Cole und die Sache mit Charlie - Judith Mohr - E-Book
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Cole und die Sache mit Charlie E-Book

Judith Mohr

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Beschreibung

Der 14-jährige Cole muss nicht nur mit dem "bescheuertsten Namen der Welt" klarkommen, sondern auch mit seiner Patchwork-Familie inklusive schwangerer Mutter, zwei kleinen Zwillingsbrüdern und Ärger in der Schule. Zur Seite stehen ihm sein bester Freund Philipp und seine Schwester Charlie, eine leidenschaftliche Tänzerin. Allerdings verändert sich Charlie zunehmend, wird immer dünner und zieht sich mehr und mehr zurück. Dann fangen die Mädchen in Coles Klasse auch noch an, Liebespläne zu schmieden. Alles ziemlich anstrengend und zugleich auch aufregend. Judith Mohr erzählt in ihrem Debüt eine berührende, zärtliche Geschichte über Familienbande, Freundschaft und die erste Liebe.

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Für Robert.

Das Erste ist noch mehr für dich als alles andere.

Inhalt

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Danke

Die Autorin

Prolog

Mein Leben ist echt ein Chaos. Ein großes. Jetzt gerade sitze ich vor dem Büro des Direktors und warte darauf, dass er mir eine Strafpredigt hält. Finn Beusen hätte einmal fast geheult, nachdem er das hinter sich hatte. Richtig blass war er. Angeblich hätten die Wände bis ins Lehrerzimmer gewackelt, so hat der Direktor Finn angebrüllt. Und Finn, dieser Vollhorst, hat doch tatsächlich zwei ganze Schulstunden danach die Klappe gehalten. Das schafft der sonst keine zwei Minuten. Ich freue mich also so richtig auf das, was mich gleich erwartet.

Die Stühle vor dem Büro sind ziemlich unbequem. Die Kante vorne schneidet einem in die Beine. Die Aussicht ist auch nicht berauschend. Durch eine Glasscheibe kann man ins Sekretariat sehen. Die eine Sekretärin guckt immer mal wieder strafend zu mir herüber. Die Alte. Die nette Junge schaut eher mitleidig. Aber die Alte ist echt ein Biest. Hat sogar Frau Hoffmann gesagt. Sie wusste nicht, dass ich sie hören kann, sie hat eigentlich mit Frau Engelsen gesprochen.

Frau Hoffmann ist unsere Klassenlehrerin. Sie ist echt okay. Ein bisschen sehr verliebt in Gedichte, wenn ihr mich fragt. Richtig traurig wird sie, wenn jemand ein Gedicht schlecht vorliest oder es nicht versteht. Wie ein Hund, der einem seinen Ball hinschiebt, mit dem man dann aber nicht spielt. Doch sie gibt sich Mühe, Sachen zu erklären, und sie ist nicht streng und fast immer gut gelaunt. Nur vorhin ist sie echt ausgerastet. Ihre freundlichen braunen Augen sind ganz schmal geworden, als wollten sie mit ihren Augenbrauen verschmelzen. «Ich glaube, jetzt spinnt ihr komplett!», hat sie gebrüllt. Dabei hat sie immer noch meinen Arm festgehalten, als wäre ihre Hand dran festgeschraubt. Sie hatte mich gepackt, als sie Leon und mich auseinandergezogen hat. Ich glaube, eigentlich durfte sie das gar nicht. Aber es ist Frau Hoffmann, also werde ich da keinen Wind drum machen. Wie hätte sie uns denn schließlich sonst aufhalten sollen? Nicht mal Torben hat sich getraut, mich von Leon herunterzuziehen, und der ist mit Abstand der Stärkste in der Klasse. Ich war aber auch so was von sauer. Leon ist ein kompletter Vollidiot! Und ein feiges Arschloch! Mich von hinten anzuspringen! Das war der Moment, in dem ich richtig rotgesehen habe.

Jetzt bin ich gar nicht mehr sauer. Ich fühle mich, als hätte mich jemand in eiskaltes Wasser geschubst und ich müsste erst einmal wieder Luft holen. Genau dieser Moment, wenn die Zeit kurz anhält, weil du Luft holen musst. Dein Körper ist aus Eis, dein Kopf leer und das Einzige, was für diesen Moment zählt, ist die Luft, die du gierig einsaugst. Genau so fühle ich mich jetzt. Ich sitze und atme einfach. Meine Gedanken fühlen sich an wie eisiges Wasser.

Ich bin eigentlich nicht der Typ, der sich prügelt. Schon gar nicht mitten im Klassenraum. Aber im Moment … Im Moment funktioniert gar nichts, wie es soll. Besser ich raste jetzt aus als später.

