Cologne Spirit - Michael Bauer - E-Book

Cologne Spirit E-Book

Michael Bauer

4,8

Beschreibung

Ein kleiner, 12-jähriger Junge, wächst im brasilianischen Regenwald zum Schamanen seines Dorfes heran. Seine "Gabe" ermöglicht es ihm, später, in der zivilisierten Welt, Seminare zu halten und so seine Heilmethode einzusetzen. Verena Fischer wird von einem Menschenhändlerring entführt, um mit ihren Fähigkeiten die an MS erkrankte Frau des Chefs dieser Menschenmafia zu heilen. Von der Polizei allein gelassen, versucht Verenas Freund Marc, mit Hilfe seiner Freunde, Vreni zu befreien. Dieses neuartige Romankonzept verbindet ein spirituelles Sachthema, Quantenheilung, mit einer Krimihandlung und einer Prise Kölner Lokalkolorit. Wer sich für alternative Heilmethoden interessiert und gleichzeitig unterhalten werden möchte, ist hier genau richtig!

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Für Britta ♥

Du hast mir die Augen und eine Tür geöffnet.

Ohne Dich hätte ich dieses Buch nie geschrieben.

Danke.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1 (Der Paketdienst)

Kapitel 2 (Hanna)

Kapitel 3 (Paul)

Kapitel 4 (Manuél)

Kapitel 5 (Das Seminar)

Kapitel 6 (Das Frühstück)

Kapitel 7 (Der Schamane)

Kapitel 8 (Das Doppelspaltexperiment)

Kapitel 9 (Die Villa)

Kapitel 10 (Das Rennen)

Kapitel 11 (Der Anfang)

Kapitel 12 (Lábrea)

Kapitel 13 (Grundlagen)

Kapitel 14 (Ilja)

Kapitel 15 (Pauls Freund)

Kapitel 16 (Köln)

Kapitel 17 (Marc)

Kapitel 18 (Anahi)

Kapitel 19 (Billie)

Kapitel 20 (Vreni)

Kapitel 21 (Die Suche)

Kapitel 22 (Feedback)

Kapitel 23 (Die Einladung)

Kapitel 24 (Der Plan)

Kapitel 25 (Vreni und die Mädchen)

Kapitel 26 (Die Befreiung)

Kapitel 27 (Die Jagd)

Kapitel 28 (Das Verhör)

Kapitel 29 (Die Zusammenkunft)

Epilog

Prolog

Glück ist,

… einen so wunderschönen Tag erleben zu dürfen.

Und das auch noch in Köln.

Die Dämmerung setzte langsam ein und die Sonne würde bald untergehen. Hierzulande ist der Spätsommer in den letzten Jahren immer öfter die schönste Jahreszeit gewesen. Man konnte bei 26 Grad draußen in einem Café sitzen und seinen Latte Macchiato genießen, Freunde treffen, sich einfach nur im Freien aufhalten, ohne dabei übertrieben viel Kleidung mit sich herumtragen zu müssen.

Von hier aus konnte man sogar die Domspitzen sehen. Was will man mehr?

Kinder spielten ausgelassen im nahe gelegenen Park. Einfach nur angenehm. Und lässig. Dieses Leben hier. Fast schon mediterran.

Ein wunderschöner Tag mitten im September 2013.

Hanna bekam von diesem wunderschönen Tag leider nicht viel mit.

Die Schmerzen kamen immer ganz plötzlich, wie Schübe, ohne jede Vorankündigung. Unregelmäßig. Mal hatte Sie ein paar Tage Ruhe, mal kamen diese unerträglichen, krampfartigen Schmerzen zwei oder auch drei Tage hintereinander. Mehrmals am Tag für zwanzig bis dreißig Minuten. Vielleicht wie eine Mischung aus Menstruations-und Geburtsschmerz, nur sehr viel stärker. Glaubte Sie zumindest.

„VERDAMMT ... WAS IST DAS?“

Kapitel 1 (Der Paketdienst)

Donnerstag, 03.10.2013

Alle Paketdienste wie DHL, Hermes, GLS, UPS, usw., parken auf der Dürener Straße immer in zweiter Reihe, um ihre Sendungen auszuliefern. Sie gehören zu jeder Tageszeit zum täglichen Straßenbild. Vollkommen unauffällig. Die gründlichen Vorbereitungen und Recherchen hatten nur wenige Tage in Anspruch genommen.

Der schwarze 5er-BMW stand schräg gegenüber des Ladenlokals, ca. zwanzig Meter entfernt, und sein Fahrer beobachtete seit etwa drei Stunden das Kommen und Gehen.

Hinten im Laden gab es noch eine Tür zum Hinterhof. Diese Tür wurde allerdings nie benutzt und war daher praktisch immer verschlossen. Vom Hinterhof aus hatte man auch keinen Zugang nach vorne zur Straße raus. Es blieb also nur der Vordereingang.

Die beiden Paketboten parkten ihren DHL-Lieferwagen in zweiter Reihe direkt vor dem Ladenlokal. Sie hatten aus dem schwarzen BMW per Funk ein Signal erhalten und konnten so sicher sein, dass sich keine weiteren Kunden im Laden aufhalten und sie mit ihrer Zielperson allein sein würden. Sie entluden ihre ‚Ware‘ mit einer Sackkarre und steuerten auf den Eingang zu.

Als die Türglocke bimmelte, war Vreni etwas überrascht. Jetzt noch ein Kunde?

Sie legte den Pinsel weg und ging nach vorne in den Verkaufsraum. Ein Mann in seiner typischen gelb-roten DHL-Kluft stand bereits innen im Laden und hielt seinem Kollegen die Tür auf, der eine Sackkarre mit einem Riesenkarton hinein schob.

Was sollte das denn sein? Vreni erwartete eigentlich gar keine Lieferung. Und erst recht keine so große. Es sah aus wie eine Kühl-Gefrierkombination, auf dem Karton stand groß 'MIELE'. Hatte Marc vielleicht etwas bestellt, ohne ihr Bescheid zu sagen? Das sah ihm doch gar nicht ähnlich. Ganz unbedarft begrüßte sie die beiden Männer.

„Hallo. Sind Sie sicher, dass das wirklich für mich ist? Ich habe gar nichts bestellt.“

Der Türaufhalter übernahm das Sprechen. Vreni fiel auf, dass beide wie Osteuropäer aussahen.

