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Alexander-Kenneth Nagel

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Beschreibung

Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimanotstand und nun Corona. Das 21. Jahrhundert ist von Beginn an reich an Krisen. Zugleich haben spätestens seit dem Jahrtausendwechsel apokalyptische Deutungen des Weltgeschehens Konjunktur. Alexander-Kenneth Nagel analysiert die apokalyptische Tiefenstruktur aktueller Krisendiagnosen zur Corona-Pandemie, zur ökologischen Krise vom Club of Rome bis hin zu Extinction Rebellion und zur Krise des Nationalismus. Er vermittelt ein vertieftes Verständnis der Endzeit-Mentalität spätmoderner Gesellschaften und der anhaltenden Konjunktur der Apokalyptik als religiösem und weltanschaulichem Geschäftsmodell.

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Alexander-Kenneth Nagel (Dr. rer. pol.), geb. 1978, ist Professor für sozialwissenschaftliche Religionsforschung an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Religion, Migration und Flucht sowie apokalyptische Naherwartung in modernen Gesellschaften.

Alexander-Kenneth Nagel

Corona und andere Weltuntergänge

Apokalyptische Krisenhermeneutik in der modernen Gesellschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Umschlagabbildung: sveta © stock.adobe.com

Print-ISBN 978-3-8376-5595-7

PDF-ISBN 978-3-8394-5595-1

EPUB-ISBN 978-3-7328-5595-7

https://doi.org/10.14361/9783839455951

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

1.Vorwort des Autors

2.Die Gegenwart der ApokalypseInterdisziplinäre Perspektiven

2.1Einführung: Zur Aktualität »apokalyptischer« Deutung

2.2Begriffsbestimmungen

2.3Endzeitbewusstsein und Moderne

2.4Endzeitforschung in wissenssoziologischer Perspektive

2.5Religionswissenschaftliche Überlegungen zur angewandten Endzeitforschung

2.6Fallstudien zur zeitgenössischen Apokalyptik

3.Operationalisierung Zur Systematik apokalyptischer Deutung

3.1Einführung: »Deutungsvektor« der Apokalyptik

3.2Ordnungsschemata apokalyptischer Deutung

4.Corona: Zur Apokalyptik der Pandemie

4.1Einleitung

4.2Medienberichterstattung

4.3Verlautbarungen der Bundesregierung

4.4Verschwörungsideologische Verarbeitungen

4.5Social Media: Hashtag Coronapocolypse [sic!]

4.6Fazit: Zur apokalyptischen Deutung der Pandemie

5.Ökologische Apokalypsen der Nachkriegszeit

5.1Einleitung

5.2Club of Rome: Wendepunkte und die Grenzen des Wachstums

5.3Bahro: Die Logik der Rettung

5.4Extinction Rebellion: Klimanotstand und Revolution

5.5Fazit und vergleichende Betrachtung

6.Politische Apokalyptik in der Krise des Nationalismus

6.1»Katechon«: Die konservative Unterströmung der Apokalypse

6.2Samuel Huntington und der »Kampf der Kulturen«

6.3Günter Zehm und das »Bollwerk Europa«

6.4Der Mythos vom »Großen Austausch«

6.5Apokalypse als Reichstheologie – Das Konzept des »Katechon«

6.6Fazit: Apokalypse und institutionelle Beharrung

7.Religiöse Heilsversprechen zwischen Prosperity Gospel und Endzeit-Buße

7.1Attraktive Argumente: Heilsgüter, Marketing und Distinktion

7.2Life Coaching vs. Zorn Gottes: Attraktionsstrategien zwischen Wohlbefinden und Erlösung

7.3Verbraucher*innen oder Zwischenhändler*innen? Von der Eigenmächtigkeit der religiösen Kund*innen

7.4Schlussbetrachtung

8.Den Untergang im Blick: Prepper in Deutschland

8.1Einführung: Preppen als apokalyptischer Lebensstil?