Frau Mortensen, unsere Biologielehrerin, hat uns letztes Jahr erklärt, dass Krabben ihren alten Panzer abstreifen und dann für einige Zeit ganz weich und verletzlich sind, bis der neue, größere Panzer hart geworden ist. Letztes Jahr hatten wir Krebstiere als ein Thema. Langweilig. Aber so fühle ich mich gerade. Wie eine frisch gehäutete Krabbe. Butterweich und angreifbar. Bäääm! Bei allem, was kommt, explodiere ich gleich.

Ich fange an, auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Die Dinger sind wirklich unbequem! Meine Hose klebt an meinen Beinen. Ein Gefühl, als hätte man sich eingepisst. Okay, jetzt bin ich nicht mehr nur am Luftschnappen. Langsam werde ich nervös. Ich zupfe an meiner Hose. So auf Kniehöhe. Ich will ja nicht, dass die Alte, die mich schon wieder durch die Scheibe anstarrt, als wäre ich ein Schwerverbrecher, mich für einen Perversen hält, der sich im Schritt rumfummelt. Sie sieht von hier wie ein übel gelaunter Fisch in einem Aquarium aus.

Da höre ich schwere Schritte, das Gemurmel hinter mir hört auf und die Tür öffnet sich. «Setz dich noch einen Moment hier hin, Leon», dröhnt Herrn Bergs Stimme, «während ich mit deinem Kontrahenten spreche. Komm rein, …»

Nein, das verrate ich noch nicht. Ich muss erst noch was erklären. Ich bin doppelt gestraft. Eigentlich sogar dreifach. Mein Leben ist im Moment ein Chaos, und ich habe den bescheuertsten Namen der Welt. Meine noch bescheuerteren Eltern haben mich Cole genannt. Kein Scherz! Cole. Amerikanisch ausgesprochen versteht sich. Amerikanische Namen sind sowieso schon doof. Aber Justin, Colin, Connor und Kimberley sind wenigstens nichts Besonderes. Colins haben wir drei an der Schule, Connors und Justins immerhin zwei. Kimberleys weiß ich nicht genau, aber definitiv mehr als zwei. Aber Cole? Noch nie in Deutschland gehört. So und jetzt kommt’s Dicke: mit Nachnamen heiße ich Neumann. Cole Neumann. Nur zu, ihr könnt ruhig lachen. Selbst die Lehrerinnen und Lehrer machen sich darüber lustig.

Frau Engelsen (Erdkunde und Englisch) hat im Kopierraum mal mit Herrn Fischteich (Spanisch und Deutsch) darüber gelästert. Ich stand an der Tür, weil Frau Hoffmann mich zum Kopieren geschickt hatte. Die beiden hatten mich aber nicht bemerkt, weil der Kopierer so geschäftig dröhnte und sie auch noch dagegen anschrien. «Was sich manche Eltern dabei denken!», brüllte Herr Fischteich gerade, als ich kam, «in der Fünften heißt ein Mädchen Fabienne Gertrud Hannelore. Das ist doch Tierquälerei!»

Ich sagte: «Ähm.» Sie hörten mich nicht.

Frau Engelsen kicherte und sagte dann: «Oh ja, Zweitnamen. Benjamin Jacobus aus der Sechsten. Auch schön sind manche Kombinationen: Chantalle Müller zum Beispiel. Oder die blödeste Kombination von allen: Cole Neumann aus der Achten! Ich bitte dich: Cole! Neumann!» Herr Fischteich wieherte wie ein Gaul auf Speed.

Die Situation konnte nicht mehr unangenehmer werden, also holte ich mit dem Mut der Verzweiflung Luft. «Ähäm!» Frau Engelsen und Herr Fischteich sahen zu mir herüber und verstummten. Selbst der Kopierer stellte peinlich berührt sein Rattern und Dröhnen ein.

«Oh, Cole», hauchte Frau Engelsen und wurde rot wie eine Clownsnase.

«Ja, äh, ich finde meinen Namen auch voll bescheuert und Frau Hoffmann braucht davon dreizehn Kopien, bitte», sprudelte ich heraus. Frau Engelsen nickte und kopierte. Irgendwie war die Stille aber auch total unangenehm – und deshalb erzählte ich die Geschichte, die ich seit der dritten Klasse immer erzähle, wenn jemand meinen Namen zum ersten Mal hört und auch nur ansatzweise komisch guckt.