„Guten Abend. DHL. Wir sollen das hier bei Ihnen anliefern.

Für einen Herrn Frommes.“ Sein Akzent war russisch.

Also doch. Vreni war etwas verärgert. Sie und Marc hatten eine klare Abmachung, was Bestellungen über 100 Euro anging. Nie ohne Absprache. Und wozu brauchten sie überhaupt so ein Riesending von Kühlschrank? Vreni warf einen Blick auf die gut fingierten Papiere, die der Türaufhalter in der Hand hielt. Währenddessen bewegte sich der Sackkarrenmann schon langsam und unaufgefordert mit seiner Ladung in Richtung Hinterzimmer. Der Lieferschein schien in Ordnung zu sein.

„Zeigen Sie uns bitte wo wir das Gerät abstellen sollen?“ Der Mann im DHL-Outfit sprach sehr gut Deutsch, sehr akzentuiert und er war freundlich. Vreni fiel auf einmal wieder dieses merkwürdige Telefonat von letztem Samstag ein.

„Hier hinten bitte.“ Sie drängelte sich an dem Mann mit der Sackkarre vorbei, um ihn in ihren Materialraum zu führen.

Perfekt.

Leichter konnten es die beiden nicht haben. Ein Kinderspiel.

Die kleine, zarte Vreni hatte nicht den Hauch einer Chance sich zu wehren. Es musste schnell gehen. Jederzeit konnte noch ein Kunde zur Tür herein kommen. Das gute alte Chloroform musste herhalten. Der Türaufhalter stand nun hinter Vreni und hielt einen kleinen, mit Chloroform durchtränkten Schwamm in der Hand, den er aus einem luftdicht verschließbaren Plastikbeutel seiner Tasche entnommen hatte. Der Mann war trainiert und ausgesprochen kräftig. Er hatte keine Mühe, die kleine Vreni mit links zu umarmen und fest an sich zu pressen, während seine rechte Hand mit dem Schwamm Vrenis Atemwege verschloss. Ihre Gegenwehr war zwar heftig, aber nur kurz und aussichtslos. Das Chloroform wirkte innerhalb von 20 Sekunden. Vrenis Körper erschlaffte und der Mann nahm sogleich den Schwamm von ihrem Gesicht. In der Zwischenzeit hatte der Sackkarrenmann den präparierten Karton an zwei Seiten geöffnet. Die 160 Zentimeter kleine Verena passte problemlos hinein und wurde mit zwei Gurten blitzschnell im Karton fixiert. Sie verklebten ihr erst den Mund mit einem Klebeband-Abroller und anschließend den Karton. Der Türaufhalter schaltete im Verkaufsraum das Licht aus und dachte sogar daran, dass Schild innen an der Eingangstür umzudrehen. „Leider geschlossen“, war jetzt von draußen zu lesen. Die beiden Russen nahmen sich allerdings nicht mehr die Zeit, um nach Schlüsseln zu suchen. Sie ließen die Türe einfach zufallen. Niemandem fiel auf, dass die beiden DHL-Leute denselben Karton wieder nach draußen beförderten. Die ganze Aktion hatte keine drei Minuten gedauert.

Ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte allerdings bemerkt, dass der Karton beim Hinausfahren mindestens fünfzig Kilogramm schwerer gewesen sein musste. Die Reifen der Sackkarre waren fast platt. Im Lieferwagen legten die Männer den Karton behutsam auf den Rücken. Vreni wurde liegend transportiert. Sogar an die Luftlöcher im Karton war gedacht worden. Schließlich hatten sie für ihr ‚Paket‘ noch Verwendung.

Am Donnerstag um 18.07 Uhr war Verena Fischer aus ihrem Laden entführt worden.

Kapitel 2 (Hanna)

Hanna krümmte sich vor Schmerzen. So heftig, als würde jemand mit einer großen Metallgabel ihre Eingeweide wie Spaghetti um einen Löffel drehen.

Die Mitbewohner ihrer WG in Köln-Ehrenfeld versuchten alles um ihr helfen, ihr die Schmerzen zu nehmen oder wenigstens irgendwie zu lindern. Aber nichts half.

Sie waren ratlos.

Dabei hatte Hanna sonst keinerlei Symptome. Keinen Durchfall, normalen Stuhlgang, keine Blähungen, kein Blut im Stuhl, ihre Blutwerte waren alle im normalen Bereich.

Abgesehen von einem geringfügig nach unten abweichenden Eisenwert. Fast schon normal für eine 26 Jahre junge Frau, die sich ansonsten pudelwohl und kerngesund fühlt.

„Könnten Sie möglicherweise schwanger sein?“, fragte Dr.

Adams Hanna, als sie das erste Mal mit ihren Beschwerden zu ihm kam.

Das unbeholfene Schmunzeln auf seinem Gesicht wich einem Fragezeichen, als er in ihre Augen sah.

„Nein. Definitives NEIN“, antwortete Hanna. „Ich bin seit fast einem Jahr solo!“, fügte Sie erklärend hinzu.

Zum einen war sie ob der Frage des Arztes etwas peinlich berührt, zum anderen war es ihr absolut unverständlich, wie Dr. Adams ihr eine solche fast schon groteske Frage stellen konnte, wo sie ihm doch die enorme Intensität ihrer Schmerzzustände so genau beschrieben hatte. Hanna hatte genau so wenig eine Erklärung für diese Schmerzen wie sämtliche Ärzte, die sie seit nun mehr als drei Monaten konsultierte. Auch die Ultraschalluntersuchung brachte, Hand in Hand mit einem danach angefertigten Röntgenbild, kein Licht ins Dunkel. Die Untersuchungen der letzten Wochen hatten keinen Befund ergeben. Sie war einfach nur gesund.

Aus Sicht der Schulmediziner ...

*

Bei Hannas Trauerfeier waren ihre Eltern mehr als erstaunt, wie viele Menschen sie gekannt haben musste ... und sie mochten ... und liebten.

Auch Dr. Adams kam zu Hannas Trauerfeier. Er hatte nichts für sie tun können.

Hanna war vor fünf Tagen, nach einer sehr unruhigen Nacht, aufgewacht und nur Minuten später an ihrem eigenen Blut erstickt.

