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Ausgerechnet an Halloween finden Malin und Orestes einen weiteren alten Brief und die Suche nach dem Rutenkind wird immer mysteriöser. Unheimliche Dinge geschehen, unerklärliche Ereignisse nehmen ihren Lauf ... Dieses Mal ist Orestes' kleine Schwester Elektra in ein Geheimnis verstrickt. Kann sie Teil der Lösung sein oder ist sie Teil des Rätsels? Mystik pur! Der zweite Teil der erfolgreichen Schweden-Trilogie - zum Mitfiebern und Miträtseln.
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Seitenzahl: 361
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Für Jesper,
auf Unterschiede
und Gemeinsamkeiten.
Diese Erzählung spielt in einem Lerum irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit. Sollten einzelne Begebenheiten solchen ähneln, die sich tatsächlich im alltäglichen, gewöhnlichen Lerum ereignet haben, so kann das nur an Erdenströmen und Sternenfeldern liegen.
1.
Das Pendel schwang in Richtung JA.
Mein Herz hämmerte viel zu schnell. Ich versuchte, es langsamer schlagen zu lassen, im Takt mit den mystischen Kräften, den Erdenströmen und Sternenfeldern. Ich hoffte so sehr, dass das Pendel bei JA stehen bleiben würde, dass ich kaum zu atmen wagte. Aber es glitzerte bloß im Schein des Teelichts, drehte sich und näherte sich stattdessen dem Wort NEIN. Ich atmete aus.
Die Worte JA, NEIN und VIELLEICHT standen auf einem großen Bogen Papier, den ich auf meinem Schreibtisch ausgebreitet hatte. Das silberne Pendel hing an seiner Kette von meinem Finger und warf einen langen, scharf umrissenen Schatten, wie es so über dem Papier baumelte. Nur wenn es über einem der Worte zum Stehen kam, war die Beschwörung gelungen. Ich dachte ganz fest an meine Frage: Bin ich ein Rutenkind?
Ich versuchte, mich nicht zu bewegen, versuchte, die Kräfte durch mich hindurchströmen und das Pendel steuern zu lassen. Erdenströme. Sternenfelder. Jetzt kommt schon! Antwortet!
Das Pendel wurde langsamer. Bald würde es stehen bleiben … gleich …
Auf einmal knarzte es ganz dicht neben mir! Jemand – oder etwas – war in meinem Zimmer!
Ich sprang vom Stuhl, ließ das Pendel fallen und schrie auf, kniff aber rasch die Lippen zusammen. Meine Eltern dachten nämlich, ich sei schon längst ins Bett gegangen.
Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust, als ich dem Geräusch hinterherlauschte. Das Knistern des Teelichts, das ich angezündet hatte, um für die Geisterbeschwörung in Stimmung zu kommen, war das einzige Geräusch im Raum. All meine gewohnten Sachen wirkten fremd und mystisch im Kerzenschein. Die Linien und Risse in den Eichenbrettern meines Schreibtischs sahen wie uralte Symbole aus. Der Schatten meines Cellos in der Ecke glich einer zusammengekauerten Gestalt, jemandem, der still dasaß und wartete und lauschte … Genau wie ich. Ich horchte so angestrengt, dass mir die Ohren fast schon wehtaten. Das Knarzen hatte aufgehört, aber da war noch etwas anderes. Ein Schnaufen … Atemzüge! Da musste jemand in meinem Zimmer sein!
Ich knipste die Lampe an und sah mich um. In der Ecke hinter der Tür stand niemand, auch nicht auf dem Balkon … Es konnte doch wohl niemand im Schrank sein?
Das Schnaufen ging in ein kurzes, leises Wispern über. Etwas flatterte auf, nur eine Sekunde lang. Wie ein Schatten oder ein Flügel, der über den Fußboden fegte und dann in der Dunkelheit verschwand … unter dem Bett. Da war es noch mal! Ein Tier, oder …
Auf einmal wurde das Geräusch zu einem glucksenden Lachen. Ich atmete auf. Es gab nur einen Menschen, der so lachte.
»Elektra! Was machst du denn hier?«, flüsterte ich und kniete mich auf den Boden, damit ich unter das Bett lugen konnte. Dort lag sie zusammengekauert neben der Plastikbox mit meinen alten Comicheften. Sie kicherte vergnügt.
»Verstecken!«, rief sie. »Verstecken spielen!«
»Komm da jetzt raus!«, sagte ich.
Elektra streckte den Kopf unter dem Bett hervor. Ihre hellen Locken standen wie immer ziemlich wirr vom Kopf ab, aber jetzt hingen auch noch graue Staubflocken darin. Sie schaute vorsichtig zu mir herauf, als ob sie sehen wollte, ob ich böse auf sie war. Aber dann lachte sie selbstbewusst, kroch hervor und umarmte mich fest. Dabei hielt sie mir die staubige Tatze ihres Teddys, den sie überall mit hinschleppte, genau unter die Nase.
»Malin verstecken!«, forderte sie. Ihre kleinen Hände waren warm und klebrig. Als ich die Arme um sie legte, merkte ich, dass ihr ihre schlabbrige Kuschelhose bis zu den Knien runtergerutscht war.
Elektra ist die kleine Schwester meines Nachbarn Orestes. Sie ist ein ganz besonderes Kind – ein Rutenkind. Das bedeutet, dass sie auserwählt ist, Sternenfelder und Erdenströme zu vereinen und über die mächtigen Kraftkreuze zu herrschen. Sie ist in der Lage, geheime Kräfte zu nutzen, nach denen die Menschheit Hunderte von Jahren gesucht hat!
Aber gleichzeitig ist sie auch einfach nur ein kleines Mädchen, das ständig von zu Hause ausbüxt. Gerade in diesem Moment, wo sie mich so anstrahlte, dass man all ihre Mausezähnchen sehen konnte, und mir ein wenig an den Haaren zog, war es echt schwer, an die Sache mit dem Rutenkind zu glauben.
Ich pustete das Teelicht aus, zog mir einen dicken Pulli an und erwischte Elektras Hand genau in dem Augenblick, in dem sie das Pendel von meinem Schreibtisch schnappen wollte. Natürlich war das kein echtes Pendel, es war bloß meine Halskette, die ich mir über den Finger gehängt und mit der ich versucht hatte, wahrzusagen. Es ist eine ganz gewöhnliche Silberkette mit einem Anhänger, der aus zwei Fischen besteht. Papa hat sie mir geschenkt, weil ich im März Geburtstag habe, im Sternzeichen Fische. Aber ich bin wohl kein Rutenkind, das geheime Kräfte nutzen kann. Das Einzige, zu dem ich auserkoren zu sein scheine, ist, Pausendienst im Speisesaal zu haben, und das auch nur, weil sich alle anderen davor drücken.
