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Weimar, 1919. Paula, Tochter eines Orgelbau-Unternehmers, will unbedingt selbst Orgelbauerin werden. Sie geht bei Hans Meichelbeck, der sich im Streit von Paulas Vater getrennt und eine eigene Orgelbauwerkstatt gegründet hat, in die Lehre. Inspiriert vom Weimarer Bauhaus, denken Hans und Paula das alte Handwerk neu. Paula freilich sieht sich als weit und breit einzige Frau im Orgelbau insbesondere mit familiärem Widerstand konfrontiert. Kann sie dem Gegenwind trotzen?
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Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Martin Meyer
Die Orgelbauerin
Roman
Personen und Handlung sind zu Teilen fiktional.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Doris_Kenyon_Stars_of_the_Photoplay.jpg; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2014_Tarnobrzeg,_ko%C5%9Bci%C3%B3%C5%82_Wniebowzi%C4%99cia_NMP,_organy.jpg
ISBN 978-3-7349-3134-5
Für Lars
Paula Bertram klopfte leise an die Tür zum Stimmraum der Orgelwerkstatt.
Stille.
Sie pochte stärker.
Hans Meichelbeck, ein Mitarbeiter ihres Vaters, öffnete ihr die Tür. »Komm rein, aber sei artig.«
»Bin artig.«
»Weiß ich doch.« Nun lächelte er.
»Danke.« Paula schürzte die Lippen, entbot dem Gesellen den Knicks. Oder war er schon Meister? Sie verlor das Gleichgewicht, glitt zu Boden.
Meichelbeck lachte und hob sie wieder auf.
Verstohlen richtete Paula ihren verrutschten Haarreif und folgte Meichelbeck in den bloß von einer Petroleumlampe erhellten Stimmraum der Orgelbauwerkstatt. Dort wurden, das wusste sie bereits von ihrem Vater, gefertigte Pfeifen das erste Mal zum Klingen gebracht. Dieser Gestank nach Öl, Lacken und Lasuren aus der benachbarten Holzwerkstatt! Daran musste sie sich zunächst gewöhnen. Die Chemikalien brannten ihr in den Augen, sie rieb. Dann entdeckte Paula Orgelpfeifen aus Holz, die auf einer Art Gestell steckten.
»Die sind aber groß«, staunte sie.
Hinter sich nahm sie einen Schatten wahr, jemand betrat den Raum. Es war jedoch nicht ihr Vater, sondern ein Lehrling, mit einem Besen und einer starken Petroleumlampe in den Händen.
Meichelbeck nickte dem Lehrling zu, bat ihn, mit dem Kehren noch zu warten, und winkte Paula vor das Gestell mit den Pfeifen.
»Was für Pfeifen sind das?«, fragte sie.
»Hohlflöten.«
»Wunderschön sind die.«
»Und so klingen sie auch, sehr mild und weich.« Meichelbeck stellte Paula einen Trittschemel hin, sodass sie die Pfeifen aus der Nähe betrachten konnte. Wie intensiv das Holz duftete! Es roch nach Harz, das sie von Streifzügen durch die Wälder kannte. Paula liebkoste die Pfeifen ein letztes Mal und stieg vom Tritt hinunter.
»Flöten sind Lippenpfeifen. Diese Pfeifen sehen fast aus wie eine Blockflöte, bloß ohne die Löcher für die Finger. Hast du schon mal eine Blockflöte gesehen?«
Paula nickte. Meichelbeck zeigte nun auf die Öffnung an der Seite der Pfeife. »Schau, hier strömt die Luft durch und bringt die Pfeife zum Schwingen und Klingen. Fast wie bei unseren Lippen, wenn wir pfeifen.« Der Geselle pfiff eine Melodie.
Sie lauschte ihm fasziniert. »Gibt es noch andere Pfeifen?«, fragte sie nach dem letzten Ton.
»Ja, die Zungen. Die sind immer aus Metall und haben keine Lippen, sondern ein Metallblättchen, das in der Luft schwingt und dadurch den Ton erzeugt.«
Paula staunte. »Führst du mir die Hohlflöten vor?«, bat sie Meichelbeck. Der groß und stark war wie alle Männer im Betrieb, aber eine sanfte Stimme hatte. Der nie barsch zu ihr gewesen war.
»Gern.«
»Und wie machst du das?«
»Hier an dem Gestell. Solche Vorrichtungen, auf denen die Pfeifen angebracht sind, heißen Laden, auch bei der richtigen Orgel. Und die hier, die nur dazu da ist, Pfeifen erstmals zum Klingen zu bringen, nennen wir Intonierladen. Damit werden unsere Pfeifen, ehe sie in die Kirche kommen, vorintoniert, also im Ton grob gestimmt. Schau mal, hier ist die Klaviatur, auf der man spielt. Und dort kommt die Luft für die Pfeifen auf der Lade heraus.« Er wies auf ein aufgefächertes Gestell mit Beuteln, an dem ein Fußtritt angebracht war.
»Ist das der Blasebalg?«
»Genau.«
Sie setzte sich auf den Schemel am Öfchen, Buchenscheite knisterten darin, das Feuer wärmte. Sie glitt aus den Stiefeln. Streifte die kratzenden Wollsocken ab und streckte die Beine von sich. Dabei sah sie Meichelbeck zu, wie er den Halt der Pfeifen überprüfte und danach an die Klaviatur trat, worauf er dem Lehrling bedeutete, den Balg zu treten.
Der tat, wie ihm geheißen. Der Balg murrte, dann machte er genug Wind für die gespielte Melodie.
Paula schloss die Augen. Sie hörte den Klang nicht nur, sie spürte auch die Luft schwingen und singen. Sie schaute zu Meichelbeck hinüber. Jetzt schien er die Tasten schier zu streicheln. Wie klein seine Hände waren! Keine Spuren von Dreck oder Wagenschmiere an seinen Fingern. Wie sie sich wohl anfühlten?
Der letzte Ton verklang, und trotz des eher kleinen Raumes hallte er ein wenig nach. Wie lange so ein Ton wohl in großen Kirchen hallte?
Auf dem Schemel in ihre Gedanken vertieft, bemerkte Paula nicht, dass Meichelbeck die kleinste Hohlflöte aus der Lade gezogen hatte und nun neben ihr stand.
»Möchtest du da mal reinblasen?«
Paula sprang auf. »O ja, liebend gern!« Sie griff danach.
Der Geselle schüttelte den Kopf. »Lass bitte los, ich halt sie fest. Sie darf nicht noch einmal hinunterfallen. Sonst krieg ich Ärger mit deinem Vater.«
Sie ließ artig ab. Meichelbeck führte ihr die Pfeife zum Mund, und sie blies ein paarmal hinein.
»Genug jetzt!« Meichelbeck wirkte plötzlich ungeduldig.
Beinahe kam es ihr vor, als bereue er es, dass er sie die Pfeife hatte ausprobieren lassen.