Lea, eine von Hannas Mitbewohnerinnen, hatte sie am späten Vormittag gefunden, vor ihrem Bett liegend, in ihrer eigenen Blutlache.

Dr. Adams konnte sich ihren Tod nie verzeihen, er gab sich einen Teil der Schuld. Zu diesem Zeitpunkt konnte er jedoch noch nicht wissen, dass er Hanna mit all seinen schulmedizinischen Kenntnissen und all seiner Erfahrung sowieso nicht hätte helfen können.

Es war eine sehr intime Mischung aus Stolz und Trauer, die sich in Hannas Eltern ausbreitete. Stolz, weil ihre Tochter überaus beliebt war. Jeder mochte sie. Sie hatte einen so angenehmen Charakter, so viele Freunde, so viele positive Eigenschaften, dass ihre kleinen, liebenswerten Macken dagegen verblassten. Die Trauer über den plötzlichen Verlust ihres einzigen Kindes, war mit Worten nicht zu beschreiben.

Hanna Lippert. 26, ledig, zurzeit solo, hübsch, schlank, natürlich, intelligent, sehr empathisch ….die Reihe ließe sich endlos fortsetzen. Hanna war Studentin an der Uni Köln in den Studiengängen Politik und Theaterwissenschaften.

Hanna Lippert war kerngesund und hatte nie jemandem etwas Böses getan.

Kapitel 3 (Paul)

Samstag, 21.09.2013

Der Seminarleiter blickte sichtlich amüsiert (und auch etwas erleichtert) in die Runde seiner Probanden und ergötzte sich ein wenig an den ungläubigen Blicken, die sich seine Teilnehmer fast schon verstohlen zuwarfen.

Die Zahl der Skeptiker sank langsam, aber stetig. In wenigen Minuten würde er das Eis gebrochen haben.

Der Bruno-Saal in Köln-Klettenberg war in diesem Moment Manege für etwa achtzig Seminarteilnehmer. Davon schätzungsweise dreißig Unwissende, zwanzig Berufsskeptiker und vielleicht zehn Neugierige. Die anderen, ca. zwanzig ‚Klienten‘, hatten auf diesem Gebiet schon Erfahrungen gesammelt und nickten mehr oder weniger deutlich zustimmend und wissend.

Ein Seminar dieser Art und in dieser Größenordnung abzuhalten, war für das Pärchen auf der Bühne ein Novum.

Bisher hatten sie Teilnehmerzahlen um die 10-15 Personen gehabt. Ein vergleichsweise kleiner und damit intimer Kreis Gleichgesinnter, der entsprechend ‚leicht‘ zu behandeln ist.

Aber es funktionierte. Nach einiger Theorie, ohne die es kaum geht, gingen sie zur Praxis über. Überzeugend. Und mehr als das.

„Der Erfolg rechtfertigt die Mittel“, .....sagt man doch so schön. Diese Mittel, um die es hier in diesem Seminar ging, sollten allerdings nicht etwa negativ besetzt sein.

Ganz im Gegenteil.

Hildegard Moeltgens, 59, Apothekerin und bei ihrem zweiten Seminar dieser Art, konnte sich selbst nicht helfen. Damit hatte sie eine Gemeinsamkeit mit ihrem behandelnden Arzt, Dr. Paul Adams.

Kurz bevor sie die kleine Bühne im Bruno-Saal betreten hatte, flüsterte er ihr noch ein mit etwas Ironie behaftetes ‚Viel Glück‘ hinterher.

Die Probleme im Schulter-Nackenbereich und die damit einhergehenden Schmerzeinheiten ließen Hildegard Möltgens schon seit vielen Jahren nicht mehr in Ruhe. Nach zahllosen Therapieansätzen und Unmengen von Schmerzkillern pharmazeutischer Art, hatte sie beschlossen, neue Wege zu gehen.

Dr. Paul Adams, 63, Arzt für Allgemeinmedizin und seit über 30 Jahren mit Hildegard befreundet, hatte sich nur auf ausdrücklichsten Wunsch von Hilde zu diesem Seminar überreden lassen.

Medizinischer Hokuspokus und fauler Budenzauber waren ihm ein Gräuel.

Unabhängig von der Tatsache, dass auch er nicht in der Lage war, seiner guten alten Freundin Hilde zu helfen, musste er sich nach einiger Recherche aber doch eingestehen, dass es ganz offensichtlich neben der allgemein anerkannten Schulmedizin auch noch diverse andere Möglichkeiten gab, Heilung zu erfahren, bzw. zu erhalten.

Nicht, das Paul borniert, arrogant, überheblich oder gar eingebildet gewesen wäre. Nein. Das war er nicht.

Nur vielleicht ein klein wenig konservativ. Vielleicht auch etwas rückständig. Eben stehen geblieben. Aber, mal ganz ehrlich,....wem ist das noch nicht passiert...?

Dr. Paul Adams konnte und wollte es auch nicht glauben, als er miterleben musste, was dort gerade auf dieser kleinen Bühne geschah.

Seine Freundin war während der Behandlung durch den Seminarleiter eineinhalb Schritte zurückgewichen, in das für diesen speziellen Zweck bereit gestellte Sofa geplumpst, und stand direkt danach freudestrahlend wieder auf.

Seine Schulmediziner-Ehre war gerade eben auf dieser kleinen Bühne des Bruno-Saals in Köln-Klettenberg aufs Ärgste lädiert worden. Was für eine Schmach. Jahrelanges Studium der Medizin, jahrzehntelange Erfahrungen im Beruf.

Und dann das.

Abgesehen von Schmerzmitteln und freundschaftlichem Zuspruch hatte er seiner guten, alten Freundin Hilde nicht viel anzubieten. Er hatte nie wirklich helfen können.

In Pauls Unterbewusstsein tauchte immer wieder der Name Hanna auf.

Aber dieser Typ da auf dieser Scheißbühne konnte ja wohl nur ein Arschloch sein..., oder? Was um alles in der Welt bildete der sich denn ein? Hielt schlaue Reden, die niemand wirklich verstand, fuchtelte ungelenk mit seinen Händen rum und schickte die Leute wieder auf ihre Stühle zurück.

Die Tatsache, dass all diese Leute befreit lächelten, als sie die Bühne verließen, konnte Paul nicht richtig deuten.

Noch nicht.

