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Grace hat sich mit Haut und Haaren in Jonathan verliebt. Obwohl sie genau weiß, wie gefährlich ihre Gefühle für ihn sind. Doch mit jedem Tag, den sie in seiner Nähe verbringt, wächst ihre Liebe zu diesem Mann. Jeder Moment der Nähe entfacht in ihr erneut das Feuer der Leidenschaft. Und ist er wirklich so unnahbar wie er sich gibt? Sieht er in ihr tatsächlich nur ein williges Spielzeug? Grace will ihn zwingen, endlich Farbe zu bekennen - nicht ahnend, dass sie damit eine Katastrophe heraufbeschwört ...
Sinnlich, emotional und voller Leidenschaft: Die COLOURS OF LOVE Reihe von Kathryn Taylor macht süchtig!
Die Romane der Reihe:
Colours of Love - Entfesselt
Colours of Love - Entblößt
Colours of Love - Erlöst (Kurzgeschichte)
Colours of Love - Verloren
Colours of Love - Verführt
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Seitenzahl: 412
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Über dieses Buch
Über die Autorin
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Impressum
Widmung
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Colours of Love – Entfesselt
Colours of Love – Verloren
Colours of Love – Verführt
Colours of Love – Erlöst
Dunmor Castle – Das Licht im Dunkeln
Dunmor Castle – Der Halt im Sturm
Wo mein Herz dich findet
Wildblumensommer
Mission Mistelzweig
Daringham Hall – Das Erbe
Daringham Hall – Die Entscheidung
Daringham Hall – Die Rückkehr
Grace ist Jonathan verfallen, mit Haut und Haar. Sie weiß, wie gefährlich ihre Gefühle für ihn sind – doch jeder Tag in seiner Nähe lässt ihre Liebe weiter wachsen. Ist er wirklich so unnahbar, wie er scheint? Sieht er in ihr tatsächlich nur das willige Spielzeug? Als Grace ihn zwingen will, Farbe zu bekennen, kommt es zur Katastrophe …
Kathryn Taylor begann schon als Kind zu schreiben – ihre erste Geschichte veröffentlichte sie mit elf. Von da an wusste sie, dass sie irgendwann als Schriftstellerin ihr Geld verdienen wollte. Nach einigen beruflichen Umwegen und einem privaten Happy End erfüllte sich mit dem Überraschungserfolg von Colours of Love – Entfesselt ihr Traum. Spätestens mit ihrer Trilogie Daringham Hall über große Gefühle auf einem englischen Landgut etablierte sie sich endgültig in der Riege sicherer Bestsellerautorinnen.
KATHRYN TAYLOR
COLOURSOFLOVE
ENTBLÖSST
Digitale Neuausgabe
beHEARTBEAT in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2013 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Covergestaltung: Sandra Taufer unter Verwendung von Motiven von © Phatthanit / shutterstock; Kawin K / shutterstock; tomertu / shutterstock; Vasilius / shutterstock
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-0295-9
be-heartbeat.de
lesejury.de
Für B.,ohne die es diese Geschichte niemals gegeben hätte
Der Regen läuft kalt über mein Gesicht, aber ich spüre ihn kaum. Alles in mir ist auf den Mann konzentriert, der dicht vor mir steht.
Jonathan.
Er ist mir durch den Regen hinterhergelaufen, so wie er war, ohne Hemd und barfuß, und ist genauso nass wie ich. Seine schwarzen Haare schimmern im Licht der Laterne, unter der wir stehen, und weil sein Oberkörper nackt ist, kann ich sehen, wie sein Brustkorb sich hebt und senkt, während die Tropfen unablässig über seine Haut rinnen. Ich möchte die Hand darauf legen und ihn berühren, aber ich wage es nicht.
»Ich will nicht, dass du gehst, Grace.« Seine tiefe Stimme klingt angespannt, und da ist etwas in seinen blauen Augen, das ich darin noch nie gesehen habe. Ein Funkeln, das mir fast Angst macht in seiner Intensität. »Bleib.«
Tränen steigen mir in die Augen, weil es genau die Worte sind, die ich hören wollte. Und trotzdem habe ich Angst nachzugeben.
»Es geht nicht, Jonathan.« Mit einem traurigen Kopfschütteln blicke ich zurück auf die weiße Villa mit dem schmiedeeisernen Zaun, vor der wir stehen. Der Club. Sehr exklusiv und eigentlich sehr aufregend. Wieder sehe ich vor mir, was gerade dort passiert ist. Wir hatten Sex – unglaublich heißen Sex, den ich niemals vergessen werde. Aber ich bin auch ganz klar an meine Grenzen gestoßen. Denn wir waren dort nicht allein, ich sollte ihn teilen, und das ging nicht. Die Art von unverbindlicher Affäre, die Jonathan erwartet, will ich nicht führen. Ich kann einfach nicht so tun, als hätte ich keinerlei Gefühle für ihn. »Du hattest die ganze Zeit recht. Ich kann nicht nach deinen Regeln spielen.«
Ein Zittern läuft durch meinen Körper, während wir uns weiter ansehen. Ich will ihn nicht verlassen, allein der Gedanke zerreißt mich. Aber welche Zukunftsperspektive habe ich mit einem Mann wie ihm, wenn mein Herz vor Liebe für ihn überquillt – und er vor jeder Art von echter Nähe zurückschreckt? Wenn ich für ihn austauschbar bin, einfach zu ersetzen? So weh es mir auch tut, dann muss ich gehen. Zurück nach Amerika. Dann muss ich Jonathan verlassen und versuchen, ihn zu vergessen.
Einen langen Moment steht er da, die Hände zu Fäusten geballt, und ich kann sehen, wie seine Kinnmuskeln arbeiten.
»Dann ändern wir die Regeln eben«, sagt er und geht einen Schritt auf mich zu, kommt noch näher. »Dann spielen wir nach deinen.«
»Was?« Fassungslos starre ich ihn an. Ich muss mich verhört haben. Das hat er nicht gesagt. »Aber …« Meine Stimme ist so dünn und zittrig, dass ich mich erst räuspern muss, bevor ich weiterreden kann. »Aber ich will, dass wir eine Beziehung führen, Jonathan. Eine richtige. Nur du und ich. Und du hast gesagt, dass du dazu nicht bereit bist.«
Er stößt die Luft aus. »Aber ich bin erst recht nicht dazu bereit, dich gehen zu lassen.« Er umfasst meine Oberarme und für einen Moment glaube ich, dass er mich vielleicht schütteln wird. Doch seine Hände liegen nur wie Eisenklammern darum, halten mich fest. »Du musst bleiben, Grace. Bitte.«
Mein Herz schlägt schneller. Ich kann mich nicht erinnern, wann Jonathan mich je um etwas gebeten hätte – jedenfalls nicht so. Er kann unglaublich arrogant sein, weil er es gewohnt ist, dass seine Anweisungen ausgeführt werden. Aber jetzt bittet er mich tatsächlich um etwas, ist bereit, Zugeständnisse zu machen – und die Erleichterung, dass ich ihn dann vielleicht doch nicht verlassen muss, ist so groß, dass meine Tränen sich auf meinen Wangen mit dem Regen vermischen, während ich ihn weiter ansehe, in seinen unglaublich blauen Augen versinke.