»Du musst jetzt nach Hause«, sagte ich zu Elektra und führte sie aus meinem Zimmer.
Ich konnte den Fernseher aus dem Wohnzimmer hören und hoffte, dass Mama und Papa dort auf dem Sofa sitzen bleiben würden, während ich mich mit Elektra auf dem Arm die Treppe runterschlich. Zum Glück standen meine Gummistiefel draußen, sodass ich einfach hineinschlüpfen konnte, ohne Elektra absetzen zu müssen. Sie war nur in Pulli und Kuschelhose zu uns herüber gestreunt gekommen. Ich drückte sie fest an mich und legte meinen Regenmantel so gut es ging um uns beide.
Sobald ich die Klinke der Haustür herunterdrückte, erfasste der Wind sie und riss sie bis zum Anschlag auf. Die Böen waren heftig und unregelmäßig. Ich hatte ständig Haare in den Augen und im Mund, während ich gegen den Sturm ankämpfte und die Haustür nur mit Mühe und Not wieder schließen konnte.
Dann stand ich noch einen kurzen Augenblick auf der Außentreppe. Dunkle Wolken zogen in wirbelnden Fetzen vorüber und gaben kurze Blicke auf den Nachthimmel frei. Ich versuchte, Sterne zu erkennen. Sprachen sie heute Nacht vielleicht zu mir? Aber das einzige Licht, das stark genug war, zwischen den Wolken hindurchzuschimmern, war das des Mondes. Es war abnehmender Mond und er leuchtete wie ein riesiges, glimmerndes silbernes C, das mal sichtbar und mal von den dunklen Wolken verdeckt war.
Es war der letzte Tag im Oktober. Der Vorabend von Allerheiligen. Halloween.
Wir wohnen am Ende einer Sackgasse, nicht mehr als ein kurzer Straßenstummel, mit ein paar Häusern ringsum. Orangefarbene Kürbislaternen leuchteten vor fast jeder Haustür: eine, zwei, drei, vier, fünf Laternen, die es irgendwie schafften, dem Sturm standzuhalten. Das Gesicht unseres Kürbisses ähnelte am ehesten einer wütenden Fratze, aber ich war trotzdem froh, dass Papa sich die Mühe gemacht hatte, ihn zu schnitzen.
Elektra wohnt mit ihrer Familie schräg gegenüber von uns. Zu ihrem Haus führt eine ungewöhnlich lange Zufahrt hinauf, die immer ganz im Dunkeln liegt, weil hohe Büsche sie vom Schein der Straßenlampen abschirmen. Dort gab es auch keine Kürbislaternen. Aber jetzt erkannte ich, dass kleine, flackernde Lichter entlang der Auffahrt standen. Nicht genug, um sie ordentlich zu beleuchten, natürlich, nicht so, dass es richtig hell gewesen wäre. Eher gespenstisch.
Die feuchte Luft verwandelte sich in Tropfen. Kleine, eisige Regennadeln stachen mich im Gesicht. Elektra regte sich nicht, zu einem warmen Bündel in meinem Arm zusammengerollt. Ich zog den Regenmantel fester um sie und ging auf ihr Haus zu.
Der Asphalt war von nassen, rutschigen Blättern bedeckt und meine Füße wollten immer wieder zurückrutschen. Ich umklammerte Elektra fest. Bei den Lichtern entlang der finsteren Auffahrt handelte es sich um kleine Laternen mit Kerzen darin, bemerkte ich jetzt. Manche Kerzen waren umgefallen und vom Wind ausgeblasen worden, aber die meisten brannten noch und warfen einen kugeligen gelben Schein in die Dunkelheit. Je näher wir dem Haus kamen, umso dichter standen die Lichter, und ganz oben auf der Außentreppe standen gleich mehrere. Jede Menge Kerzen, die von unterschiedlichsten Dosen und Flaschen vor dem Regen geschützt waren. Eine Lichterkette mit Hunderten kleinen Lämpchen war um das Schild drapiert, das Elektras Mutter an das alte Rosenspalier genagelt hatte, sodass man deutlich lesen konnte:
HELIONAUTICA
Alternative zu allem.
Heilung durch Gesang, Kristalltherapie,
Aromatherapie, Magnettherapie,
Horoskop, Tarot, Traumdeutung, Numerologie,
Reinkarnationsberatung, spirituelle Anleitung.
Behandlung und Gespräch.
Mensch und Tier.
Früher oder später.
Elektra fing plötzlich an, auf meinem Arm zu zappeln, sodass ich sie absetzen musste. Sie rannte die Außentreppe hinauf und ich bekam eine Gänsehaut, als ich mir vorstellte, wie kalt die nassen Pflastersteine an ihren kleinen, nackten Zehen sein mussten. Noch bevor ich überhaupt an die Tür klopfen konnte, hatte Elektra sie schon geöffnet und war hineingerannt. Ich folgte ihr nur einen Schritt in die Diele hinein und blieb wie erstarrt stehen.
Drinnen war es stockfinster.
Aber neun leuchtende Gesichter schwebten genau mir gegenüber in der Luft.
2.
Ich stand mit pochendem Herzen wie angewurzelt da. Die neun leuchtenden Gesichter schwebten geradeaus weiter Richtung Wohnzimmer. Sie bewegten sich langsam im Kreis, wie bei einem stummen Tanz. Ich konnte nicht sagen, ob sie jung oder alt waren. Ihre Augen wirkten wie schwarze Löcher und ihre Lippen bewegten sich langsam, als ob sie irgendetwas wispern würden. Ich konnte regelrecht spüren, wie mir die Haare im Nacken zu Berge standen!
Dann traf ein gleißendes weißes Licht meine Augen und blendete mich.
Der Schein wurde schwächer, ich blinzelte und erkannte ein bleiches Gesicht mit einer unglaublich ernsten Miene ganz nah vor mir. Dieses Gesicht schwebte nicht im Raum, sondern gehörte zu einem Körper in Anzughose und Hemd und hatte glatt gekämmtes dunkles Haar. Es war irre, wie ordentlich Orestes aussah, selbst wenn ich spätabends noch bei ihm zu Hause hereinplatzte.
Abgesehen davon ist er Elektras großer Bruder und außerdem mein Kumpel. Er geht in meine Klasse und ist ein ziemlich spezieller Charakter. Die Einzige, die ihn in seiner Eigenheit vielleicht noch übertrifft, ist seine Mutter. Nur dass die wiederum auf eine komplett gegenteilige Art speziell ist.
Orestes hatte eine riesige Taschenlampe in der Hand. Diese richtete er jetzt auf meine Füße statt mitten in mein Gesicht. In der anderen Hand hatte er einen großen Eimer, der mit Wasser gefüllt war. Jedenfalls vermutete ich das, konnte es aber in der Dunkelheit nicht so gut sehen.