„Vermutlich sind die alle gekauft ...?“, dachte er so bei sich.

Als Hilde sich wieder vom Sofa erhob, geschah etwas ganz und gar Sonderbares.

Sie zog ihre Schultern hoch und streckte ihren rechten Arm senkrecht nach oben aus.

Und sie verzog dabei keine Miene. Sie lächelte einfach.

Das hatte Paul schon sehr, sehr lange nicht mehr bei Hilde erlebt.

Seit vielen Jahren schon konnte Hilde ihren rechten Arm über das rechte Schultergelenk nicht mehr als 40 bis 45 Grad nach oben bewegen.

Sie nahm ihren Arm auch gar nicht erst wieder runter, sondern umarmte aus lauter Dankbarkeit spontan den Seminarleiter, der in diesem Moment, ebenso wie Hilde selbst, Tränen von Demut in den Augen hatte.

Aber auch das konnte Paul zu diesem Zeitpunkt noch nicht so recht deuten. Das Einzige, was Paul verstand, bzw. sicher wusste, war, dass Hilde ganz bestimmt nicht ‚gekauft‘ war.

Hildegard Moeltgens verließ die Bühne praktisch schmerzfrei.

*

Aufgrund der nicht eindeutig geklärten Todesursache schaltete sich die Staatsanwaltschaft Köln ein und ordnete, gegen den Willen von Hannas Eltern, eine Obduktion an.

Hannas Leichnam wurde ins rechtsmedizinische Institut am Melatengürtel überführt.

Zwar wurde eine Fremdeinwirkung von allen Beteiligten ausgeschlossen, da sich aber niemand den plötzlichen Tod dieser offensichtlich kerngesunden, jungen Frau erklären konnte, wollte man der Sache auf den Grund gehen.

Prof. Dr. Werner Kuhlmann, 59, seit mehr als 20 Jahren Rechtsmediziner an diesem Institut, sollte die Obduktion vornehmen.

Es war nicht das erste Mal, dass Professor Kuhlmann eine geplatzte Lungenarterie als Grund für den Tod eines Menschen diagnostizierte.

Es war allerdings das erste Mal, dass er dies bei einem so jungen Menschen tat. Die Stelle, an der die Gefäßverletzung aufgetreten war, ließ keine Vorschädigung erkennen. Die Arterie war einfach, und scheinbar ohne besonderen Grund, geplatzt.

Ob, und falls ja in welchem Ausmaß, ein Zusammenhang mit den über Monate andauernden, krampfartigen Schmerzzuständen bestand, konnte auch ein Prof. Dr.

Kuhlmann nur vermuten, jedoch nicht zweifelsfrei belegen.

So wurde die Akte Hanna Lippert ohne einen eindeutigen Befund geschlossen.

Kapitel 4 (Manuél)

Der Regen hatte zum Glück wieder aufgehört. Er machte ihm zwar nichts aus, aber auch ein kleines Kanu aus Mahagoni lief eben irgendwann voll Wasser, und dann machte das Paddeln keinen Spaß mehr.

Der Fluss bewegte sich ganz gemächlich in Richtung Atlantik, während Manuél ebenso gemächlich flussaufwärts fuhr. Die Strömung war an dieser Stelle des Rio Purus so gering, dass er gut vorankam.

Er kannte sozusagen jeden Kanaldeckel und jedes Schlagloch auf diesem Fluss. Er war auf ihm vor ungefähr 58 Jahren geboren worden.

Der Rio Purus ist ein vergleichsweise großer Nebenfluss des Rio Amazonas und führt auf einer Strecke von mehr als 900 Kilometern durch brasilianischen Regenwald. Er mündet in den Rio Solimoes und von da aus, etwa 100 Kilometer weiter, in den Rio Negro, der sich wiederum, nur wenige Kilometer entfernt, mit dem Rio Amazonas vereinigt.

Nichts als Dschungel.

Das Volk der Vuleta-Indianer wurde erst vor 46 Jahren entdeckt. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste die Welt nichts von diesem Indianerstamm, und die Vuleta wussten nichts von der übrigen Welt.

Es gab immer mal wieder große Aufregung im Dorf, wenn ein Stammesmitglied Flugzeuge am Himmel erblickte. Mit den Jahren gewöhnten sie sich daran und deuteten sie als gute Zeichen derjenigen Götter, die ihnen wohl gesonnen waren.

Schließlich sah man die Jets auch immer nur bei klarem Himmel.

Die Vuleta-Indianer bevölkerten ein Gebiet von der ungefähren Fläche Hamburgs. Die Flusslandschaft lag etwa 200 Kilometer von der bolivianischen Grenze und etwa 110 Kilometer vom nächsten größeren Ort, Lábrea, entfernt.

Lábrea war verbunden mit einem Ausläufer der Transamazonika, und seit etwa 15 Jahren gab es in der Nähe von Lábrea sogar einen kleinen Flughafen.

Na ja, eher ein Stück gerodeter Urwald, auf dem man mit Kleinflugzeugen starten und landen konnte. Eine Dschungelpiste eben, wie man sie aus diversen Abenteuerspielfilmen kannte.

Zur Zwei-Millionen-Metropole Manaus, mitten in Zentralbrasilien im Bundesstaat Amazonien eingebettet, waren es immerhin schon über 500 Kilometer Luftlinie.

Da muss man lange dran paddeln.

Manuél Monteiro führte zwei Leben.

Sein erstes Leben war das des einzigen Schamanen der Vuleta-Indianer im brasilianischen Regenwald.

Sein zweites Leben war das eines Heilers in der modernen Zivilisation.

Ein Pendler zwischen den Welten.

Manuél Armando Monteiro kannte sein genaues Geburtsdatum nicht. Und es war ihm auch gleichgültig. Es bedeutete ihm nichts.

Er wusste sein ungefähres Alter, das genügte ihm. Seine Mutter, Arenja, gebar ihn während einer Flussfahrt auf dem Weg zurück in ihr Dorf mitten auf dem Fluss Rio Purus.

Es regnete. Und es dämmerte schon. Die Sicht war nicht mehr besonders gut. Aber sie kannten sich auf dem Fluss gut aus. Außer seinem Vater, Diego, befanden sich noch seine zwei Brüder auf dem kleinen Kanu und sorgten für den Vortrieb des Bootes. Ein Kind zu gebären, war unter den indigenen Völkern Brasiliens etwas ganz besonderes.