»Mr. Huntington?«
»Jonathan!«
Er lässt meine Schultern wieder los und wir fahren herum, als wir die Stimmen hören, die fast gleichzeitig von beiden Seiten ertönen. Die hinter mir, die zuerst gerufen hat, gehört Steven, Jonathans Chauffeur. Der große blonde Mann ist aus der langen Limousine ausgestiegen, die am Straßenrand parkt, und sieht uns fragend an. Offenbar ist es ihm nicht geheuer, dass sein Chef nur halb bekleidet und mit nackten Füßen im Regen auf dem Gehsteig mitten im noblen Primrose Hill steht und mich anstarrt. Doch er schweigt, will offenbar nicht aufdringlich sein, weil von der anderen Seite noch jemand kommt.
Yuuto Nagako, Jonathans japanischer Geschäftsfreund, ist uns aus dem Club nach draußen gefolgt und nähert sich mit schnellen Schritten. Er ist im Gegensatz zu Jonathan angezogen – das war er vorhin auch noch, weil er erst nach uns gekommen ist. Sein Gesicht ist wie eine ernste Maske, seltsam unbewegt, aber das heißt nichts, so sieht er immer aus.
»Wieso steht ihr hier im Regen«, sagt er in diesem kühlen perfekt gelernten Englisch, das ich so genauso gruselig finde wie den Mann selbst. »Kommt wieder rein.«
Es klingt eigentlich nett, so als würde er sich Sorgen machen, dass wir uns verkühlen könnten, obwohl das jetzt, Anfang Juni, nicht wirklich zu befürchten steht. Aber ich weiß es besser, denn ich kann dieses Glitzern in seinen Augen sehen, das mir schon von Anfang an unheimlich war.
Er ist fast genauso groß wie Jonathan, aber älter – wie alt genau, kann ich schwer schätzen – und er war ganz klar einer der Hauptgründe, warum ich es im Club nicht mehr ausgehalten habe.
Ich wünschte, er wäre uns nicht gefolgt, denn ich will mit Jonathan allein sein. Und Jonathan scheint es ähnlich zu gehen, denn der Ausdruck auf seinem Gesicht ist feindselig, als er den Japaner jetzt anblickt.
»Wir gehen nicht mehr zurück«, erkläre ich mit fester Stimme und möchte am liebsten sofort zu Steven hinüberlaufen, ins Auto steigen und wegfahren.
Irritiert sieht Yuuto jetzt Jonathan an. Offenbar kann er nicht glauben, was er da hört. Doch Jonathan nickt.
»Wir fahren.«
Yuuto sagt mit immer noch unbewegter Miene etwas auf Japanisch, das ich nicht verstehen kann. Es klingt verärgert, und Jonathan, der im Gegensatz zu mir Yuutos Muttersprache fließend spricht, antwortet in einem auch nicht besonders freundlichen Ton.
»Komm«, sagt er dann zu mir und wendet sich abrupt zur Limousine um. Froh darüber, von dem Japaner wegzukommen, will ich ihm folgen, doch es geht nicht. Denn Yuuto ist auf einmal bei mir, greift nach meinem Arm und hält mich fest.
»Aber wir hatten noch gar keine Gelegenheit, uns näher kennenzulernen.« Er versucht ein Lächeln, das ihm nicht gelingt. »Der Spaß hat doch gerade erst angefangen.«
Ich schüttele den Kopf. Auf gar keinen Fall gehe ich wieder zurück in den Club, und schon gar nicht mit ihm. Die Vorstellung, mit dem gruseligen Japaner das Gleiche zu tun wie mit Jonathan, widert mich einfach nur an.
»Nein. Für mich nicht«, sage ich und versuche, mich aus seinem Griff zu befreien, doch er hält mich weiter fest. Jetzt lächelt er endgültig nicht mehr.
»Was wird das hier, Jonathan?« Sein Gesicht ist verzerrt, seine Stimme noch aggressiver. »Sie war doch einverstanden. Sie ist mitgekommen.«
»Lass sie los«, sagt Jonathan, und die Warnung in seinem Tonfall ist nicht zu überhören. »Sie ist mit mir hergekommen und sie geht mit mir.«
Bloß denkt Yuuto gar nicht dran, mich freizugeben. Er sagt noch einmal etwas in seiner Muttersprache, und es scheint etwas nicht sehr Nettes gewesen zu sein, denn Jonathans ohnehin schon kalter Blick wird richtig eisig.
»Das geht dich nichts an«, herrscht er den Japaner mit unverhohlener Wut an. »Und jetzt lass sie los.«
Wieder reagiert Yuuto nicht. Im Gegenteil: Sein Griff wird noch fester, und er zieht mich näher zu sich heran. Von nahem wirkt sein Gesicht verhärmter, die Falten tiefer. Er muss älter sein, als ich dachte, eher Ende als Anfang vierzig. Und sein Blick ist immer noch stechend. Kalt. Wütend.
»Sie bringt dich durcheinander, Jonathan. Wenn ich gewusst hätte, dass sie so einen Ärger macht, dann hätte ich nicht darauf bestanden, dass du sie mitbringst.« Seine Worte sind an Jonathan gerichtet, obwohl er mich dabei ansieht.
»Sie ist nicht deinetwegen hier«, erwidert Jonathan. Ein Muskel zuckt auf seiner Wange.
Yuuto lacht, doch es klingt nicht fröhlich. »Aber ohne mich wäre sie nicht mal in deine Nähe gekommen, vergiss das nicht. Dann wäre sie gar nicht hier.«
Diese Bemerkung macht mich wütend. Als ich Jonathan damals bei meiner Ankunft am Flughafen das erste Mal – zufällig – traf, war Yuuto dabei, und es war sein Interesse an mir, das auch Jonathans Neugier geweckt hat, das stimmt. Aber ich glaube Jonathan, dass das, was danach passiert ist, nichts mehr mit dem Japaner zu tun hatte. Und deshalb ist es eine verdammte Unverschämtheit, dass Yuuto sich einbildet, er wäre der Dreh- und Angelpunkt für mein Verhältnis zu Jonathan.
»Ich bin aber hier«, sage ich, weil ich es leid bin, dass die beiden über mich reden, so als wäre ich Luft. Erneut versuche ich, mich dem Japaner zu entwinden, doch es geht nicht, und das treibt mir die Tränen in die Augen. Sein Griff setzt mir wirklich zu. »Sie tun mir weh.«
»Bilde dir ja nichts ein«, herrscht Yuuto mich an und packt jetzt so fest zu, dass ich aufstöhne. »Du konntest Jonathan nur so nahe kommen, weil ich das wollte. Aber du bist nichts Besonderes, auch wenn du das jetzt vielleicht glaubst – nur eine von vielen. Er hat dich morgen wieder vergessen, egal, was für ein Theater du jetzt veranstaltest. Dann gibt es ein neues Flittchen, das es nicht erwarten kann, von ihm …«
Weiter kommt er nicht, denn Jonathan reißt seine Hand von meinem Arm. Er zieht mich hinter sich, holt mit der geballten Faust aus und versetzt dem Japaner einen heftigen Schlag ins Gesicht.
Völlig überrascht von dem Angriff taumelt Yuuto zurück, doch er fängt sich wieder, bevor er hinfällt. Mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck betastet er seine Lippe, wo Jonathans Schlag ihn getroffen hat. Die Unterlippe ist aufgeplatzt, und Blut tropft auf sein weißes Hemd. Als er das sieht, werden seine Augen schmal.