«Als meine Mum mit mir schwanger war, war mein Vater mit einem Kumpel in Amerika im Urlaub. Im Grand Canyon ist er bei einer Wanderung abgerutscht und konnte sich noch gerade so an einem Felsen festhalten. Beinahe wäre er abgestürzt und hätte sich mindestens alles Mögliche gebrochen. Da kam so ein junger, cooler Typ vorbei und kletterte ganz lässig die Felswand, an der mein Vater hing, runter. Dann hat er ihm wieder raufgeholfen. Mein Vater war ihm so dankbar, dass er mich nach dem Typen benannt hat.»

Ich habe inzwischen Übung, die Geschichte zu erzählen. Die kommt jetzt richtig authentisch rüber. Sie ist erstunken und erlogen. Mein Vater wäre nie im Grand Canyon wandern gegangen. Nie im Leben. Aber es klingt so viel besser, als zu sagen: Meine Eltern waren jung, bescheuert und hatten nicht die Spur von Geschmack. Ich hasse Lügen. Aber mein Name ist so kriminell schlimm, dass das echt als Notlüge akzeptabel ist, finde ich. Selbst meine Mum fand die Geschichte gut, als sie mich dabei erwischt hat, wie ich sie erzähle, und hat gesagt, ich soll die am besten immer erzählen, wenn jemand dumm fragt. Selbst ihr ist mein Name inzwischen peinlich. Na super!

Zurück zu Herrn Berg. «Komm rein, Cole», sagt er, zieht eine seiner wahnsinnig buschigen Augenbrauen hoch und signalisiert mir, einzutreten. Irgendwer hat mal gesagt, Herrn Bergs Augenbrauen sähen aus wie haarige Raupen. Ausgewachsene Rauhaardackel trifft es eher. Sie sind echt immens.

Meine Knie verwandeln sich in Wackelpudding, während ich durch die Tür schlurfe. Herr Berg heißt nicht nur so, er ist auch einer. Alle Stühle sehen aus, als wären sie eher für ein Puppenhaus gemacht, wenn er drauf sitzt. Ich weiß, dass er mir nicht wirklich was tun kann, aber wenn ich auf eines keine Lust habe, dann ist das, heute von ihm angeschrien zu werden. Ich bin eher der harmoniesüchtige Typ. Na ja, außer wenn Leon sich wieder wie ein Vollidiot benimmt.

«Setz dich!», kommandiert Herr Berg und lässt sich hinter seinem Schreibtisch auf den Drehstuhl fallen, der ergeben seufzt. Jetzt kommt’s, schließlich habe ich zuerst zugeschlagen.

Herr Berg stützt die Arme auf dem Schreibtisch ab und beugt sich zu mir vor. Jetzt ist er sogar fast auf Augenhöhe mit mir. Schön in Brüllposition. «Nun erzähl mal», fordert er mich auf. Ganz ruhig und freundlich. «Leons Geschichte kenne ich, jetzt will ich deine Version hören.» Er wartet. Darauf, dass ich rede. Aber im Moment weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Herr Berg sieht mich geduldig an. Seine Rauhaardackel wackeln ein bisschen mit den Bäuchen. Ich möchte ja reden, das Schweigen wird unheimlich, aber meine Zunge will nicht. «Leon hat meine Mutter beleidigt und da ist mir eine Sicherung durchgebrannt», beginne ich endlich. Meine Zunge fühlt sich an wie ein Frotteewaschlappen, aber immerhin tut sie ihren Job. Das, was ich gesagt habe, hört sich irgendwie falsch an. Als wäre ich ein Ghettokid. Ey, hascht du mein Mutter beleidigt, Alter! So in der Art. «Also, das war nicht irgend so eine Beleidigung, die war total persönlich und echt fies. Und er hat dabei so blöd gegrinst.» Seine Augenbrauen hüpfen ein wenig und ich habe das Gefühl, meine Erklärung ist nicht sonderlich überzeugend.

«Also», sagt Herr Berg gedehnt. «Stimmt es, dass du zuerst zugeschlagen hast?» Ich nicke. Herr Berg wartet. Ich soll weitersprechen. Auf einmal habe ich in meinem Mund dieses komische ziehende Gefühl, als müsste ich gleich losheulen. Kennst du das? Wenn es oben am Gaumen und an den Mundwinkeln so zieht? Das darf auf gar keinen Fall passieren! Ich darf jetzt nicht losheulen! Dann lieber Wut!

«Ja, ich hab ihm eine gescheuert. Als ich wieder zu meinem Platz wollte, hat er mich dann von hinten angesprungen und mir die ganze Zeit auf den Kopf geschlagen. Ich wünschte, ich hätte ihn besser erwischt, diesen Arsch!», zische ich. Die Rauhaardackel hüpfen nach oben und verkriechen sich zwischen den Stirnfalten. «Muss ich jetzt wirklich etwas über das Thema ‹Gewalt ist keine Lösung› sagen?», fragt Herr Berg. Ich starre auf die Tischplatte vor mir und schüttele den Kopf.