8.2Preppen in apokalyptischer Perspektive

8.3Exkurs: Preppen im Zeichen von Corona

8.4Fazit

9.Apokalypse und was nun?Eine Art Schlusswort

10.Literatur

1.Vorwort des Autors

Im Frühjahr 2020 hielt die Welt buchstäblich den Atem an. Ein neues Virus verbreitete sich rasch entlang der globalen Handels- und Verkehrswege und verursachte eine hochansteckende Lungenerkrankung, die nicht selten zum qualvollen Ersticken der Betroffenen führte. Im Angesicht dieser Bedrohung ergriffen viele Staaten teils drastische Gegenmaßnahmen, um die weitere Ausbreitung zu verhindern. Die Schließung der Grenzen und die massive Einschränkung der Freizügigkeit im Inneren brachten das öffentliche Leben fast vollständig zum Erliegen (»Lockdown«). Die Tragweite und Abruptheit dieses Ausnahmezustands bestimmte die öffentliche Diskussion und überlagerte alle anderen Krisen. An einer fehlenden Dichte und Intensität alternativer Krisenszenarien lag dies sicher nicht. Immerhin war zuvor die globale »Finanzkrise« relativ nahtlos durch die »Flüchtlingskrise« und den »Klimanotstand« abgelöst worden.1

Leben wir also in apokalyptischen Zeiten? Diese zeitdiagnostische Frage möchte der vorliegende Band nicht beantworten. Ihm liegt vielmehr ein wissenssoziologischer Blick auf die »apokalyptische« Krisenhermeneutik moderner Gesellschaften zugrunde. Die Corona-Pandemie und die anderen »Weltuntergänge« stehen exemplarisch für eine Neigung, Krisen als »apokalyptisch« zu charakterisieren. Das griechische Wort ἀποκάλυψις bedeutet eigentlich »Enthüllung« und bezieht sich auf eine bestimmte Gattung religiöser Literatur, wie die namensgebende Offenbarung des Johannes. Kurz gesagt zeichnet sich die biblische Apokalyptik durch die prophetische Ankündigung des baldigen Weltuntergangs aus, auf den schließlich das Reich Gottes folgen wird. In der modernen Alltagssprache bezeichnet der Ausdruck »Apokalypse« hingegen die Katastrophe schlechthin; das Ende der Welt, wie wir sie kennen.

Die zentrale Annahme dieses Bandes lautet, dass auch in modernen Gesellschaften ein eigenständiges Genre »apokalyptischer« Krisenhermeneutik wirksam ist, welches nicht unbedingt inhaltlich, aber doch strukturell in der Tradition der biblischen Apokalyptik steht. Zu den Kennzeichen dieses Genres gehören die Vorstellung einer weltweiten Katastrophe durch Faktoren von A wie Atomkraft bis Z wie Zombies in Verbindung mit einem ausgeprägten Gestus der Offenbarung, der Vorstellung, sich an einem historischen Wendepunkt zu befinden und, damit verbunden, einer akuten Naherwartung (mehr in Kap. 2 und 3). Die apokalyptische Deutung kann im Alltagswissen einzelner Menschen verankert sein und ihre Situationsbestimmung und ihr Handeln prägen (ein Beispiel dafür sind die Prepper*innen, siehe Kap. 8). Sie kann aber auch in medialen Inszenierungen und politischer Mobilisierung Gestalt annehmen und sich dabei mit unterschiedlichen Aussageintentionen verbinden, etwa Trost, Ermahnung oder Agitation.

Der Band präsentiert sich als eine Mischung aus Monographie und Aufsatzsammlung. Er gründet in verschiedenen Beiträgen zur Religionssoziologie der Apokalyptik, die ich zwischen 2007 und 2019 veröffentlicht habe. Die Apokalypse ist eigentlich immer mein heimliches Lieblingsthema gewesen. Während meiner bildungssoziologischen Promotion half sie mir durch manch langweilige Durststrecke, in der Zeit meiner eher angewandten Forschung zu Religion, Migration und Flucht eröffnete sie Denkfreiräume jenseits tagesaktueller politischer Debatten. Die Corona-Krise bot nun den Anstoß, die bisherigen Arbeiten erneut zu sichten und zusammenzuführen. Je mehr Zeit ich damit zubrachte, desto stärker wurde mir bewusst, dass der »Masterplan« für dieses Buch schon in den früheren Studien angelegt war. Ich betrachte den Band daher als Zwischenergebnis eines Forschungsprojekts, das über 15 Jahre gereift ist, und gewissermaßen als die Habilitation, die ich nie geschrieben habe.