»Du schlägst mich? Wegen dieser kleinen Schlampe?«
»Du lässt sie jetzt in Ruhe«, herrscht Jonathan ihn an. Sein Gesicht ist wutverzerrt – so habe ich ihn noch nie gesehen. Er dreht sich um und greift nach meiner Hand, will mit mir zum Auto gehen, doch Yuuto stürzt sich unvermittelt von hinten auf ihn, schlägt Jonathan so fest gegen die Rippen, dass er keuchend nach vorn einknickt.
»Glaubst du, ich lasse mich von dir einfach so demütigen?« Yuutos Gesicht ist weiß, und mit seiner blutenden Lippe und den Flecken auf seinem Hemd sieht er richtig Furcht erregend aus, als käme er direkt aus einem Horrorfilm. Er schlägt noch mal zu, trifft erneut Jonathans Rippen.
»Aufhören!«, rufe ich und ziehe am Arm des Japaners, weil ich plötzlich Angst um Jonathan habe. Und ich habe Erfolg, denn Yuuto lässt von ihm ab, richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. Gut, denke ich. Doch als ich den Ausdruck auf seinem Gesicht sehe, überlege ich es mir anders. Nein, nicht gut. Gar nicht gut. Der Typ ist total außer sich.
Er zischt etwas Bitterböses auf Japanisch, und ehe ich reagieren kann, hat sein Handrücken meine Wange getroffen. Mein Kopf fliegt zur Seite, so fest hat er zugeschlagen, und für einen Moment sehe ich Sterne. Der Schmerz ist so stechend, so unvermittelt, dass mir die Luft wegbleibt und Tränen in meine Augen schießen.
Yuuto holt noch mal aus, aber diesmal ist Jonathan schneller. Er fällt dem Japaner in den Arm und stößt ihn von mir weg, dann stürzt er sich auf ihn. Beide fallen zu Boden und ringen heftig miteinander, schlagen aufeinander ein.
Jetzt kommt auch Steven dazu, der vom Wagen herübergeeilt ist, doch wir stehen nur hilflos da und starren auf die beiden kämpfenden Männer, die sich so schnell bewegen und so abrupt ihre Position ändern, dass es unmöglich scheint, sie zu trennen. Steven zögert außerdem – offenbar hat er das Gefühl, sich da nicht einmischen zu dürfen.
Plötzlich höre ich rasche Schritte, und als ich mich umwende, sehe ich, dass Leute aus dem Club kommen. Zwei der livrierten Bediensteten, die dort arbeiten, rennen eilig über die Einfahrt auf uns zu, gefolgt von der blonden Frau vom Empfang.
»Was ist denn hier los?«, ruft sie aufgeregt, als sie uns erreicht. Jetzt wirkt sie gar nicht mehr so kühl und unnahbar wie vorhin, als sie uns hereingelassen hat, sondern extrem ungehalten. »Los, trennt die beiden«, weist sie die Männer an, die mit ihr zusammen gekommen sind.
Im Gegensatz zu Steven greifen die Club-Diener ohne zu zögern ein, und nach kurzer Zeit schaffen sie es tatsächlich, Jonathan und Yuuto auseinanderzuziehen, die zwar nur widerwillig voneinander ablassen, sich dann jedoch beruhigen. Beide atmen heftig und sind sichtlich mitgenommen.
Wenn ich mich entscheiden müsste, wer diesen Kampf gewonnen hat, dann wäre es eindeutig Jonathan. Auf seinem rechten Wangenknochen hat sich eine Schwellung gebildet, seine Unterlippe blutet leicht und offenbar stimmt etwas nicht mit seinen Rippen, doch er sieht noch gut aus im Vergleich zu dem Japaner, der jetzt auch noch stark aus der Nase blutet und sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Er schwankt, und die blonde Frau muss mithelfen, ihn zu stützen, damit er nicht wieder umfällt.
Jonathan macht sich mit einer verärgerten Geste von dem anderen livrierten Bediensteten und Steven los, die ihn gehalten haben. Auch er ist noch wackelig auf den Beinen und lehnt sich nach vorn, legt mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand an die Rippen. Besorgt laufe ich zu ihm und stütze ihn, damit er sich wieder aufrichten kann, und als er sieht, dass ich es bin, lässt er es zu.
Der Mann aus dem Club nickt Steven zu, dann geht er wieder zurück zu seinem Kollegen und der Frau, die sich beide um Yuuto kümmern.
Der Japaner sieht wirklich schlimm aus, weil der ganze untere Teil seines Gesichts jetzt von Blut bedeckt ist. Aber obwohl er klar ziemlich lädiert ist, scheint ihm die Demütigung mehr auszumachen als alles andere. Seine kalten Augen blicken jetzt jedenfalls so richtig hasserfüllt.
»Das wirst du bereuen, Huntington«, sagt er mit vor Wut zitternder Stimme. »Dafür bezahlst du.«
»Schick mir die Rechnung«, erwidert Jonathan schwer atmend, aber voller Verachtung.
»Im Namen des Clubs muss ich Ihnen dringend nahelegen, vorläufig auf weitere Besuche zu verzichten«, erklärt die Blondine Jonathan mit nun wieder total kühler Stimme. »Über den Fortbestand Ihrer Mitgliedschaft wird noch zu entscheiden sein.«
»Sie können mich aus Ihrer Kartei streichen«, sagt Jonathan, und ich starre ihn überrascht an. Er tritt aus dem Club aus? Meinetwegen? Oder ist er nur wütend darüber, dass man ihm einen Rauswurf angedroht hat, und will dem zuvorkommen?
Die Frau ist jedenfalls sichtlich irritiert über seine Reaktion, doch sie nickt knapp. Dann wendet sie sich um und die Männer folgen ihr, mit Yuuto in der Mitte, zurück zu dem schmiedeeisernen Tor, das noch geöffnet ist, sich aber direkt nach ihnen wieder schließt. Keiner der vier blickt zu uns zurück.
»Es tut mir leid. Das wollte ich nicht«, stammele ich, immer noch zutiefst verwirrt über das, was gerade passiert ist.
Jonathan, der sich schwer auf meine Schulter stützt, schüttelt den Kopf. »Das war nicht deine Schuld.« Prüfend sieht er mich an. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
Ich nicke, obwohl meine Wange höllisch brennt. Aber das ist gar nichts im Vergleich zu dem, was er abbekommen hat.
Wieder sehe ich die Bilder der Prügelei vor mir, und mir wird erst jetzt wirklich klar, wie sehr mich diese Explosion der Gewalt schockiert hat. Und dabei war nicht nur Yuutos Verhalten erschreckend, sondern auch Jonathans. So habe ich ihn noch nie erlebt, so außer Kontrolle, und meine Gefühle sind es gerade auch, denn obwohl es mir Angst gemacht hat, freue ich mich gleichzeitig total, dass er mich so vehement verteidigt hat.
»Kannst du laufen?«, frage ich, und als er nickt, gehen wir vorsichtig zur Limousine zurück. Steven ist jetzt ebenfalls da, stützt Jonathan von der anderen Seite, und gemeinsam helfen wir ihm in den Wagen.
»Gibt es einen Verbandskasten im Auto?«, frage ich.
Steven nickt und geht zum Kofferraum. Ich setze mich zu Jonathan nach hinten und nehme den Erste-Hilfe-Kasten entgegen, den er mir einen Augenblick später reicht.
Jonathan hat den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Erst, als ich ihm mit einem mit Desinfektionsmittel getränkten Tuch vorsichtig die Unterlippe betupfe, schreckt er wieder hoch und sieht mich an.
