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Corona E-Book

Martin Meyer

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Beschreibung

Seit die Seuche alles in ihrem Bann hält, darf Matteo seine Wohnung nicht mehr verlassen. Vom Fenster aus beobachtet er eine prachtvoll blühende Magnolie, ansonsten ist das Leben in der kleinen Stadt beinahe zum Erliegen gekommen. Gäbe es nicht die Nichte, die sich um ihn kümmert, und eine Nachbarin, die Blumen und Wein vor seine Tür stellt, wäre er ganz auf sich allein gestellt – seine Frau ist vor wenigen Jahren gestorben. Um die unerhörte Zeit der Pandemie zu meistern, schmiedet Matteo einen Überlebensplan. Sechs Bücher, die vom Alten Testament bis in die Gegenwart führen und sich mit Seuchen beschäftigen, verschaffen ihm Einsichten über das Leben, das ihm am Ende kostbarer erscheinen wird als je zuvor.

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Seitenzahl: 207

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

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ÜBER DEN AUTOR

Journalist, Publizist und Buchautor. 1974 trat er in die Feuilletonredaktion der Neuen Zürcher Zeitung ein, die er während 23 Jahren leitete. Er wurde u. a. mit dem Kythera-Preis und dem Ludwig-Börne-Preis ausgezeichnet. Zu seinen Veröffentlichungen gehören Albert Camus. Die Freiheit leben (2013), Gerade gestern. Vom allmählichen Verschwinden des Gewohnten (2018) sowie gemeinsam mit Rüdiger Safranski und Michael Krüger Klassiker! (2019). Martin Meyer lebt in Zürich.

ÜBER DAS BUCH

Seit die Seuche alles in ihrem Bann hält, darf Matteo seine Wohnung nicht mehr verlassen. Vom Fenster aus beobachtet er eine prachtvoll blühende Magnolie, ansonsten ist das Leben in der kleinen Stadt beinahe zum Erliegen gekommen. Gäbe es nicht die Nichte, die sich um ihn kümmert, und eine Nachbarin, die Blumen und Wein vor seine Tür stellt, wäre er ganz auf sich allein gestellt – seine Frau ist vor wenigen Jahren gestorben. Um die unerhörte Zeit der Pandemie zu meistern, schmiedet Matteo einen Überlebensplan. Sechs Bücher, die vom Alten Testament bis in die Gegenwart führen und sich mit Seuchen beschäftigen, verschaffen ihm Einsichten über das Leben, das ihm am Ende kostbarer erscheinen wird als je zuvor.

 

Der Mensch ist die Krone der Schöpfung. Nur schade, dass es eine Dornenkrone ist.

Stanislaw Jerzy Lec

1

In der sechsten Woche seit dem Ausbruch der großen Krise spürte Matteo ein Kratzen im Hals. Der Buchhändler war am frühen Morgen aufgewacht und schlaftrunken ins Badezimmer gegangen. Er hatte mithilfe einer Taschenlampe im Spiegel über dem Waschbecken seinen Hals untersucht, der tatsächlich gerötet war. Zur Beunruhigung bestand noch kein Anlass. Der Hals konnte aus vielen Gründen entzündet sein. Der Frühling war ins Land gezogen, und die Pollen trieben wild durch die Luft. Trotzdem hatte Matteo die Mundhöhle desinfiziert. Man konnte nie wissen.

Jetzt saß er in seiner Studierstube und starrte an die Decke. Bist du einsam, Matteo, fragte er sich.

Vor ein paar Jahren hatte er den Tod seiner Frau betrauert, dann aber gut mit dem Alleinsein zu leben begonnen. Manchmal kam seine Nichte, Carla, die ihm Lebensmittel und Blumen brachte und ein wenig sauber machte. Ansonsten versorgte sich Matteo selbst. Die Ansprüche waren gering. Was zu organisieren war, verlangte wenig fremde Hilfe.