Neben einer gründlichen Überarbeitung der bestehenden Beiträge habe ich an verschiedenen Stellen Ergänzungen und Aktualisierungen vorgenommen. So sind die beiden Kapitel zur Corona-Pandemie (Kap. 4) und zur apokalyptischen Perspektive der Prepper*innen (Kap. 8) neu hinzugekommen. In Abschnitt 4.4 gehe ich auch ausführlich auf die apokalyptischen Motive der QAnon-Bewegung ein. Ferner habe ich die früheren Ausführungen zur Apokalyptik der ökologischen Bewegung um einen ausführlichen Abschnitt zu Extinction Rebellion ergänzt (Kap. 5.4) und die Untersuchung zur apokalyptischen Rahmung der Krise des Nationalismus um einen Abschnitt zum Mythos des »Großen Austauschs« erweitert (Kap. 6.4). Auch wenn ich mich intensiv um eine terminologische und stilistische Vereinheitlichung bemüht habe, mögen hier und da noch kleinere Brüche oder Dopplungen bestehen.

Inhaltlich ist der Band in drei thematischen Sektionen organisiert. In der ersten Sektion geht es um die Hintergründe apokalyptischer Deutung in modernen Gesellschaften. In Kapitel 2 sichte ich verschiedene Debatten zur Aktualität apokalyptischen Denkens, etwa aus der Literatur- und Medienwissenschaft, aus der Religionswissenschaft und Soziologie. Dabei ist das Ziel, eine wissenssoziologische Perspektive auf die apokalyptische Krisenhermeneutik moderner Gesellschaften zu entwickeln und Ansatzpunkte einer angewandten Endzeitforschung zu markieren. In Kapitel 3 knüpfe ich daran an und erarbeite ein Analyseraster, den »apokalyptischen Deutungsvektor«, das als Grundlage für die weiteren Beobachtungen in diesem Band dient. In der zweiten Sektion liegt das Augenmerk auf den unterschiedlichen Formen bzw.Szenarien apokalyptischer Deutung. Hier nutze ich das zuvor erstellte Analyseraster, um einige der apokalyptischen Diskurse rund um die Corona-Krise (Kap. 4), die ökologische Krise (Kap. 5) sowie die Krise des Nationalismus genauer zu untersuchen (Kap. 6). In der dritten Sektion richte ich den Fokus schließlich auf die Folgen apokalyptischer Krisenhermeneutik. In Kapitel 7 gehe ich auf die anhaltende Bedeutung apokalyptischer Angebote auf dem religiösen Markt ein, während ich in Kapitel 8 am Beispiel der Prepper*innen die Frage nach der Handlungsrelevanz einer apokalyptischen Situationsbestimmung vertiefe.

Die Auswahl der drei Krisenszenarien liegt im Wesentlichen in der Entstehungsgeschichte des Buches begründet und folgte keiner bestimmten komparativen Logik. Dennoch haben sich im Zuge der Analyse einige Schnittstellen sowie markante Gemeinsamkeiten und Unterschiede gezeigt, die ich im Schlusswort knapp herausarbeite (Kap. 9). Viele andere Szenarien moderner Apokalyptik hätte ich gerne noch miteinbezogen, etwa apokalyptische Diskurse zu Künstlicher Intelligenz, die globalen Wirtschafts- und Finanzkrisen zwischen 2007 und 2009, die Endzeit-»Hypes« rund um den Jahrtausendwechsel (Stichwort: »Millenium-Bug«) oder die Maya-Apokalypse am 21.12.2012. Auch eine religionsvergleichende und diachrone Betrachtungsweise wäre sicher weiterführend und aufschlussreich gewesen, etwa im Hinblick auf mögliche Konvergenzen apokalyptischer Deutung über unterschiedliche religiöse Traditionen hinweg oder auf die Entwicklungsdynamik apokalyptischer Krisenhermeneutik.