»Ich musste Mama versprechen, nicht die Deckenlampe einzuschalten«, meinte er nur. Elektra klammerte sich fest an sein Bein und er strich ihr mit der Taschenlampenhand über den Kopf, sodass der Lichtkegel hierhin und dorthin durch den Raum zuckte.
»Du darfst nicht ganz allein rüber zu Malin gehen, Elektra!«, sagte er streng. »Das weißt du doch!«
Eines der Geistergesichter kam plötzlich näher und es stellte sich heraus, dass ein schwarz gekleideter Körper dazugehörte. Dunkler Stoff verbarg den Großteil des Kopfes, war aber nicht lang genug, um das unglaublich lange, helle Haar der Gestalt zu bedecken. Aber ich war erst wirklich sicher, wer sich darunter verbarg, als ich die warme Stimme hörte.
»Hallo, Malin«, sagte Orestes’ Mutter. »Wir halten heute Abend eine Séance. Bist du dabei?«
Auf einmal war ich in der Wirklichkeit zurück. Die schwebenden Gesichter schwebten natürlich gar nicht wirklich. In Wahrheit gehörten sie zu einigen dunkel gekleideten Leuten in einem dunklen Raum. Jeder von ihnen hielt ein kleines Windlicht in der Hand. Und das erleuchtete das Gesicht von unten, sodass es gespenstisch aussah, ungefähr so, wie wenn man jemanden mit einer Taschenlampe erschreckt.
Im Windlicht von Orestes’ Mutter brannte ein Teelicht mit einer kleinen, kümmerlichen Flamme.
»Normalerweise tragen wir lange Kerzen in den Händen«, erklärte sie, als sie bemerkte, wie ich das Windlicht anstarrte. »Aber das wollte Orestes nicht.«
»Weil letztes Jahr der Feueralarm losgegangen ist!«, rief Orestes aufgebracht.
»Jaja«, gab seine Mutter zurück. »Aber mit diesen kleinen Teelichten ist es nicht annähernd so stimmungsvoll!«
»Es wird ja wohl reichen, dass ihr richtige Kerzen in den Kerzenständern habt!«, meinte Orestes.
»Schon gut …«, erwiderte seine Mutter. Sie klingt immer so lieb, dass ich gar nicht verstehe, wie Orestes je wütend auf sie sein kann.
»Wofür … wofür soll das gut sein?«, fragte ich unsicher. Dass Orestes’ Mutter – Mona heißt sie übrigens – mysteriöse Sachen macht, ist keine Überraschung. Aber was sie diesmal damit bezwecken wollte, wusste ich wirklich nicht.
»Wir werden mit denen auf der anderen Seite reden«, erklärte Mona. »Mit den Toten. Die, die in der Geisterwelt leben. Die Geister sind uns, wie du sicher weißt, gerade heute Nacht besonders nah! Vielleicht willst du auch mit jemandem auf der anderen Seite sprechen?«
»Äh, nee«, erwiderte ich und schluckte schwer. Zum Glück kenne ich niemanden, der tot ist. »Aber vielleicht kann ich einfach nur zuschauen?«, fragte ich. Mona nickte.
Orestes warf mir einen Blick zu, der bedeutete: »Bist du komplett übergeschnappt?«
Normalerweise verzieht sich Orestes in sein Zimmer und macht die Tür hinter sich zu, wenn seine Mutter ihre Sachen macht. Séancen oder Reinkarnationsyoga, na ja, eben alles, was auf dem Schild steht, und noch ein bisschen mehr. Orestes verabscheut das alles.
Aber jetzt leistete er mir doch Gesellschaft auf dem Sofa im Wohnzimmer, auf das wir uns unter der Bedingung, keinen Mucks zu machen, setzen mussten. Elektra kauerte sich dicht neben Orestes. Ich machte mir eine gemütliche Kuhle zwischen all den weichen Kissen und verkroch mich quasi darin. Orestes stellte den Wassereimer dicht neben sich auf den Boden und knipste die Taschenlampe aus, als seine Mutter ihn darum bat. Es war nun fast ganz finster im Raum.
Die schwarz gekleideten Teilnehmer der Séance setzten sich im Kreis auf den Boden und stellten ihre kleinen Windlichter vor sich ab. Mona ging mit ihrem Teelicht herum und zündete die Kerzen an, die überall aufgestellt waren: auf dem Tisch, in den Regalen und auf den Fensterbrettern. Sie trug einen Vers vor, während sie die Kerzen anzündete:
»Nacht und Tag …« Sie zündete zwei Stumpenkerzen auf dem Schreibtisch an. »… Sonne und Mond …« Sie entzündete zwei Kerzen im Fenster, die auf Flaschenhälsen steckten. »… Vogel und Fisch …« Die Kerzen auf dem Couchtisch, an dem wir saßen. »… Wasser und Berg … Schwarz und Weiß … Seid willkommen, die ihr kommen wollt.«
Nachdem eine Kerze nach der anderen angezündet war, warfen sie einen schwachen Schein um sich und machten mehr und mehr vom Raum sichtbar. Monas »unnütze Dinge« traten hervor, schimmerten und warfen seltsam geformte Schatten. »Unnütze Dinge« nenne ich all die merkwürdigen Sachen, die Mona im ganzen Haus aufgestellt hat. Das kann alles sein, Federn oder kleine Zweige, Glasscherben oder Metallstückchen. Kleinkram, den man zu nichts gebrauchen kann. Deswegen glaube ich, dass sie auf irgendeine Art magisch sein müssen, aber ich weiß nicht, wie. Jetzt blitzten im Kerzenschein Statuen von Gottheiten mit jeder Menge Arme auf, er fiel auf seltsame Steine und Bilder und wurde von Prismen und Spiegeln zurückgeworfen. Schatten und Funkeln erwachten überall. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Obwohl mir klar war, dass ich in Orestes’ Wohnzimmer saß, in einem ganz gewöhnlichen Haus in Lerum, und dass Mona bloß ein paar Kerzen angezündet hatte, war mir so, als ob sich der ganze Raum verändert hatte, sich verschob und an den Rändern verschwamm.
Schließlich setzte sich Mona zu den anderen in den Kreis.
»Die Geister sind uns willkommen«, sang Mona zum Schluss.
Nichts passierte. Niemand rührte sich.
Es war mucksmäuschenstill.
Nach einer ganze Weile sang Mona noch mal: »Die Geister sind uns willkommen.«
Immer noch nichts. Alle saßen still da und starrten in die Mitte des Kreises.
Ich fing schon an, in dem Halbdunkel einzudösen, als plötzlich eine Stimme ertönte:
»Ich bin nun hier.«
Es war Mona. Aber sie sprach nicht mit ihrer normalen, warmen Stimme. Stattdessen klang ihre Stimme monoton, wie von jemandem, der sehr müde war oder versuchte, aus weiter Ferne zu uns zu sprechen. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Konnte es wirklich sein, dass ein Geist durch Mona sprach? Was würde er sagen? Stellt euch mal vor, es wäre wahr, dass man Botschaften von der anderen Seite des Totenreichs empfangen konnte!