Matteo ging zum Fenster und schaute auf die Gasse. Die ersten Zeichen des Tages machten sich bemerkbar. Die Häuser traten stärker hervor, die Statue über dem Brunnen schien zu atmen, das plätschernde Wasser des Brunnens hatte einen anderen Klang als in der Nacht. In der Nacht klang es geheimnisvoll, manchmal auch traurig. Bei Tagesanbruch wechselte die Laune. Es klang mehr und mehr zuversichtlich, wie man es erwarten durfte bei einem Brunnen, der schon Jahrhunderte überstanden hatte und nie stillgelegt war.

Seit der Krise war eine seltsame Stille in die Stadt eingekehrt. Der Verkehr hatte abgenommen, die Fußgänger gingen mit genauem Ziel oder huschten schemenhaft an den Mauern entlang. In der Nacht war diese Stille mit Händen zu greifen. Sie legte sich wie eine schwere Decke über die Schlafenden, die froh waren, wenn sie von Träumen verschont blieben.

Die Träume hatten mit der Krise zu tun. Sie versetzten die Träumenden in ausweglose Situationen. Manche erzählten, dass sie immer denselben Traum hatten. Sie liefen zwischen den Gassen, während die Gassen immer enger wurden, die Beine von unsichtbaren Gewichten zu Boden gezogen wurden und der Atem schwer und schwerer ging. Das Aufwachen war mit Angstzuständen und Schweißausbrüchen verbunden. Diese konnten Symptome sein oder, wie man immer noch sagte, psychosomatischer Herkunft.

Die Gasse war leer. Obwohl der Brunnen die Leute dazu aufrief, vor die Tür zu treten und das Tagwerk zu beginnen, blieb sie leer. Matteo erinnerte sich, bei Franz Kafka das schöne Attribut rein und leer gelesen zu haben. Mit dem Wort rein hatte Kafka Verschiedenes zum Ausdruck bringen wollen. Matteos Gasse war nicht nur leer, sondern auch rein. Aber Matteo maß dieser Tatsache keine besondere Bedeutung bei. Die Gasse war rein im Sinn von sauber, weil sich schon länger keine Nachtfalter mehr herumtrieben, die ihre Zigaretten, ihre Papiertaschentücher, ihre Präservative oder ihre leeren Weinflaschen dort deponiert hatten.

Es war zu früh, die Nichte anzurufen. Carla würde noch fest schlafen. Sie arbeitete als Arztgehilfin in einer Praxis der Innenstadt und hatte, wie sie zu sagen pflegte, einen strengen Tag. Matteos Schwester war eine ordentliche und disziplinierte Frau gewesen. Carla schlug nach der Seite der Mutter. Matteo war nicht unglücklich, dass sie noch keinen Mann gefunden hatte. So hatte sie mehr Zeit für den alten Onkel. Andererseits wäre es sicher gut, wenn Carla die Gefühle, die sie auf die Arbeit verwandte, eines Tages in Zuneigung oder gar Liebe zu einem anderen Menschen verwandeln würde.

Der Verlauf der Krankheit, der durch die Krise oder Seuche ausgelöst wurde, war vielfach beschrieben worden. Matteo hatte ihn der Zeitung entnommen, die jeden Morgen in seinem Briefkasten lag. Damit kam er zwar immer ein wenig zu spät, denn das Internet war rund um die Uhr tätig. Andererseits konnte er eine beschränkte Zahl von Informationen und Hinweisen in aller Ruhe studieren.

Es fing, wenn es war, was es wohl werden würde, mit einem Kratzen an. Bald darauf würde sich Fieber einstellen. Je nach Patient schwächer oder stärker. Hinzu traten Kopfschmerzen und Schmerzen in den Gliedern. Husten folgte. Diese Symptome waren ebenfalls schwächer oder stärker, doch steuerten sie in der Regel auf das Forte zu. Wie bei einem Orchester, dessen Stimmen sich nach und nach zusammenfanden, um die Hauptmelodie anfangs leise, dann deutlicher, dann forte und zuletzt fortissimo zu spielen, endete die Krankheit dann ebenfalls in einem mächtigen Fortissimo.

Dass Matteo solche Art von Musik hasste, spielte keine Rolle. Die Musik diente als Metapher. Allerdings gab es keinen Dirigenten, der die Macht besessen hätte, mit dem Taktstock auf sein Pult zu schlagen und abzuklopfen.

