gizem sich wieder wie damals. Klein und unsicher, als hätte sie sich nicht verändert. Als schämte sie sich immer noch dafür, dass sie auf Frauen stand.

Sia übernahm das Wort. »Hiiii! Wir sind mit Gizem zur Schule gegangen. Bist du eine von Gizems Sanitäter-Freundinnen?«, wollte sie begeistert von Louisa wissen. Und auch wenn ihre Stimme so unglaublich überengagiert war, wusste Gizem, dass Sia es von allen dreien am ehrlichsten mit ihr meinte. Weil sie die Einzige war, die ihr ab und zu noch schrieb und sie nicht aufgegeben hatte. Obwohl Gizem das gar nicht verdient hatte.

»Uh ...« Louisa stockte, schluckte. Aber ihre Unsicherheit war sehr unterschwellig und vermutlich nur offensichtlich, wenn man sie gut kannte. »Wir haben uns in einem ... Selberverteidigungskurs kennengelernt.«

»Oh.« Sia blinzelte überrascht, schien diese Information so gar nicht verarbeiten zu können. »Okay. Cool.«

»Also bist du jetzt Rettungsassistentin?« Elif beäugte Gizem interessiert.

»Notfallsanitäterin«, korrigierte Gizem. »Ja. Hab die Ausbildung im Frühling abgeschlossen.«

»Krass. Du hast einen Job, du verdienst Geld.« Jess' Augen wurden groß. »Und wir gehen einfach immer noch zur Schule.« Sie seufzte, meinte es vielleicht ehrlicher, als Gizem ihr zugestand.

Dass sie so ablehnend war, war nicht fair. Sie hatten sich nicht im Streit getrennt oder so, sondern sich lediglich aus den Augen verloren, nachdem Gizem die Schule mit dem Realschulabschluss verlassen hatte und die anderen geblieben waren. Während der Ausbildung hatte sie immer weniger Zeit gehabt, und irgendwann hatte sie sich so lange nicht mehr gemeldet, dass es ihr unangenehm gewesen wäre.

Wenn man ehrlich war, waren das aber nur Ausreden gewesen. Damit sie sich von ihrem alten Leben endlich hatte lösen können. Damit sie ohne schlechtes Gewissen hatte neu starten können.

»Dieses Jahr macht ihr Abi, oder?« Gizem rang sich zu einem Lächeln durch. Immerhin hatten die drei ihr nie etwas getan. Höflichkeit war angebracht. Small Talk war zwar anstrengend, aber das Mindeste.

»Jep.« Jess stöhnte. »Also hoffentlich.« Sie linste zu Elif und Sia rüber. »Hoffentlich schaffen wir's alle.«

»Ach komm, du sowieso.« Sia stupste sie in die Schulter, und beide tauschten ein wissendes Giggeln aus. Zumindest die drei hatten sich noch, waren eine Einheit geblieben.

»Na, ich drücke euch die Daumen.« Gizem lächelte etwas breiter, bemühte sich um Wärme in ihrem Gesichtsausdruck und hielt ihre Hände mit den gedrückten Daumen hoch, um dem Gesagten Ausdruck zu verleihen. Sie wollte zeigen, dass sie es ihnen von ganzem Herzen gönnte. Auch wenn sie nun wie Fremde waren.

»Danke, du!« Sia strahlte. »Und vielleicht gehen wir einfach mal wieder ins Kino?« Sie streckte die Arme aus. »Immerhin haben wir das noch gemeinsam. Und deine Freundin hier kannst du auch mitbringen.« Sie lächelte Louisa zu, die freundlich nickte.

»Gerne«, stimmte sie zu.

»Klar. Klingt gut.« Das sagte Gizem in dem Wissen, dass sie sich nicht bei ihr zurückmelden würde. Dennoch tat sie es. Um das Bild aufrechtzuerhalten, dass diese Chance wirklich noch bestand. Immerhin hatte sie mit diesen drei Mädchen einen Großteil ihres Lebens verbracht. Die Zeit hatte es ja durchaus einmal gegeben. Und doch war sie kaum mehr greifbar.

Mit kurzen, ungewohnten Umarmungen verabschiedeten die drei sich wieder, aber erst, nachdem sie hinter der Ausgangstür verschwunden waren, atmete Gizem auf. Sie spürte ein Gewicht von ihren Schultern fallen.

Louisa berührte ihren Arm sanft. »Alles in Ordnung?« Sie musterte sie. »Die schienen doch ganz nett zu sein.«

»Ja.« Gizem leckte sich angestrengt über die Oberlippe. »Ja, das sind sie. Ist nur gefühlt eine Lebzeit her, dass wir uns zuletzt gesehen haben.«

»Und das ist gut so?«, hakte Louisa nach, worauf Gizem die Stirn runzelte.

»Ich bin nicht sicher.«

Das Treffen ihrer ehemaligen Freundinnen zwängte sich noch zwischen all die anderen Dinge, die Gizems Kopf so übervoll machten und an die sie eigentlich gar nicht denken wollte.

Als sie Louisa nach Hause fuhr, war sie deshalb ruhiger, als sie sein wollte. Der heutige Abend hätte ihnen gehören sollen. Louisas Nähe, Gizems Hand in ihrer, die Zeit, die sie zusammen verbracht hatten – all das sollte sie über beide Wangen strahlen lassen. Sie sollten jetzt zusammen lachen, irgendwelche tiefgründigen Gespräche führen. Einfach zusammen sein. Und doch war Gizem mit ihren Gedanken unendlich weit entfernt.

Louisa schien es aber, wie immer, zu erahnen und gab ihr den Raum, den sie brauchte. Sie zwang ihnen beiden keine Unterhaltung auf, sondern beschäftigte sich auf der zehnminütigen Fahrt zu sich nach Hause mit dem musikalischen Entertainment im Auto.

Gizem entschuldigte sich noch etwa eine Million Mal und schob ihre Abgelenktheit auf den Schlafmangel, der trotz allem vermutlich wirklich mit ihrem Gedankenchaos zu tun hatte. Danach wollte sie nichts sehnlicher als ins Bett, in der Hoffnung, dass sie das Gefühl von vorhin heraufbeschwören und in dieser Nacht ruhig schlafen konnte. Immerhin hatte sie am nächsten Tag endlich mal Spätschicht und konnte ausschlafen.

Doch sobald sie den Schlüssel zu Hause in die Eingangstür steckte, raschelte es im Gebüsch hinter ihr unnatürlich, und es folgte ein Stöhnen.

Gizem fuhr herum, hob die Hände, als wäre sie dazu bereit, wen auch immer zu verprügeln oder irgendeinen der wenigen Zauber anzuwenden, die sie vom vergangenen Sommer noch im Kopf hatte – auch wenn sie auf keins der beiden Szenarien vorbereitet war.

Ich will doch einfach nur in mein verdammtes Bett!