Aber wisst ihr was – es war superenttäuschend. Wenn das wirklich eine Botschaft aus dem Jenseits war, die Mona empfangen hatte, kann es dort nicht besonders lustig sein. Oder es musste ein ziemlich verwirrter Geist sein, der da sprach. Alles, was er sagen konnte, wenn er etwas über die andere Seite gefragt wurde, war »Licht« oder »Frieden«. Und als einer der Teilnehmer nach seinem Onkel Arnold fragte, antwortete der Geist nur: »Ich sehe einen Mann mit hellem Haar …«
»Aber Onkel Arnold war glatzköpfig«, erwiderte der, der nach ihm gefragt hatte.
»Die andere Seite ist unergründlich«, gab der Geist nur zurück.
Und so ging es die ganze Zeit weiter.
Wer hätte gedacht, dass ein Geisterbesuch so langweilig sein konnte! Fast noch langweiliger als ein gewöhnlicher Erwachsenenbesuch.
Die Teilnehmer der Séance stellten noch ein paar Fragen, bis die Geisterstimme plötzlich meinte, sie müsse jetzt gehen.
Mona hielt die Augen eine ganze Weile geschlossen. Dann sprach sie wieder mit ihrer normalen Stimme:
»Wir danken den Geistern. Wir danken für diesen Augenblick und bitten um Frieden.« Sie stand auf und nahm ihr Windlicht. Dann ging sie wieder im Zimmer herum und blies alle Kerzen aus. Gleichzeitig standen alle unter Murmeln und Stöhnen wieder aus dem Kreis auf. Bestimmt waren einigen die Beine eingeschlafen, weil sie so lange auf dem Fußboden gesessen hatten. Einen Moment später waren alle wieder auf die Füße gekommen und hielten ihre Windlichter in den Händen. Wieder sah es so aus, als ob ihre Gesichter im Raum schwebten, als alle neun dastanden und sich mit ihren Windlichtern verbeugten. Mona dankte den Geistern noch einmal und alle pusteten ihre Teelichter aus.
Alle bis auf eins. Ein zerfurchtes Gesicht mit schwarzen Augenlöchern war immer noch erleuchtet. Der Mund öffnete sich, bildete einen großen schwarzen Leerraum. Eine Stimme, tief und schauerlich, durchströmte den Raum und erschreckte mich zu Tode.
»Finsternis«, sagte die Stimme. »Finsternis gegen Licht!«
Elektra quiekte und drückte sich gegen meinen Arm. Sie zitterte vor Schreck. Ich hörte Schritte in der Dunkelheit, vermutlich hatten die anderen Séance-Teilnehmer Angst bekommen. Vielleicht sogar genauso viel Angst wie ich. Ich wagte kaum zu atmen.
»Sucht!«, sagte die Stimme. »Nach dem Dunkel und dem Licht! Sucht in der Erde! Sucht unter dem Stein! Unter Silvias Stein! Nach dem Dunkel und dem Licht! Sucht Silvias Stein!«
Dann rumpelte es, das Gesicht verschwand und es wurde finster. Jemand stieß mit jemand anderem zusammen, mehrere Leute schrien und ich hörte ein Klatschen. Als schließlich die Deckenlampe anging, stand Orestes mit dem leeren Wassereimer über einer Person, die der Länge nach auf dem gemusterten Teppich am Boden lag.
Die Person war alt und bucklig. Der schwarze Stoff, den sie auf dem Kopf gehabt hatte, war verrutscht und enthüllte ihre lockige graue Kurzhaarfrisur. Ich erkannte sie wieder. Gerda hieß sie. Sie ist die Uroma von Ante, der mit Orestes und mir in eine Klasse geht. Sie ist schon über neunzig Jahre, und wenn man so alt ist, kennt man sicher eine Menge Leute, die schon tot sind. Sie hustete ein wenig, blinzelte ein paarmal, dann versuchte Mona, ihr aufzuhelfen. Plötzlich fingen alle Séance-Teilnehmer an zu reden und Fragen zu stellen; sie wollten wissen, wie das passiert sei, und ob sie etwas Wasser haben wolle, obwohl sie natürlich nach Orestes’ Löschaktion ohnehin völlig durchnässt war.
Ich sah Orestes in die Augen. Er erwiderte den Blick. Seine dunklen Augen, in denen man den Sternenhimmel funkeln zu sehen glaubt, waren ernst wie immer. Ich fragte mich, ob sein Herz genauso heftig pochte wie meins. Von all den Leuten da im Raum waren er und ich die einzigen, die genau wussten, wo sich Silvias Stein befand.
Oder besser: Silvias Grab.
3.
Ich war schon auf dem Weg nach Hause, als die Séance-Teilnehmer noch die schwarzen Umhänge auszogen und in Monas Diele nach ihren Mänteln suchten. Ich traute mich nicht, länger weg zu sein, denn ich wollte nicht, dass Mama mitbekam, dass ich am Abend rausgegangen war, ohne etwas zu sagen. Sie macht sich nämlich ziemlich schnell Sorgen.
Das war nicht das erste Mal, dass Elektra uns besucht hat. Den ganzen Sommer und Herbst über ist sie wie eine immer wiederkehrende Überraschung bei uns aufgetaucht, klein und fröhlich und immer mit ihrem zotteligen Teddy im Arm. Manchmal stand sie einfach plötzlich in der Küche und hat im Brotkasten nach was Leckerem gesucht. Manchmal habe ich sie in einem Liegestuhl im Garten gefunden. Und manchmal in meinem Zimmer. Mama und Papa lieben Elektra, sie fangen immer sofort an, mit ihr Faxen zu machen und sie huckepack durch die Gegend zu tragen, wenn sie bei uns auftaucht. Aber Mama regt sich auch ein bisschen auf, denn sie findet, Elektras Mutter müsse besser auf sie aufpassen. Damit sie nicht abhandenkommt oder ertrinkt oder so was.
Meine Mama und Mona sind ungefähr so gegensätzlich, wie es zwei Menschen nur sein können.
1. Mama liebt Computer. Mona lässt ihren Sohn nicht mal einen Taschenrechner benutzen.
2. Mama glaubt an Ordnung und Struktur, Logik und Beweise. Mona glaubt, was immer sie will, ganz ohne Logik und Beweise.
3. Mama hat ihr einziges Kind, nämlich mich, immer fest im Blick. Ich glaube, ich kann nicht mal ein einzelnes Haar verlieren, ohne dass sie es merkt. Mona hat … eine etwas entspanntere Einstellung, so viel ist klar.
Ich könnte die Liste ewig fortsetzen.