Fertig. Ende.

Die Musik lief weiter, jedenfalls bisher, und niemand konnte sie stoppen.

Insofern war dieser Prozess ein ziemlich natürlicher Vorgang. Das musste man der Seuche lassen. Wenn sie irgendwo weit weg von irgendwelchen Zauberern aus Versehen oder mit Absicht herbeigerufen worden war, so verhielt sie sich seither wie ein Teil der Natur. Sie zeigte wie die Natur im Frühling organisches Wachstum, und es blieb, wenn man den Zeitungen trauen durfte, ziemlich fraglich, ob und unter welchen Bedingungen sich dieses Wachstum eines Tages in eine Winterlandschaft zurückziehen würde, wo es der Erstarrung anheimgegeben wäre. Bis ein böser Geist wieder an die Decke aus Eis zu klopfen begänne.

Es war zum Fürchten. Oder wurde übertrieben?

Gewisse Gedanken und Gedankenspiele waren Matteo seit Kindestagen vertraut. Die Kindheit in der Provinz hatte damals wenig zu bieten. Die Kinder spielten die üblichen Spiele und zeigten erste Symptome von Grausamkeit. In der Schule herrschte der landesübliche Drill, der durchmischt war mit Einlagen unfreiwilligen Humors. Für die Fantasie gab es Bilder- und später Märchenbücher. Auch Abenteuergeschichten kamen hinzu, die die Welt viel größer erscheinen ließen, als sie in der Provinz war.

Eine übellaunige Großtante hatte Matteo damals gesagt, er könne sich die große weite Welt nach Belieben erträumen, aber es würde nichts daran ändern, dass Matteo immer in der Provinz leben würde. Sie hatte mehr oder weniger recht behalten.

Die Küche war nach den Bedürfnissen eines älteren Mannes bestückt. Auf dem Herd kochte das Wasser für die Spaghetti und die Sauce. In einem klapprigen Holzschrank gab es verschiedene Sorten von Tee. Auch Zucker war vorhanden und ein Topf mit Blütenhonig. Der Kühlschrank war ein Modell von anno dazumal, als er noch frisch in seinem Weiß erstrahlte. Matteo lagerte Trockenfleisch, Butter, Marmelade und Käse. Der heikle Punkt war das Thema Gemüse. Gemüse war wichtig und gesund, aber seine Zubereitung war Matteos Frau vorbehalten gewesen.

Matteo hatte das Problem mithilfe des Apothekers gelöst. Dieser verschrieb ihm eine Reihe von Pillen, die Vitamine für verschiedene Funktionen enthielten. Matteo hatte sich einen Behälter gekauft, in welchen er die jeweils angesagten Portionen des Tages ablegte. So hatte er immer den Überblick. Außer er hatte die Einnahme vergessen, was jedoch, wie ihm der Apotheker periodisch versicherte, nichts schade, wie es auch nicht schade, wenn Matteo am übernächsten Tag zwei Portionen schlucke, um aufzuholen.

Trotzdem war es wichtig, Carla wissen zu lassen, dass Matteos Hals kratzte. Zwar würde sie aufgeregt reagieren und ihm vielleicht auch Vorwürfe machen. Vorwürfe, die nur berechtigt wären, wenn er, Matteo, selbst Schuld mittrug, indem er zum Beispiel ohne Schal herumgestreunt war. Sie wären jedoch unberechtigt, sofern Matteo schuldlos von der Seuche befallen worden war, was letztlich wahrscheinlicher war, weil die Seuche, wie in den Zeitungen nachgewiesen wurde, schleichend und leise wie aus dem Nichts kam und sich in Windeseile weitertragen ließ.

In diesem Fall des Seuchenzustands dürfte Carla ihren Onkel nicht mehr besuchen. Das hatten bereits viele Menschen begriffen. Je mehr die Seuche wüten würde, umso mehr Menschen würden begreifen müssen, dass es mindestens für eine Zeit lang vorbei war mit direkten Kontakten.

Du musst verstehen, ich darf dich nicht mehr besuchen.