«Du weißt das und trotzdem erschien es dir in diesem Moment sinnvoll», brummt Herr Berg. Irgendwie habe ich den Eindruck, er macht sich ein bisschen über mich lustig. Auf eine nette Art allerdings. «Vielleicht verrätst du mir, was genau Leon gesagt hat», schlägt er nach einer kurzen Pause vor.

Warum nicht? «Er hat gesagt: Ich habe deine nuttige Mutter gesehen, wie sie zum Frauenarzt rein ist. Hat sie sich ne Geschlechtskrankheit von ihrem neuen Lover eingefangen, oder was?» Meine Stimme klingt irgendwie tonlos. Selbst wenn ich es wiederhole, macht es mich so wütend, dass ich Leon die Nase brechen könnte. «Dann hat er total laut gelacht.»

Herr Berg lehnt sich zurück und seufzt tief. «Okay, jetzt weiß ich, was du mit persönlich und fies meinst», brummt er. Ja, verdammt!

«Ich glaube aber nicht, dass das allein der Grund war, warum du ihn geschlagen hast. Bei allem, was ich bislang bei den Konferenzen über dich mitbekommen habe, passt Gewalt nicht wirklich ins Bild», sagt Herr Berg. Dann beugt er sich wieder vor und sieht mir direkt in die Augen. Das mit dem Heulen hat sich zum Glück wieder erledigt. Ich kann, ohne zu blinzeln, zurückschauen. Allerdings nicht lange. Soll ich ihm jetzt was erzählen oder nicht? Eigentlich geht es niemanden etwas an. Andererseits ist Herr Berg sicher keine Quatschtante. Darf er gar nicht. Wegen der Pädagogik und so. Was sollte also schon passieren, wenn ich es erzähle?

«Meine Mum ist schwanger». Meine Stimme klingt irgendwie dünn. «Von meinem Stiefvater. Also sie sind verheiratet.» Es ist mir wichtig, das klarzustellen. Das Wort «nuttig» brennt mir immer noch in den Ohren.

Herr Berg hebt beschwichtigend die Hände. «Okay, okay. Ich verstehe. Oder nein, ich habe einen Verdacht», berichtigt er sich selbst. «Das passt dir wohl nicht besonders und du bist deshalb etwas, sagen wir: dünnhäutig.» Ich deute ein Nicken an und zucke gleichzeitig mit den Schultern. Mum nennt das meine Na-ja-Geste. Offensichtlich ist sie universalverständlich, denn Herr Berg nickt zufrieden.

«Eigentlich geht es mich ja nicht direkt was an», versuche ich zu erklären. Herr Berg unterbricht mich: «Doch, doch! Das geht dich sehr wohl etwas an!»

«Ja, schon, so meinte ich das nicht», es ist echt schwer, das verständlich zu machen. «Ich meinte nur, es ist ja nicht meine Entscheidung, es ist Mums Leben.» Herr Berg schaut für einen Moment auf die Tischplatte und lächelt. Dann schaut er mich wieder ernst an. «Du hast recht, aber trotzdem bringt es dein Leben ganz schön durcheinander, und damit muss man sich ja erst einmal zurechtfinden.»

Jetzt weiß ich, warum einer wie Herr Berg Direktor ist. Er hat’s einfach drauf.

«Möchtest du darüber reden?» Ein bisschen erleichtert wirkt er dann aber doch, als ich den Kopf schüttele. «Nun gut!» Er erhebt sich, die Deckenleuchte schwankt respektvoll. «Ich schlage vor, du machst in Zukunft einen großen Bogen um dieses kleine A…», er räuspert sich, «ich meine um Leon, versuchst niemandem ein blaues Auge zu schlagen und machst eine Woche Müllsammeldienst in den großen Pausen, damit mir nicht irgendwelche hysterischen Eltern aufs Dach steigen.» Er grinst diebisch. Ich grinse diebisch zurück. Mann ist der cool! Ich nicke. «Sie sagen aber niemandem …» Er rollt mit den Augen. «Natürlich nicht! Was denkst du denn. Aber vielleicht solltest du mal mit jemandem aus deiner Familie darüber reden. Du musst das mit dir und deinen Leuten klären. Bald sogar, ich muss nämlich einen Brief an deine Eltern schicken. Der muss unterschrieben wieder ins Sekretariat.» Ich nicke. Verdammt! «Reicht es, wenn mein Vater den unterschreibt?» Herr Berg nickt. «Sicher.» Das ist schon mal gut. «Können Sie den Brief dann direkt an meinen Vater schicken? Seine Adresse steht in meiner Akte.» Er nickt noch einmal bekräftigend (Mann, wir könnten eine ganze Unterhaltung nur mit Nicken führen, Herr Berg und ich), dann stehe ich schon auf dem Flur und höre im Gehen noch, wie Leon von Herrn Berg angebrüllt wird. Das Grinsen ist jetzt irgendwie in meinem Gesicht festgefroren.