Aber wie auch immer, ich liebe es bei Orestes, Elektra und Mona zu Hause, deswegen will ich nicht, dass Mama Mona gegenüber noch skeptischer wird, als sie es ohnehin schon ist. Und deswegen hielt ich es auch für unnötig, ihr zu erzählen, dass Elektra schon wieder ausgebüxt und zu uns gekommen war. Und für noch unnötiger, ihr zu erzählen, dass ich gerade an einer Séance teilgenommen hatte, die damit geendet hatte, dass eine alte Oma in Ohnmacht gefallen war.
Zum Glück war immer noch der Fernseher zu hören, als ich mich in die Diele, die Treppe hinauf und in mein Bett schlich, sodass Mama und Papa nichts mitbekamen. Einschlafen konnte ich selbstverständlich nicht. Alles, an was ich denken konnte, war Silvias Stein.
Jetzt, wo ich euch all das über meine Wahrsageversuche mit dem Pendel und der Sterndeutung erzählt habe, und dass Elektra als Rutenkind auserwählt ist, haltet ihr mich sicher für komplett verrückt. Ihr glaubt, dass ich jemand mit allzu lebhafter Fantasie bin, der es cool findet, so zu tun, als ob die Welt geheimnisvoller wäre, als sie es ist.
Aber da habt ihr wohl nicht mitbekommen, was Orestes und ich im Frühjahr alles erlebt haben. Denn wenn ihr es mitbekommen hättet, dann würdet ihr euch auch fragen, was man glauben kann und was nicht.
Das war nämlich so: Vor fast einem Jahr, Ende Januar, stand ich schon einmal in dieser langen Auffahrt zu Orestes’ und Elektras Haus, als ein mir völlig unbekannter Mann mit einer riesigen Pelzmütze aus dem Gebüsch gesprungen kam. Zuerst hat er mich fast zu Tode erschreckt! Aber dann hat er mir einen Brief gegeben und gesagt, der sei für ein auserwähltes Kind, ein »Rutenkind« nannte er es. Er meinte, es sei sehr wichtig. Dass die Zukunft und das Leben davon abhingen! Der Brief war superalt und das meiste davon war mit einem Geheimcode verschlüsselt, den ich nicht lösen konnte.
Als Orestes und seine Familie dann im Mai in ihr Haus einzogen, glaubte ich, Orestes sei das auserwählte Kind, das den Brief bekommen sollte. Aber dann wurde ich total enttäuscht, denn er wollte den Brief nicht mal lesen, geschweige denn den Code entschlüsseln. Es hat lange gedauert, bis ich Orestes davon überzeugt hatte, dass ich ihn nicht verarschen wollte.
Nach und nach gelang es uns, den Code zu knacken, und wir fanden heraus, dass der Brief Ende des 19. Jahrhunderts von jemandem namens Axel geschrieben worden war. Axel war bei mysteriösen Geschehnissen dabei gewesen, als hier in Lerum im Jahr 1857 die allererste Eisenbahnstrecke Schwedens gebaut wurde. Der Brief führte uns zu einem zweiten und dann zu noch einem Brief – wir fanden die Briefe an ganz unterschiedlichen Orten, wie dem Bahnhof und der Kirche, der Amtmannseiche und der Wamme-Brücke, bevor wir zur letzten Fundstelle kamen. Und dort stießen wir auf einen Schatz, ein uraltes Messinstrument, ein Astrolabium. Es wird auch Sternenuhr genannt, was natürlich viel schöner klingt, und man hat es Hunderte von Jahren benutzt, um mithilfe des Sternenhimmels seine eigene Position zu berechnen.
Aber ausgerechnet unsere Sternenuhr war etwas Besonderes. Eine geheimnisvolle Frau namens Silvia hatte Axel erzählt, dass man mit der Sternenuhr auch Erdenströme und Sternenfelder messen könne – starke Kräfte, die die Welt beherrschten. Aber die Sternenuhr dürfe nur von einem auserwählten Menschen benutzt werden, den sie ein »Rutenkind« nannte. Wenn die falsche Person die Sternenuhr anwendete, würde es ein großes Unglück geben! Also stahl Axel die Sternenuhr von jemandem, der Nils Ericson hieß und über den ganzen Eisenbahnbau bestimmte. Dann vergrub er sie in der Erde und hinterließ all diese geheimnisvollen Briefe als Hinweise, damit das auserwählte Kind, von dem Silvia ihm erzählt hatte, die Sternenuhr irgendwann in der Zukunft bekommen sollte … Das heißt, jetzt!
Silvia hatte auch ein Lied mit einem geheimnisvollen Text gesungen, der in einem von Axels Briefen stand. Das ging so:
Etwas ist gekommen,
Etwas wurd’ genommen.
Nun da Bergmanns Macht
Über die Erd’ hat gebracht
Getös’ ohne Ende, ohn’ Unterlass Gebraus,
Menschenwege breiten sich aus.
Wir ersehnen dich, Rutenkind, in Menschengestalt.
Dich, das gewahren soll die vergessene Kraft,
Wenn die Sterne sich treffen in der Mittsommernacht,
Wo sich kreuzen die Wege und die Schiene glänzt kalt.
Vögel folgen deinem Weg über Land,
Sternenuhrs Pfeil weist in deine Hand.
Sternenfelder sich krümmen und Erdenströme schlagen,
Nur du kannst Macht übers Kräftekreuz haben.
Ich war absolut sicher, dass Orestes das Rutenkind sein musste und dass die Sternenuhr in seiner Hand funktionieren würde! Aber selbst das Rutenkind könne die Sternenuhr nur dann benutzen, wenn es sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort in der Hand halte, hatte die mysteriöse Silvia zu Axel gesagt.
Silvia hatte Axel sowohl den Namen der Rutenkindes als auch den richtigen Ort verraten, aber Axel nahm es so genau damit, das Geheimnis zu bewahren, dass er alles, was er wusste, in kniffeligen Rätseln und Codes versteckt hatte, die Orestes und ich erst lösen mussten.
Der letzte Code bestand aus den Buchstaben USKKMR, die Axel in einen Baum im Wald eingeritzt hatte. In seinem Brief hat Axel geschrieben, dass der Code nur dann den Ort, an dem die Sternenuhr benutzt werden musste, verraten würde, wenn man den Namen des Rutenkindes als Lösungswort verwendete. Und wenn man Orestes als Lösungswort nahm, kam Göteborg Hauptbahnhof heraus! Die Sache war also klar! Nur genau dort und genau zu dem Zeitpunkt, an dem sich in der Mittsommernacht zwei Planeten am Himmel kreuzten, würde Orestes die Sternenuhr benutzen können. Dachten wir.
Denn unmittelbar vor Mittsommer erpresste mich jemand namens Eigir dazu, ihm die Sternenuhr zu geben.