Matteo hatte dies ebenfalls seit Kindheitstagen lernen müssen. Er hatte eine ansteckende Kinderkrankheit bekommen und lag abgeschirmt von den anderen in seinem Zimmer. Die Krankheit sorgte für Fieber. Zuerst für angenehmes Fieber, das so beschaffen war, dass der kleine Matteo wie auf Wolken segelte. Las Matteo in diesem Zustand seine Bilderbücher, so erschienen die Tiere des Zoos an seinem Krankenbett und begannen mit ihm zu sprechen.

Wenn das Fieber dieser Kinderkrankheiten, von denen es mehrere gab, zu schnell stieg, kam die Mutter auf leisen Sohlen, schaute besorgt von weit oben in die Tiefe des Betts und legte dem Sohn ein Schweißtuch auf die Stirn, das mit Essig getränkt war. Das Schweißtuch tat meist Wirkung, unabhängig davon, ob die Mutter vorher noch das Kreuz geschlagen hatte. Dieser Ritus wiederholte sich alle drei Stunden. Aber mit der Leselust war es vorbei, ganz und gar vorbei.

Deshalb kam Matteo auf die Gedanken. War er halbwegs bei Bewusstsein, begann er sich Dinge und Begebenheiten auszudenken, die etwas Besonderes an sich haben sollten. Zum Beispiel ließ Matteo einen Buben seines Alters über ein hohes Seil spazieren, das zwischen dem Kirchturm und dem Dachgeschoss des Schulhauses aufgespannt war. Der Bub musste versuchen, den Zurufen des Pfarrers einerseits, des Lehrers andererseits zu widerstehen. Er musste, taub gegenüber den Mahnrufen, über das Seil wandern, als wäre er Jesus Christus über den Wassern des Sees Genezareth. Den Applaus nach geglückter Traverse würde er sich mit seinen Eltern teilen.

Bravo, Junge. Du hast es geschafft. Um ein Haar wärst du abgestürzt.

Matteo schlurfte in die Küche. Er fröstelte. Er setzte Wasser auf und holte den Pfefferminztee aus dem Gestell. Er gab Honig und eine geschnittene Zitrone hinzu, ließ das Gebräu vier Minuten ziehen und schlürfte es in kleinen Schlucken.

Hätte Matteo nur eine unauffällige Rötung des Halses gehabt, wäre der Tee ohne Reiz oder Schmerz durch den Mund und über den Hals in den Magen geflossen. Aber so war es nicht. Der Buchhändler musste feststellen, dass ihn die Schluckbewegung schmerzte, wie ihn noch keine Schluckbewegung geschmerzt hatte, und holte Bleistift und Papier.

Seit ein paar Tagen durften ältere Menschen nicht mehr auf die Gasse. Dies, so die Behörden, zu ihrem eigenen Schutz. Die Seuche war, wie die meisten Seuchen, selektiv. Im aktuellen Fall traf sie hauptsächlich die älteren Leute.

Nein, das war falsch. Sie konnte alle treffen, vom Baby bis zum Hundertjährigen, aber wenn sie die Älteren und die Alten traf, entwickelte sie in deren Körpern fast immer eine unerhörte Wut. Sie brannte die Körper aus, die bald schon an den Beatmungsgeräten hingen, falls sie Unterschlupf in einem Krankenhaus gefunden hatten, und am Ende erstickte man. Es gab auch für die letzten Stunden verschiedene Szenarien. Aber alle waren in der einen oder anderen Weise schrecklich.

Matteo hatte sich oft mit dem Tod befasst. Er war ein Thema geworden, seit Matteos Frau krank, dann sehr krank und schließlich todkrank geworden war. Vorher hatte Matteo nicht glauben können, was eine Krankheit mit einem Menschen anrichten konnte. Ihm fehlte die direkte Anschauung, auch wenn er viele große Romane gelesen hatte, in denen das Sterben eines Menschen beschrieben wurde. Ging einer mit einem Herzschlag weg, so hatte er vermutlich Glück gehabt. Musste sich ein anderer Stück um Stück von Gevatter Tod hinüberziehen lassen, so war der Vorgang von grauenhaften Verwandlungen erfüllt.