Es ging alles sehr schnell.

Als plötzlich die Wehen einsetzten, hielt Diego seine Frau fest in seinen Armen und streichelte ihr liebevoll über ihre Arme und ihr Gesicht.

Arenja schrie kurz auf vor Schmerz. Der älteste Sohn saß vorne im Boot und paddelte unaufhörlich weiter, er drehte sich nicht um. Er wusste, was gerade geschah und er wusste, dass er sich keine Sorgen machen musste.

Manuél plumpste aus dem Leib seiner Mutter auf den Boden des kleinen Bootes und schrie. Arenja nahm ihr Neugeborenes sofort auf und drückte dieses kleine, glitschige Bündel behutsam an sich.

Vollkommen unvorbereitet gab es einen Schlag von unten gegen das Boot. Sie hatten einen im Wasser treibenden Baumstamm gerammt, und das kleine, leichte Boot machte augenblicklich eine 45-Grad-Drehung nach links um die Längsachse.

Mutter und Kind fielen ins Wasser.

In dieser schlammbraunen Brühe konnte man nichts sehen, aber Diego reagierte sofort. Er sprang Arenja und Manuél hinterher und bekam Arenjas Arm sogleich zu fassen. Die beiden Söhne versuchten unterdessen das Boot auf einer Stelle zu halten. Gar nicht so leicht, im offenen, fließenden Gewässer in ein Kanu zu klettern, erst recht nicht, wenn man gerade eine Geburt hinter sich hat. Mit vereinten Kräften schafften sie es. Da Manuél noch durch die Nabelschnur mit seine Mutter ‚verbunden‘ war, ging er nicht verloren und hatte auch nicht das Problem einer Sauerstoffunterversorgung. Anderenfalls wäre den Welten ein sehr wertvoller Mensch abhandengekommen.

Die Umstände während seiner Geburt schufen für Manuél eine besondere Stellung im Dorf. Alle freuten sich, dass er es geschafft hatte in diese Welt zu kommen und bei ihnen zu sein. Er wuchs heran und wurde von allen als der Junge bewundert, der zweimal geboren worden war.

*

Manuél zeigte früh großes Interesse an den Handlungen des Stammesschamanen. Und dieser beobachtete ihn genau, von Anfang an. Er ließ Manuél ab und zu dabei sein, wenn er bestimmte Rituale vorbereitete, die dem Wohl ihres Stammes dienten.

Der Schamane erkannte früh und als erster, dass Manuél eine besondere Gabe besaß. Er nahm ihn immer öfter mit in den Dschungel, erklärte Manuél Zusammenhänge in ihrer Natur und brachte ihm vieles über Pflanzen und Kräuter bei.

Als Manuél etwa zwölf Jahre alt war, erkrankte eine der Schwestern des Stammesältesten an einem Fieber. Das war nichts Ungewöhnliches, es kam immer wieder mal vor, dass jemand an einer bestimmten Fieberkrankheit litt, obwohl die Vuleta natürlich weniger empfänglich dafür waren als ein Tourist, der durch den Regenwald irrt.

Der Schamane der Vuleta-Indianer war schon sehr alt, aber auch sehr erfahren. Fast immer konnte er den Erkrankten helfen. Dieses Mal jedoch sah es nicht gut aus. Die Schwester ihres Häuptlings lag nun schon seit vier Tagen im Fieberkoma und wurde immer schwächer. Das Fieber wollte einfach nicht zurückgehen, egal welche Kräuter und Essenzen der Schamane ihr auch einflößte, egal welche Rituale und göttlichen Fürbitten er auch vollzog.

Manchmal war es einfach so.

Der Schamane hatte alles in seiner Macht Stehende getan. Er zog sich zu einer Art Meditation zurück.

Da Manuél mittlerweile die Stellung des ‚Gehilfen‘ hatte, gestattete man ihm in der darauffolgenden Nacht, die Häuptlingsschwester zu besuchen und zu beobachten, solange sich der Schamane selbst zur Ausübung seines meditativen Rituals zurückzog.

Manuél saß über Stunden an ihrem Krankenlager, welches wohl auch ihre letzte Ruhestätte in dieser Welt sein sollte.

Man hatte keine Hoffnung mehr.

Am nächsten Morgen verließ Manuél früh die Hütte der Häuptlingsschwester, um den Schamanen aufzusuchen.

Er berichtete seinem Meister, er habe die ganze Nacht über versucht, die Lebensenergie der Häuptlingsschwester in die richtigen Bahnen zu lenken.

Der Schamane sah Manuél eindringlich an.

„Wie hast du das gemacht?“, wollte er wissen.

„Ich habe meine Hände über ihren Körper gehalten und konnte manchmal eine Energie spüren. Wie einen Strom. Es fühlte sich an, als wäre dieser Strom an einigen Stellen unterbrochen. Ich glaube, jetzt fließt die Energie wieder bei ihr. Sie hat kein Fieber mehr.“

Die Schwester des Häuptlings erholte sich schnell und wurde wieder gesund.

Niemand sagte es, aber jedem im Dorf war klar, wer ihr nächster Schamane sein würde, wenn die Zeit gekommen war.

Der Schamane war ohne Neid, sondern voller Stolz. Er wusste, dass er Manuél jetzt schon alles beigebracht hatte, was der Junge brauchte um einmal seine Nachfolge anzutreten. Und außerdem besaß Manuél diese Gabe...

Einige Tage später brach der Schamane auf, um im Regenwald nach bestimmten Kräutern und Pflanzen zu suchen. Er würde längere Zeit unterwegs sein.

Manuél sollte ihn begleiten. In Wirklichkeit nahm der Schamane Manuél mit in das größte Dorf der Umgebung.

Lábrea.

Kapitel 5 (Das Seminar)

Das Pärchen auf der Bühne leitete nun so langsam aber sicher das Ende ihres Seminars ein.

Seit mehr als vier Stunden schon standen die beiden dort oben und erklärten ihrem Publikum die Vorgänge, die nach ihrer Methode eine Selbstheilung auslösen konnten, um im Anschluss das eben Gehörte, praktisch zu erfahren und in die Tat umzusetzen.