Sie machte einen kleinen Satz nach hinten, hielt den Atem an, als die schemenhafte Gestalt eines Mannes, der nur minimal größer als sie war, einen Schritt auf sie zumachte. Sein Gesicht lag im Schatten der Kapuze, einen Arm drückte er sich an den Bauch. Er atmete schwer, während er sich die Kapuze mit der anderen Hand offenbar mühsam vom Kopf zog, sodass sein Gesicht vom Licht der Laterne enttarnt wurde.

Gizem wurde es eiskalt. Wie resigniert ließ sie die Arme sinken, obwohl dieser Mann gefährlicher war als jeder Fremde, der sie hätte überfallen können.

Der Blick seiner müden Augen suchte ihren. Er leckte sich über die Lippen, schloss die Augen. Gizem hielt den Atem an, während mit diesem Mann all die Erinnerungen an den letzten Sommer auf sie niederzuprasseln drohten.

»Ich brauche deine Hilfe, Gizem.« Noahs Stimme war kratzig, als wäre er krank, und brüchig, als hätte er Schmerzen. Unter sichtbarer Anstrengung hob er den Arm von seinem Bauch und zog den Mantel auf. Er entblößte ein in dunkles Blut getränktes Hemd, das offenbar von einer Wunde darunter gespeist wurde. Gizem erstarrte.

Das Universum will mich doch gerade verarschen!

Kapitel 2 – Josie

Josie kaute auf ihrem Stift herum und starrte den tickenden Sekundenzeiger der Uhr über der Tafel des Klassenraums an, in der Hoffnung, ihn allein mit Willenskraft stoppen zu können. Vielleicht könnte sie das sogar wirklich, aber Josie konnte während der Klausuren auf keinen Fall einen Zauber nutzen.

Oder?

Zögerlich sah sie sich um ...

Nein, Josie. Denk nicht mal dran! Das wäre viel zu wild.

Doch jedes Ticken hallte in ihrem Schädel wider und brachte das Fass langsam, aber sicher zum Überlaufen.

Jedes Mal und jeden Tag ein wenig mehr, weil in der Oberstufe zu viele Schulfächer an zu vielen aufeinanderfolgenden Tagen verlangten, sie alle zu bewältigen. Weil man natürlich nichts Besseres zu tun hatte.

Die Tanz-AG hatte Josie bereits aufgegeben, und die Treffen und Partys mit Freundinnen seit Schuljahresbeginn konnte sie an einer Hand abzählen; dabei standen nächste Woche bereits die Herbstferien an!

Schlafen, lernen, leisten. Das war alles, was sie noch tat.

Und na klar, sie wollte das. Immerhin würde sie alles für ihren Traum tun, Ärztin zu werden. Deshalb musste sie sich einfach nur durchbeißen, und dann würde das schon werden. Sie konnte das schaffen. Sie wollte und musste das schaffen.

Trotzdem verschwammen die Worte auf dem Papierbogen vor Josies Augen, und ihr Brustkorb war wie zugeschnürt, sodass ihr dagegenhämmerndes Herz ihren gesamten Körper erschütterte.

Wie man atmete, hatte sie bereits vor Minuten vergessen.

Nichts ergab Sinn. Überhaupt gar nichts.

Und das, obwohl sie das alles wochenlang gelernt hatte. Jedes Wort davon. Sie konnte den Lernzettel, auf dem die Antworten standen, vor sich sehen, wusste genau, wo sie geschrieben standen, mit welcher Farbe sie unterstrichen waren.

Nur waren die Worte weg.

Verschwunden, gelöscht, weggewischt aus ihrer Erinnerung, als hätten sie nie existiert.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Die Luft wurde immer knapper. Ihr Schweiß kälter. Als Josie aufsah, drehte der Raum sich vor ihren Augen. Ihre Klassenkameraden saßen gebeugt über ihren Klausuren, kratzten mit ihren Stiften über die Seiten.

Sie alle atmeten.

Wie zur Hölle schafften sie das? Die konnten doch nicht alle besser als sie sein.

Vielleicht durfte sie kurz zur Toilette gehen, wenn sie höflich fragte. Um durchzuatmen. Um überhaupt zu atmen ...

Josie versuchte, den Lehrer zu fokussieren und die Worte auszusprechen, die sie für eine kleine Weile entschuldigen würden. Raus aus diesem stickigen Raum, weg von diesem dröhnenden Sekundenzeiger und dem Stück Papier, das über ihre gesamte Zukunft entscheiden würde.

Doch die Stimme steckte ihr im Hals fest, während sie angestrengt versuchte, sich an der Tischplatte hochzuziehen. Sie hatte immer noch das tiefe Bedürfnis zu atmen, aber es ging nicht, es klappte einfach nicht.

Ihr Herz hämmerte nur noch stärker. Ließ ihren Körper erzittern. Schmerzte.

War es möglich, mit siebzehn einen Herzinfarkt zu bekommen?

Was für eine Frage! Sie sollte das wissen, wenn sie Medizin studieren wollte. Ein Herzinfarkt in ihrem Alter war unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Ganz und gar nicht. So was passierte immer mal wieder.

Gott ... Sollte es das gewesen sein?

Äußerst beliebte 17-jährige Musterschülerin tragisch bei Klausur-Blackout ums Leben gekommen.

Sie sah die Schlagzeile förmlich vor sich. Fett und unterstrichen. Wenn das nicht mal dramatisch war.

Josie presste eine Hand auf ihren Brustkorb, versuchte, aufrecht zu stehen. Aber alles drehte sich nur noch stärker. Und schneller und in alle Richtungen. Geräusche verstummten. Ihre Hände suchten hektisch, fanden jedoch keinen Halt.

Dunkelheit. Sie war gefangen in Dunkelheit.

»Eine Panikattacke?« Niklas nahm ihr den Mantel ab und trug ihren Rucksack. Er war schnellstmöglich zur Stelle gewesen, nachdem das Sekretariat erst ihre Eltern, diese dann ihren Zwillingsbruder Jason und der ihn mitten im Unterricht angerufen hatte. Immerhin ging Niklas zur selben Schule wie Josie und hatte innerhalb von Minuten bei ihr sein können. Schneller als jedes Elternteil hier gewesen wäre. Wenn die denn überhaupt mal aufgetaucht wären.

Gut, mindestens an zwei Abenden die Woche waren sie da und bestanden auf einem gemeinsamen Abendessen und unterstützten jeden ihrer Wünsche finanziell. Doch Zeit, davon hatten sie definitiv zu wenig. Und an die Tatsache, dass ihre Kinder füreinander einsprangen, hatten sie sich schlicht gewöhnt. Aber es gab schlimmere Eltern.

Josie vergrub das Gesicht in den Händen.

Niklas hatte sie in dem kleinen Sekretariat wie ein Häufchen Elend vorgefunden, das sich an einem Wasserglas festgehalten hatte. Seitdem war er nicht mehr von ihrer Seite gewichen und hatte sich jeden unangebrachten Kommentar verkniffen.

»Hat die Lady im Sekretariat gesagt – dass du eine Panikattacke hattest, mein ich«, fügte Niklas hinzu, nachdem er keine Antwort von ihr bekommen hatte.