Ich muss das also mit meinen Leuten klären, wie Herr Berg sich ausgedrückt hat. Bald. Sehr bald. Er hat recht. So geht es nicht weiter. Mein Vater ist nicht das Problem, meine Mum schon eher. Und Frederik. Und Charlie. Und wenn ich schon dabei bin, auch Elli und Olli.

Der Geschichtsunterricht rauscht an mir vorbei, als wäre mein Kopf ein rasender ICE. Irgendwann stößt mir Philipp den Ellenbogen in die Rippen, weil wir das Buch aufschlagen sollen. Das Buch rauscht auch vorbei. Ich könnte schwören, die Buchstaben bewegen sich. Auf jeden Fall schaffen sie es nicht in meinen Kopf hinein. Sie flutschen immer weg.

Frau Hoffmann ist nachsichtig mit mir. Sie lässt mich komplett in Ruhe. Nur manchmal wirft sie mir einen irritierten Blick zu. Sie ist von der Prügelei immer noch geschockt. Die Arme. Aber was soll ich erst sagen? Ich bin auch noch geschockt. Und Herr Berg hat noch einen draufgesetzt. Einfach so mit Nettsein. Manchmal ist nett zu sein auch schwierig.

Auf dem Nachhauseweg weicht mir Philipp nicht von der Seite. Das muss ich ihm lassen, er hat sich echt gentlemanlike verhalten. Er hat mich in Geschichte und Englisch komplett in Ruhe gelassen und mir nur ab und zu geholfen, damit es nicht so auffällt, dass ich nur körperlich anwesend war. Aber jetzt platzt er fast vor Neugier. Seine Augen springen ihm gleich aus dem Kopf. «Hat er dich zur Schnecke gemacht, der Berg?» Er quietscht fast. Eine Mischung aus Neugier und Mitleid.

Ich lächele und spanne ihn noch ein kleines bisschen auf die Folter. Philipp ist einen halben Kopf größer als ich, er ist der Größte in der Klasse, aber nicht so massig wie Torben. Er ist sportlich, sieht auch nicht schlecht aus – meinen zumindest die Mädchen –, außerdem hat er Top-Noten und ist immer höflich und nett. «Nee», sage ich endlich, «gar nicht. Er war echt nett. Aber eine Strafe und einen Brief nach Hause hat er mir natürlich doch verpasst. Musste er wohl.» Ich grinse Philipp an. «Aber Leon hat er angebrüllt. Ich hab’s gehört, als ich wieder gehen durfte. So richtig.»

Philipp grinst auch. «Na hoffentlich, Leon ist so ein Arsch!» Philipp ist mein bester Freund. Ist er schon lange, aber wenn er es noch nicht wäre, dann wäre er es spätestens jetzt.

Wir kennen uns schon aus der Grundschule. Er hat nur einen Fehler: Er ist verdammt ehrgeizig, aber kein Streber oder so. Und für diesen Fehler kann er noch nicht mal was. Seine Eltern sind Schuld. Philipp ist wohlstandsverwahrlost. Sagt meine Mum. Also bei mir zu Hause ist Chaos, aber Philipp ist echt ein armer Kerl. Seine Eltern arbeiten die ganze Zeit, dafür ist eine Nanny zu Hause (Philipp sagt immer «Haushälterin», er sagt das so würdevoll, als wäre er ein englischer Lord aus einem Film, aber sie ist echt mehr als das). Das Haus ist riesig, da könnte er mit der Nanny verstecken spielen und sie würde ihn drei Tage lang nicht finden. Er ist fast die ganze Zeit allein mit ihr. Seine Eltern interessieren sich meistens nur für seine Leistungen. Deshalb der Ehrgeiz. Sein Vater unternimmt manchmal was Cooles mit ihm am Wochenende. Kanufahren oder so. Dann hat er wieder eine Woche lang richtig gute Laune.