Ich will etwas sagen, doch Steven, der inzwischen vorne eingestiegen ist, lässt die Trennscheibe zwischen der Fahrerkabine und dem Innenraum herunter und kommt mir zuvor.
»Wohin, Sir?«
»Nach Hause«, erklärt Jonathan knapp und lässt zu, dass ich ihm weiter die Lippen betupfe, während der lange Wagen anfährt und sich in den Verkehr einfädelt.
Die Wunde an der Lippe ist nur klein, nicht zu vergleichen mit der von Yuuto, aber trotzdem ist die Stelle leicht geschwollen, genau wie Jonathans Wange, wo Yuutos Faust ihn getroffen hat. Ein bisschen höher, und er hätte jetzt ein hübsches blaues Auge.
Ich hole Eis aus der kleinen Minibar des Wagens – kann wirklich nützlich sein, so eine Nobelkarosse zu fahren – und lege einige Würfel in ein Tuch, das ich ihm dann gebe, damit er die verletzten Stellen kühlen kann.
»Danke.« Mit seiner freien Hand berührt er meine gerötete Wange. »Dieses miese Schwein. Tut es sehr weh?«
Ich schüttele stumm den Kopf, denn seine ungewöhnlich zärtliche Geste lässt mich den Schmerz, den ich bis gerade noch gespürt habe, glatt vergessen. Außerdem will ich nicht, dass er sich Sorgen macht. Er hat genug mit sich selbst zu tun.
Jonathan lässt die Hand sinken und lehnt den Kopf erneut gegen die Polster, während ich ihn weiter untersuche. Als ich vorsichtig die gerötete Stelle an seinen Rippen betaste, zuckt er zusammen und stöhnt auf.
»Da hat er dich ganz schön erwischt.« Ich kenne so was. Auf der Farm meiner Großeltern in Illinois sind meine Schwester und ich früher viel geritten – und oft runtergefallen, bis wir es konnten. Meine halbe Kindheit lang hatte ich irgendwo Prellungen, deshalb weiß ich, wie weh ihm das jetzt tut – und wie wenig man dagegen tun kann außer abwarten. Es sei denn, eine der Rippen ist gebrochen, denke ich erschrocken. »Das sollte sich vielleicht ein Arzt ansehen.«
»Nein, so schlimm ist es nicht. Und so gehe ich ganz bestimmt nicht in irgendein Krankenhaus«, erklärt er mir und deutet an sich herunter. Erst jetzt wird mir wieder klar, dass er nur eine Hose trägt und sonst nichts.
»Okay«, räume ich ein. Es wäre wohl in der Tat keine gute Idee, wenn er nur halb bekleidet und mit zermatschtem Gesicht in einer Notaufnahme auftaucht. Dafür ist er zu bekannt.
Ich seufze tief. »Na, wenigstens hat das diesmal kein Papparrazzo fotografiert.« Wenn ich an die Folgen des letzten Fotos von ihm und mir in einem englischen Klatschblatt denke, dann mag ich mir nämlich gar nicht ausmalen, was los wäre, wenn die Presse Wind davon bekommt, dass Jonathan sich im noblen Primrose Hill auf offener Straße geprügelt hat. Das wäre erst recht ein gefundenes Fressen für die Medien.
»Nein, das wohl nicht.« Jonathan lächelt zum ersten Mal, seit wir den Club verlassen haben. Und wie immer, wenn er das so unvermittelt tut, setzt mein Herz kurz aus, um dann mit neuem Tempo weiterzuschlagen. Er ist einfach so atemberaubend attraktiv mit den dunklen, etwas längeren Haaren, die jetzt nass glänzen, und den blauen Augen, die einen Kontrast zu dem olivfarbenen Ton seiner Haut bilden, dass die Schmetterlinge in meinem Bauch nie Ruhe geben. Wenn er lächelt, sieht man außerdem die kleine fehlende Ecke an seinem Schneidezahn – seinen einzigen kleinen Makel, den ich gerade deshalb so sehr liebe. Doch das Lächeln hält diesmal nur kurz, und der ernste Ausdruck in seinen wunderschönen Augen bleibt.
»Kann Yuuto dir wirklich schaden?« Die Frage brennt mir auf der Seele, seit der Japaner seine Drohung ausgestoßen hat.
»Er könnte schon, und wie ich ihn einschätze, wird er das auch versuchen. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich kann mich und vor allem die Firma verteidigen, wenn es sein muss.« Jonathan klingt so selbstsicher, dass ich ein bisschen beruhigt bin.
Ich nehme seine Hand in meine, halte sie fest, weil ich seine Nähe brauche, und er entzieht sie mir nicht, sondern sieht mich weiter auf diese intensive Weise an, die mein Herz auf eine ganz neue Art schneller schlagen lässt.
»Wieso war Yuuto so?« Das verstört mich immer noch. »Er wirkte fast wie besessen.«
»Ich glaube, was dich angeht, ist er das auch«, erwidert Jonathan. »Er hatte sich von Anfang an in den Kopf gesetzt, dass du mit in den Club kommen solltest – schon als er dich das erste Mal sah.«
Ich denke an unsere Begegnung damals am Flughafen und schlucke. »Macht ihr das immer so? Frauen, die ihr irgendwo trefft, in den Club abschleppen, meine ich.«
»Nein. Nie. Das ist es ja.« Sein Mundwinkel hebt sich. »Du bist eine Ausnahme, Grace. Das habe ich dir doch schon gesagt.«
Freudig registriere ich sein Kompliment, doch ich bin gleichzeitig immer noch mit Yuuto beschäftigt. »Denkst du, er hätte mich gezwungen, wieder mit reinzugehen, wenn du nicht dabei gewesen wärst?«
Jonathan schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht, ob er so weit gegangen wäre. Er hatte dich im Club gesehen und konnte wohl einfach nicht akzeptieren, dass du mir gehörst und nicht ihm.«
Ich streiche sanft über die Innenseite seiner langen Finger und wage nicht aufzusehen. Die Formulierung ist gewöhnungsbedürftig, aber sie lässt mein Herz schneller schlagen. Das klingt nämlich ziemlich besitzergreifend und ganz anders als sonst: Bisher hat er immer wieder darauf bestanden, dass er nicht exklusiv zu haben ist – und auch keine Exklusivrechte auf eine Frau erhebt.
»Wenn ich dir gehöre – gehörst du dann auch mir?«, frage ich leise.
Jonathan schließt seine Hand über meinen Fingern, die seine noch immer streicheln, und ich sehe abrupt auf – direkt in seine blauen Augen.
»Ist das nicht die Bedingung?«, fragt er. »Keine anderen mehr – kein Club. Nur wir beide?«
Ich nicke atemlos, fassungslos, aber glücklich über seinen Sinneswandel. Den er jedoch gleich wieder einschränkt.
»Es ist nur ein Versuch, Grace. Ich kann dir nichts versprechen, aber …« Er spricht den Satz nicht zu Ende.
»Aber was?«, frage ich nervös.
Das tiefe Seufzen, das er ausstößt, klingt ein bisschen wie ein Stöhnen. »Aber tatsächlich will ich dich im Moment auch nicht teilen.«
»Gut.« Ich wollte das nicht laut sagen, aber es rutscht mir raus.