»Ja, was auch immer.« Das kam genervter raus, als sie wollte. Josie biss sich auf die Zunge. Das hatte er nicht verdient. Weil sie es nicht ertragen konnte, Niklas anzuschauen, blickte sie zu Boden.

Seine Stimme war voller Sorge. Es steckte kein Spott dahinter, er machte sich nicht über sie lustig. Was merkwürdig war, wenn auch nicht zu überraschend. Denn selbst wenn er gern so tat, als wäre er ein Arsch, war Niklas ziemlich verlässlich und anständig.

Seit er im vergangenen Sommer mehr oder weniger mit ihrem Bruder zusammengekommen war – »Beziehung« wollten die beiden es aber immer noch nicht nennen –‍, war er so was wie ein großer Bruder für sie. Der, den Jason nicht spielen wollte, wenn er nicht musste. Doch Josie genoss, dass Niklas nun ständig bei ihnen abhing. Dass er da war. Wie ein Teil der Familie.

»Ich mein ja nur«, entgegnete er. »Du hast doch die letzten Wochen nichts getan, außer zu lernen. Wieso warst du auf einmal so nervös?«

Volltreffer.

Sie drückte sich die Fingernägel fest in die Handflächen.

Eine richtige Panikattacke samt Hyperventilation mitten im Klassenraum zu haben, die sich klischeehaft nach einem Herzinfarkt angefühlt hatte, war wohl das Peinlichste, was ihr seit Langem passiert war.

Aber das bedeutete vor allem auch: Josie musste noch mehr lernen. Vielleicht nachts noch etwas länger. Vielleicht morgens vor der Schule. Denn an mindestens einer 1,0 im Abi führte nichts vorbei, wenn sie Medizin studieren wollte.

Manchmal wünschte Josie sich, ein bisschen mehr wie Louisa zu sein, die Nächte durcharbeiten konnte, die Sachen lernte und diese danach in ihrem Kopf behielt. Josie hingegen fielen spätestens gegen zweiundzwanzig Uhr die Augen zu. Viele Stunden am Stück zu pauken, funktionierte nur durch das Stellen von drei Millionen Timern und der Aufteilung ihrer Zeit in verschiedene Bereiche, weil sie sich nicht lange genug auf einen Teilbereich konzentrieren konnte.

Vermutlich war das ein total absurder Gedanke: Aber womöglich waren Menschen nicht dafür gemacht, sich stundenlang einzusperren und Wissen in den Kopf zu hämmern. Vielleicht bildete Louisa die rühmliche Ausnahme. Vielleicht war ein Numerus clausus grundsätzlich unmenschlich.

Doch anders ging es nicht. Es gab momentan für Josie nur diesen einen Weg ins Medizinstudium. Klar, natürlich existierten auch ein paar Umwege, aber sie wollte mit dem Studium direkt nach der Schule starten und vorher keine Zeit mit einer Ausbildung oder einem sozialen Jahr verschwenden. Und selbst dann wäre es unsicher, ob sie einen Platz bekam. Nein. Die Note musste einfach stimmen. Also musste sie da jetzt durch. Es führte nichts daran vorbei.

Aber sie würde das schaffen. Auf jeden Fall!

»Keine Ahnung.« Sie mühte sich ein möglichst leichtherziges Lächeln ab. »Hatte einfach einen Blackout.«

Niklas stöhnte auf. »Schule ist scheiße.« Missmutig schüttelte er den Kopf. »Die machen uns doch nur fertig! Sogar dich! Und du willst den Mist auch noch. Aber wir lernen so viel Bullshit, den niemand braucht. Die verschwenden unsere Zeit. Der Mist sollte verboten werden!«

»Ha!« Josie schmunzelte. »Wer würde dann noch zur Uni gehen? Jeder? Niemand?« Endlich wagte sie, ihn anzusehen, und lächelte verhalten.

Niklas schulterte ihren Rucksack zusätzlich zu seinem eigenen, faltete ihren Mantel über seinen Arm und ließ die Schultern etwas sacken. »Aber im Ernst, Josie. Wenn ich dir helfen kann – keine Ahnung, wie, vielleicht gibt's ja was –‍, sag Bescheid, okay?«

Er musterte sie eingehend, wirkte immer noch besorgt, weshalb Josie schnell wegsah. Kurz stockte er, schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Du sollst nicht Panik wegen einer nervigen Klausur schieben. Das ist's nicht wert. Zur Not ...« Er blieb abrupt stehen und seufzte theatralisch. »... kann ich sogar diese blöden Lernkarten mit dir zusammen durchgehen.«

Josie hielt ebenso abrupt inne, riss dramatisch die Augen auf. »Du? Der Niklas, der meinte, er würde sich eher erhängen, als solche Streber-Lernmethoden zu unterstützen?«

Niklas schloss die Augen und nickte langsam, als gäbe es keine Hoffnung mehr für ihn. »Nur für dich Josie, nur für dich.«

Sie lachte und atmete auf. Atmete tief. Ihr Brustkorb schmerzte immer noch ein wenig, aber sie konnte atmen, konnte ganz tief Luft holen. Sie schloss für einen Moment die Augen und beruhigte sich. Dann nickte sie.

»Danke.« Sie würde ihn damit ganz sicher nicht quälen. Mit den »blöden Lernkarten« kam sie schon selbst klar. Aber Niklas war hier. Er würde ihr den Rücken stärken. Gab ihr das Gefühl, zumindest nicht allein zu sein ... mit allem.

Zu Hause ging Josie direkt auf ihr Zimmer zu, um sich darin einzusperren und nie wieder rauszukommen, als Niklas seinen Rucksack auf die Couch warf.

»Josie?« Er beäugte sie eingehend. »Was hast du vor? Ich dachte, wir hängen hier jetzt ein bisschen zusammen ab.«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Lernen? Nächste Woche sind Ferien, und ich kann die verkackte Klausur übermorgen ausnahmsweise wiederholen. Aber wenn ich will, dass sie dann besser läuft, muss ich -«

»Schwachsinn!« Niklas warf die Arme genervt in die Höhe. »Du kannst das alles, du musst dich nur einfach mal entspannen, damit dein Gehirn nicht ständig Flipflops macht.«

Josie blinzelte verwirrt. »Du meinst Flickflacks?«

»Was auch immer. Du weißt, was ich meine.« Niklas schaltete die Konsole ein.

Josie starrte ihn an, Niklas verdrehte die Augen, griff sich einen der Nintendo Switch Controller und hielt ihn ihr hin. »Komm, mindestens eine Runde Mario Kart, bevor ich dich gehen lasse.« Er kniff die Augen leicht zusammen. »Keine Ausreden.«

Josie stöhnte, als wäre es die schlimmste Strafe ihres Lebens, obwohl er ihr damit gerade die komplette Last der Welt abnahm, die auf ihren Schultern lastete. Sie atmete tief ein und seufzte theatralisch. »Na gut, eine Runde.«

Oder auch zehn Runden.