Paula setzte sich zurück auf den Schemel. Trotz des Öfchens fror sie auf einmal. Sie zog die Socken wieder an und schlüpfte rasch in die Stiefel. Meichelbeck wischte die Pfeife mit einem Lumpen ab. Sie hörte Schritte hinter sich, zuckte zusammen. Abermals war es der Lehrling, der nun die Späne vom Boden kehrte.
Schweigend steckte Hans Meichelbeck die Pfeife zurück auf die Intonierlade. Paula igelte sich auf ihrem Schemel ein und stützte den Kopf auf Hände und Ellenbogen. So jedoch saß sie dem Besen des Lehrlings im Weg. Sie hebelte sich rasch empor und schob den Schemel an die Wand. Fieberhaft sah sie sich im Raum um, suchte nach etwas, was aufzuräumen war oder wie sie Meichelbeck helfen könnte. »Hans?«
»Ja?«
»Ich bin doch schon groß.«
»Bist du.«
»Und habe immer gute Zensuren in der Schule.«
»Ja.«
»Ich könnte hier in der Werkstatt …«
»Könntest du«, unterbrach Meichelbeck sie. »Aber …« Er zögerte.
»Aber?«
Meichelbeck schluckte. Seine betretene Miene verriet, dass er ihr etwas verschweigen wollte. Der Lehrling kehrte um sie herum.
Paula stockte der Atem, denn jetzt hörte sie Schritte, die sie nur zu gut kannte.
Vater betrat den Stimmraum. »Was hast du hier verloren?«, herrschte er sie an.
»Sei doch nicht so grob zu ihr, sie möchte nur mal Werkstattluft schnuppern«, beschwichtigte Meichelbeck ihren Vater.
Der ging darüber hinweg. »Paula, siehst du nicht, dass du beim Kehren störst?«
»Ich will Orgelbauerin werden!«
»Das kannst du nicht als Frau. Los jetzt, raus hier!«
Die bucklige Gasse in dem Weimarer Vorort Taubach zog sich in die Länge. Paulas schwerer Koffer hing bei jedem Schritt in ihren Kniekehlen. Schwüle lag in der Luft. Nach einem kurzen Schauer stach jetzt die Sonne herunter. Drückender als das Wetter jedoch waren ihre Gedanken. Würde Hans Meichelbeck, den sie seit ihrer Heirat nie mehr gesehen hatte, sie überhaupt reinlassen? Was würde er sagen? »Bedauere, du kannst nicht bei mir bleiben«? Und müsste sie dafür Verständnis haben?
Hans, zum Kompagnon des Vaters aufgestiegen, hatte sich weit vor dem Krieg und nach einem erbitterten Streit vom Betrieb losgesagt. Er hatte sich den Orgelbau anders vorgestellt und einen neuen Betrieb gegründet, zu Vaters Ärger in Taubach, also nur wenige Kilometer von Bad Berka entfernt. Hans richtete Barockorgeln wieder her, als einziger Orgelbauer weit und breit, weil hierzulande kaum einer die alte Orgelbaukunst zu schätzen wusste und lieber neu baute. Dabei hatte Hans recht damit, Altes instand zu setzen, denn wer hatte noch Geld für einen Orgelneubau?
Paula war von Weimar bis hierher nach Taubach zu Fuß gelaufen. Nun setzte sie ihren Koffer ab und ruhte kurz aus. Ihre blaue Hose – denn Kleider trug sie kaum mehr – war staubig von den Gassen des Ortes; auf ihrer weißen Bluse hatte sich ein Spatz verewigt. Zum Glück kannte sie keiner.
Eine tiefe Männerstimme rief sie zurück ins Hier und Jetzt: »Kann ich Ihnen behilflich sein, gnädige Frau?«
Weder gnädig noch Frau, dachte sie. Schürzte die Lippen zu einem »Danke der Nachfrage, nein«. Griff nach dem Koffer, ließ den Mann stehen, der in der Kluft des Bauern aus seinem Hof auf sie zugelaufen war, und stapfte weiter bergan.
Immer bescheidener wurden die Häuser dieser Gasse. Rein nichts wies darauf hin, dass im etwa fünf Kilometer entfernten Weimar dieser Tage große deutsche Geschichte geschrieben worden war. Aus den Trümmern des Hohenzollernreiches war eine Republik erstanden, in Weimar war sie eben Verfassung geworden. Auch Paula hatte die Scherben der Vergangenheit aufgekehrt. Sie hatte ihrem rückwärtsgewandten Ehemann Herbert Motte die Stirn geboten und dafür mehr als nur verbale Prügel bezogen. Der hatte in seiner Erfurter Möbelfabrik weiter Herrenzimmer aus schwerer Eiche anfertigen und sie ins Kontor stecken wollen, um eine bezahlte Angestellte einzusparen. Doch Paula hatte nach einem wütenden Schlag mit einem Schürhaken von ihm die Scheidung erstritten und sich ein Zimmer im Weimar der neu erstandenen Republik gemietet. Jetzt, Ende September, waren sie jedoch wieder aus Weimar fort, die Begründer der Republik und Paula. Auf Dauer konnte sie die Zimmermiete nicht bezahlen. Und Weimar war die strukturell konservative Residenzstadt geblieben. Wer nicht mit Goethe schillerte, galt wenig; wer von seiner Hände Arbeit lebte, rein gar nichts.
Paula war am Ziel, vor Meichelbecks Werkstatt, einem Anwesen, das zuvor eine Zimmerei oder Tischlerei beherbergt haben dürfte. Sie betrat es. Aus der halb offenen Türe eines Schuppens roch es nach frischem Holz. Paula spitzte hinein. Buche, nicht das verhasste Eichenholz ihres geschiedenen Gatten. Sie ließ den Koffer vor dem Schuppen stehen und schritt an die Tür der »Orgel-Manufaktur Meichelbeck«, so das Schild aus weißer Emaille an der Wand. Es war keine Klingel da. Stattdessen ein gusseiserner Türklopfer. Paula fasste sich ein Herz.
Stille.
Sie klopfte ein zweites Mal. Sollte sie ihn zunächst mit Sie ansprechen?
Jetzt öffnete sich die Tür, und er stand vor ihr. Sein Gesicht war kaum gealtert. Er zog seine tiefgründigen Augen samt den dichten Brauen hoch. »Paula, du!« Es klang wie eine Feststellung.
Hatte er geahnt, dass sie Hilfe brauchte? Oder gar, dass sie ihren Wunsch, Orgelbau zu erlernen, endlich verwirklichen wollte?
Er bot ihr die Hand und bat sie hinein. Paula sah hinter sich. Ihr Koffer stand noch am Schuppen.
»Was ist?«, fragte er.
»Mein Koffer steht noch draußen.«
Wieder dies Nicken, nun mehr als nur ahnend. »Du bist in Not.« Er blieb beim Du.