Es war, mit einem Wort, tatsächlich das Thema der Verwandlung. Zwar war das ganze Leben eine unaufhörliche Verwandlung. Wenn man Glück hatte, verliefen die einzelnen Phasen so organisch, dass man sie kaum bemerkte. Aber es gab auch Brüche. Matteo hatte das schon als Kind begriffen, als er eines Tages kein Kind mehr war, weil ihm die Stimme zu brechen begann und Erektionen kamen, die man nicht kon­trollieren konnte.

Plötzlich war Matteo kein Kind mehr. Er hätte sich gewünscht, dass er den Übergang mehr spüren und in weiteren Zeiträumen hätte überschauen können. Aber dafür war es in diesem Fall zu spät.

Matteo setzte sich an den Küchentisch. Der Stuhl knarrte, obwohl Matteo kein Schwergewicht war. Im Gegenteil, er war schlank und von mittlerer Größe, immer noch ansehnlich trotz seiner siebzig Jahre, wie Carla betonte, und wenn man vom Aussehen reden musste, so hatte er einen weiteren großen Vorteil. Das Haar war dicht und voll geblieben. Es war ergraut, aber in Würde ergraut, was Matteo etwas Staatsmännisches gab.

Auch sonst konnte er zufrieden sein. Das klar geschnittene Gesicht mit der Römernase und den dunklen, scharfen Augen veranlasste manchmal sogar jüngere Frauen, sich umzusehen. Eigentlich sah Matteo also nicht wie ein Buchhändler aus, wenn man ein Bild von Buchhändler vor sich hatte, das einen bebrillten, unbeholfenen und dicklichen Zeitgenossen vorführte.

Matteo schrieb auf den Zettel. Zitronen. Bananen. Honig (geht bald aus). Weißbrot. Oliven. Sardellen. Schinken. Parmesan. Dann zog er mit dem Bleistift einen vertikalen Strich, der eine zweite Kolonne eröffnete. Über die Kolonne schrieb er: Wichtige Fragen. Darunter kamen ein paar Stichworte, von denen Matteo glaubte, dass sie wichtig seien, wenn er mit dieser Krankheit umzugehen hätte, von der er glauben musste, dass sie die Krise oder Seuche war.

Die Sache war die. Es galt, der Seuche möglichst furchtlos ins Auge zu blicken, solange die Kraft dafür noch vorhanden war. Dazu gehörten zunächst die Maßnahmen, die man mithilfe von Verwandten und Ärzten im Sinn der Erhaltung seiner Gesundheit treffen konnte. Man musste sich schonen. Gänge nach draußen waren ab sofort unter allen Umständen verboten. Außer, das Haus war in Brand geraten. Weiter konnte man versuchen, mit den richtigen Medikamenten den Verlauf ein wenig zu steuern.

Als sich Matteo vom Tisch erheben wollte, fühlte er Schwindel. Der Küchenboden mit dem Schachbrettmuster aus alten Kacheln war ins Trudeln geraten. Das Schachbrett drehte sich langsam, aber der Effekt war ärgerlich. Matteo probierte es langsamer. Während er sich mit der einen Hand auf den Tisch stützte, fasste die andere einen Stuhl, den Matteo nun wie eine Gehhilfe vor sich herschob. Es gab ein kratzendes Geräusch. Die Uhr an der Küchenwand zeigte 5 Uhr 26 Minuten.

Hatte Matteo die Nachbarn geweckt? Das war nicht unwahrscheinlich. Im oberen Stockwerk wohnte eine Frau unbestimmten Alters, die Professorin an der Universität war. Sie hatte ihm einmal im Treppenhaus erzählt, dass sie das Fach Geschichte unterrichte. Matteo hatte sich interessiert gezeigt und ihr von seinem Buchhändlerleben erzählt.

Später hatte ihn die Professorin zu einem Kaffee eingeladen und dazu Süßigkeiten aufgetischt. Matteo, der selbst ein altmodischer Mensch war, hatte sich da­rüber gefreut.