Dieser Eigir wollte sich die geheimnisvollen Kräfte zunutze machen und entführte Elektra, weil er dachte, sie sei das Rutenkind! Orestes und ich hefteten uns natürlich an Eigirs und Elektras Fersen und genau in der Mittsommernacht spürten wir sie an einem Ort auf, der Nääs heißt. Dort, »wo die Wege sich kreuzen und die Schiene glänzt kalt«, genau wie es in dem Lied heißt. Aber Elektra sollte die Sternenuhr dort nie ausprobieren und Orestes auch nicht. Stattdessen bekam ich sie in die Finger, während gleichzeitig ein Gewitter tobte, das genau da, wo wir standen, ein elektrisches Plasma entzündete!
Daher weiß nun niemand sicher, ob Elektra ein Rutenkind ist oder nicht. Und sie ist noch viel zu klein, als dass man sie fragen könnte, ob sie irgendwelche geheimnisvollen Erdenströme oder Sternenfelder oder Kraftkreuze spüren konnte.
Es sind jede Menge mysteriöser Dinge passiert, während wir nach der Sternenuhr gesucht haben. Merkwürdige Zufälle, die darauf beruhen könnten, dass Erdenströme und Sternenfelder tatsächlich darüber bestimmen, was passiert … Zum Beispiel hat sich herausgestellt, dass mein geliebtes Cello, das Mama mir, lange bevor das alles geschehen ist, geschenkt hat, einmal Silvia gehört hatte! Nur so als Beispiele!
Aber Orestes glaubt kein bisschen an seltsame Zufälle oder Rutenkinder. Er wollte nicht mal versuchen, die Sternenuhr auszuprobieren, sondern hat sie an einem geheimen Ort versteckt. Nicht mal ich darf wissen, wo.
Deswegen versuche ich jetzt, Erdstrahlung und Sternenfelder auf eigene Faust zu untersuchen. Das läuft so lala. Oder eigentlich gar nicht. Um ehrlich zu sein, ist seit dem Sommer nicht eine einzige geheimnisvolle Sache mehr passiert.
Aber jetzt! Silvias Stein – damit muss der Stein mit Silvias Namen drauf gemeint sein, den wir draußen im Wald entdeckt haben. Genau an der Stelle, an der wir auch die Sternenuhr gefunden haben. Wo der Baum mit dem letzten Code steht. Der Stein markiert ein Grab, aber nicht das des geheimnisvollen Fräuleins Silvia. Nein, denn sie verschwand in den 1850er-Jahren einfach spurlos! Axel suchte nach ihr, fand sie aber nie. Stattdessen – jetzt haltet euch fest – hat er seinen Hund Silvia genannt. Also quasi zur Erinnerung an sie. Völlig verrückt. Jedenfalls ist es Axels Hund Silvia, der da draußen im Wald begraben liegt.
Wie dem auch sei, es kann nicht bloß ein Zufall sein, dass genau dieser Name – Silvia – jetzt plötzlich wieder auftaucht! Aus dem Mund eines Geistes!
Was, wenn Axel hier herumspukt? Oder Silvia selbst! Auf einmal fühlte es sich so an, als ob mein ganzes Zimmer, mein vertrautes Zimmer mit dem alten Schreibtisch und den Bildern und dem Cello in seiner Ecke, voller Geflüster und fremder Schatten wäre.
Ich rollte mich klein zusammen, wickelte mich fest in die Decke und ließ das Licht die ganze Nacht an.
4.
Der Tag darauf war ein Samstag. Ich stand als Letzte auf, logisch. Das mache ich an den Wochenenden natürlich sowieso, und erst recht, wo ich die ganze Nacht wach gelegen und über Geister und Silvias Grab nachgedacht habe.
In der Küche roch es angebrannt aus der Kaffeemaschine, in der ein letzter Schluck Kaffee vergessen in der Kanne stand. Mama und Papa saßen mit je einem leeren Kaffeebecher vor sich am Küchentisch.
»Aber es gibt so was wie Halloween nicht in Schweden! Und ich finde es gar nicht gut, dass sich alle als Monster und Mörder verkleiden. Es heißt Allerheiligen und da soll man seiner Lieben gedenken, die von uns gegangen sind, und es ruhig angehen lassen … Müssen wir denn unbedingt alles importieren?«
Mama hielt Papa ihre übliche Allerheiligen-Ansprache. Papa und ich wissen beide genau, was sie über »Halloween kontra Allerheiligen« denkt, aber sie muss es eben einfach irgendwem erzählen.
»Ich finde Halloween gut«, murmelte ich, hauptsächlich, um ihr zu widersprechen.
»Ja, ich weiß«, antwortete Mama und wirkte, als schäme sie sich ein bisschen. »Du warst so ein süßer Kürbis, als du klein warst. Ich bin einfach nur ein bisschen altmodisch, vermute ich.« Sie strich mir über den Rücken, als ich auf den Stuhl neben ihr sank und mich nach dem Joghurt streckte.
Meine Mama ist ein klein wenig eigen. Eigen, aber lieb. Sie mag Halloween nicht, will mir aber den Spaß daran trotzdem nicht verderben. Also hörte sie auf, über Allerheiligen zu reden, und goss sich den letzten Rest Kaffee ein. Angebrannter Kaffee hält meine Mama nicht ab!
»Nur mit dem Blut kann ich mich nach wie vor nicht anfreunden«, sagte sie schließlich. »Du brauchst hoffentlich kein Blut für deine Verkleidung?«
»Nee, nee«, gab ich zurück. »Blut ist keins geplant.«
Mir wurde ein bisschen flau im Magen. In Wahrheit hatte ich nämlich überhaupt nichts geplant. Heute Abend würde die Halloween-Party meiner Schule stattfinden und ich hatte keine Ahnung, als was ich mich verkleiden sollte. Aber ich hatte Sanna versprochen mitzukommen. Ich saß stumm am Küchentisch, rührte die Cornflakes in meinen Joghurt und grübelte über mein Kostüm nach, als es kurz an der Haustür klopfte. Mir war schon klar, wer das war, noch bevor Mama die Tür geöffnet hatte.
Orestes, mein Klassenkamerad und Codeknacker-Freund, stand in der Diele. Mein Herz schlug einen Purzelbaum, so sehr hoffte ich, dass er Spaten, Landkarte und Kompass dabeihatte und bereit war, in den Wald zu ziehen und Silvias Grab zu suchen. Aber meine Hoffnung sank, als ich bemerkte, dass er sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, eine Jacke anzuziehen, um zu mir rüberzukommen.
»Hallo«, sagte er zu Mama. »Ist es in Ordnung, wenn ich mir heute deinen Computer leihe?«
Mama nickte mit einem Lächeln. Sie mag Orestes – vielleicht, weil sie sich in so vieler Hinsicht so ähnlich sind. Orestes zog seine zerschlissenen Turnschuhe aus und stellte sie ordentlich in die Diele. Dann ging er die Kellertreppe runter.