»Ich brauche ein Dach über dem Kopf.« Nur nicht lange drum herumreden.
»Sei mir herzlich willkommen.« Hans bat Paula um den Koffer und führte sie über eine steile Treppe in ein Zimmer im ersten Stock des Gebäudes, der früher die Wohnung des ersten Gesellen oder designierten Meisters beherbergt haben könnte und daher noch weitere leer stehende Räume aufwies.
Paula, überwältigt von Glück und Erschöpfung, setzte sich auf das Bett, welches jetzt ihr gehörte und, als hätte es auf sie gewartet, mit Leinen in Rot und Weiß frisch bezogen war. Sie sog die aus der Werkstatt heraufziehende Luft ein, die sowohl nach billigem Zink, dem Ersatz für die im Krieg konfiszierten Zinnpfeifen, als auch nach feinstem Holz roch. »Tausend Dank!«
»Gern.«
»Ahntest du, dass ich es bin, die klopft?«, entfuhr es ihr.
»Ja.«
»Warum?«
»Du hast immer so geklopft.«
»Stimmt.« Paula fühlte, wie sie errötete, und blickte prüfend an sich herab. Nichts mehr an dem, was sie anhatte, verriet die Paula des Kaiserreichs. Ihre naive Liebe war Geschichte, ebenso das Züchtige und Zopfige ihrer Ehe. Wie angenehm, dass Hans weder einen Blaumann noch eine Kniebundhose trug, sondern eine Hose aus Leinen, dazu ein weißes Hemd mit zartblauen Streifen. Wie zum Pferdestehlen zwinkerte er ihr zu. Dem Krieg zum Trotz schien er kaum gealtert. War er nicht an der Front gewesen?
Paulas Blick wanderte zu einer Orgelpfeife, einer Flöte 8ꞌ1, die als Wandschmuck über einem Bord angebracht war. Ihr Herz schlug schneller. Sie ähnelte jener Pfeife, durch die Hans sie einst hatte blasen lassen – bis ihr Vater sie unwirsch aus der Werkstatt geschickt hatte.
»Erinnerst du dich an die Hohlflöte?«, fragte Hans und setzte sich auf einen Stuhl in der Dachschräge. Er ließ die Daumen umeinanderkreisen; seine grotesk kleinen Hände faszinierten Paula seit je. »Und an diese kleine Szene damals mit deinem Vater?«
»Klar.«
»Die Flöte ist sozusagen meine Rache an ihm. Ich habe sie, kurz bevor du damals kamst, aus Versehen fallen lassen. Als du dann reingeblasen hast, erkannte ich zu meinem Schrecken, dass sie beschädigt war. Deshalb habe ich, du erinnerst dich, dir diese Pfeife wieder weggenommen. Es half nichts – dein Vater, der sich sehr über dein Eindringen in die Werkstatt aufgeregt hat, ließ mich für den Schaden haften und zog mir was vom Lohn ab. Ich entwendete deinem Vater die Pfeife und hob sie für dich auf, anstatt das Holz anderweitig zu nutzen. Ich nahm sie sogar nach meinem Ausscheiden aus dem Betrieb mit, ohne dass dein Vater es jemals bemerkte.« Er nickte ihr zu. »Lass uns nun in die gute Stube gehen, du hast sicher Hunger und Durst.«
»Danke, Hans. Danke auch für die Pfeife, die Geschichte rührt mich zu Herzen.«
In Hans’ Küche war der Krieg abzulesen. Das Brot war hart, die beiden Äpfel schrumpelig. Dazu gab es einen Kanten Harzer Käse. Sie teilten sich das karge Mahl und tranken frisches Wasser aus dem Hausbrunnen. Die »gute Stube« fungierte zugleich als Büro. Am Tisch war Platz nur für vier. Wie viele Gesellen mochte der Betrieb haben? Arbeiteten überhaupt welche hier, von angehenden Meistern ganz zu schweigen?
»Wie kamst du auf Taubach?«, fragte Paula über dem Stück Brot. »Es gibt größere Orte hier und welche mit Bahnhof und Güterabfertigung.«
»Ich hoffte auf Weimar. Und hörte mich auch in Oberweimar um, dem Dorf dazwischen. Von einem Kirchenältesten dort, Max Baumbach mit Namen, erfuhr ich unter dem Siegel der Vertraulichkeit, dass ein Taubacher Tischler kurz zuvor den Offenbarungseid habe leisten müssen und so sein Anwesen zum Notverkauf stehe.«
Paula hatte ihm aufmerksam zugehört. Sie aß zu Ende und erwog nun jene Frage, die darüber entschied, ob sie in Taubach mehr bekam als ein Obdach auf Zeit. »Ist also diese frühere Tischlerei für dich wie ein Zurück zum Orgelbauhandwerk?«
»In der Tat.«
»Zurück zu Silbermann2?«
»Richtig. Du weißt, wie viele historische Orgeln es in dieser Gegend noch gibt. Zum Glück sind die Gemeinden hier eher klein und arm. Viele barocke Orgeln sind erhalten geblieben, meistens eher schlecht als recht. Für sie habe ich hier gegründet. Um sie vor der Vernichtung zu bewahren.«
»Wird man da nicht eher eine billige neumodische in Auftrag geben?«
»Ja, natürlich«, konzedierte Hans und legte ihr den zweiten Apfel auf ihren Teller.
Sie bedankte sich. Wie hungrig musste sie aussehen!
»Der Prophet gilt auch in Weimar wenig«, führte Hans nach dem letzten Bissen seine Überlegungen fort. »Dennoch ist das Kaiserreich an Größenwahn zugrunde gegangen. Nicht anders wird es dem deutschen Orgelbau ergehen. Du weißt, was ich damit meine. Die Orgeln wurden größer infolge der pneumatischen Traktur, die den Impuls von Tasten und Registerzug nicht mehr mechanisch, sondern per Luftdruck an die Laden und die einzelnen Pfeifen weitergibt. Aber um welchen Preis? Den bezahlt der Organist, der den Ton nicht mehr unter seinen Fingern entstehen spürt. Er wird dadurch von seinem Instrument getrennt und entfremdet.«
Paula nickte.
»Wir müssen daher zurück zum Handwerk. Den Orgeln ihre Individualität und ihre Seele zurückgeben. Und vor allem die alten Instrumente erhalten.«
Nun galt es. Das war die Gelegenheit, ihm die entscheidende Frage zu stellen.
»Wie du weißt, konnte, durfte ich unter Kaiser Wilhelm und bei meinem Vater nicht Orgelbauerin werden. Musste mich bescheiden. Leider fügte ich mich, zu jung verliebte ich mich und verlor mein Ziel aus den Augen. Was hilft es aber, mich dafür zu ohrfeigen? Ich habe meine Lektion gelernt und bin zu allem bereit. Würdest du mich daher als Orgelbaulehrling aufnehmen? Lass uns gemeinsam dafür kämpfen, dass sich das Handwerk erneuert, dass es wieder das Handwerk wird, das es einmal war.«
Hans lächelte, stellte den Kopf schief. Sonderlich überrascht wirkte er nicht. »Du freches kleines Gör«, hob er an.