»Nein, gar nicht gut.« Jonathan lässt mich los und fährt sich mit der Hand durchs Haar – eine Geste, die ich inzwischen deuten kann. Das macht er immer, wenn er unsicher ist. »Seit du da bist, tue ich eine Menge Dinge, die ich sonst nie tue, Grace. Noch nie getan habe. Das ist alles neu für mich und ich weiß nicht … ob es mir gefällt.«
Er sieht mich skeptisch an, unglücklich fast, und plötzlich muss ich ihm nah sein. Deshalb schiebe ich den Rock meines Kleides hoch und setze mich rittlings auf seinen Schoß. Der nasse Stoff seiner Hose liegt kalt an meinen Schenkeln.
Mit beiden Händen umfasse ich sein Gesicht und küsse sanft seine unverletzte Wange, die unversehrte Seite seines Mundes. Vor ein paar Minuten wollte ich ihn noch verlassen, weil ich dachte, dass er sich nichts aus mir macht – dass ich ihm egal bin, genau wie Yuuto Nagako gesagt hat: eine von vielen. Aber jetzt kann ich bleiben. Weil er mich nicht teilen will. Und weil er für mich Dinge tut, die er noch nie getan hat. Das ist zumindest ein Anfang.
Ich lächle, als ich ihn wieder freigebe, fühle, wie mich ein ganz neues Glücksgefühl durchströmt, das mich übermütig werden lässt. Ich kann einfach nicht anders.
»Weißt du, wenn ich es recht bedenke, dann weiß ich eigentlich auch nicht, ob mir das alles gefällt«, sage ich und sehe Jonathan streng an.
Fragend erwidert er meinen Blick, doch nervös wirkt er nicht. Offenbar ist er sehr sicher, dass ich nicht dabei bin, ihm doch noch eine Abfuhr zu erteilen. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich auf seinem Schoß sitze und mit den Händen über seine nackte Brust streiche.
»Ich meine, ernsthaft – du bist ein versnobter Engländer, du bist acht Jahre älter als ich, und dein Vermögen dürfte meins um ungefähr das Fünfhunderttausendfache übersteigen. Hast du eine Ahnung, welche Auswirkungen das auf mein Selbstbewusstsein hat?«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass du in meiner Gegenwart unter Schüchternheit leidest«, sagt er grinsend.
»Und als wäre das noch nicht genug«, fahre ich fort, ohne auf seine Bemerkung einzugehen, »bist du auch noch ein verdammter Earl!«
Er lacht. »Ich bin ein Viscount, Grace. Ich werde erst noch ein Earl – worauf ich, wie du weißt, sehr gut verzichten könnte.« Sein Lachen droht zu schwinden, und ich rede schnell weiter, weil ich nicht möchte, dass er jetzt an sein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater denkt.
»Und außerdem«, sage ich mit gespieltem Ernst, »war ich noch Jungfrau, als ich dich kennenlernte – und jetzt sieh mich an.« Ich bewege mich ein bisschen auf seinem Schoß. So eine eindeutig erotische Aufforderung hätte ich mich noch vor vier Wochen auf gar keinen Fall getraut. Aber seitdem ist ja auch verdammt viel passiert. »Ich tue inzwischen auch ganz viele Dinge, die ich noch nie getan habe.« Zuckersüß lächle ich ihn an. »Wir sind also quitt – Mylord.«
»Du kleine Hexe …«, knurrt er und schließt die Arme um mich, zieht mich zu sich, bis mein Gesicht dicht vor seinem steht und ich das Verlangen in seinen Augen aufflackern sehe. Dann liegen seine Lippen auf meinen, und seine Zunge fordert Einlass in meinen Mund, den ich willig öffne, berauscht von seinem vertrauten Geschmack. Allein die Vorstellung, dass ich ihn, wenn er mich hätte gehen lassen, vielleicht wirklich nie mehr geküsst hätte, ist plötzlich so furchtbar, dass ich mich an ihn klammere und seinen Kuss verzweifelt erwidere.
Ich fühle seine Hände auf mir, die über mein nasses Kleid streichen, fordernder jetzt. Er findet meine Brüste und umschließt sie warm, streicht über die aufgerichteten Nippel, was heiße Blitze in meinen Unterleib schießen lässt. Mein Atem geht schneller, mein Puls rast. Erregung durchströmt mich in einem ganz neuen Ausmaß und ich stöhne in seinen Mund, will mehr. Ich kann einfach nicht genug bekommen von diesem Mann, und ich verdränge den Gedanken, was das für Konsequenzen haben könnte.
Auch Jonathan atmet rauer. Doch als er den Oberkörper von den Polstern löst und sich vorbeugen will, stöhnt er plötzlich auf und sinkt wieder zurück.
»Verdammt.« Mit verzerrtem Gesicht hält er sich die Seite.
»Tut mir leid, deine Rippen hatte ich total vergessen.« Ich bin richtig erschrocken und habe sofort ein schlechtes Gewissen, doch er lächelt nur selbstironisch.
»Ich auch – was ziemlich viel darüber aussagt, wie verrückt du mich machst«, erwidert er.
Als ich von seinem Schoß steige, hält er mich nicht auf, doch er hebt seinen Arm und legt ihn um meine Schultern, zieht mich an sich, als ich wieder neben ihm sitze. Begeistert lehne ich den Kopf an seine Schulter, kuschle mich an ihn. So viel Nähe hat er sonst nicht zugelassen, und jetzt muss ich es glauben: ich bin offensichtlich wirklich einen Schritt weiter mit Jonathan Huntington.
Ein paar Minuten fahren wir schweigend durch das nächtliche London und ich denke noch einmal über alles nach, bleibe wieder bei dem Japaner hängen.
»Was hat Yuuto eigentlich vorhin zu dir gesagt, als er Japanisch gesprochen hat?«, will ich wissen.
Jonathan lächelt. »Er hat gesagt, dass du auch nicht anders bist als die anderen Frauen, und ich habe ihm gesagt, dass er sich nicht in meine Angelegenheit mischen soll. Und dann wollte er wissen, was für einen Trick du drauf hast, dass ich dir plötzlich so verfallen bin, und ich habe ihm erklärt, dass ihn das nichts angeht.«
»Und was hat er zu mir gesagt, bevor er mich geschlagen hat?«
Jetzt wird Jonathans Lächeln ein bisschen schief. »Das sage ich dir besser nicht.«
Okay, denke ich. Dann war’s so schlimm, wie ich es mir schon gedacht habe.
»Wieso waren die vom Club eigentlich so besorgt um ihn?« Das fand ich komisch. »Er hat die Prügelei doch provoziert. Warum droht man dir dafür mit einem Ausschluss, aber ihm nicht?«
»Weil Yuuto schon viel länger dort ist als ich«, erklärt Jonathan. »Er gehört zu denjenigen, die den Club gegründet haben.«
Diese Information ist völlig neu für mich, und das lässt den Japaner in einem ganz anderen Licht erscheinen. Seine Verbindungen nach England und vor allem nach London müssen sehr gut sein, wenn er einen Club gründen kann. Und um ihn oft nutzen zu können, muss er sehr regelmäßig hier sein. Er ist also viel einflussreicher, als ich dachte, und das lässt meine Angst zurückkommen, dass die Prügelei vielleicht doch Folgen für Jonathan haben könnte, selbst wenn er das leugnet. Und dann fällt mir noch etwas ein.