Seine Mum hat am Wochenende oft Termine. Frauenkram und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas noch gibt. Bis ich einmal am Wochenende bei Philipp war und sie in einem ultrateuren Kleid die Treppe herunterkam. So ein Satin-Glitzerding. Meine Mum hätte genau gewusst, von welchem Designer und was für ein Stil und so weiter. Meine Mum hat einen Modeblog. Sie küsste Philipp auf den Kopf und sagte: «Ich muss jetzt los zur Benefizgala der deutschen Alzheimerstiftung. Martha hat euch sicher etwas Leckeres vorbereitet. Ich wünsche dir und Colin einen schönen Nachmittag.» Na ja, immerhin war sie dicht dran. Dichter dran als sonst. Sie hat mich auch schon Karl, Cameron (echt jetzt?!), Caspar, Corbinian (kotz-würg!), Jakob und aus unerklärlichen Gründen Paul genannt. Ich kenne Philipp ja auch erst seit knapp acht Jahren, da kann man den Namen seines besten Freundes schon mal verwechseln.

Wenn sie was mit ihm unternimmt, dann immer irgendetwas Abgefahrenes. Das meine ich jetzt nicht positiv. Ein Mal im Monat geht die Familie in einem Sternerestaurant essen. So mit Stoffservietten, viel Besteck, winzigen Portiönchen und vielen Gängen. Dann spielen sie noch ab und zu Golf und Tennis zusammen. Das volle Klischee. Sie ist auch mit ihm ins Kunstmuseum gegangen. Das soll alles seiner Bildung dienen. Ich hätte das sicher total langweilig gefunden, aber für Philipp ist es eben die einzige Möglichkeit, mit seiner Mum Zeit zu verbringen. Also gibt er sich echt Mühe, das toll zu finden. Davon abgesehen ist er ganz normal.

Philipp kickt einen Stein zur Seite, dann sieht er mich wieder mit seinen großen Augen an. «Was ist eigentlich zurzeit mit dir los?» Seine Stimme stupst mich nur ganz vorsichtig an. Ich zucke mit den Schultern und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Kinn zu. Für Mitte April ist es noch ganz schön kalt. Vielleicht finde ich das aber auch nur. Philipp hat seine Jacke offen gelassen. Wieder stupst seine Stimme ganz sacht: «Ich meine ja nur, du wirkst häufig so nachdenklich. Musst aber nichts erzählen, wenn du nicht willst.» Das Schöne an Philipp ist, dass er das auch so meint. Es ist okay, wenn ich nicht reden will.

Jetzt wird mir doch warm. Ich zerre den Reißverschluss wieder nach unten. «Es ist wegen meiner Mum», beginne ich. Es ist nicht mehr allzu weit bis nach Hause. Entweder wir bleiben gleich irgendwo stehen oder ich muss mich kurzfassen. «Sie ist schwanger.» Ich warte auf die Reaktion in Philipps Gesicht. Seine Augenbrauen heben sich erstaunt und dann bekommt sein Blick für einen kurzen Moment etwas Sehnsüchtiges. Philipp hätte echt gern Geschwister. Er presst die Lippen kurz zusammen, zieht mit einer Hand seine Jacke zu. Der Moment ist vorbei. «O-kay», sagt er gedehnt. Sonst nichts. Er wartet geduldig.

«Wir sind doch schon vier», irgendwie habe ich immer das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Ich meine dafür, dass mich das so fertig macht. «Das neue Baby ist von Frederik, natürlich. Ich verstehe ja, dass er ein eigenes haben will, aber ich weiß nicht, ob Mum das packt.»

Philipp sieht mich skeptisch an. «Echt? Sie hat doch Übung. So kompliziert sind Babys nun auch wieder nicht. Die schlafen, brüllen, trinken und pupsen doch nur. Sie hat doch sogar deine Brüder hingekriegt.» Ich mache meine Na-ja-Geste.

Wir sind jetzt an der Ecke angekommen, an der ich abbiegen muss. Ich kann unser Haus von hier aus schon sehen. Die Fahrräder von Elli und Olli liegen wieder direkt vor dem Fußabtreter. Der Vorgarten ist halbwegs gepflegt und sowieso nicht der Rede wert. Drei Sträucher und ein Handtuch großes Stück Rasen. Mums Auto steht unter dem Carport. Wie immer etwas schief eingeparkt. Ein silberner Seat Alhambra. Mit sieben Sitzen. Geht ja nicht anders.

Philipp ist neben mir stehen geblieben. «Und jetzt?», fragt er.

«Was meinst du?» Ich löse den Blick von meinem Zuhause.

«Was willst du machen?» Sein Blick sagt: Wie kann ich dir helfen. Ich antworte auf Letzteres: «Vielleicht können wir uns morgen Nachmittag treffen. Wir können den Köter von den Schöpfners mitnehmen, mit denen will Mum sich möglichst gut stellen, bei all dem Krach, den wir machen. Wir könnten mit dem Vieh in den Wald gehen. Ich muss mal raus hier.»