Was für ein Kompliment für sie!
»Du zeigtest damals schon, was in dir steckt. Nur dein Vater hat es nicht sehen wollen.« Plötzlich hielt er inne. »Die Einwilligung deines Gatten müsstest du aber einholen. Sonst wird es schwierig.«
Paula stand auf und öffnete ihren Koffer, worin sie obendrauf das Wertvollste wusste, was sie bei sich trug: das rechtskräftige Scheidungsurteil.
»Potz Blitz!«, rief Hans aus. Seine Augen funkelten, offenbar hatte er damit nicht gerechnet.
Das galt es nun auszunutzen. »Ich muss dir sicherlich nicht im Einzelnen erzählen, was die Scheidung für ein Krieg war. Ich habe aber mein Ziel erreicht und brenne darauf, es auch dir zu beweisen.«
Paula erhob sich, holte die Hohlflöte und blies hinein. Ein Ton voller Kraft, ohne das nebulöse Säuseln der Orgeln des verglühten Kaiserreichs.
»Siehst du?« Sie brachte die Pfeife zurück an ihren Platz. »Du hast mir diese Pfeife aufgehoben. Du hättest es gewiss nicht getan, wenn du nicht damals schon geahnt hättest, was ich kann. Gib mir bitte ein Stück Holz und ein Messer. Ich zeige es dir.«
»Nun denn.« Hans führte sie in die Holzwerkstatt und reichte ihr das Gewünschte.
»So ein Messer hatte ich auch mal«, erklärte sie und begann mit dem Grobmodell einer Lippenpfeife. »Die Geschichte, die sich um dieses Messer rankt, erzähle ich dir ein andermal.«
Paula brauchte nicht lange zu schnitzen. Bereits nach zwei Minuten beschied Hans: »Ja, du hast großes Geschick, ich sehe und spüre es. Du schnitzt nicht nur, es wird auch große Kunst.« Hans bat sie zurück in die Stube.
Dort angelangt, schenkte er Wasser in beide Gläser, als wollte er mit ihr auf alles Weitere anstoßen. Dann drehte er sich halb zu ihr um, blickte ins Ungefähre.
»Was ist?«, fragte sie.
»Es gibt ein Problem, Vorschriften in Sachen Maschinen. Wohl auch das Blei.«
»Inwiefern?«
»Frauen dürfen nicht mit Bleiemissionen in Kontakt kommen, jedenfalls wenn sie …«
»… in gebärfähigem Alter sind?«, vollendete Paula.
»Ja.«
»Und was meintest du mit ›in Sachen Maschinen‹?«
Hans schaute zu Boden. Er habe noch kein Telefon, sagte er, und gehe jetzt zur Post. Weg war er.
Paula wartete, bangte.
Nach einer Stunde kam er zurück und erklärte: »Leider war telefonisch von den höheren Herren keiner mehr zu erreichen. Ich probiere es gleich morgen früh noch einmal.«
*
Nach einer schlaflosen Nacht mundete Paula nicht einmal der ofenfrische Hefezopf, den Hans für teures Geld beim Bäcker gekauft und ihr mit einer Tasse Kaffee aufs Zimmer gebracht hatte. Hans war erneut auf der Post, und das dauerte beängstigend lange.
Dann die Erlösung: Schritte, knarzende Treppenstufen. Sie öffnete gespannt die Zimmertür.
Mit einem Korb aus Rohr, über dem ein Leintuch lag, stand er vor ihr und erläuterte mit einem spitzbübischen Lächeln: »Also, wir machen es so: Du lernst bei mir das Tischlerhandwerk, rein offiziell, für den Lehrvertrag, den Behördenkram und die Berufsgenossenschaft. Komm in die Stube, dort erzähle ich dir alles.«
Paula nahm den leeren Teller und die Tasse mit hinunter. Hans stellte Paulas Geschirr an eine Spüle in der Werkstatt. In der Stube öffnete er schließlich den Korb. Entnahm ihm eine Flasche Sekt und zwei Gläser und stellte beides auf den Tisch. Eine schwarze Aktentasche lehnte an seinem Bürostuhl.
Paula war flau im Magen. Orgelbau im Verborgenen, ob das wohl gutging?
Hans schien Paulas Unbehagen zu spüren, er ließ von der Flasche ab, die er hatte öffnen wollen, und strich ihr sanft über Schultern und Oberarm. »Keine Sorge, Paula, du wirst das Tischlern lernen, damit du deine Gesellenprüfung darin ablegen kannst. Denn was du dort lernst, benötigst du im Orgelbau, und den lehre ich dich natürlich auch, und zwar als Handwerk. Du wolltest immer Orgelbauerin werden, und jetzt wirst du es. Wir packen das beherzt an. Es sind düstere Zeiten, doch bin ich Optimist. Ich habe bereits Instandsetzungen abgeschlossen – und bis jetzt zahlen alle Auftraggeber.« Er hielt kurz inne, schlug die Augen nieder. »Natürlich habe ich im Krieg auch davon gezehrt, dass alle Prospektpfeifen aus Zinn abzuliefern und durch billigere aus Zink zu ersetzen waren. Die Kirchengemeinden mussten ja selbst dafür aufkommen.«
Paula schwieg. Ihr Vater hatte an diesem Orgelfrevel ebenfalls manche Mark verdient, womöglich vor allem deswegen die Kriegsjahre überstanden. Zuletzt hatte »Orgelbau Bertram« hölzerne Zuber und Kannen aus Blech hergestellt.
»Hast du auch Gesellen?«, fragte sie beklommen.
»Einen, der jedoch bald auf Wanderschaft gehen will.«
Paula hatte sich aus Hans’ Händen gedreht. Sie stand vor dem Schreibtisch und sah sich suchend nach einem Stuhl hinter sich um, den sie dort jedoch nicht fand. Stets hatte sie gedacht, Vater habe ihr aus purer Bosheit die Lehre im Orgelbau verweigert. Nun hatte er auch noch die Gesetze auf seiner Seite.
»Liebe Zeit, du bist ganz blass!« Hans zog einen Flacon aus der Kommode und hielt ihn ihr an die Nase – Menthol, das sie belebte.