Irgendwo in ihrem Hinterkopf zwitscherte das Vögelchen, das ihr einredete, dass sie weiter lernen musste, dass nichts wichtiger war, dass sie sich hinsetzen und das durchziehen musste. Aber das Spiel war irgendwann lauter und ihr Gehirn so fixiert darauf, Niklas zum zehnten Mal in Folge zu besiegen, dass sie das Gezwitscher zum ersten Mal seit Wochen ignorierte.

»Das gibt's doch nicht!« Niklas warf sich fluchend längs auf die Couch wie ein kleines Kind, als Josie triumphierend aufsprang, weil sie schon wieder Erste geworden war. »Ich dachte, du lernst nur, wie kannst du so gut sein?«

Josie gluckste. »Und ich dachte, du kennst meinen Bruder. Das ist das Resultat eines jahrelangen kompetitiven Zwillings-Wettkampfs. Da nutzt man Mario Kart, um dem Spülmaschinen-Dienst zu entgehen. Was glaubst du, wie sehr einen das anspornt?« Sie grinste schelmisch. »Du hast dir das falsche Spiel ausgesucht.«

»Da ist man ein Mal nett zu dir.« Niklas verschränkte die Arme beleidigt vor der Brust.

»Ja, gruselig«, kommentierte sie amüsiert, starrte aber dennoch kurz zu ihrer Zimmertür.

»Komm, du schuldest mir mindestens eine Revanche. Eine Runde, alles oder nichts.« Niklas klammerte sich an den Controller, doch Josie zögerte.

Allein der Gedanke, in ihr Zimmer zu gehen, ließ ihr Herz laut lostrommeln. Aber sie konnte sich ja nicht ewig davor drücken. Sie musste sich einfach nur zusammenreißen und dann -

Die Wohnungstür wurde aufgerissen.

»Josie!«, rief Jason, als er in der Wohnzimmertür stand. Dann rannte er auf sie zu, warf sich mit einer dicken Umarmung auf sie, sodass die beiden zusammen auf der Couch landeten und Niklas nur gerade so ausweichen konnte.

Jason richtete sich leicht auf, starrte Josie in die Augen und musterte ihr Gesicht eingehend. »Was ist passiert? Alles wieder gut?«

Sie verdrehte sie Augen, befreite ihre Arme und schob ihren Bruder zur Seite.

»Alles wieder gut«, bestätigte sie, rang sich ein schwermütiges Lächeln ab. »War nur ein ...« Zögerlich sah sie zu Niklas und dann wieder zu Jason, dessen Afro, sonst immer perfekt gestylt, total wirr war, als hätte er wirklich sofort alles stehen und liegen gelassen, um nach Hause zu kommen.

Josie schluckte. Sie hatte keine Ahnung, warum ihr ihre Erniedrigung vor Niklas so viel weniger unangenehm war als vor Jason. Dabei sollten Jason und sie als Zwillinge doch die engste Verbindung von allen haben. »Nur ein Aussetzer.« Sie zuckte mit den Schultern und deutete auf den Fernsehbildschirm. »Hab in der Zwischenzeit deinen Freund zehn Mal hintereinander eine reingewürgt.« Sie zwinkerte Niklas zu, der auf einmal hochrot anlief.

Aber auch Jason versteifte sich, räusperte sich. »Ja, mein ... Freund ...«

Josie stöhnte. »Jetzt stellt euch mal nicht so an. Langsam solltet ihr das doch aussprechen können.« Sie blickte ungläubig zwischen ihnen hin und her. Inzwischen wurde es lächerlich. Die beiden sahen sich fast täglich. Kuschelten und knutschten auf der Couch herum, wenn sie dachten, niemand würde sie sehen. »Okay ...« Sie hielt ein Lachen zurück, weil es natürlich ihre Sache war, wie sie das definierten, was zwischen ihnen war. Allerdings kam es ihr manchmal so vor, als wüssten die beiden selbst nicht, was sie eigentlich wollten.

Aber sie gab es für heute auf. »Cool, dann löst du mich jetzt ab, Bruderherz. Beschäftige deinen ... Kumpel mal. Ich hab zu tun.« Sich von der Couch zu erheben war schwerer, als sie erwartet hatte.

»Du kannst auch einfach den Rest des Tages mit uns hier chillen«, schlug Niklas vor, wischte sich die Haare aus der Stirn und setzte sich so gar nicht umständlich oder steif neben Jason auf die Couch.

»Ja, gönn dir eine Auszeit«, bekräftigte ihr Bruder, eventuell auch nur, um die plötzliche Unsicherheit zu überbrücken, die seit der Bezeichnung »dein Freund« in der Luft hing.

»Ist schon gut.« Josie schlenderte zu ihrer Zimmertür. Doch ihr sank das Herz, und sie stockte. Sie wusste ganz genau, was sie da drin erwartete: Bücher, Unmengen an Lernzetteln, allgemeines Chaos und erstickender Leistungsdruck. Den sie wollte!

Und trotzdem ließ es sie schlucken.

Angespannt presste sie die Lippen zusammen.

Vermutlich hatte Niklas recht. Vielleicht brauchte sie eine kurze Pause. Ihr Körper und ihr Gehirn hatten genau die heute Mittag verlangt, und vielleicht sollte sie einfach mal darauf hören. Außerdem war das nur ein Abend. Einen Abend aufs Lernen zu verzichten, konnte nicht so schlimm sein, oder?

Sie musste ja auch nicht vollkommen untätig bleiben. Nein, Josie hatte eine viel bessere Idee. Eine, die sich gut anfühlte, richtig, beinahe leicht.

Also machte sie kehrt und trippelte zur Wohnungstür.

»Ich geh spazieren!«, rief sie ins Wohnzimmer hinein, wartete nicht ab, bis Niklas und Jason darauf reagierten, sondern zog die Tür mit einem Lächeln auf den Lippen hinter sich zu.

Draußen wurde Josie von einem Sonnenuntergang begrüßt, der den Himmel wunderbar orange färbte – und das mitten im Herbst. Eigentlich hatte der Wetterbericht angekündigt, dass die nächsten Wochen grau, trist und deprimierend werden würden. Noch ein Grund mehr, warum Josie diesen einen, wertvollen Tag in vollen Zügen genießen sollte.

Die wenigen noch übrigen Sonnenstrahlen fühlten sich warm auf ihren Wangen an, und sie beschloss, dass heute erst mal der Weg das Ziel war. Sie schlenderte vor sich hin, ließ sich Zeit, als sie die Nachbarschaft hinter sich brachte und durch den Park lief, wo sich wegen dieses einen schönen Tages Hunderte Menschen versammelt hatten, die nach Sonne lechzten. Die Innenstadt zumindest war etwas weniger voll als im Sommer, aber es tummelten sich noch immer genügend Touristen dort, um sie möglichst zu meiden, wenn man nicht gerade etwas zu erledigen hatte.

Dennoch spazierte Josie an der beliebten Binnenalster vorbei und dann mitten hinein ins Getümmel, bis sie quasi auf der anderen Seite wieder hinauskam und das Café direkt vor ihr lag.