Sie hatten fast alle überzeugen können, dass ihre Methode tatsächlich auch funktionierte. Vollkommen nebenwirkungsfrei, ohne jegliche Medikation.

Dennoch hatte wohl nur ein kleiner Bruchteil aller Teilnehmer nach diesem Seminar eine konkrete Vorstellung davon, was dieser ganze ‚Zauber‘ wirklich bewirkte und wie er funktionierte. Paul gehörte jedenfalls nicht dazu.

Ca. fünfzehn der achtzig Seminarteilnehmer ließen sich abwechselnd von Verena oder Marc auf der kleinen Bühne des Bruno-Saals ‚behandeln‘.

Vor aller Augen. Sie verließen die Bühne danach, wie Pauls langjährige Freundin Hilde, geheilt.

Nachdem das Seminar beendet war, hatten die meisten nach und nach den Saal verlassen. Etwa zehn oder elf der Teilnehmer jedoch bewegten sich noch einmal zur Bühne, teils um sich bei Verena und Marc zu bedanken, teils weil sie noch Fragen hatten, auf die sie unbedingt noch Antworten brauchten. Das war eigentlich nach jedem Seminar der Fall.

Paul saß noch so lange auf seinem Stuhl, bis der letzte Fragende die Bühne endlich räumte. Dann stand er auf.

Er betrat zielstrebig die Bühne, auf der die beiden Dozenten ihre Utensilien zusammen räumten. Seine erste Intention war eigentlich, Licht ins Dunkel zu bringen, zu entlarven, die beiden zur Rede zu stellen, diese Scharlatanerie aufzudecken.

Jeder der Seminarteilnehmer hatte vorab 195,- € Kursgebühr entrichtet. Auch Paul.

Betrügerpack! Paul war neidisch. Und aufgebracht.

Verena und Marc wendeten sich dem sichtbar échauffierten Paul zu, dessen Gesichtsfarbe zartrosa schon überschritten hatte, und lächelten ihn, vom Seminar etwas erschöpft, trotzdem freundlich und warmherzig an.

Das genügte bereits, um Pauls Blutdruck wieder in normale Regionen zu lenken.

Als Paul dann direkt vor den beiden stand, gab es schon wieder zartrosa.

Eigentlich war Paul Adams kein Mensch, der ein Blatt vor den Mund nahm. Vor allem hatte er als seit über 30 Jahren praktizierender Arzt längst gelernt, dass es nur sehr selten Sinn machte, den Menschen nicht sofort die Wahrheit zu sagen.

In diesem besonderen Moment jedoch, und Paul hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, warum dieser Moment ein ganz besonderer für ihn werden würde, scheute er sich, sofort -auf die Pauke- zu hauen. Insgeheim wunderte er sich über sich selbst, wusste aber nicht warum.

Hilde, die ihm gefolgt war und jetzt kurz hinter ihm stand, kannte Paul zwar gut, war sich aber nicht so ganz im Klaren darüber, weshalb Paul gewartet hatte, bis alle gegangen waren, um schnurstracks auf die Bühne des Bruno-Saals zuzusteuern.

In Pauls Gesicht zeichnete sich eine undefinierbare Mischung aus Skepsis, Zorn, Unglaube, Neid und Angriffslust ab.

Aber Hildegard war ganz und gar aus dem Häuschen – und begeistert. Sie hatte in diesem Moment keinen klaren Blick für Pauls Gesichtsausdruck und wirkte auf einmal wie um mindestens zehn Jahre verjüngt.

Als Paul die wenigen Stufen zur Bühne betrat, konnte sie ihn von der Seite her ansehen und bemerkte die Erregung in seinem Gesicht. Jetzt hatte Hilde eine Vermutung. Sollte sie versuchen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen oder ihn gewähren lassen? Hildegard Moeltgens entschied sich in Sekundenbruchteilen für Letzteres.

So sehr sie auch Paul als Freund und Arzt schätzte und mochte, sollte er doch ruhig auch noch mal etwas dazulernen – der alte Stoffel.

Dr. Paul Adams konnte man kein O für ein U verkaufen. Er gehörte hundertprozentig in die Gruppe der Berufsskeptiker, er wusste das von sich und er war stolz darauf.

Wer Paul überzeugen wollte, brauchte verdammt gute und stichhaltige Argumente! Einwandfrei belegbare Argumente.

Und am besten auch noch welche zum Anfassen. Paul war wissenschaftsgläubig bis in die wenigen, grauen Haarspitzen, die er noch hatte.

Paul Adams würde sehr bald etwas Neues dazulernen.

*

Verena Fischer, 47, mochte Kinder schon, als sie selbst noch eins war. Sie beendete ihre Schullaufbahn mit eher mäßigem Erfolg, aber das war ihr völlig egal. Hauptsache fertig, Hauptsache raus da. Verena, -Vreni-, war als Jugendliche und bis weit in ihre Zwanziger ein kleiner Rebell. Blond, hübsch, sportlich und ziemlich aufmüpfig. Kaum jemand, der sich freiwillig mit ihr anlegte. Lieber einmal mehr mit dem Kopf durch die Wand, als einmal zu wenig. Sie schaffte es nur bis zur Marke von exakt 1,60 Metern zu wachsen, hatte aber das Selbstvertrauen von 1,95 Metern und Energie wie ein Duracell-Häschen.

Ihre Freunde schätzten sie aber nicht nur für ihren Mut in allen Lebenslagen und ihr burschikoses Auftreten, sondern noch viel mehr, weil sie auch ein sehr sensibler Mensch sein konnte, der für alles einen klaren Blick hatte und immer mit Rat und Tat zur Seite stand.

Die Liebe zu Kindern brachte sie mehr oder weniger automatisch zu einer Ausbildung als Kinderkrankenschwester. Nach ihrer Ausbildung, immer noch kleiner Rebell, lernte sie ihren ersten Mann kennen und bekam in den Jahren danach zwei Kinder von ihm. Tochter und Sohn.

Nach der Geburt des Sohnes fing es in ihrer Ehe an zu kriseln. Als der Kleine drei Jahre alt war, trennte sich Vreni von ihrem Mann und zog die Kinder alleine groß.

Damit war der weitere Weg des kleinen Rebells vorgezeichnet.