»Lass gut sein, Hans, bitte. Ich bin so überwältigt, weiß schier nicht, was sagen.«
»Klar, es hat dich erschreckt. Nur wird es nicht anders gehen. Und wo ein Wille ist, tut sich ein Weg auf. Und noch was: Der Beamte hat mir angedeutet, dass Frauen an der neuen Kunsthochschule hier in Weimar, dem ›Bauhaus‹, auch Holz- und Metallgewerke erlernen wollen. Die werden also nicht alle in die Weberei gehen. Obschon es den hohen Herren natürlich lieber wäre.«
»Echt?«
»Vergiss nicht, das Kaiserreich ist vorbei. Du hast dich von deinem Mann losgeklagt. Du nimmst dir und lernst nur das, was dir zusteht.«
Paula nickte. Hans hatte recht. War es nicht schon immer so, dass die Kunst und letztlich die Menschheit meist Fortschritte gemacht hat, wenn Mutige es wagten, die Grenzen der Tradition zu überschreiten? Bereits die Scheidung war solch eine Grenzüberschreitung gewesen. Paula hatte sie einem liberalen Richter zu verdanken, der dennoch keinen Hehl daraus gemacht hatte, dass sie nun von vorn anfangen müsse. Unterhalt erhalte sie jedenfalls nicht.
Ein Knall. Der Korken. Hans ließ den Sekt schäumen, füllte die Gläser, und sie stießen an.
»Auf dich, auf die erste Meisterin im Orgelbau!«
Viel war jetzt nicht mehr in der Flasche, dafür auf dem Boden, auch der Tisch klebte. Hans musste die Flasche aus Übermut geschüttelt haben. Er holte Schrubber und Lumpen und wischte alles ab. Dann wusch er sich die Hände und öffnete die Aktentasche.
»Schau, Paula, das ist der normale Vertrag für ordentliche Lehrlinge im Tischlerhandwerk. Von der Innung entworfen. Keiner kann uns da was.« Er reichte Paula die Papiere.
»›Lehr- und Ausbildungsvertrag‹«, las Paula. »Und falls doch?«, bangte sie.
»Es wird gutgehen«, sagte er entschieden und ging mit ihr die Bestimmungen des Vertrages durch. Gab ihr schließlich einen Füllfederhalter.
Paulas Finger zitterten, als sie unterschrieb.
Nun wurde Hans’ Stimme brüchig. »Danke für dein Vertrauen. Und danke dem Herrgott, dass er mich zunächst Tischler hat werden lassen. Sonst hätte ich diesen Lehrvertrag mit dir nicht abschließen können.«
Paula nickte. Da war er wieder, jener schmale Grat, auf dem sie wandelten. Doch sie mussten es riskieren. Nur so waren Männerbastionen zu schleifen.
1 8ꞌ bedeutet »acht Fuß« (1ꞌ ca. 30 cm klingende Länge) und bezieht sich auf die Länge der je tiefsten Pfeife: das (große) C. Die Skala reicht von ½ ꞌ bis 16ꞌ, bei großen Orgeln auch bis 32ꞌ oder (vereinzelt) 64ꞌ.
2 Orgelbauer-Dynastie des 18. Jahrhunderts. Näheres siehe Nachwort.
Meine liebe Paula,
wie bin ich stolz auf Dich und auf Deinen Mut, und dennoch schlagen mir Mutterherz und Gewissen. Denn ich kann es mir nicht verzeihen, Dir gegenüber Vater nicht den Rücken gestärkt zu haben. Du weißt um die Kerze. Sie hat mir das Genick gebrochen. Nun sehe ich den Betrieb nahe am Abgrund und das Land in Trümmern.
Und Dich am Ziel. Bin stolz auf Dich!
Es grüßt Dich
Deine Dich über alles liebende Mutter
Liebevoll legte Paula den Brief mit seinen unübersehbaren Flecken, vermutlich von Tränen, auf die Kommode. Am Vortag war er ihr zugegangen als Antwort auf einen Brief Paulas, in dem sie ihrer Mutter von dem Lehrvertrag und den inoffiziellen Nebenabreden mit Hans berichtet hatte. Sie hatte diesen Brief an eine Freundin ihrer Mutter geschickt, denn hätte sie ihn nach Hause adressiert, wäre er vermutlich von Vater abgefangen worden. Paula berührte nicht bloß das Schreiben; sehr zu Herzen gingen ihr die 500 Mark, die dem Brief beigelegen hatten. Ihre Mutter musste sich das Geld abgespart haben.
Es war herbstlich kühl geworden, doch die Stube zu heizen käme ihr zu teuer. Paula hauchte in die Hände, strich behutsam über Mutters Brief und steckte ihn ins Kuvert zurück.
Sie leerte ihre Teetasse, ihr morgendliches Honigbrot hatte sie bereits gegessen. Nun ging es an die Arbeit. Hans hatte zu ihrer Erleichterung vor einigen Tagen von einer Kirchengemeinde aus dem Vogtland den Auftrag erhalten, die dortige Trampeli-Orgel, ein um 1800 erbautes Instrument, rein konservativ instand zu setzen, also die mechanische Traktur mit all ihren Holzleisten und Gelenken zwischen Spieltisch und Pfeifen zu bewahren. Ihre ersten Fertigkeiten als Tischlerin, die Arbeit an und mit dem Holz, Zurichten, Verbinden, Feilen und Ausrichten, den Umgang mit Säge, Feile und Zwingen, mit Scharnieren und Gelenken, konnte sie nun erproben.
Wie sie sich darauf freute!
Sie ließ das Schreiben auf der Kommode zurück und brachte ihr Frühstücksgeschirr in die kleine provisorische Küche hinter ihrem Zimmer, ein Gelass mit kleinem Waschbecken, in dem Hans ihr eine Waschschüssel, ein Büffet mit dem Nötigsten an Geschirr und einen Wasserkocher eingerichtet hatte. Warme Mahlzeiten teilte er sich meist mit ihr und mit seinem Gesellen, der vorläufig doch nicht auf Wanderschaft gegangen war. Der Geselle hieß Eberhard Saueressig und fremdelte spürbar mit ihr.
Paula streifte ihr Nachthemd ab, wusch sich an der Schüssel und zog ihr derbes Arbeitshemd an, darüber Latzhose und Drillich. Dann lief sie treppab in die Werkstatt. Am Vorabend waren aus dem Vogtland per Lastkarren erste Pfeifen der Orgel angeliefert worden, die nun in Reih und Glied an der Wand des Werkstattvorraums zur groben Vorreinigung bereitlagen. Wie sie an dem Hut erkannte, welcher die Pfeifen aus Holz verschloss, waren es Gedackte, Pfeifen also, die einen Deckel hatten.
Sie trat zu den Pfeifen. 120 Jahre alt waren sie, und doch so anschmiegsam.
Plötzlich ging die Tür. »Morgen, Frau Bertram«, brummte der Geselle, nicht ohne sich mit einem Grinsen über ihr Berühren der Pfeifen lustig zu machen.
»Guten Morgen, Eberhard.«
Wieder hatte der Geselle Paulas Bitte, das kollegiale Du zu pflegen, missachtet.