Josie atmete tief ein und schaute sich vorsichtig um, als sie zum Eingang von Café Morgengrau ging. Seit Noah verschwunden war, blieb das Café geschlossen, auch wenn drinnen noch alles genauso wie vorher aussah – unter einer Staubschicht.

Eigentlich hatten sie sich weiter wöchentlich alle dort treffen wollen, um sich weiter in der Hexenkunst zu vervollkommnen, und dies Anfang des Schuljahres auch noch getan. Aber irgendwo zwischen Schule, Klausuren und anderen Aktivitäten waren die Treffen »hinten runtergefallen«. Besonders Josie hatte noch darauf gepocht, weiterhin zu üben, weil Noah zwar verschwunden war und mittlerweile auch für mehrere Monate verschwunden blieb, aber wer wusste schon, ob er nicht doch zurückkehren würde, um zu beenden, was er angefangen hatte? Und dann sollten sie sich wehren können ...

Auch wenn es niemand laut ausgesprochen hatte: Das Café hatte bei ihnen allen einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Immerhin hatte Noah sie hier wochenlang täglich manipuliert und auf falsche Weise an die Hexenkunst herangeführt, nur um sich die Energie, die sie durch die Übungen aufgebaut hatten, selbst einzuverleiben. Nicht zu sprechen davon, wie das alles für die arme Annika geendet hatte ...

Auf eine Weise hatte er ihnen allen damit die Lust an der Hexerei und die neu erwachte Leidenschaft verdorben.

Aber für Josie war Hexerei noch so viel mehr geworden. Sie konnte damit heilen, verdammt! Das war die Fähigkeit, die sie besaß. Und sie war gut darin. Damit konnte sie nicht einfach aufhören.

Außerdem war nicht alles schlecht an ihrem Zirkel gewesen. Immerhin waren sie alle fünf durch die Ereignisse zu so etwas wie eine kleine Familie geworden. Das wollte Josie auf keinen Fall missen.

Sie hielt es den anderen nicht vor, dass sie die Hexerei schleichend aufgaben.

Aber es war Hexerei!

Hexerei!

Wenn das nicht mal absolut, brutal cool war!

Den Schlüssel zum Café hatte sie damals von Louisa stibitzt und versicherte sich jedes Mal, dass niemand sie beim Hineingehen beobachtete, auch wenn sie per se weder etwas Illegales tat noch etwas, was die Gruppe nicht wollte. Obwohl diese sich mehr oder weniger geeinigt hatten, das Café und die Bibliothek nur gemeinsam aufzusuchen. Immerhin war das vermutlich der Ort, an dem Noah am ehesten wieder auftauchen würde.

Was sollte Josie den anderen sagen? Bisher war ja auch alles gut gegangen.

Also »Finger Crossed«?

Sie schmunzelte über sich selbst.

Obwohl niemand hier war, der sie ertappen konnte, schlich sie sich durch die Räumlichkeiten und atmete erst auf, als sie die Treppe nach unten in den Keller nahm. Mittlerweile war ihr der holzige, alte Geruch so vertraut, dass es sich anfühlte, wie nach Hause zu kommen.

Mit einem Fingerschnipsen zündete sie Dutzende Kerzen auf den etwa zehn, fünfzehn Bücherregalen an, die gerade bis unter die tiefen Decken ragten, und atmete tief ein. Sie lächelte wie automatisch, als die kleine, unterirdische Bibliothek mit den vollen Regalen erhellt wurde.

Jep. Ultracool, so was zu können!

Das hier war ebenfalls Lernen, und doch war es anders. Diese Art Lernen fühlte sich sinnvoll und richtig an. Neue Zauber zu erlernen fiel ihr in den Schoß, und wenn sie damit irgendwann ein Menschenleben retten konnte, war das so viel wertvoller, als irgendwelche stupiden Matheformeln zu lösen.

Sie ging zu dem großen Tisch in der Mitte des Raumes, wo bereits ein Stapel Bücher lag, die sie sich das letzte Mal rausgesucht hatte – unberührt und mit einer leichten Staubschicht überzogen, weil mittlerweile vermutlich zwei Wochen ins Land gezogen waren, in denen sie keine Zeit gefunden hatte herzukommen.

Umso erleichterter strich sie mit dem Finger über die Buchrücken und spürte einen Funken in ihrem Bauch, der Wärme durch ihren gesamten Körper sandte. Hier war sie richtig. Das hier war gut.

Sie band sich ihren über den Tag zerzausten Afro schnell zu zwei lockeren Double Buns zusammen und zog dann das oberste Buch vom Stapel und öffnete es vor sich auf dem Tisch, blätterte bis zur Mitte, um da weiterzumachen, wo sie das letzte Mal stehen geblieben war: Schnittwunden heilen.

Für einen Moment schloss sie die Augen und wiederholte in ihrem Kopf die Grundlagen des Zaubers, die sie sich vor mehr als zwei Wochen eingeprägt hatte. Dann öffnete sie die Augen wieder und nickte.

Sie konnte das.

Zögerlich nahm sie sich ein scharfes Messer vom Regal hinter sich, mit dem sie bereits vertraut war. Leider war es etwas knifflig, Heilzauber zu lernen, ohne Verletzungen zu haben, an denen sie die Zauber austesten konnte. Josie blieb also kaum eine andere Wahl, als sich selbst als Versuchskaninchen zu benutzen. Und das war okay.

Mittlerweile hatte Josie sich daran gewöhnt, sie zuckte nicht einmal mehr, sondern betrachtete die Wunden als experimentellen Versuch, ihre Fähigkeiten zu verbessern. Ohne weiter darüber nachzudenken, weil sie bereits so vertraut mit diesem Ort war, und sicher, dass sie hier ganz allein war, zog sie ihre Jeans herunter und entblößte ihren rechten Oberschenkel, der gezeichnet war von feinen Narben.

Sie leckte sich angespannt über die Lippen, weil sie das daran erinnerte, dass sie unbedingt auch einen Zauber finden musste, der Narben entfernte. Für den Moment wusste sie sich nicht besser zu helfen, als sie lediglich zu verstecken. Aber wenn irgendwer sie entdeckte, mochte derjenige ihr womöglich psychische Probleme andichten. Das konnte sie nicht gebrauchen. Vor allem nicht im Moment, wo ihr dank der vielen Klausuren sowieso schon der Arsch auf Grundeis ging.

Sie beugte sich wie gewohnt vornüber, um genau zu sehen, was sie tat, legte das Messer an die weiche Haut ihres Oberschenkels, und atmete tief ein. Immerhin hatte sie das jetzt länger nicht gemacht, und ihr Körper hatte sich immer noch nicht komplett von dem Schock am Vormittag erholt.

Sie schloss kurz die Augen, und für einen Moment fühlte sich der Gedanke an den stechenden Schmerz, die Erleichterung, wenn ihre Haut endlich nachgab, beruhigend an. Als könnte sie dadurch besser atmen. Als könnte sie so alles herauslassen, was sich in ihr angesammelt hatte. Ein paar Tropfen Blut, die all den Druck und die Nervosität und den Schmerz in ihr für einen kurzen Moment hinaus in die Welt ließen.