*

Marc Frommes, 51, kam ursprünglich aus einer ganz anderen Branche. Er war nie der Rebell. Nach einer irgendwie ‚normalen‘ Jugend- und Schulzeit, begann er zunächst eine Ausbildung zum Speditionskaufmann. Aus Verlegenheit. Wie soll man auch mit 18 Jahren wissen was man will? Es sind wohl die wenigsten, die das auf die Reihe bekommen und er gehörte nun mal nicht dazu.

Marc fühlte sich in diesem Laden nur als billige Arbeitskraft ausgenutzt. Die Spedition machte ihre Umsätze mit Pkw-Verschiffung und Möbeltransporten, sowie Umzügen in alle Welt. Da Marc ein kräftiges Kerlchen war, saß er in den ersten vier Wochen nur auf dem Lkw und schleppte Möbel von Diplomaten durch die Gegend.

In der fünften Woche durfte er das erste Mal ein Telex [1] vom Gerät abreißen und es sogar abheften.

Mit der hübschen Tochter des Chefs flirten, durfte er natürlich nicht. Er bekam einen Rieseneinlauf und war von da an beim Chef schon unten durch.

Nach nur sechs Wochen brach er die Ausbildung ab.

Durch einen Freund geriet er als Aushilfe an eine Kölner Druckerei und arbeitete dort zunächst als Fachhilfskraft (das nannte man damals so), da er im laufenden Jahr keine andere Ausbildungsstelle mehr antreten konnte. Der Job war ok, die Bezahlung mehr als gut.

Man bot ihm eine Ausbildung zum Drucker an und so machte Marc ‚Karriere‘ im graphischen Gewerbe. Als der gesamte Konzern, -Verlag und Druckerei-, in Insolvenz ging, hatte Marc schon fast 30 Lebensjahre investiert. Die letzten zehn dieser 30 Jahre hätte er sich schenken können. Dies erkannte er aber erst viel zu spät. Dass dieser Beruf nicht seiner ‚Berufung‘ entsprach, zeichnete sich für Marc erst ab, als er nach einem erfolglosen Versuch in die Selbständigkeit vor der Pleite stand. Marc nahm sich eine „Auszeit“ und ging für ein halbes Jahr nach Australien.

Umdenken war angesagt.

Neue Wege gehen.

*

Verena hatte schon immer eine spirituelle Ader. Schon als Kind. Als das Leben ihr diktierte, ihre Kinder allein aufziehen zu müssen, begann sie zu malen und beschäftigte sich immer öfter mit ihren ‚anderen‘ Fähigkeiten. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Heilpraktikerin und versuchte sich in heilpraktischer, psychotherapeutischer Beratung.

Mit der Zeit erarbeitete sie sich so einen kleinen Stamm von Klienten, der sich langsam aber stetig erweiterte. Ihre Beratungen wurden sehr geschätzt und dies gab ihr den Anstoß, ihr spirituelles Wissen ständig zu vergrößern.

Ihr übriges Leben ließ ihr jedoch nicht die nötige Zeit, sich völlig darauf einzulassen.

Freundinnen, die sich in ähnlichen Sphären bewegten, gaben mittlerweile Seminare zu allen denkbaren spirituellen Themen und ließen sich sehr gerne von Vreni beraten.

Teilweise gaben sie diese Seminare zusammen mit Vreni, profitierten von ihrem Wissen, um sie dann, peu á peu, wieder loszuwerden. Wer teilt schon gerne seine Einnahmen? So sehr Rebell sie damals auch war, Verena hatte heute das Problem, selbst und allein nicht vor einer Gruppe reden zu können. Sie konnte ihre Ängste dahingehend kaum benennen, sie sich selbst nicht ausreichend erklären. So überließ Vreni das Feld der Seminare anderen.

Verena und Marc lernten sich im Sommer 2011 kennen. Im Juli. Internet sei Dank! Ihr erstes Live-und-in-Farbe-Date fand in Köln-Müngersdorf am Adenauer-Weiher statt.

Obwohl beide nachvollziehbarerweise etwas verunsichert waren, kam man sich doch recht schnell näher.

Soll heißen: Marc dachte nach der Runde um den idyllisch gelegenen kleinen See inmitten einer genauso idyllischen Parklandschaft: „Scheiße, die Süße sagt gleich nett -Tschüss-, und kommt nie wieder“. Weit gefehlt.

Man einigte sich, zu Marcs Überraschung, auf ein bis zwei Kaltgetränke im Herbrand's, einem Biergarten in Ehrenfeld.

Marc war, seit er denken kann, und das war nach seiner eigenen Einschätzung noch nicht so lange, jemand, der für alles offen war. Das heißt, dass er zunächst eine offene Haltung allen Dingen und auch Menschen gegenüber einnahm, wenn er sie nicht kannte. Dann traf er eine Entscheidung.

Yes or No.

Auch Marc ließ sich kein O für ein U verkaufen.

Ein Skeptiker. Realist.

Aber eben nicht nur einfach wissenschaftsgläubig.

Er wusste, oder besser gesagt, er spürte bereits seit langem, dass es zwischen Himmel und Erde noch etwas geben musste, das sich den Menschen offenbar nicht so einfach erschließt.

Und er war bereit, seinen Horizont zu erweitern und sich dafür zu öffnen.

Diese Herangehensweise öffnete ihm bei Verena Tür und Tor.

Verena und Marc, beide in Köln geboren, beschlossen also, neue Wege zu gehen.

Gemeinsam.

*

„Hallo“, begrüßte Marc ganz locker und freundlich den scheinbar etwas verunsicherten älteren Herrn, der nun vor ihnen stand und von dem Marc, ebenso wie Verena, schon wusste, dass er nicht dort stand um ihnen Komplimente zu machen.

„Was können wir für Sie tun, haben Sie noch Fragen?“, sagte Verena, die Hildegard, hinter Paul stehend, dabei beobachtete, wie sie sich ein schon fast schadenfrohes Grinsen verkniff.

„Hallo.“, antwortete Paul (etwas weniger locker als Marc vor ihm). Paul wusste auf einmal nicht so richtig wie er anfangen sollte. Irgendetwas versuchte ihm mitzuteilen, dass er hier gerade im Begriff war, einen Fehler zu machen.

„Mein Name ist DR. Adams. Ich bin Arzt.“, stellte er sich etwas umständlich vor.