Der Vormittag gehörte einer ersten Sichtung und Reinigung der Gedackt-Pfeifen, auch um sie vorab auf Wurmbefall und sichtbare Schäden zu begutachten. Nach der Pause Schlag 10 Uhr nahm Hans Paula aus dem Vorraum zu sich in die Holzwerkstatt, um sie dort nach Tischlerart mit der Kunst des fachgerechten Verleimens vertraut zu machen. Eberhard quittierte diese – in seinen Augen – Bevorzugung mit einem Stirnrunzeln.
Hans schätzte das Holz mehr als das Metall. Die Zwinge war das Einzige, womit er dem Holz Gewalt antat. Sein Raspeln, Feilen und Modellieren war Poesie – ein Tischler wie aus dem Lehrbuch.
Um 12 Uhr rief Hans: »Brotzeit ist die schönste Zeit«, und lud Paula und Eberhard in ein Gasthaus zum Essen ein. Der Geselle schlug die Einladung aus, angeblich müsse er »auf die Ämter«. Weg war er.
»Auch recht«, murmelte Hans, »dann feiern wir eben zu zweit.«
»Was denn?«, fragte Paula neugierig.
»Einen weiteren Auftrag. Eine kleinere, einmanualige Orgel von 1790 aus einem kleinen Ort bei Chemnitz. Generalreinigung und neue Prospektpfeifen.« Er legte Hut und Rock an. »Nun hat Verdun doch sein Gutes.«
Paula erschrak. Das Schlachtfeld, auf dem ihr älterer Bruder Maximilian fast krepiert wäre.
Auf dem Weg zum Wirtshaus dachte Paula darüber nach, ob sie Hans von Mutters Brief erzählen sollte und mehr von ihrem geschiedenen Mann, ihrem Vater, ihrer Familie. Hans schien dies alles auszublenden, obwohl er zwei Jahrzehnte lang zu »Orgelbau Bertram« gehört hatte.
»Du bist so still«, raunte er, als sie auf die Tür der Gaststätte zusteuerten.
»Ja … weil du vorhin von Verdun sprachst. Maximilian wurde vor Verdun an einem Feldgeschütz verletzt. Er hat nur knapp überlebt.« Paula schluckte. »Bitte, ist kein Vorwurf. Nur damit du das weißt.«
»Wie unbedacht von mir. Tut mir leid.«
Sie traten ein. Hans hatte ein Bauernfrühstück vorbestellt. Er trank dazu ein Bier, Paula ein Glas warme Milch.
»Mein Vater weiß noch nichts von dem Lehrvertrag«, seufzte sie nach dem ersten Schluck. »Irgendwann werde ich es ihm sagen müssen.«
»In der Tat.«
Mehr sprachen sie vorerst nicht darüber, sondern widmeten sich dem Bauernfrühstück – Kartoffeln mit Eiern und ein wenig Speck.
Zurück in der Werkstatt, sollte sich Paula wieder den Pfeifen zuwenden. Ob nun erhitzt vom Essen oder zu arg in Gedanken, ließ sie eine Pfeife fallen. Sie fiel auf den Hut, eine Delle im Holz war die Folge.
Eberhard schwieg, sein Blick sprach Bände. Auch Hans, der sonst Geduldige, runzelte die Stirn.
Er zog sie beiseite und fragte: »Du bist so nervös, was ist denn los?«
Der Weg in die gute Stube war lang genug, damit sich Paula eine Erklärung zurechtlegen konnte. »Ich habe gestern von meiner Mutter einen Brief erhalten, den ich beantworten sollte. Auch um kurz abzuklopfen, wie es meinem Vater und Maximilian geht.«
»Dachte ich mir.« Er bückte sich nach einem auf den Boden gefallenen Zettel.
Sie nickte Hans zu und bedeutete ihm, weiterarbeiten zu wollen. Nun ging sie konzentrierter zu Werke, reinigte drei Pfeifen und fand bei einer vierten, die Hans bereits in Händen gehabt hatte, eine Kerbe im Fuß, die ihrer Aufmerksamkeit bedurfte. Er bedachte sie mit einem Lob und gab ihr schon gegen halb fünf frei.
Nach einer Tasse Tee auf der Stube schrieb Paula den Brief an ihre Mutter. Im matten Schein der Lampe brachte sie danach den Abend über einem Buch über das Tischler-Handwerk zu und ging frühzeitig zu Bett.
Zwei Tage vor Heiligabend.
Noch nie hatte Paula Weihnachten entgegengefiebert, es sei denn, ein Infekt hatte sie geplagt. Dem Fest der Liebe, das sie nicht kannte, weil es stets Konflikte gab.
»Frohes Fest, Hans.« Paula schlüpfte in ihren Mantel, Hans half ihr hinein. Wie immer achtete er darauf, sie hierbei nicht zu berühren.
»Gott befohlen, Paula, ich denke an dich.«
Auch ohne großes Gepäck belastete sie viel auf dem langen Fußweg zum Bahnhof in Weimar. Wie würde ihr Vater auf ihr Kommen reagieren? Wie ging es Maximilian? Nicht gut, wie sie dem Brief ihrer Mutter, den diese auf ihre Antwort hin geschickt hatte, entnehmen konnte.
Hans hatte einen weiteren Auftrag einer Instandsetzung aus einer Kleinstadt in Hessen ergattert. Geselle Eberhard, der Paula weiterhin die kalte Schulter gezeigt hatte, war Hals über Kopf gegangen. Niemand in der Zunft schien zu glauben, dass die Erhaltung alter Orgeln Sinn ergab. Auch die Abendkurse, die Paula besuchte, um im Theoretischen dazuzulernen, blieben dem vermeintlichen Fortschritt durch immer mehr Technik verpflichtet. Abgesehen davon, dass die anderen Schüler sie auch dort siezten.
Insgeheim hatte Paula gehofft, ihre Mutter würde ihr noch mal Geld schicken. Hans teilte weiter mit ihr die Mahlzeiten, und das beschämte sie. Winterbekleidung täte not, vor allem aber wollte sie wieder ein eigenes Zimmer. Sobald sie im Frühjahr nicht mehr würde heizen müssen, würde sie in Taubach eins mieten.
Nach Eberhards Weggang hatte Hans einen neuen Gesellen akquiriert: Volker. Er akzeptierte Paula zwar in der Werkstatt, duzte sie sogar, doch auch er blieb ihr gegenüber distanziert.
Und zu alldem kam Mutters Brief, der vor Kurzem eingetroffen war. Der Paula all das, was vor ihr lag, nicht leichter machte.
Meine über alles geliebte Paula,
wie rührte mich Dein Antwortbrief zu Herzen – wie sehr tut mir leid, dass Du ihn über meine Freundin an mich schicken musstest. Danke auch, dass Du es auf Dich nimmst, Vater über Deinen Lehrvertrag bei Hans – ja, für mich ist er noch der Hans – zu unterrichten.