Angesichts der langen Entstehungszeit des Bandes sind eine ganze Reihe von Danksagungen angebracht. Zunächst danke ich meinen religionswissenschaftlichen Mentoren Hans Kippenberg und Christoph Auffarth, die mir immer wieder die Bedeutung der Religionsgeschichte für das Verständnis aktueller Phänomene vor Augen geführt haben und mich mit ihrer Begeisterung für unser Fach bis heute anstecken. Ferner danke ich Bernd Schipper, der in seiner Zeit in Bremen in den frühen 2000er Jahren die Apokalyptik einer ganzen Generation von Studierenden nahegebracht hat. Darunter war auch Anna Neumaier, mit der ich seitdem viele Gespräche und einige gemeinsame Projekte zum modernen Endzeitbewusstsein (durch-)führen konnte. Weiterer Dank gebührt Ansgar Weymann, der mir als Vorgesetzter am Institut für Empirische und Angewandte Soziologie die Freiräume für spleenige Nebenschauplätze gelassen, sowie Volkhard Krech, der mir die Rückkehr in die Religionsforschung ermöglicht hat. Beide haben mir geholfen, meine wissenssoziologische Perspektive zu schärfen. Schließlich danke ich Lucie Gott für die gründliche Redaktion des Bandes und manchen Denkanstoß sowie den Mitarbeiter*innen von transcript für ihre Unterstützung bei der Veröffentlichung.

1Diese Konjunktur und Verdichtung von Krisenereignissen bildet sich auch in verschiedenen aktuellen Beiträgen zur interdisziplinären Apokalypse-Forschung ab. Als Beispiele seien hier der stärker theologisch akzentuierte Ergebnisband des Baseler Forschungskollegs »Die Krise der Zukunft« genannt (Pfleiderer/Matern/Köhrsen 2018) sowie ein wissenssoziologischer Sammelband zum zeitgenössischen Endzeit- und Katastrophenwissen (Betz/Bosančić 2021).

2.Die Gegenwart der Apokalypse Interdisziplinäre Perspektiven

2.1Einführung: Zur Aktualität »apokalyptischer« Deutung

In der Alltagssprache ist die »Apokalypse« erstaunlich präsent und meint dort in der Regel die schlechthinnige Katastrophe und die Zerstörung der Welt, wie wir sie kennen. Eine ähnliche Verkürzung findet sich auch bei der Utopie: Die Aussage, »Das ist doch utopisch!«, stellt weniger auf die visionäre Gestalt eines Plans ab als auf seine profunde Wirklichkeitsfremdheit und prinzipielle Undurchführbarkeit (Saage 1991). Dabei ist der Apokalyptik und der Utopie gemeinsam, dass durch ihre Übernahme in alltagssprachliche Bezüge ausgeblendet wird, dass es sich ursprünglich um literarische Gattungen handelte, die an bestimmten Referenztexten (Offenbarung des Johannes und Morus’ »Utopia«) geschult waren. Zugleich muss gerade die anhaltende Bedeutung derart sperriger Konzepte die soziologische Neugier herausfordern und zu der Frage Anlass geben, ob sich darin eine bestimmte, kollektiv geteilte Geisteshaltung widerspiegelt und in welchen gesellschaftlichen Eigenheiten diese Haltung gegründet ist. Im Klappentext eines früheren Sammelbandes zur Soziologie religiöser Krisenrhetorik haben wir diesen Zusammenhang pointiert wie folgt formuliert: »Fühlen sich Gemeinschaften und Gesellschaften existentiell bedroht, greifen sie bei der Deutung dieser Bedrohung oft auf Apokalypsen zurück« (Nagel/Schipper/Weymann 2008b). Die Häufung apokalyptischer (und utopischer?) Narrative wäre in diesem Verständnis Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise, oder genauer: ihrer Wahrnehmung. Womöglich ist es aber auch genau anders herum und es sind gerade saturierte Gesellschaften mit wenigen sozialen Gräben und langer Friedenserfahrung, die endzeitliche Imaginationen hervorbringen?