Philipp nickt. «Ist gut. Das ist bestimmt schön da, die Buschwindröschen blühen gerade.»

Ich ziehe spöttisch die Augenbraue nach oben. «Echt jetzt?! Du willst dir Blümchen ansehen?» Leider kann ich nicht ernst bleiben und pruste los.

Philipp lacht mit. «Nee!», japst er schließlich. «Ich meine ja nur, schadet ja auch nicht, wenn’s hübsch aussieht.» Da muss ich noch mehr lachen. Philipp verdreht die Augen und geht. «Morgen Nachmittag dann», ruft er mir über die Schulter zu.

Meine Familie. Das ist nicht so einfach. Du hast doch Zeit? Wir sind eine Patchwork-Familie. Meine Mum und mein Vater sind geschieden. Schon etwas länger. Ich war neun, als sie sich haben scheiden lassen, meine Schwester Charlie acht und die Zwillinge drei. Das war übel.

Dann stelle ich dir jetzt mal meine Familie vor. Fangen wir von unten an. Die Zwillinge. Elli und Olli haben von uns allen die besten Namen abgekriegt. Meine Eltern haben also tatsächlich was dazugelernt. Sie heißen eigentlich Elias und Oliver. Das ist nun wirklich okay. Sie sind gerade acht geworden. Achtjährige Jungs. Mann, ich kann dir sagen, das ist nicht ohne. Meistens sind sie zusammen irgendwo unterwegs oder sie pflastern ihr Zimmer mit Legosteinen zu. Oft genug stellen sie Blödsinn an. Ich kann mit ihnen nicht so viel anfangen. Ich verstehe ihre Witze nicht und meistens nerven sie mich. Das ist mehr Charlies Zuständigkeitsbereich. War es schon seit der Trennung. Sie hängen sehr an Charlie und hören sogar fast besser auf sie als auf Mum, wenn sie mal nicht draußen sind oder ihr Zimmer verwüsten. Ich glaube, Charlie mag sie sogar. Es ist aber auch ein guter Schuss Pflichtgefühl dabei, denke ich.

Charlie. Sie ist einer meiner absoluten Lieblingsmenschen. Charlie ist klasse! Eigentlich heißt sie Charlene Amber – auch so ein blöder amerikanischer Name, aber immer noch um Längen besser als Cole. Sie ist ein Jahr jünger als ich, hat lange, hellbraune Haare und ist zierlich. Ich kenne keinen Menschen, zu dem das Wort «zierlich» besser passt als zu ihr. Sie ist nicht besonders klein, aber schlank. Sie bewegt sich immer so, als hätte sie bis eben noch getanzt. Ganz fließend. Sie hat superschmale Handgelenke. Beinahe zerbrechlich sieht sie damit aus, bis man ihr ins Gesicht schaut. Dann weiß man, dass sie gar nicht zerbrechlich ist. Sie kann einen knallhart ansehen mit ihren blauen Augen. Sie ist einer der nettesten Menschen, den ich kenne. Wir reden oft über alles Mögliche. Ich habe ihr schon Dinge erzählt, die ich sonst keinem erzähle. Sie hat einen sechsten Sinn dafür, wann man lachen darf und wann nicht. Wirklich! Sie macht das immer richtig. Zwei Dinge finde ich besonders toll an ihr: Erstens, dass man mit ihr wirklich reden kann, und zweitens, dass sie gar nicht weiß, wie umwerfend sie ist. Das klingt jetzt fast so, als wäre ich in meine Schwester verknallt, oder? Weißt du was, das bin ich auch. Also nicht auf so eine perverse Inzest-Art! Echt nicht! Ich bewundere Charlie einfach nur. Charlie ist meine beste Freundin.