»Hey, Malin«, murmelte er mir im Vorbeigehen zu. Er verlor kein Wort über Séancen oder Geister. Obwohl das vielleicht auch besser war, jetzt wo Mama und Papa dabei waren.
»Hey, Orestes«, erwiderte ich einsilbig. Es wäre so cool gewesen, wenn er was mit mir hätte unternehmen wollen. Egal was. Aber mittlerweile kommt er wohl nur noch rüber, um an einem von Mamas Computern zu arbeiten, für die sie einen Extraraum im Keller hat.
Ich dachte kurz darüber nach, das seiner Mutter zu petzen. Mona ist zwar damit einverstanden, dass er bei uns daheim die Computer benutzt. Aber er hat in Wahrheit keinen Orgonit (das ist ein Stein, der vor elektronischer Strahlung schützen soll) dabei, obwohl er es ihr versprochen hat. Und er nimmt es auch nicht so genau damit, durch das reinigende Labyrinth zu gehen, das sie im Garten aufgebaut hat. Also schleppt er all die negative Computerenergie, von der Mona glaubt, dass es sie bei uns im Haus gibt, mit zu sich nach Hause.
Als ich nach dem Frühstück Jeans und Pulli angezogen hatte, schlich ich mich runter in den Computerraum. Eigentlich ist es nur ein Vorratskeller ohne Fenster. Aber Mama, die als Programmiererin arbeitet, hat darin jede Menge Computer und Server aufgestellt. Die braucht sie, wenn sie von zu Hause aus arbeitet. Das macht sie ziemlich oft. Manchmal, weil sie mitten in der Nacht mit ihren Kollegen in Japan zusammenarbeiten muss. Und manchmal auch, weil sie es so toll findet, dass sie es nicht lassen kann. Sie ist wie gesagt ein bisschen eigen.
Orestes wirkte hochkonzentriert, wie er so im Schein der Leuchtstoffröhren dasaß. Er hatte den üblichen verfilzten braunen Pulli und seine verschlissene Stoffhose an. Aber immerhin sah er vom Bildschirm auf, als ich reinkam.
»Hey«, sagte ich.
»Hey«, sagte er.
»Was machst du?«, wollte ich wissen. Orestes’ Miene hellte sich auf und er fing an, so schnell zu sprechen, wie er es nur tut, wenn er etwas richtig spannend findet.
»Dieser Algorithmus hier sollte extrem große Primzahlen berechnen können. Aber er funktioniert noch nicht so richtig … keine Ahnung, warum …«, erzählte er über das komplizierte Computerprogramm, das er grade schrieb. Solche Sachen macht er nämlich auf Mamas Computer. Er spielt keine Spiele oder was die meisten in unserem Alter eben gern machen.
»Orestes«, unterbrach ich ihn. »Gestern. Die Séance. Der Geist. Silvias Stein.«
»Jaaa …«, erwiderte er enttäuscht. Er schaute wieder auf den Bildschirm. »Du weißt aber schon, dass das mit den Séancen nur Unfug ist, oder?«
Für Orestes ist alles, was man nicht beweisen kann, »nur Unfug«.
»Ich meine, es gibt keine Geister – Tatsache!«, fuhr er fort. »Glaub mir, ich war schon bei hundert Séancen! Das sind nur ein paar Irre, die sich irgendwelche Seltsamkeiten ausdenken, um andere Leute glauben zu machen, sie hätten Kontakt mit irgendwas Übernatürlichem – alles nur Einbildung! Die halten ihre eigenen Fantasien für wahr. Wie Mama!« Sein blasses Gesicht schimmerte blaugrün im Licht des Bildschirms.
»Hmm«, machte ich. Genau wie wenn meine Mama wegen irgendwas in Fahrt kommt, ist es auch bei Orestes das Beste, ihn einfach reden zu lassen. Im Frühjahr, als all diese geheimnisvollen Dinge passierten, war Orestes die ganze Zeit davon überzeugt, dass nichts Außergewöhnliches geschehen sei. Alles ließe sich logisch erklären, meinte er. Sogar die unglaublichsten Dinge! Wie zum Beispiel, dass die Sternenuhr, die wir gefunden haben, einen Zeiger hat, der genau wie das Muttermal aussieht, das Orestes am linken Arm hat! Wie ein Pfeil mit einem kleinen Strich durch. Konnte das wirklich nur ein Zufall sein?
Mein Blick fiel genau in dem Augenblick auf dieses Muttermal, knapp unter dem Ärmel von Orestes’ T-Shirt, aber er erklärte mir einfach nur immer weiter, warum man an Geister nicht glauben konnte, und dass diejenigen, die bei Séancen was sagten, einfach nur rieten, was die anderen gerne hören wollten.
»Aber stell dir doch mal vor, wir finden noch neue Hinweise!«, sagte ich, als Orestes einmal Luft holte. »Was, wenn wir beim letzten Mal nicht alles über das Rutenkind herausgefunden haben? Was, wenn wir wirklich rausbekommen könnten, wie man die Sternenuhr benutzt?«
»Wenn ich wegen jedem verrückten Ding, von dem Mamas Freunde und Kunden reden, in den Wald rennen und dort graben würde, hätte ich keine Zeit für etwas anderes mehr«, erwiderte Orestes nur. Und das stimmte natürlich … Mona beschäftigt sich mit so viel Seltsamem, dass man einfach nicht an alles glauben konnte, selbst wenn man sich Mühe gab.
Aber Orestes kann mich nicht verschaukeln. Er sah nämlich schon ein klein bisschen erfreut aus. Er spulte alle seine Argumente ab, obwohl er genau wusste, dass mich das nicht kümmern würde. Er erklärte mir haarklein, wie unwahrscheinlich es war, dass das Gerede über »Silvias Stein« mit uns zu tun hatte, aber es fühlte sich so an, als täte er es hauptsächlich, weil das seine Rolle war, sozusagen.
Vielleicht, dachte ich, als mir auffiel, dass ihm ein winziges, hauchfeines Lächeln auf den Lippen lag. Vielleicht hat Orestes es auch vermisst, ein Rätsel zu lösen zu haben. Ich wollte gerade anfangen, ihn mit aller Gewalt zu überreden, als wir einen Schrei oben aus der Küche hörten.
Mama! Was war denn nun los?
Ich rannte die Treppe hinauf, aber als ich halb oben war, hörte ich sie schon lachen.
»Elektra! Du kannst doch nicht einfach so dastehen und dir die Nase an der Scheibe platt drücken! Ich dachte, du wärst ein kleines Gespenst!«
Elektra stand mit dem Gesicht gegen die Scheibe gedrückt an einem unserer großen Wohnzimmerfenster.