Diese makrosoziologischen Mutmaßungen stehen im Schatten einer größeren geistes- bzw. ideengeschichtlichen Debatte über die Aktualität und Bedeutung religiöser Naherwartung in modernen Gesellschaften. Dabei geht es im Kern um die Frage, ob die moderne Naherwartung lediglich einen »Wurmfortsatz« der religiösen Vorgeschichte darstellt oder aber als Reaktion gegen eine zunehmende Entzauberung der Welt zu sehen ist. Über diese Fragen ist seit der letzten Jahrtausendwende (und zuvor) einiges geschrieben worden. Dabei könnte man den Fokus dieser neuen Endzeitforschung als zeitdiagnostisch, kulturhermeneutisch oder mentalitätsgeschichtlich beschreiben: In der Regel geht es darum, Aussagen oder Texte, die nicht in einer eindeutigen Kontinuität mit religiösen Endzeitvorstellungen stehen, auf implizite Spuren eschatologischer oder apokalyptischer Bildsprache oder rhetorischer Gestaltung hin zu untersuchen. Das Ziel ist entweder, den*die Leser*in trefflich damit zu überraschen, dass Karl Marx (Löwith 1983, 38ff.; dagegen Peter 2008) oder die Grünen (Gebauer 2003) eigentlich Apostel*innen der Apokalypse seien, oder aber allgemeiner die Bedeutung von religiöser Sprache als hermeneutischen Schlüssel für die Moderne herauszuarbeiten (Nagel 2008a). Im Unterschied zu diesen ideengeschichtlich orientierten Zugängen möchte ich in diesem Band den Bogen zu einer angewandten, wissenssoziologisch inspirierten Endzeitforschung schlagen.

Dazu werde ich im folgenden Abschnitt zunächst einige allgemeine Überlegungen zur Begrifflichkeit der Apokalypse und Utopie anstellen und in Abschnitt 2.3 bestehende geschichtsphilosophische, kulturgeschichtliche, literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zum Verhältnis von Endzeit und Moderne sichten. In Abschnitt 2.4 ordne ich die angewandte Endzeitforschung als wissenssoziologische Problemstellung ein. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Internalisierung eines Endzeitbewusstseins im Zuge der primären und sekundären Sozialisation sowie auf der handlungsleitenden und wirklichkeitsgestaltenden Kraft apokalyptischer Vorstellungen. Ausgehend von diesen Überlegungen setze ich mich in Abschnitt 2.5 knapp mit der religionswissenschaftlichen Forschungslogik einer angewandten Endzeitforschung auseinander und illustriere sie in Abschnitt 2.6 mit einigen konkreten Fallbeispielen.

2.2Begriffsbestimmungen

Apokalyptik, Eschatologie und Utopie, die Begrifflichkeit des Unsagbaren, der Endzeit und der Nicht-Orte, ist vielfältig, teilweise wenig trennscharf und zudem biegsam je nach disziplinärem Blickwinkel. Die theologischen und literaturwissenschaftlichen Debatten zur Terminologie der letzten Dinge sind anderswo zu lesen (Koch 1970; Plasger 2007; Vondung 1988, 28ff.). Ich möchte an dieser Stelle eine spezifisch sozialwissenschaftliche Begriffsbestimmung wagen, indem ich die Konzepte von Eschatologie, Apokalyptik, Utopie und Krise einander gegenüberstelle.