Tja, dann ist da noch Mum. Man kann zu Mum einfach nicht Mama oder Mutter sagen, das geht nicht. Keiner von uns Kindern tut das. Selbst Elli und Olli haben damit sofort aufgehört, sobald sie halbwegs sprechen konnten. Ein lichter Moment, würde ich sagen. Über meine Mum könnte man eine endlose Pro- und Contra-Liste führen. Manchmal ist sie echt der Knaller und manchmal … Sie kann nicht kochen. Nicht mal nach Rezept. Das Einzige, was halbwegs funktioniert, sind Fertiggerichte. Da mussten Charlie und ich aber auch jahrelang nörgeln, bis sie so weit gekommen ist. Sie sagt immer: «Alles, was in einem Kochtopf auf meinem Herd oder in meinem Ofen steht, zählt als selbstgekocht.» Na ja. Es schmeckt ja nicht schlecht. Aber Martha, Philipps aktuelle Nanny, kocht richtig selbst, so mit selbst würzen – da schmeckt man dann schon den Unterschied. Mum backt auch nicht. Zum Klassen- oder Sportfest bringt sie immer Fertigkuchen mit (und sie sagt es den anderen Müttern auch noch laut!). Nicht mal zum Geburtstag backt sie. Nicht mal Backmischungen. Charlie hat sich das selbst beigebracht, also backt sie manchmal. Aber Mum nie. Sie kommt auch nicht zum Zuschauen zu Fußball-, Handball- oder sonstigen Spielen. Wenn es irgendwie geht, kommt Frederik. Der hat nichts dagegen, Sport anzugucken. Außerdem will er sich als Stiefvater ja auch Mühe geben. Immerhin kommt Mum zu Schulaufführungen. Kultur ist mehr ihr Ding als Sport. Zumindest wenn’s ums Zuschauen geht. Im Garten mit uns kicken, Federball spielen oder so etwas macht sie dagegen ab und zu gern. Außerdem legt sie viel Wert auf ihr Aussehen. Sehr viel Wert. Sie hat mindestens tausend Klamotten, sie liest auch diese Modemagazine und sie braucht ewig, um sich zu schminken und zu frisieren. Sie schreibt einen Modeblog und hat sogar eine ganze Menge Follower. Die Klamotten stehen ihr ja auch ganz gut mit ihrer Top-Figur, und ein hübsches Gesicht hat Mum auch. Aber sie zieht damit oft die Aufmerksamkeit auf sich. Es ist ein komisches Gefühl, wenn andere Leute deine Mutter so intensiv ansehen, glaub mir. Bei einigen will ich gar nicht wissen, was sie über Mum denken. Leons Worte dröhnen mir immer noch in den Ohren. Es ist aber ihre Entscheidung, wenn ihr das Aussehen so wichtig ist, dann bitte! Mir wäre es ja egal, wie sie aussieht. Meinetwegen könnte sie auch in Schlabbersachen und ungeschminkt herumlaufen. Hauptsache sie ist unsere Mum. Darin ist sie echt begabt.

Als ich nach Hause komme, sitzt Mum am Esstisch und trinkt einen Tee. «Hallo, großes Kind», sagt sie und sieht von ihrer Zeitschrift auf. Ihre Augen sind natürlich perfekt geschminkt. Ein Hauch von Farbe, der ihre blauen Augen fast türkis wirken lässt.

«Tach», sage ich und will mich an ihr vorbeischieben.

Sie hält mich am Arm fest. Ihre Fingernägel sind in einem blassen Rosa lackiert und bohren sich wie Krallen in meinen Ärmel. Sie sieht mich einen Moment scharf an. «Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte?» Neugier und eine Spur Besorgnis liegen in ihrer Stimme. Einen Moment fühle ich mich ertappt. Hat Herr Berg etwa doch angerufen? Oder Frau Hoffmann? Ich schüttele den Kopf und gleichzeitig diesen Gedanken ab. Purer Mutterinstinkt. Dann lächelt sie und lässt mich gehen. Ich sage doch: begabte Mutter.

Das Telefon klingelt. Lange. Endlich meldet sich jemand. «Ja? Neumann hier.» Die Stimme klingt leicht genervt. Ich atme tief durch. «Hallo Papa.» Es dauert eine Weile. «Cole? Bist du das?» Ich atme auf. «Ja, ich wollte nur …» Er unterbricht mich: «Ist jetzt grad ziemlich schlecht, weißt du, ich muss noch …» Ich unterbreche ihn: «Es ist wichtig und es geht auch ganz schnell!» Ich spreche sogar schon extra schnell. Er stöhnt. «Na gut», grunzt er, als ich keine Anstalten mache aufzulegen oder sonst irgendwas in seinem Sinne zu tun. Mich entschuldigen und sagen, dass ich später noch mal anrufe oder so. «Ich hatte da etwas Ärger in der Schule. Ich weiß auch, dass das nicht richtig war. Beim Direktor war ich auch schon deswegen. Ist aber keine große Sache. Ich hab mich mit einem Blödmann aus meiner Klasse geprügelt. Der hat was ganz Fieses gesagt und ist sowieso ein Arsch. Also der hat unsere Familie beleidigt und ich weiß natürlich, dass das keine Entschuldigung ist und dass man nicht einfach zuschlagen darf und so.»

Das ist echt nicht leicht. Ich versuche, das alles so schnell wie möglich runterzuspulen, Papas Ungeduld drückt geradezu durchs Telefon in mein Ohr, ich kann es spüren. Trotzdem darf es nicht so auswendig gelernt klingen. Keine Moralpredigt riskieren. «Aha», sagt Papa gedehnt.