Maximilian macht mir mächtige Sorgen, er trägt schwer an der Last des Betriebs. Sitzt oft lange im Kontor. Ich fürchte auch, er trinkt. Dabei hat Vater noch nicht übergeben, weil er Maximilian auf Strich und Faden beargwöhnt.
Welch finstere Weihnachten. Dass Du kommst, ist mein einziger Trost.
In nie versiegender Liebe
Deine Mutter
Auf den Trottoirs eilte Weimar Weihnachten zu. Hastig und mit hoch geschlossenem Kragen machten die Frauen letzte Einkäufe und Besorgungen. Es mangelte an vielem. Bis auf die Reichen litten alle an dürren Wangen.
Endlich am Bahnhof angekommen, stellte sich Paula für eine Fahrkarte an. Vor ihr standen zwei junge Frauen, ganz sicher keine Arbeiterinnen, und unterhielten sich. Sie waren gepflegt und dennoch lässig gekleidet, in Hosen und farbigen Pullovern.
»Irre Welt. Dass uns niemand will! Stattdessen vermieten sie an Corpsstudenten. Oder an Offizierswitwen.«
»Sogar an Fabrikarbeiter.«
»Weimar ist für unser Bauhaus zu klein, zu spießig und zu rückwärtsgewandt.«
»Suchen Sie ein Zimmer zur Miete?«, fragte Paula. Schon für diese Anteilnahme hätte Vater sie getadelt. Für ihn wären die beiden Frauen »Gesindel«.
»Ja«, hauchte die erkennbar Ältere der beiden, blickte hastig über ihre Schulter nach hinten und fügte leise hinzu: »Weimar hasst uns Bauhäusler. Neidet uns unser vermeintliches Glück. Dabei haben wir um jedes Stück Brot zu kämpfen wie alle hier im Land.«
Worauf ihr die jüngere Studentin etwas ins Ohr flüsterte und sich mit ihr von Paula abwandte. Dann waren die beiden an der Reihe; sie kauften, wie Paula hörte, ein Billett nach dem Vorort Legefeld.
Paula blieb nachdenklich zurück, denn auch sie wollte ja ein Zimmer. Sie erstand ihre Fahrkarte nach Bad Berka und lief zum Bahnsteig.
40 Minuten später war sie am Ziel. Den langen Fußweg nach Weimar in den Beinen, hätte sie sich nun gern eine Droschke gegönnt, doch selbst ein kleiner Luxus war für sie unerschwinglich. Der Ruß der Lokomotive hing in der Luft; die Leute stierten wie schon am Weimarer Bahnhof zu Boden. Jetzt hingegen war Paula dankbar um jedes Gesicht, das sie, die frisch geschiedene Tochter des Berkaer Orgelfabrikanten, nicht neugierig anstarrte.
Ihr Elternhaus lag eine knappe Viertelstunde vom Bahnhof entfernt. Paula sputete sich, mied die größeren Gassen und kam unbehelligt an. Inzwischen war es Abend geworden, in den Nachbarshäusern leuchtete es weihnachtlich. Das Haus der Eltern stand schwarz und schwieg. Allein der weiße Nebel stieg nicht aus den Wiesen.
Sie fasste nach den Schlüsseln für ihr Elternhaus. Würde Vater sie von ihr zurückverlangen?
Ehe sie aufsperren konnte, wurde es hell im Windfang. Es war ihre Mutter, die öffnete. Da in der Werkstatt kein Licht brannte, hätte es auch ihr Vater sein können.
»Freut mich, dass du da bist.« Mutter umarmte sie innig, schloss hinter ihr zu und legte die Sicherheitskette an. »Kaffee und Weihnachtsgebäck warten auf dich. Sicher hast du Hunger.«
Obwohl die Küche am anderen Ende des Hauses lag, umfing Paula der Duft von Bohnenkaffee. Paula folgte ihrer Mutter in die Küche. In der Diele sah sie ihren Atem, in den Ecken war Schimmelpilz. Die Sonntagsstiefel ihres Vaters glänzten im Schimmer der Deckenlampe. Wie es wohl derzeit um den Betrieb stand? Augenscheinlich sparte man an Feuerung und an Strom. Da passte ins Bild, dass es die Laube im Hof mit den Gartenmöbeln nicht mehr gab, auch sie schien zu Feuerholz geworden zu sein.
Prompt schaltete ihre Mutter das Licht im Flur aus. »Komm in die Küche.«
Paula, noch in den Stiefeln, musste diese im Dunkeln ausziehen. Zum Glück war die Bütte mit den Filzpuschen an ihrem Platz geblieben.
»Wo ist Vater?«, fragte Paula an der Garderobe. Bereute die Frage im gleichen Atemzug. Warum hatte sie damit nicht warten können? Statt in aller Ruhe zu Hause anzukommen und Mutter, deren Wangen schmal geworden waren, zur Hand zu gehen.
»Dein Vater ist mit Maximilian in einer Kirche in weiß Gott wo zum Reparieren«, antwortete ihre Mutter hörbar besorgt. »Wie alle Jahre wieder vor dem Fest, eine wetterfühlige Pneumatik. Totalausfall.« Sie hob die Achseln. »Manchmal frage ich mich, warum die Technik so kompliziert sein muss. Hier ein Relais mehr, dort ein Kontakt. Dazu die Windkanäle für die Pneumatik. Geht alles bloß entzwei.«
»Eine Orgel, die Vater gebaut hat?«
»Gottlob nicht. Nun denn, er tut, was möglich ist, bemüht sich um Reparaturaufträge. Nur deckt das alles kaum die Kosten. Und wer hat schon das Geld, um die abgelieferten Pfeifen aus Zinn vollwertig zu ersetzen?«
Somit war die Küche der einzige beheizte Raum weit und breit. Auf dem Küchentisch verriet die zwar weiße, aber fleckige Tischdecke, dass nun hier gegessen wurde und nicht mehr auf dem Eichenholztisch im Speiseraum. Erst recht nicht im Herrenzimmer, das neben dem Hauspersonal, das es schon lange nicht mehr gab, nur hochmögende Herren in Rock und Zylinder gesehen hatte, bis hinauf zum Vorsitzenden des Bundes Deutscher Orgelbaumeister.
In der Küche wurde nicht an Watt gespart, doch um den Preis der Behaglichkeit. Eine moderne Deckenlampenröhre tauchte den Raum in ein kaltes Licht, das Mutters eingefallene Wangen und ihre Augenringe hervortreten ließ.