Josie stockte, schüttelte schnell den Kopf und runzelte die Stirn. Auf einmal hatte sie eine Gänsehaut und belächelte sich selbst.

Was für ein absurder Gedanke.

Sie brauchte diese Wunde lediglich, um sie zu heilen. Das war alles. Das Heilen war das, was ihr Kraft gab, was ihr dieses unglaubliche Gefühl vermittelte, als könnte sie die Welt erobern.

Sie nickte, als müsste sie sich das selbst bestätigen.

Aber in dem Moment, in dem sie Druck auf die Klinge geben wollte, ertönte ein leises Rumpeln von oben. Aus dem Café.

Josie riss die Augen auf, zog die Hose hektisch hoch, behielt aber das Messer in ihrer Hand.

Was zur ...?

Ihr Herz galoppierte los. Sie hielt die Luft an, um besser zu hören, schlich ein paar Schritte zur Tür hinüber.

Die anderen hätten Bescheid gesagt, wenn sie vorhätten herzukommen. Der Vermieter schien sich nicht zu kümmern. Wer konnte es sonst sein? Ein Einbrecher, der bemerkt hatte, dass sich niemand um das Café kümmerte? Womöglich ... Noah selbst?

Josie erstarrte.

Was, wenn es wirklich er war?

Was, wenn Noah zurück war?

Ruhig. Josie musste ruhig bleiben. Klar denken. Sie musste etwas tun.

Mit einem Schnipsen löschte sie alle Kerzen, sodass nur noch das flackernde Licht des Treppenaufgangs durch den Spalt unter der Tür hereinschien. Das Messer hielt sie weiter fest in ihrer zitternden Hand, während sie die andere für einen Abwehrzauber bereithielt.

Schritte.

Schritte kamen die Treppe herunter.

Josie hielt den Atem an, während ihr Herzschlag laut in ihrem Kopf widerhallte. Fast so laut wie heute Vormittag.

Die Schritte näherten sich, waren fast da.

Wenn das hier wirklich Noah war, dann blieb ihr nur eins.

Und ihr Körper reagierte beinahe wie von selbst, als sie sich auf den Eindringling stürzte.

Kapitel 3 – Gizem

Für ein paar Augenblicke starrte Gizem ihn einfach nur an, beobachtete, wie sein weißes Hemd immer mehr Blut aufsog, sich immer tiefer rot färbte. Ihr Mund war trocken, und kurz stellte sie infrage, ob das hier wirklich Realität war oder einer ihrer Albträume.

Dann pfiff ihr eine kühle Abendbrise durch die Haare, und ihr Körper fand sich vollkommen im Hier und Jetzt wieder. Egal, wie absurd es war, dass Noah vor ihr stand. Das hier war echt. Sie machte einen Schritt nach hinten und ballte die Hände zu Fäusten, damit er nicht sah, dass sie zitterte. »Und wieso denkst du, dass ausgerechnet ich dir helfen würde?« Sie klang stark und überzeugend. Oder?

Ein gequältes Lächeln breitete sich auf Noahs Lippen aus. »Du bist ...« Er atmete schwerfällig. »Du bist Ersthelferin. Du bist verpflichtet zu helfen. Oder nicht?«

Gizem runzelte die Stirn und musterte ihn. Nicht sein Ernst ...

»Im Prinzip ist jeder zur Ersten Hilfe verpflichtet. Und es gibt Krankenwagen und Krankenhäuser.« Missmutig zog sie ihr Handy hervor. »Kann ich gern direkt anrufen und -«

»Nein!« Er streckte den einen Arm schwach nach ihr aus, schloss die Augen, offenbar unter Schmerzen. »Das ... Das geht nicht.«

Gizem klammerte sich an ihrem Handy fest, beobachtete ihn weiterhin und leckte sich nervös über die Lippen. Jede Faser ihres Körpers schrie nach Flucht. Egal, wie schwach er wirkte, das hier war Noah. Noah, der nicht mit der Wimper gezuckt hatte, als er sie ihrer Kraft beraubt hatte, um sich selbst zu stärken, auch wenn Gizem daran hätte sterben können.

Nach allem, was er getan hatte, konnte ihr Körper ganz reflexartig nicht anders, als sich vor ihm zu fürchten. Auch wenn er diese Macht über sie nicht verdient hatte. Ausbluten lassen sollte sie ihn vermutlich trotz allem auch nicht. Obwohl er nichts anderes verdient hatte.

»Warum nicht?«, wollte sie wissen, blieb jedoch, wo sie war.

Sein Körper wurde noch ein wenig schlaffer. »Weil das keine normale Stichwunde ist.« Er seufzte. »Auf dem Dolch, der verwendet wurde, lag ein Fluch. Die Wunde zu heilen funktioniert nur mit einem Gegenzauber.« Schwerfällig schob er die freie Hand in seine Manteltasche und zog einen zerknitterten Zettel heraus, den er ihr mit zitternden Fingern hinhielt. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich noch etwas mehr. Als wäre das hier keine Lüge. Als ginge es wirklich um Leben und Tod. Gizem beobachtete ihn misstrauisch.

Sag einfach Nein. Nur das eine Wort. Noah hat deine Hilfe nicht verdient! Zieh endlich Grenzen! Ruf ihm einen Krankenwagen und gut ist!

Noah schwankte gefährlich.

Ein genervtes Stöhnen entwich ihrer Kehle, und sie fluchte lautlos. Ihr Herz hämmerte immer noch, aber die Starre verließ ihre Glieder, weil sie wusste, was zu tun war. Weil sie tagtäglich damit konfrontiert war und alle Handgriffe bereits kannte.

»Ich sollte dich verbluten lassen«, blaffte sie, öffnete jedoch missmutig das kleine Gartentor in den überwucherten, ungepflegten und sich selbst überlassenen Garten des Mehrfamilienhauses.

Was machst du da, Gizem? Lass es einfach. Lass ihn einfach ...

»Vermutlich«, stimmte Noah zu, grinste schief. »Hätte ich verdient. Wäre vielleicht besser ...«

»Ist dir eigentlich bewusst, was du angerichtet hast?«, murmelte sie und wies ihm den Weg durch das Tor. »Dass du hier einfach auftauchst ... Nicht zu fassen!« Sie ging voraus, hörte Noah hinter sich schwerfällig schlurfen, bemühte sich jedoch nicht, ihm zu helfen. So weit käme es noch!

Sie führte ihn zu einer schäbigen kleinen Gartenhütte, die keiner der Hausbewohner jemals in Anspruch nahm, und drehte den Schlüssel, der im Schloss steckte.

Drinnen standen mehrere alte Holzstühle, ein Tisch, auf dem Pappkisten gestapelt waren, und eine halb verrottete Couch mit roten Polstern, mittlerweile bräunlich verfärbt, stand vor schmutzigen Fenstern. Noah schien der Zustand aber egal zu sein, als er sich darauf sinken ließ und erleichtert ausatmete. Er schloss die Augen und legte den Zettel mit der angeblichen Zauberformel auf die freie Kante des Holztisches.