»Aber was ist mit deinen Sachen?« Er hat alles im Club gelassen, als er mir gefolgt ist. »Die können die doch nicht einfach behalten.«
Jonathan lacht. »Meine Sachen?« Der Gedanke, dass ich mich darum sorge, scheint ihn sehr zu amüsieren. »Die kriege ich schon wieder. Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen.«
Er lehnt sich zurück gegen die Polster und seufzt tief. Erst jetzt erkenne ich, wie müde und angeschlagen er tatsächlich ist. Deshalb frage ich nichts mehr, sondern schmiege mich an ihn, während wir weiter durch die Nacht fahren – einer Zukunft entgegen, die immer noch total ungewiss ist. Aber nicht mehr schwarz. Sie ist jetzt eher grau, denke ich glücklich. Vielleicht sogar hellgrau. Ja, definitiv hellgrau.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, brauche ich einen Moment, um mich zu orientieren. Aber dann weiß ich, wo ich bin: in Jonathans Schlafzimmer, in seiner Stadtvilla in Knightsbridge.
Die Vorhänge sind nicht richtig zugezogen, deshalb fällt Licht herein und ich kann alles sehen – das große Bett mit den vier Pfosten, den passgenau eingebauten Kleiderschrank aus dem gleichen edlen, dunklen Holz, die zwei Designersessel vor dem Fenster.
Jonathan liegt hinter mir, ich kann seine Wärme spüren. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, drehe ich mich um. Er schläft noch, auf der Seite, den Kopf auf einen Arm gelegt. Der andere Arm liegt dicht neben mir, und die gebräunte Haut hebt sich deutlich von den weißen Laken ab. Sein Oberkörper ist nackt, und ich lasse den Blick über seine muskulöse Brust und die breiten Schultern gleiten und dann weiter rauf in sein Gesicht. Das Haar ist ihm in die Stirn gefallen, und ich streiche es zärtlich zurück.
Im Schlaf sieht er friedlich aus, und ich betrachte ihn, kann den Blick nicht von ihm lösen. Die Spuren der gestrigen Nacht sind in seinem Gesicht noch deutlich zu erkennen. Die Stelle an seiner Wange, wo ihn Yuutos Faust getroffen hat, ist rot und geschwollen, aber zum Glück nicht blau, und auch unter der verschorften Wunde an seiner Lippe wölbt sich die Haut leicht. Doch für mich tut das seiner Attraktivität keinen Abbruch, im Gegenteil. Es lässt ihn irgendwie verwegen wirken. Außerdem hat er sich diese Blessuren eingefangen, als er mich verteidigt hat, und das macht ihn in meinen Augen nur noch schöner.
Eigentlich kann ich es immer noch nicht fassen, dass dieser unglaublich aufregende Mann mich begehrt, und allein der Gedanke, was er mit mir vielleicht noch tun wird, schickt eine Gänsehaut über meinen Rücken. Ich kann nicht genug von ihm bekommen und es kostet mich alle Selbstbeherrschung, die ich besitze, ihn nicht zu berühren.
Ich will ihn nicht wecken. Ein Blick auf den Wecker auf dem Nachttisch bestätigt mir, was ich schon geahnt habe. Es ist schon kurz nach neun Uhr, und da heute Freitag ist, müssten wir längst auf dem Weg ins Büro sein. Aber Jonathan hat gestern beschlossen, den Vormittag zu Hause zu bleiben. Was wahrscheinlich auch ganz gut ist, denn so wie er aussieht, sollte er sich in der Firma heute besser gar nicht blicken lassen. Sonst setzt er die Gerüchteküche nur unnötig in Gang. Ich wollte eigentlich früher aufstehen und bei seiner Sekretärin anrufen, um ihr das mitzuteilen, aber weil ich die halbe Nacht wachgelegen und über alles nachgedacht habe, war ich selbst zu müde. Das werde ich gleich noch erledigen.
So leise wie ich kann hole ich mir frische Sachen aus dem Schrank – Wäsche, meine schwarze Bluse und den passenden Rock. Einiges habe ich inzwischen hier, weil ich in letzter Zeit kaum noch in meinem WG-Zimmer in Islington war. Jonathans Haushälterin Mrs Matthews, die sich auch um die Wäsche kümmert, hat einen Teil davon zu Jonathans Hemden gehängt und mir außerdem ein Fach freigeräumt. Erst jetzt fällt mir auf, dass das eigentlich – für Jonathans Verhältnisse – ein echtes Zugeständnis war. Die Frage ist, ob es dabei bleiben wird. Oder kann er sich nach gestern durchringen, mir noch mehr Platz in seinem Leben einzuräumen?
Ich nehme die Sachen und gehe ins Bad, ziehe mich an und betrachte mich dann kritisch im Spiegel. Mein rotblondes Haar ist zerzaust, aber das ist schnell gerichtet, und meine Wange ist nicht mehr gerötet von Yuutos Schlag, so wie gestern Abend. Mit ein bisschen Makeup verschwinden auch die Schatten unter meinen grünen Augen, und ich sehe nach kurzer Zeit ganz passabel aus.
Leise kehre ich ins Schlafzimmer zurück und setze mich auf den Rand des Bettes. Eigentlich will ich nur noch mal nach Jonathan sehen, bevor ich runtergehe und Frühstück mache – oder besser versuche, Frühstück zu machen; ob mir die Omeletts so gut gelingen werden wie ihm ist nämlich sehr fraglich, weil ich im Gegensatz zu ihm eine totale Koch-Versagerin bin –, aber zu meinem Erstaunen öffnet er die Augen. Und bevor ich eine Chance habe zu reagieren, hat er seine Hände um meine Handgelenke geschlossen und mich zu sich ins Bett gezogen, sodass ich über ihm liege.
Die Wärme seines Körpers durchdringt den Stoff meiner Bluse, aber ich wehre mich nicht, füge mich willig.
»Wo willst du hin?«, fragt er an meinen Lippen, ohne meine Hände loszulassen, und ein Prickeln durchläuft mich, weil ich ihm ausgeliefert bin – mein neuer Lieblingszustand.
»Ich wollte Frühstück machen«, hauche ich und versinke in dem hypnotisierenden Blick seiner blauen Augen.
»Ich will jetzt aber nichts essen«, sagt er rau. »Sondern lieber nachholen, was wir gestern verpasst haben.«
Ja, ja, ja, will ich sagen, denn wie immer, wenn wir uns so nah sind, kann er mit mir machen, was er will. Aber ich komme nicht dazu, denn er wartet meine Antwort nicht ab und fängt an mich zu küssen, erobert meinen Mund mit seiner Zunge, langsam, genüsslich, ohne Hast. Ich möchte sein Gesicht umfassen, aber er hält mich weiter fest, so als wüsste er genau, was ich vorhabe. Ich versuche, seinen Kuss zu erwidern, ihn zu vertiefen, doch er lässt auch das nicht zu, bestimmt weiter das Tempo. Frustriert stöhne ich auf, weil ich mehr will, und ich spüre das Rumpeln in seiner Brust, als er leise lacht.
»Gierige kleine Grace«, sagt er an meinem Mund. »Du kriegst nie genug, oder?«
Von dir nicht, nein, denke ich und fühle, wie schutzlos ich ihm gegenüber bin. Wenn er es sich anders überlegt, dann kann er mir verdammt wehtun. Aber darüber will ich mir jetzt keine Sorgen machen. Nicht heute.
»Und wie steht es mit dir?«, sage ich und sauge seine Unterlippe in meinen Mund, beiße leicht drauf. »Kriegst du genug?«
Für einen langen Moment sehen wir uns in die Augen und ich beobachte mit angehaltenem Atem, wie der Ausdruck in seinen wechselt. Doch bevor er etwas sagen oder tun kann, schallt plötzlich ein lauter, harmonischer Gong durchs Haus. Die Türklingel.