Die beiden hatten über die Geschichte des Altertums geredet. Die Antike war für Matteo ein faszinierender Stoff. Zum einen waren die Menschen bereits aufgeklärt und gebildet in einem modernen Sinn. Zum anderen war ihr Himmel mit Heerscharen von Göttern bevölkert. Man konnte diesen oder jenen Gott anrufen oder sogar in Form einer Büste bei sich zu Hause aufstellen und verehren.

Ereignete sich Gutes im Leben, so hatte der Gott daran mitgewirkt. Hatte sich Schlechtes ereignet, so war das übermächtige Schicksal, das die Römer als fatum bezeichneten, schuld gewesen. Gegen das fatum konnten Hausgötter nicht viel ausrichten. Jedenfalls fand auch die Professorin, dass diese Balancierung der Zuständigkeiten wie der Abwesenheiten von Göttern und anderen helfenden Geistern etwas Lebensdienliches hatte.

Matteo schob den Stuhl weiter durch die Küche, in die das Tageslicht einzufallen begann. Früher hatte Matteos Frau hier gewirkt. Sophia war vielleicht nicht besonders weise gewesen. Aber sie war eine gute und unauffällige Köchin gewesen, die aus dem Nichts die herrlichsten Mahlzeiten herbeizauberte.

Jetzt glich die Küche einer leeren Werkstätte, deren Wände noch ein paar Arbeitsinstrumente aus der Zeit des Erfolgs zeigten. Auch diese Verwandlung war hinzunehmen. Es wäre interessant, an der Verwandlung der Räume von Arbeit und Leben die einzelnen Stationen und Schicksalsmomente im Dasein eines Menschen abzulesen und einzuschätzen.

Was aber gälte im Fall derer, die nichts davon hatten? Der Migranten und Flüchtlinge, die immer nur das Unterwegs kannten und dabei versuchten, mit wenigen Habseligkeiten ein provisorisches Stückwerk von Heimat um sich zu schaffen?

Die Buchhandlung lag im Erdgeschoss. Hier hatte Matteo angefangen, vor fünfzig Jahren und als junger Mann. Hier war er geblieben und hatte im Bleiben beobachtet, wie sich das Quartier veränderte. Es hatte keinen Sinn, darüber zu lamentieren. Nostalgie war ein Lebensgift. Aber natürlich war es schöner und inniger gewesen, als der Laden gegenüber noch kein Internet-Shop war, sondern eine Milchhandlung, die neben Frischmilch auch Käse und andere Herrlichkeiten darbot.

War es verboten, in das eigene Geschäft hinunter­zu­gehen? Die Wohnung zu verlassen, um gewissermaßen eine andere Wohnung im selben Haus zu besuchen? Matteo verneinte die Frage. Aber er war sich nicht ganz sicher, ob er nicht nur recht hatte, sondern auch nach dem Recht handelte. Andererseits wäre es falsch, die Professorin um Rat zu bitten. Sie war eine höfliche und intelligente, aber auch vorsichtige und genaue Dame. Selbstverständlich war ihr bewusst, dass Matteo zur Risikogruppe zählte, und wenn sie noch mitzuhören bekäme, wie er zu husten begänne, wäre mit jeglichem Kontakt augenblicklich Schluss.

Ich würde Ihnen raten, zu Hause zu bleiben. Basta, Schluss.

Also Vorsicht. Es wäre unter allen Umständen zu verhindern, dass er, Matteo, sicht- und hörbar würde, während er das Treppenhaus hinunter- und hinauf­schlich. Er musste leise sein. Aber er musste auch ab­zuschätzen versuchen, wer von den anderen Mietern wann, zu welchen Stunden das Treppenhaus benutzte.

Zweitens war den anderen Hausbewohnern gegenüber so lange als möglich geheim zu halten, dass er von der Seuche befallen worden war. Ein solcher Befall konnte, wie in den Zeitungen zu lesen stand, durchaus eher harmlos sein und sogar in sämtlichen Phasen der Krankheit harmlos verlaufen. Aber die anderen würden davon nichts wissen wollen und darauf einzuwirken versuchen, dass Matteo rasch und unauffällig aus dem Haus geschafft würde. Je schneller, desto besser. Danach bestände für die anderen Mieter immer noch reichlich Gelegenheit, ihn, Matteo, zu bemitleiden.