Gizem blickte auf ihn herunter, das Blut sickerte immer noch zwischen seinen Fingern hervor. Mittlerweile musste er verdammt viel Blut verloren haben. Dass er überhaupt noch bei Bewusstsein war, grenzte an ein Wunder. Wenn sie ihm wirklich das Leben retten wollte, sollte sie sich beeilen.

Gizem schluckte.

Es wäre so einfach, ihn verbluten zu lassen. Umdrehen und weggehen. Das wäre es schon. Nie wieder Noah. Sie hatten sich alle so lange Sorgen gemacht, wohin er verschwunden war, ob er zurückkehren und sie erneut angreifen würde. Was er wohl tun würde, wenn er zurückkam. Aber die Angst war immer weniger geworden, je länger er verschwunden blieb. Sie waren unvorsichtig geworden.

Wieso sind wir nur so unvorsichtig geworden?

Ihn hier und jetzt loszuwerden, wäre ein Befreiungsschlag aus dieser Angst-Spirale.

Nur konnte Gizem ihn nicht sterben lassen. Das widersprach ihren Grundprinzipien. Egal, was für ein schlechter Mensch er war. Er hatte recht. Sie war dazu verpflichtet zu helfen. Aber noch viel wichtiger: Sie konnte niemanden sterben lassen, wenn sie es verhindern konnte. Es war ihr einfach nicht möglich.

Vermutlich war er genau deshalb zu ihr und zu niemandem sonst gekommen. Weil er wusste, was sie für ein Mensch war. Immerhin war er ein Manipulator durch und durch. Das hatte er sich ja super ausgedacht. Und natürlich hatte er bekommen, was er wollte.

Nein, Gizem, du gibst es ihm gerade freiwillig.

Mit einem genervten Schnauben nahm sie den gefalteten Zettel vom Tisch, öffnete ihn und überflog den Text.

»Das ist ...« Sie runzelte die Stirn. Drei Worte. »Das klingt nicht sehr kompliziert.«

»Ist es auch nicht. Du musst dich ...« Er stöhnte unter Schmerzen. »Du musst dich vor allem auf die Wunde konzentrieren. Das ist das Wichtigste.«

Gizem leckte sich angespannt über die Lippen.

»Dir ist hoffentlich bewusst, dass du es warst, der mir den Großteil meiner Kräfte genommen hat. Ich habe seit Wochen nicht mehr praktiziert und die Hälfte der Zauber vergessen. Und das hier ist nicht einmal meine Stärke.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht Josie. Heilzauber sind ...« Sie schluckte. »Keine Ahnung, ob ich das hinbekomme.«

»Ist kein Heilzauber.« Noch ein schwerer Atemzug. »Es geht nur um den Fluch, der auf der Wunde liegt. Das Heilen ...« Er runzelte die Stirn, sah schwerfällig zu ihr auf. »Das kannst du dann mit handelsüblicher Erster Hilfe erledigen.«

Gizem musterte ihn, dann den Zettel, schließlich wieder Noah. Sie schüttelte den Kopf, wiederholte die Worte in ihrem Kopf ein paar Mal. Gizem ärgerte sich weiterhin über sich selbst, schob jedoch ihren Stolz beiseite. »Soll ich meine Hand ...?«

»Ja«, krächzte Noah. »Auf die Wunde.«

Gizem presste die Lippen zusammen. Ohne sterile Handschuhe war das eigentlich keine gute Idee, aber die Zeit lief ihr davon. Also nahm sie sich zusammen und drückte die flache Hand auf die Wunde, spürte das warme Blut herausfließen und registrierte, wie sie vor lauter Ekel eine Gänsehaut überlief. Noah unterdrückte hörbar einen Aufschrei vor Schmerzen, die er sich redlich verdient hatte.

Gizem erspürte die Eintrittswunde des Dolches, wo dieser durch die Haut und das Fleisch geschnitten hatte, und nickte. Dann schloss sie die Augen und sprach die Zauberformel, die sie sich vom Zettel eingeprägt hatte. Sie sagte sie mehrfach auf, wurde dabei immer lauter und sprach deutlicher, bis sie das Gefühl hatte, dass ihre Hand brannte.

Für den Bruchteil einer Sekunde kam ihr der Gedanke, dass das alles nur ein Spiel war. Dass Noah sie längst manipulierte, es schon in dem Moment getan hatte, in dem sie ihm zum ersten Mal wieder in die Augen gesehen hatte. Denn immerhin hatte er das gleiche Talent wie Louisa, und wer wusste schon, ob er nicht mächtig genug war, einen Schritt weiter zu gehen und in ihre Gedanken einzudringen, um sie zu lenken wie eine Marionette.

Aber sie hatte das hier selbst gewählt. Oder?

»Okay«, keuchte Noah schließlich und legte eine Hand auf ihre, sodass sie diese schnell wegzog.

Gizem schaute ihn an, aber statt eines zufriedenen Mannes, der gerade all seine Pläne in die Tat umgesetzt hatte, sah sie einen erschöpften, blassen, beinahe bewusstlosen Noah vor sich, der so hilflos wie noch nie zuvor wirkte. Konnte das sein? Konnte der Hexer, der sie alle betrogen hatte, wirklich am Ende seiner Kräfte sein?

Sie starrte ihn für einen langen Moment an, beobachtete seinen Brustkorb dabei, wie er sich regelmäßig leicht hob und wieder senkte. Zum ersten Mal, seit er vor ihrem Haus aufgetaucht war, war Gizem ruhig. Ihr Herz trommelte nicht mehr, ihr Atem war stetig. In diesem Moment hatte endlich sie die Oberhand, konnte ihm antun, was sie wollte. Und hatte endlich keinen Grund mehr, sich vor ihm zu fürchten.

Nachdem Gizem ihr Erste-Hilfe-Equipment aus dem Auto geholt hatte, schien Noah eingeschlafen zu sein. Oder bewusstlos. Eins von beidem. Besser war es. Idealerweise verarztete sie ihn schnell, und am nächsten Morgen würde er verschwunden sein. Doch als sie begann, die Wunde zu nähen, zuckte er zusammen.

»Danke«, brachte er mühsam über die Lippen.

Gizem stockte einen Moment, betrachtete Noah, der die Augen immer noch geschlossen hielt. Sie antwortete nicht, beschäftigte sich weiter mit der Wunde, die endlich zu bluten aufhörte. Sie bemühte sich um einen der wenigen Heilzauber, die sie noch im Kopf hatte, um die Heilung zumindest ein wenig zu beschleunigen.

»Wer wollte dich umbringen?«, fragte sie schließlich aus reiner Neugier. »Verübeln kann ich's der Person auf jeden Fall nicht.«

Hätte Noah nicht solche Schmerzen, hätte er vermutlich geschmunzelt, stattdessen verschluckte er sich und brauchte ein paar Momente, um wieder Luft zu kommen. »Hätte nicht zurück nach Hamburg kommen sollen«, erklärte er.