„Ich möchte Sie nicht lange aufhalten, deswegen komme ich gleich zur Sache.

Es ist mir ein Bedürfnis, Sie beide zur Rede zu stellen.“

Paul hatte sich wieder etwas gefangen und gewann an Selbstvertrauen, je mehr er redete.

„Der einzige Grund, warum ich heute Abend hier war, ist, dass ich meiner Freundin hier“, er zog dabei Hilde am Ärmel etwas näher zu sich, so, als benötige er ihren Beistand, „einen Gefallen tun wollte. Dafür habe ich Ihnen überflüssigerweise sage und schreibe 195,- Euro in den Rachen geworfen.“

„Also Paul... jetzt mach aber mal einen Punkt!“

„Ich mache einen Punkt wenn ich fertig bin!“

„Dann hat ihre Freundin also gar keinen Gefallen von ihnen verlangt, sondern Sie gezwungen? Sehe ich das richtig?“, Marc forderte Paul heraus.

Paul fühlte sich im selben Moment provoziert. Von zartrosa nach hellrot.

„Möchten Sie ihr Geld zurück?“, fragte Verena Paul und lächelte dabei nicht, um ihn nicht noch mehr zu provozieren, außerdem meinte sie es ernst.

„Darum geht es nicht.“, erwiderte Paul etwas zu barsch.

„Ich möchte Ihnen einfach nur sagen, dass ich ihre Show hier, für an den Haaren herbei gezogenen Humbug halte. Sie erzählen diesen Menschen einen Haufen nicht nachvollziehbaren Mist den niemand versteht und ziehen dafür diesen armen Leuten auch noch eine Menge Geld aus der Tasche. Meiner Meinung nach spielen Sie einfach nur mit der Leichtgläubigkeit von Menschen die krank sind und die Hilfe suchen. Und daran bereichern Sie sich auch noch. Und das nicht zu knapp. Ich halte Sie für in höchstem Maße unseriös!“

Paul tendierte im Zustand von Erregung dazu, verbal etwas unsachlich zu argumentieren. --- Mittelrot.

Es folgte eine Pause von mehreren Sekunden. Sekunden, die unerträglich lang schienen, vor allem für Paul. Niemand sagte etwas, die Stimmung war angespannt.

In ihrem Bemühen, Marc zuvorzukommen, schlug Verena einen ehrlich-freundlichen Ton an.

„Wie können Sie denn so etwas behaupten? Wenn ich mich recht entsinne, war Ihre Freundin hier eine der Letzten, die wir hier auf der Bühne ihrer Schmerzen entledigen konnten.

Stimmt das etwa nicht? Sie waren doch selbst dabei.“

Verena blickte Hildegard in die Augen.

„Ja, das ist richtig.“ Hilde hob ihr Kinn leicht an als sie dies sagte.

„Hilde, bitte ...“, Paul war etwas entrüstet.

„Aber es stimmt doch, Paul ...jetzt komm schon...“

„Was, jetzt komm schon? Ich weiß nicht, WAS die beiden mit dir gemacht haben, aber niemand kann mir erzählen, dass du deine jahrelangen Beschwerden in solch einem unseriösen Seminar von einer Sekunde zur nächsten loswirst. Dafür bin ich einfach zu lange Arzt!“

Marc reagierte praktisch sofort:

„Dann kann ich gar nicht anders, als Ihnen an dieser Stelle zu sagen, dass Sie entweder kein guter Arzt sind, weil Sie Ihr Handwerk nicht verstehen, oder Sie sind mit absoluter Sicherheit die Sorte Arzt, die wir auf praktisch jedem unserer Seminare vorfinden. Unwissend und konservativ, verstockt.“

Dunkelrot.

Paul kochte.

Genau das hatte Verena kommen sehen.

Auch Marc tendierte ab und zu dahin, unsachlich zu werden, wenn er sich angegriffen fühlte.

Daran musste er wohl noch arbeiten.

„Hören Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Und ich bitte Sie hiermit, uns die Chance zu geben, Sie zu überzeugen.

Wenn wir das nicht schaffen sollten, erhalten Sie alle beide Ihr Geld zurück.“ Verena versuchte zu vermitteln.

„Ich bin bereits überzeugt und ich will mein Geld überhaupt nicht zurück.“, warf Hilde mit fester Stimme ein.

„Fällst du mir jetzt etwa auch noch in den Rücken?“ Pauls Augen weiteten sich ungesund.

„So! DU hältst jetzt mal die Luft an!!“

Hildegard Moeltgens konnte eine ausgesprochen resolute Frau sein, wenn sie wollte.

Eine Eigenschaft, die Paul an ihr schätzen gelernt hatte.

Außerdem war Hilde ja auch Apothekerin und hatte studiert.

Wie er. Er hielt die Luft an.

Es war Hildegard peinlich wie Paul sich gerade verhielt. Sie schämte sich für ihn.

„Ich finde diesen Vorschlag sehr vernünftig. Und fair. Wir machen jetzt hier deine Tennisarm-Nummer. Seit Jahren hast du Probleme damit und weder du, noch dein orthopädischer Freund Olaf konnten das in den Griff bekommen. Stimmt das etwa nicht?“

Paul sah Hilde zwischen böse und ertappt an.

Seit unzähligen Jahren spielte Paul sonntags mit seinem alten Studienfreund Olaf Tennis. Im Sommer auf einem Tennisclubgelände in Köln-Pesch, im Winterhalbjahr in der Halle des Sportcenter Kautz auf der Rhöndorfer Straße in Köln-Sülz.

Olaf war Orthopäde, Paul Allgemeinmediziner.

Sie lagen tennistechnisch auf ungefähr einem Niveau. Seit ein paar Jahren allerdings, und Paul argumentierte darüber hinaus, dass er ja schließlich drei Jahre älter sei, hatte Paul immer öfter Probleme mit seinem rechten Ellbogengelenk.

Und auch die Schulter muckte immer mal wieder auf.

Scheiße wenn man alt wird.

Abstellen konnten weder er selbst, noch sein Freund und Orthopäde Olaf die Beschwerden. Genau so wenig, wie er selbst es bei Hilde vermochte.

Eine Operation kam für ihn nicht infrage. Dafür war es seiner Meinung nach noch nicht schlimm genug, der Leidensdruck noch nicht groß genug. Schmerzmittel brachten nur