Es gab eine Erzählung von Franz Kafka, die das Thema der Verwandlung ausdrücklich machte. Als Buch­händler musste Matteo einen breiten Fächer von Lese­interessen abdecken. Es kamen junge Leute, die Stend­hal brauchten, weil er in der Schule gelesen wurde. Pinocchio war lange Zeit ein Bestseller ge­wesen. Neben den Klassikern gab es die sogenannte aktu­elle Literatur. Auch hier musste man beschlagen sein, wenn man wie Matteo im Einmannbetrieb tätig war. Das Neueste wurde dann bald oftmals das Älteste. Aber das war egal. Eine Zeit brauchte auch die literarischen Sekunden, die mittickten und die Neugier befriedigten.

Kafka also hatte die Verwandlung erzählt, die ein Mann durchlief, der sich eines Morgens dabei überraschen musste, dass er in einen riesigen Käfer verwandelt worden war. Für die Deutung dieses ziemlich makabren Geschehens kamen viele oder mindestens einige Lösungen infrage. Matteo konnte sich schwach daran erinnern, dass ihn keine befriedigt hatte. Hingegen blieb ihm bis heute im Gedächtnis, dass der Käfer schließlich gestorben war. Darauf war die Putzfrau gekommen und hatte ihn weggewischt und entsorgt.

Matteo war ins Bett zurückgekehrt. Der Tee hatte gut­getan, aber so viel genützt, wie Matteo befürchtet hatte, nämlich wenig. Es war immer noch zu früh, Carla anzurufen. Draußen war es weiterhin so ruhig, wie es früher, seit sich Matteo erinnern konnte, niemals ruhig gewesen war. Hierzulande sind die Leute doch fröhlich, dachte Matteo. Manchmal, sogar häufig sind sie lärmend und laut.

Nichts davon. Von den Tiefen der Gasse herauf war weiterhin nur das Schweigen zu hören, das sich in den letzten Tagen verdichtet hatte. Konnte Schweigen noch gesteigert werden? Das war auch eine musikalische Frage.

Das Kind Matteo war zum Erlernen des Klavierspiels verurteilt worden. Man konnte es kaum anders sagen. Matteo wäre damals lieber Fußballkönig gewesen, aber der Vater, der hie und da in einem Laienorchester mitmachte, kannte kein Erbarmen. Entweder Klavier oder Geige, hatte der Vater gedonnert. Geige ist schwieriger, hatte er hinzugefügt. Damit war der Fall klar. Ein altes Klavier, das lange Zeit nicht mehr benutzt worden war, stand weit hinten im Wohnzimmer. Es wurde gereinigt und gestimmt, und die Reise konnte beginnen.

Matteo war alles andere als begabt. Die Klavierlehrerin gab sich große Mühe und brach regelmäßig in Tränen aus. Aber die Musik war schön, manchmal herzergreifend schön, wie Matteos Mutter ausrief, wenn er unter Schweiß und Stöhnen versuchte, das Stück zu spielen, das ihm aufgetragen worden war.

So schön wie du spielt sonst keiner. – Die Mutter war völlig verzückt.

Mama, du übertreibst.

Immerhin lernte Matteo auch, was Pausen waren. Pausen waren nicht einfach leere Luft oder ein Zug, der plötzlich ohne Grund stillstand. Sie hatten die Aufgabe, die Musik nachklingen zu lassen. Oder sie bereiteten darauf vor, dass bald eine wichtige Begebenheit folgen würde.

Als Matteo wieder einmal krank gewesen war, hatte er weiter daran herumstudiert. Eine Krankheit, so harmlos sie auch sein mochte, war ebenfalls eine Pause. Andererseits konnten das Vorher und das Danach nicht einfach als Musik bezeichnet werden. Sonst wäre das Leben viel schöner gewesen, während es doch voll von bösen Abenteuern und Schicksalsschlägen war. Allmählich lernte Matteo, dass es im Leben Pausen gab, die so kostbar waren, dass sie für sich selbst standen. Diesen Pausen waren sowohl das Vorher wie das Nachher egal. Sie galten absolut und standen für sich. Wenn man nicht an die Ewigkeit im Paradies oder anderswo glaubte, war der Tod ebenfalls eine solche Pause.