»Verdammt.« Jonathan lässt mich los und rollt mich in einer fließenden Bewegung von sich runter. Es gongt wieder, mehrmals hintereinander. Jemand klingelt unten an der Haustür Sturm. »Kannst du nachsehen, wer das ist?«
Ich nicke und erhebe mich, laufe zur Tür. Was für ein mieses Timing, denke ich, während ich die Treppe hinuntergehe. Warum muss ausgerechnet jetzt jemand kommen?
Als ich im Esszimmer bin, hört das Läuten auf, dafür klingelt jetzt Jonathans Handy, das auf dem Esstisch liegt. Kurzentschlossen gehe ich dran, denn ich kenne den Anrufer, dessen Foto im Display aufleuchtet.
»Ja?«
»Grace, bist du das?« Es ist Alexander Norton, Jonathans Kompagnon. Er lässt mich jedoch nicht antworten, redet schon weiter. »Wo zur Hölle steckt Jonathan? Das ist jetzt schon mein zehnter Anruf auf seinem Handy. Hört ihr das denn nicht? Wo seid ihr, verdammt?«
»Zuhause. Äh, ich meine, in Knightsbridge«, verbessere ich mich.
Er stutzt. »Und warum macht mir dann keiner auf? Ich stehe jetzt schon seit fünf Minuten vor der …«
Alex beendet den Satz nicht, weil ich ihm in diesem Moment die Haustür öffne. Überrascht sieht er mich an.
Er trägt Anzug und Schlips, sein normales Büro-Outfit – da ist er viel korrekter als Jonathan, der seinen ganz eigenen Dresscode hat – und sein blondes Haar schimmert in der Juni-Sonne, die heute wieder scheint und gegen die ich anblinzele.
Für einen Moment stehen wir nur da, dann räuspert er sich. »Komme ich ungelegen?«, fragt er und klingt auf einmal so britisch, so korrekt, dass ich lächeln muss.
»Irgendwie schon«, erwidere ich. »Jonathan ist noch nicht angezogen. Er ist etwas …« Wie soll ich das ausdrücken? »… neben der Spur.«
»Neben der Spur?« Alex schnaubt, jetzt wieder wütend, und geht an mir vorbei ins Haus, ohne darauf zu warten, dass ich ihn reinbitte.
»Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist?«, fragte er, während wir die Treppe rauf in die Etage gehen, in der sich das Esszimmer und die Küche befinden. »Habt ihr wenigstens schon gefrühstückt?«
Als ich den Kopf schüttele, geht er auf direktem Weg in die Küche, füllt den Wasserkocher und stellt ihn an. Mit sicheren Griffen holt er dann Tassen, eine Kanne und die Teedose aus dem Schrank. Er kennt sich hier offensichtlich gut aus. Dankbar dafür, dass er so voller Tatendrang ist und sich berufen fühlt, Tee für uns zu kochen, lasse ich mich auf einen der Küchenstühle sinken.
»Es geht Jonathan nicht so gut. Ich glaube, er kann heute nicht ins Büro gehen«, sage ich.
Alex hält inne und dreht sich zu mir um. Dann überlässt er den Wasserkocher sich selbst und kommt zum Tisch zurück, setzt sich mir gegenüber.
»Ich würde sehr gerne glauben, dass er so fertig ist, weil ihr letzte Nacht hemmungslosen Sex hattet.« Er hebt vielsagend die Augenbrauen.
Noch vor wenigen Tagen wäre ich vermutlich rot geworden bei seinen Worten, doch jetzt lächle ich nur. Es geht ihn nichts an, deshalb antworte ich nicht darauf, aber tatsächlich war die letzte Nacht die erste, die Jonathan und ich gemeinsam in einem Bett verbracht haben, ohne miteinander zu schlafen – eben weil er so fertig war.
»Aber ich befürchte eher, dass sein Zustand etwas mit Yuuto Nagako zu tun haben könnte«, fährt Alexander fort und sieht mich jetzt durchdringend an. »Stimmt das?«
Ich schlucke und spüre, wie ich blass werde. »Woher weißt du das? Steht das etwa doch schon in der Zeitung?«
»Was, Grace?«
Verunsichert sehe ich ihn an. »Ich dachte, das weißt du.«
»Nein.« Er erhebt sich wieder und geht zurück zur Arbeitsplatte, weil das Wasser kocht, gießt es in die vorbereitete Teekanne. »Ich weiß nur, dass ich vor einer Stunde einen Anruf von Yuutos Büro bekommen habe. Er kündigt uns jede Form der Zusammenarbeit und wird uns nicht länger beratend bei unseren Asien-Geschäften zur Seite stehen. Ohne Begründung, einfach so.«
»Ach du Scheiße«, entfährt es mir, bevor ich mich zurückhalten kann. Ich weiß, dass Jonathan und Alex gerade versuchen, die Geschäfte von Huntington Ventures auf den asiatischen Raum auszudehnen, deshalb kommt das jetzt vermutlich zu einem ziemlich ungünstigen Zeitpunkt.
Das scheint Alex genauso zu sehen, denn er nickt mit sehr ernstem Gesicht. »Kann man durchaus so ausdrücken, ja. Darüber wollte ich mit Jonathan sprechen, der jedoch nicht im Büro war und auch nicht an sein Handy gegangen ist – was ich ziemlich irritierend fand. Er ist immer zu erreichen, und wenn nicht, dann weiß ich zumindest, wo er ist. Deshalb bin ich hergefahren, um zu sehen, was los ist.« Er stellt eine Tasse dampfenden Tee vor mir auf den Tisch und setzt sich wieder. »Also, raus mit der Sprache: Was ist gestern passiert?«
Zögernd berichte ich ihm von der Prügelei vor dem Club, zumindest in groben Zügen. Was genau wir dort gemacht haben und wieso wir vor dem Club standen, lasse ich weg, das ist zu persönlich, aber ich merke an Alex’ Reaktionen, dass er weiß, um was für einen Club es sich handelt. Als Jonathans bester Freund ist das für ihn vermutlich kein Geheimnis. Für einen Moment frage ich mich, ob er vielleicht selbst schon mal dort war, aber irgendwie glaube ich das nicht. Dafür ist er nicht der Typ.
Als ich fertig bin, stößt Alex die Luft aus und lehnt sich auf dem Stuhl zurück. »Das erklärt einiges«, sagt er und verschränkt die Arme vor der Brust. Und dann lächelt er zu meiner Verwunderung plötzlich. »Jonathan hat sich wirklich deinetwegen geprügelt und ist aus dem Club ausgetreten? Das ist – bemerkenswert.« Er beugt sich vor. »Ich kann mich nicht erinnern, dass er sich schon mal so für eine Frau eingesetzt hat – abgesehen von Sarah natürlich.«
Unsicher erwidere ich sein Lächeln. Zu gerne würde ich ihn fragen, ob er glaubt, dass ich Jonathan wirklich so viel bedeute wie seine Schwester, an der er sehr hängt. Ob ich eine Chance habe, dass meine Liebe nicht nur einseitig ist. Denn bisher hat Jonathan ja nur gesagt, dass ich bei ihm bleiben soll und dass er versuchen will, eine Beziehung mit mir zu führen – nicht, dass er mich liebt. Aber dann traue ich mich doch nicht. Ich mag Alexander, er ist sehr nett und in vielerlei Hinsicht zugänglicher und freundlicher als Jonathan. Trotzdem sind das sehr private Dinge – und er ist nun mal Jonathans Freund und nicht meiner.