»Wie hast du mich erschreckt!«, rief Mama. Sie öffnete die Terrassentür und ließ Elektra herein. Die rannte geradewegs zum Frühstückstisch und steckte die Finger in den Honigtopf. Dann schleckte sie sie genüsslich ab.
Mama hätte Elektra sicher ein richtiges Frühstück gemacht, wenn Orestes nicht die Treppe raufgekommen wäre. Er sah ein bisschen verlegen aus und schimpfte wie immer mit Elektra, weil sie ihm nachgelaufen war. Er lehnte dankend ab, als Mama uns belegte Brote anbot, und verschwand mit Elektra nach Hause.
Ich ging rauf in mein Zimmer, um meine Cellostimme für das Weihnachtskonzert zu üben. Ich kann sie eigentlich schon, denn es ist dieselbe wie letztes Jahr. Aber es ist nie zu früh für Weihnachtsstimmung, finde ich.
Es war natürlich sinnlos, Orestes zu fragen, als was ich mich verkleiden sollte. Zum Glück kam Sanna eine gute Stunde vor der Halloween-Party zu mir nach Hause.
Ich war so unglaublich froh, als sie kam. Sie ist das einzige Mädchen aus meiner alten Klasse, das jetzt mit mir in die Siebte geht, und das hat dazu geführt, dass wir Freundinnen geworden sind. Richtige Freundinnen. Nicht nur so, dass wir in der Schule zusammen abhängen, sondern uns manchmal auch nach der Schule treffen. Das klingt jetzt vielleicht nicht so bemerkenswert, aber sie ist meine erste richtige Freundin seit der Vorschule, und damals reichte noch, dass die Eltern zusammen Kaffee trinken wollten, als Grund, dass wir zusammen spielten. Und jetzt hatte ich eine Freundin, die mit mir zur Halloween-Party in der Schule gehen wollte! Manchmal werde ich ganz hibbelig, weil das zu schön ist, um wahr zu sein, und dann bekomme ich Angst, dass sie mich irgendwann satt hat.
Sanna sah absolut fantastisch aus. Sie hatte sich das Gesicht so geschminkt, dass es wie ein Totenkopf aussah, so mit Rissen und allem. Nur quasi ein niedlicher Totenkopf. Dazu trug sie ein Kleid mit rosa Schleifen. Und Knie- und Ellenbogenschützer und einen Helm. Ihre Rollschuhe hatte sie unten in der Diele gelassen.
Ich weiß nicht genau, wie man eine Totenkopf-Figur mit süßem Kleid und Rollschuhen nennt, aber ich war absolut sicher, dass das etwas total Cooles war. Vielleicht aus Japan.
»Als was verkleidest du dich?«, wollte Sanna sofort wissen. Und als ihr aufging, dass ich keine Ahnung hatte, wurde sie auf einmal superhektisch.
Sanna hat sich verändert, seit wir in die Siebte gingen. Vorher war sie immer irgendwie das nette Mädchen, das zwar alle mochten, dem aber niemand groß Beachtung schenkte. Aber neuerdings ist sie das Mädchen, das allen auffällt. Sie verkleidet sich jeden Tag, nicht nur an Halloween. Mal sieht sie aus wie ein trübsinniger, schwarz gekleideter Hardrocker und am nächsten Tag wie ein rosa Flauschbällchen. Sie ist in irgend so einer Instagram-Gruppe, in der man Fotos von sich oder besser gesagt: von seinen Klamotten postet – jeden Tag. Das verrückteste Outfit gewinnt, glaube ich. Mir war natürlich klar, dass sie ihr Kostüm Wochen im Voraus geplant hatte.
Sanna riss die Türen zu meinem Kleiderschrank auf.
»Hm«, machte sie und begutachtete die Klamotten, die unordentlich auf den Bügeln hingen, sowie den Inhalt der verbogenen Drahtkörbe im Schrank. »Das wird nicht einfach.«
Sie wühlte sicher eine Viertelstunde im Schrank. Dann hielt sie zwei Teile hoch. Einen roten, langärmeligen Pulli und eine hässliche, kurze grüne Wanderhose, die Papa mir im Schlussverkauf gekauft hat, weil er hofft, dass wir in Zukunft öfter zelten gehen.
Ich verstand nur Bahnhof.
Eine halbe Stunde später hatte Sanna ihr Bestes gegeben, damit meine Haare in alle Richtungen abstanden. Mein Gesicht war weiß geschminkt, mit großen schwarzen Kreisen um die Augen.
»Na also«, meinte Sanna zufrieden, nachdem sie meine Lippen noch mit rotem Lippenstift bemalt hatte.
Als ich mich im Spiegel sah, erschrak ich fast vor mir selbst. Diese dunkel geschminkten Augen wirkten irgendwie gruselig, fremd. Total passend für Halloween. Aber ich hatte keine Ahnung, was ich darstellen sollte.
»Du bist Jessika, ist doch klar, oder!«, meinte Sanna.
»Welche Jessika?« Die einzige Jessika, die ich kannte, ging in unsere Parallelklasse und ich sah ihr nicht im Geringsten ähnlich.
»Na, Jessika aus Die Gruselschule! Erinnerst du dich nicht? Die Coole!«
Die Gruselschule war eine Zeichentrickserie, die wir immer angeschaut haben, als wir noch klein waren. Sie handelte von einigen Kindern, die auf eine Schule mit jeder Menge Monster gingen, und der Direktor war ein Vampir und … Na klar, eins der Mädchen hatte buschiges, krauses Haar und schwarz umrandete Augen.
»Eigentlich müsstest du noch ein Gespenst auf dem Pulli haben«, sagte Sanna. »Aber ich glaube, dafür haben wir nicht die Zeit.«
Stattdessen schnitt sie einen Streifen von einem alten roten Schal ab, den ich im Schrank hatte, und band ihn mir um den Hals.
»So«, stellte sie fest. »Ganz okay.«
»Aber es wird keiner kapieren, wer ich bin!«, protestierte ich. Aber nur ein bisschen. Denn das Mädchen, das mir aus dem Spiegel entgegensah, war trotzdem … interessant, irgendwie. So gar nicht wie mein gewohntes, normales Ich, sondern jemand Geheimnisvolles, Spannendes. Jemand, der tougher und mutiger ist als ich.
5.
Auf dem Weg zur Party holten wir Orestes ab. Sanna hat ihn quasi adoptiert, in etwa so, wie man sich um einen entlaufenen Hund kümmert. Ich glaube, ihr gefällt, dass er auch immer verkleidet aussieht, selbst wenn er jeden Tag dasselbe trägt. Er hat immer eine Stoffhose an, keine Jeans. Und immer total glatt gebügelte Hemden. Und eine Aktentasche als Schulranzen. Und dann hat er natürlich noch die schwärzesten Augen der Welt, tiefschwarze Haare und die blasseste Haut, die ein lebender Mensch haben kann.