Matteo hörte, wie jemand durch das Treppenhaus lief. Von seinem Schlafzimmer aus war es nicht möglich, zu beurteilen, welcher Nachbar in welcher Richtung seiner Wege ging. Matteo hätte aufstehen, das Fenster öffnen und nach unten spähen können. Aber erstens war das unwürdig, und zweitens war es egal. Man durfte davon ausgehen, dass der Treppensteiger gesund war und einen Beruf hatte, der seine Anwesenheit außer Hause erforderte. Ein Arzt. Ein Verkäufer in einem Geschäft für Lebensmittel. Ein Journalist. Ein Polizist.

Es gab wichtige, lebenswichtige Berufe, die auch während der Krise oder der Seuche wahrgenommen werden mussten. Die Zeitungen berichteten von wahren Wundern, die von selbstlosen Leuten in den Kliniken und in den Notunterkünften vollbracht wurden. Der Beruf des Buchhändlers gehörte nicht in diese Kategorie.

Auch wenn das nicht ganz stimmte.

Ein gutes Buch, unter bestimmten Umständen überhaupt nur ein Buch, egal wie gut oder schlecht, konnte ein Leben auch in Lebenslagen begleiten und vielleicht verändern, die prekär, ja katastrophisch waren. Bücher waren in bestimmten Situationen, die nachtschwarz waren, zu Leuchttürmen geworden. Sogar Menschen, die unter normalen Bedingungen kaum je ein Buch angefasst hätten, fanden dabei zu sich selbst oder wieder zu anderen, die sie in der Zwischenzeit verloren hatten.

Matteo wurde immer bewusster, dass die geschlossene und versperrte Buchhandlung, die er normalerweise im Erdgeschoss des Hauses betrieb, in dem er zugleich seit fast fünfzig Jahren wohnte, dass diese seine Buchhandlung ein Lebensanker war oder werden konnte.

Daran war jetzt, gerade jetzt, zu denken. Die Seuche würde ihn vermutlich packen, vermutlich schütteln, vielleicht würde er sterben, vielleicht würde er durch ein Wunder und gegen die Statistik überleben. Aber solange der Kopf noch fühlte und dachte, ohne dass er schon auf Wolken schwebte oder in Albträumen versank, so lange würde Matteo daran denken, wie jetzt, gerade jetzt, die Kraft der Bücher zu nutzen war. Vielleicht, dachte er, musste man sie zu diesem Zweck nicht einmal lesen. Jedenfalls nicht zur Gänze.

2

»Wie geht es dir?«

Carla war ihm zuvorgekommen. Möglich, dass sie etwas geahnt hatte. Gedanken übertrugen sich manchmal, ohne dass direkter Kontakt nötig gewesen wäre. Dahinter musste nichts Metaphysisches stecken. Vielleicht würde die Wissenschaft herausfinden, dass auch Gedanken, wie so vieles andere auch, aus Wellen beständen, die man erfassen und schließlich sogar verstehen könnte.

Matteo hatte bei einem Schriftsteller gelesen, dass dieser einen anderen Schriftsteller gelesen hatte, der schon früher darüber nachgedacht hatte. Der Gewährsmann hatte geschrieben, wenn der Tag komme, an dem die Menschen gegenseitig ihre Gedanken lesen könnten, werde die Welt schlagartig, noch viel schneller als durch jede Seuche, untergehen. Also wäre es mit der Menschenliebe nicht besonders weit her gewesen, obwohl man sie gerade dann besonders nötig gehabt hätte.

Matteo berichtete Carla von dem Kratzen im Hals. Auch davon, dass er sich schwächer fühle als sonst. Carla schien besorgt. Vier kleine Worte wie eben diese – Wie geht es dir? – konnten leere Konvention bedeuten. Oder sie konnten, wie in diesem Fall, ernst gemeint sein und je nach der Antwort eine Kaskade von weiteren Fragen und Antworten auslösen.