»Ja, dem kann ich zustimmen.«

»Jemand aus einem der größeren Hexenzirkel muss mitbekommen haben, was diesen Sommer in Hamburg los war und dass ich daran beteiligt war. Und dann hat mir jemand aufgelauert, eine Art engagierter Attentäter, nachdem ich wieder hier aufgetaucht bin. Sie haben vermutlich ein paar Spitzel nach Hamburg geschickt, die schauen sollten, ob und wann ich zurückkomme. Das hat dann wohl auch geklappt.«

»Warum bist du überhaupt wieder gekommen?«, hakte Gizem nach. »Wolltest du zu Ende bringen, was du angefangen hast?« Ihre Hand verkrampfte sich ein wenig, und der nächste Stich war vermutlich unnötig schmerzhaft.

Noah zuckte abermals zusammen. »Nein. Ich ...« Er atmete tief ein, sein Gesicht legte sich in Falten. War er etwa ... traurig? »Ich wollte Annikas Grab besuchen.« Kurz lag unangenehme Stille zwischen ihnen. Er ließ den Kopf nach hinten sinken. »Sie ist fast so etwas wie eine Tochter für mich geworden ... Ich wollte nie, dass sie stirbt. Im Gegenteil. Das war alles ganz und gar nicht Teil des Plans. Das, was da ...« Er atmete tief ein. »Das, was da passiert ist, das hätte nicht ...«

Wenn Gizem sich nicht täuschte, sammelten sich Tränen in seinen Augen.

Doch die berührten sie in keiner Weise.

»Und trotzdem hast du dich danach, ohne mit der Wimper zu zucken, an unseren Kräften gelabt«, stieß sie bitter hervor, fixierte den Faden am Ende der Wunde. »Sorry, aber das kaufe ich dir nicht ab.«

»Ich weiß ...« Er öffnete schwerfällig die Augen. »Ich war völlig ... Ich habe ... Ich habe Fehler gemacht, habe mich von meiner Gier leiten lassen. Das weiß ich jetzt. Und ich bereue es. Alles, was ich getan habe. Ich war nicht ich selbst. Meine Kräfte, mein Körper ... Ich habe Energie gebraucht, um mich selbst am Leben zu halten. Das war ...« Er presste die Lippen zusammen. Wollte er hier gerade allen Ernstes Mitleid erhaschen?

Gizem schüttelte energisch den Kopf. »Hör mal. Mir ist egal, was du dir da selbst einredest, um mit dir und deiner Schuld leben zu können. Oder ob das wieder nur ein Versuch ist zu bekommen, was du willst. Aber du bist nicht nur schuld an Annikas Tod, du hast unser aller Leben völlig über den Haufen geworfen. Du hast uns manipuliert, Noah! Wir haben dir vertraut, und du hast uns betrogen und verraten. Weißt du, was das mit einem macht? Und diese Monster, die du gemeinsam mit Annika auf uns gehetzt hast? Ist dir überhaupt bewusst, wie verdammt traumatisierend das alles war?«

Sie rieb sich die Oberarme, hatte auf einmal wieder eine Gänsehaut.

Noah sah ihr nachdenklich ins Gesicht. Er kniff die Augen ein wenig zusammen, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen oder so was. »Was ist es, was dich so beschäftigt? Sind es Albträume?«, fragte er ruhig.

Gizem fuhr in die Höhe. »Alles, Noah! Du hast jemanden getötet! Du hast Jason und mich beinahe auch noch umgebracht! Du hast uns ausgenutzt! Du hast damit verdammt noch mal einen Teil unseres Lebens zerstört, den wir nie wieder zurückbekommen! Und das alles nur zu deinem eigenen Nutzen!« Sie holte tief Luft, versuchte, ihr hämmerndes Herz zu beruhigen. Denn das war er nicht wert. Dieser erbärmliche Mann war ihre Wut nicht wert.

Er leckte sich angespannt über die Lippen und nickte. »Ich weiß. Und es tut mir -«

»Fang mir nicht an mit Entschuldigungen, Noah! Was du getan hast, ist nicht entschuldbar!« Sie schüttelte den Kopf. »So. Deine Wunde ist versorgt, du hast dir deine Erste Hilfe geholt. Obwohl du sie überhaupt nicht verdient hast. Morgen früh bist du hier raus, verstanden? Verschwinde aus Hamburg! Komm nicht zurück. Ich will dich nie wieder sehen. Keiner von uns will das.«

Noah nickte langsam. Atmete lange und leise.

»Du kannst deine Kräfte zurückbekommen, Gizem.« Noah hielt die Hände hoch, als müsste er sich sofort verteidigen, und natürlich musste er das. Wie sollte sie ihm jemals auch nur ein einziges Wort glauben? »Es gibt Zauber und andere Hexende, die euch helfen können, eure Kräfte zu regenerieren.«

»Scheiß drauf, verdammt, Noah!« Gizems Stimme schrillte lauter als gewollt. »Wenn ich könnte, würde ich diese Kräfte sofort komplett abgeben. Ich habe nie darum gebeten, ich wollte sie nie, und ich brauchte sie nicht. Also hör auf mit deinen Versuchen, hier irgendwelche ach so wertvollen Tipps zu geben! Niemand will die hören.« Sie schüttelte abermals den Kopf und schickte sich an zu gehen. »Hau einfach ab!«

Sie sah ihn nicht noch mal an, bevor sie die kleine Gartenhütte verließ. Stattdessen eilte sie mit langen Schritten durch den Garten, wusch sich die blutverschmierten Hände am Gartenschlauch und lief angespannt zur Haustür. Auf diese legte sie kurz Hände und Stirn und atmete tief durch, sammelte sich, bevor sie hineinging. In ihrem Kopf flogen alle möglichen Gedanken durcheinander.

Sollte sie den anderen erzählen, dass er zurück war? Oder sollte sie sich darauf verlassen, dass er von allein wieder verschwand, und musste die anderen deshalb nicht unnötig aufregen? Wenn sie konnte, wollte sie vor allem Louisa damit nicht belasten. Sie hatte genug gelitten und schien sich in den letzten Wochen endlich wieder etwas wohler in ihrer Haut zu fühlen. Wenn das so bleiben konnte, dann wollte Gizem das gern erhalten.

Und dennoch würde sie so gerne mit jemandem darüber sprechen.

Die Stufen zu ihrer Wohnung fühlten sich so viel steiler an als sonst, der Aufstieg anstrengender. Gizem hatte keine Ahnung, wie sie in dieser Nacht Schlaf finden sollte zwischen Noah und den Albträumen, die sie immer noch verfolgten.

Sie unterdrückte einen Schluchzer, der ihr plötzlich im Hals feststeckte. Verdammt, wo kam der denn her?

Ihre Finger zitterten, als sie versuchte, die Haustür aufzuschließen. Doch ehe sie den Schlüssel ins Schloss stecken konnte, wurde die Tür von innen aufgezogen.