Alex lehnt sich wieder zurück. »Wie sehen eigentlich deine Zukunftspläne aus, Grace? Hast du vor, in London zu bleiben?«
Das ist eine gute Frage, über die ich gestern Nacht noch viel nachgedacht habe, als Jonathan schon schlief. Und die Antwort, auf die es immer wieder hinausgelaufen ist, hat mir viel von der Euphorie, mit der ich in der Limousine hergefahren war, wieder genommen.
Ich würde nämlich gerne bleiben, sehr gerne sogar. Aber meine Zeit hier ist begrenzt – nur noch knapp zwei Monate, und mein Praktikum bei Huntington Ventures ist vorbei. Dann muss ich nach Chicago zurück, um dort mein Studium der Wirtschaftswissenschaften zu beenden. Es geht nicht anders, denn es hat mich verdammt viel Zeit, Mühe und Geld gekostet, so weit zu kommen, dass ich jetzt kurz vor dem Abschluss stehe. Das bedeutet aber auch, dass ich für mehrere Wochen, wenn nicht sogar Monate von Jonathan getrennt sein werde, und das macht mir Angst. Ich kenne ihn noch so wenig und unsere Beziehung hat gerade erst begonnen, Ende völlig offen. Was, wenn er es sich in dieser Zeit anders überlegt? Wenn er merkt, dass er ohne mich doch besser dran ist, und wieder zu seinen alten Gewohnheiten zurückkehrt? Ich will so nicht denken, ich möchte das alles positiv sehen. Aber so hoffnungsvoll ich gestern Abend war – der Gedanke, dass es schief gehen könnte zwischen Jonathan und mir – bald sogar –, lässt sich nur schwer abschütteln.
»Selbst wenn ich wollte, ich kann nicht bleiben«, erkläre ich unglücklich. »Ich studiere schließlich noch.«
Alexander runzelt die Stirn. »Stimmt, daran hatte ich gar nicht gedacht.«
Er will noch mehr sagen, doch in diesem Moment betritt Jonathan die Küche. Er trägt jetzt ein schwarzes T-Shirt zu der Pyjamahose, die er vorhin schon anhatte, und hat sich seinen Morgenmantel übergezogen, aber nicht geschlossen. Sein eher legerer Aufzug scheint ihm vor Alex jedoch nichts auszumachen, denn er bewegt sich entspannt und ohne jegliches Zögern durch die große Designerküche.
»Was machst du denn hier?«, fragt er seinen Freund, der ihn mit unverhohlenem Entsetzen ansieht.
»Die Frage ist doch wohl eher, was du noch hier machst«, erwidert Alex. »Aber Grace hat mich schon aufgeklärt.« Er betrachtet Jonathan noch mal genauer. »Ich dachte, aus dem Alter, in dem wir Konflikte mit körperlicher Gewalt lösen, wären wir raus, Hunter.« Jetzt hat seine Stimme einen eindeutig ironisch-amüsierten Unterton.
»Das dachte ich auch.« Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck geht Jonathan zur Arbeitsfläche, wo die Teekanne steht, und gießt sich eine Tasse ein. Es ist ziemlich deutlich, dass er keine Lust hat, mit seinem Freund über seinen angeschlagenen Zustand zu diskutieren. Doch seine schlechte Laune scheint Alexander nicht zu beeindrucken.
»Du siehst furchtbar aus«, erklärt er Jonathan, und – objektiv gesehen – hat er recht. Es könnte zwar schlimmer sein, aber man erkennt deutlich, dass er sich geprügelt hat.
»Mir ging’s auch schon mal besser«, erwidert Jonathan knurrend. »Was ist denn im Büro schon wieder passiert, dass ich nicht mal einen Vormittag lang fehlen kann?«
Alex und ich wechseln Blicke. »Wir haben ein Problem mit Yuuto«, sagt er und berichtet Jonathan, der sich mit seinem Tee neben mich setzt, von dem beunruhigenden Anruf.
Jonathan schweigt einen Moment, hat an der Neuigkeit sichtlich zu kauen. »Wir schaffen das auch allein«, meint er dann. »Wir brauchen ihn nicht.«
»Das sagt sich so leicht«, widerspricht sein Kompagnon. »Er hat wichtige Kontakte, das weißt du, und es ist schlimm genug, wenn die uns nicht mehr zur Verfügung stehen. Aber wenn Yuuto aktiv gegen uns arbeitet, kann er uns ernsthaft schaden.«
»Da findet sich schon eine Lösung«, beharrt Jonathan, und seine Stimme klingt jetzt so endgültig, dass sogar Alex das Thema fallen lässt.
»Gut, wir werden sehen. Womit wir bei dem zweiten Problem wären, das wir haben. Ganz ehrlich: so wie du aussiehst, solltest du dich heute lieber nicht mehr im Büro blicken lassen. Sonst landet die Sache mit der Prügelei am Ende doch irgendwie in der Presse. Aber wenn du nicht da bist, kannst du auch leider nicht an dem Meeting zum Hackney-Projekt teilnehmen, das in«, er sieht auf seine Rolex, »nicht mal einer Stunde beginnt und das du offenbar vergessen hast.«
»Verdammt«, flucht Jonathan, und auch ich rucke den Kopf erschrocken hoch. Das Hackney-Projekt, der Umbau einer alten Industrieanlage in ein riesiges Einkaufszentrum, liegt ihm besonders am Herzen, daran haben wir in den letzten Wochen viel gearbeitet. Diese Termine waren ihm immer wichtig, und es zeugt davon, wie durcheinander er wegen des Vorfalls gestern ist, dass er einen davon tatsächlich ausgeblendet hat.
»Catherine wollte das Gespräch schon absagen, aber ich habe ihr gesagt, dass sie noch warten soll«, erklärt Alexander. Jonathan wirkt sichtlich erleichtert.
»Das ist gut. Das Treffen muss stattfinden. Zu diesem Zeitpunkt darf es keine Missverständnisse geben, sonst kippt am Ende der gesamte Bau.« Er sucht meinen Blick, und ich nicke stumm. Er hat recht: Die Investoren sind wegen einiger Verzögerungen ohnehin schon skeptisch. Wenn man sie jetzt durch einen abgesagten Termin verunsichert, steigen sie vielleicht ganz aus.
»Und weil ich das weiß, bin ich hier«, erwidert Alex. »Aber ohne dich ist das Meeting ziemlich müßig, oder? Und ich kann dich nicht vertreten, das weißt du. Ich habe keine Ahnung von dem Projekt.«
Jonathan überlegt für einen Moment.
»Du nicht, aber Grace. Sie kann das übernehmen.«
Dieser Vorschlag überrascht mich derart, dass mir der Mund offen stehenbleibt. Es stimmt zwar, ich bin gerade bei diesem Projekt im Stoff, weil ich es quasi von Anfang an begleitet habe, aber dass Jonathan mir zutraut, dass ich das auch allein hinkriege, hätte ich niemals gedacht.
Noch verwunderlicher ist, dass Alex das überhaupt nicht zu hinterfragen scheint. »Dann los, Grace. Die Zeit ist knapp.«
»Okay«, sage ich gedehnt und erhebe mich, immer noch in der Erwartung, dass es sich einer von beiden noch anders überlegt. Doch das tun sie nicht. »Ich hole schnell meine Tasche«, füge ich hinzu und laufe nach oben.