»Mutter, lass mich mithelfen.« Paula eilte an den Herd und schürte nach. »Hast du denn keine Hilfe mehr, nicht einmal jetzt vor dem Fest?«
»Ach, Paula.« Ihre Mutter schnäuzte sich. Oder trocknete sie erste Tränen? »Vater würde ja, aber …«
»Aber?«
»Das Geld reicht einfach nicht mehr, nicht hinten, nicht vorne und schon gar nicht im Hause. Es stehen uns karge, traurige Weihnachten bevor.« Mutter rang sich ein Lächeln ab. »Genug gejammert, nun lass es dir schmecken.« Sie schenkte ihr Kaffee ein. »Es gibt nur Magermilch dazu. Kaffeesahne ist unerschwinglich.«
Paula nahm die Tasse in die Hände und wärmte sich an dem heißen Kaffee. Gab etwas Milch hinein und trank. Zumindest der Kaffee verbreitete einen Hauch von Weihnachten. Er war nicht mit Malz gestreckt, also nicht vom allerletzten Groschen abgerungen. Warum sollte es in Bad Berka, der vermeintlichen Idylle von Geheimrat Goethes Gnaden, besser um die Leute bestellt sein als in Weimar, wo sich Verzweifelte abseits der klassischen Bauten um Kohlen und Würste prügelten?
»Schau mal.« Mutter öffnete eine rostige Blechbüchse. »Ich habe Vanillekipferl gebacken.«
Paula verkniff sich die Frage nach den verwendeten Zutaten. Sie ahnte es auch so. Es war Vanille drin, aber keine Butter. Dafür viel Mutterliebe und wohl auch so manche vergossene Träne. Sollte Paula auf noch Schlimmeres gefasst gemacht werden?
»Freust du dich über die Kipferl?«, fragte Mutter und legte ihr zwei auf die Untertasse.
»Sehr.«
»Ach, Kind.« Mutter trank von dem Kaffee. »Das Schlimmste habe ich dir noch nicht gesagt.«
Das erste Kipferl im Mund blieb ihr im Halse stecken. Sie hustete. »Was denn?«
»Du musst es deinem Vater … nicht mehr beichten. Er weiß es bereits.«
»Was?«
»Er muss von deinem Lehrvertrag mit Meichelbeck von Dritten erfahren haben.«
Paula erstarrte. Weimar bei Taubach … Ein Dorf, trotz Goethe und Schiller, und Bad Berka in Hörweite. Man kannte einander und tratschte. Vermutlich war sie beobachtet und nach Bad Berka verpetzt worden. Hatte sie es nicht kommen sehen? »Mutti?«
»Ja?«
»Hat er seine Wut an dir ausgelassen?«
»Nein, das traut er sich nicht mehr, weil ich ihm inzwischen die Bücher führe.«
Immerhin, dennoch bedenklich. »Steht es wirklich so schlecht um die Firma?«
»Ja.« Mutter rang ersichtlich mit den Tränen. »Maximilian ist voller Sorge. Und er kann Vater nichts recht machen. Dabei leidet er schon so an der Kriegsverletzung, er kann mit rechts nicht mit voller Kraft zugreifen. Die Wunde droht sich erneut zu entzünden, unser Arzt hat ihm deshalb vorsorglich einen Verband verordnet.« Mutter weinte jetzt verstohlen in ein Taschentuch. »Maximilian braucht Hilfe, Zuspruch und viel Vertrauen. Sonst sehe ich schwarz – für ihn und den Betrieb und auch für uns als Familie.«
Paula nickte. Büßte nun ihr Bruder Vaters Wut über ihre Scheidung? Über ihre Lehre bei Hans, den Vater in ähnlicher Empörung aus dem Betrieb gejagt hatte?
Es half nichts. Ihrer Mutter und ihrem Bruder zuliebe musste sie Vater die Stirn bieten. Selbst an Weihnachten, dem Fest der Familie.
Amen.
*
Zur selben Stunde schaltete Theodor Bertram vor den Toren Weimars die Orgel in der Kirche des Ortes nach der auftragsgemäß vorgenommenen Reparatur zur Endabnahme ein. Fast zwei Tage Arbeit in einer eiskalten Kirche lagen hinter ihm und seinem Sohn Maximilian.
Mit zugegen waren Pfarrer und Organist, beide hießen die Arbeiten gut. Die leider meist anfälligen Kanäle, Membranen und Ventile der pneumatischen Traktur waren wieder intakt, die Orgel ließ sich wieder spielen.
»Frohe Weihnachten«, wünschte der Pfarrer, den es sogar in seinem Wollmantel fror. »Noch eine winzige Bitte – in Gottes Namen.«
Theodor Bertram ahnte, was kommen würde. »Und die wäre?«
»Dass Sie den Werklohn bis April stunden. Sie wissen ja, die teuren Kohlen.«
Die alte Leier, hundertfach gespielt. »Ganz ohne Sicherheit kommt das nicht infrage.«
Pfarrer und Organist sahen einander an. Worauf der Pfarrer seinen Ehering vom Finger zog und ihn Theodor in die Hand drückte.
Dieser knirschte mit den Zähnen. »Nun, also gut, bis April«, willigte er ein.
Der Pfarrer bedankte sich inständig; der Küster fuhr Theodor und Maximilian Bertram mit dem Fuhrwerk zum Bahnhof in Weimar. Werkstoffwagen und Werkzeugkiste konnten in der Pfarrscheune bis nach Weihnachten warten.
Im Licht des Zugabteils galt Theodors Blick dem als Pfand überantworteten Ehering. Dank seinem Vater, welcher in Weimar Goldschmied gewesen war, besaß er eine Lupe für Gravuren im Schmuck, die Aufschluss über den Goldanteil gaben. Bei diesem Ring war jedoch mit bloßem Auge zu sehen, dass das Material eher Blech war als Gold.
Verärgert hob Theodor den Blick. Ihm gegenüber Maximilian, der zappelig auf der Holzbank saß und an seinem Verband zupfte, den ihm der Arzt vor einigen Tagen nach einer akuten Entzündung seiner Kriegsverletzung angelegt hatte.
»Lass den Verband in Frieden! Der geht nur auf, wenn du an ihm rumdokterst.«
»Die Wunde juckt.«
»Wunde, Wunde, ich kann das Geflenne nicht mehr hören!« Theodor steckte den Ring zurück in die Westentasche. »Die heilt gerade, im Gegensatz zu meiner Schulter. Also hab dich nicht so und werde endlich zum Mann! Wenn du schon einer wärst, hättest du dir die Verletzung gar nicht zugezogen. Mir reicht die meine, und für die kann ich nichts.«
Maximilian zuckte zusammen und ließ von dem Verband ab.
Irgendwann würde Theodor an seinen Sohn übergeben müssen. Blieb nur zu hoffen, dass sich für den Betrieb bald ein Meister des Orgelbaus fand, der an Maximilians Seite das Schlimmste zu verhindern wusste. Zum Teufel noch einmal, womit hatte sich »Orgelbau Bertram« das nur verdient? Einen Filius, der zwar den Meisterbrief im Orgelbau errungen hatte, aber kein Mann geworden war? Der sich täglich durch die Welt grübelte, statt anzupacken und zu gestalten?
Blieb zu hoffen, dass die Kirchengemeinde im April bezahlte. Was in dieser neuen, verlotterten Republik leider nicht mehr selbstverständlich war.