Die analytische Herausforderung besteht dabei in der Ausweitung eines spezifischen Gattungsbegriffes zu einem allgemeineren Deutungsrahmen. So ist der Ausdruck »Eschatologie« aus seinem Entstehungskontext, der Theologie des 17. Jahrhunderts, herausgehoben worden und ist nunmehr ein religionswissenschaftlicher Metabegriff für verschiedene Glaubensüberzeugungen und Vorstellungen über das Ende der Welt (RGG 1957, 1542). Hier liegt die Anschlussstelle zur Religionssoziologie, die Eschatologie als eine Klasse von Deutungsmustern verstehen kann, insoweit sie zeitlich oder räumlich auf Vorstellungen des Letzten oder Äußersten rekurrieren. Apokalyptik und Utopie (ebenso die sog. Dystopie) wären dann spezifische Ausformungen innerhalb dieses eschatologischen Deutungshorizontes.

Zur Abgrenzung von Utopie und Apokalyptik wurden teilweise säkularisierungstheoretische Überlegungen herangezogen: Die Utopie erscheint dann als weltliche Apokalypse, als in Krise und Heil immanente und gleichsam handgreifliche Vision (Lützenkirchen 2000). Ernst Bloch sah in der Utopie den modernen Begriff des apokalyptischen Bewusstseins und beurteilte vor diesem Hintergrund die klassischen Apokalypsen als die besseren Utopien, da sie weniger in die Bedingtheiten der Machbarkeit verstrickt seien (Bloch 1967, 547ff.). Neben der Abgrenzung über den religiösen Gehalt bzw. den Grad der Unverfügbarkeit werden Utopien auch über ihr Deutungsmedium bestimmt. So verweist Ansgar Weymann (Weymann 1998, 21) auf die Identität von Theorie und Ideologie als Wesensmerkmal der Utopie, und ein religionswissenschaftliches Verständnis begreift sie als ein »theorieförmiges oder belletristisches Konzept für die ideale Ausgestaltung bzw. Verbesserung des menschlichen Lebens nach rationalen oder rel. Grundsätzen« (RGG 1957, 861). In der Tat verdient die handlungsleitende Wirkung bei ultimativen Erzählungen besonderes Augenmerk. Fraglich bleibt indes, ob die Einheit von Deutungs- und Steuerungsmacht ein geeignetes Distinktionskriterium zwischen Utopie und Apokalyptik darstellt.

Der religiöse Gehalt und das Mischungsverhältnis von Theorie und Ideologie erscheinen als Unterscheidungsgesichtspunkte nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch problematisch. Die Herausforderung besteht also darin, inhaltliche Kriterien zur Abgrenzung von Apokalyptik und Utopie als eschatologischen Deutungsmustern zu identifizieren. Volkhard Krech bestimmt die Apokalyptik soziologisch als »streng dualistisches Deutungsmuster, das die Gegenwart als krisenhaft und dem Untergang geweiht interpretiert und eine radikal andere, transzendente Ordnung antizipiert« (Krech 1995, 48). Im Anschluss an Krech möchte ich den Umgang mit der Krise als inhaltliches Kennzeichen der Unterscheidung hervorheben.

Im soziologischen Sprachgebrauch ist der Begriff der Krise noch immer eng mit der marxistischen Theorie verbunden. In der sinkenden Profitrate manifestiert sich die Wirtschaftskrise als potentieller Wendepunkt zu einer neuen Gesellschaftsform (Fuchs-Heinritz 1995). In der Religionswissenschaft herrscht dagegen ein individualistischeres Verständnis vor. Krisen erscheinen hier als lebensgeschichtlicher Übergang, etwa im Zusammenhang mit Konversionsentscheidungen (Klosinski 1999). Für die Betrachtung von Apokalypsen und Utopien sind beide Verständnisse bedeutsam. In beiden Deutungsmustern wird durch die polare Konzeption umfassender »Defizienz« auf der einen und umfassender »Fülle« auf der anderen Seite die Erwartung eines totalen und unbedingten Übergangs gesetzt.1 Diese globale Entwicklung ist allerdings auf das Engste mit dem Schicksal des*der Einzelnen verknüpft. Eschatologische Deutung ist akteurszentriert, indem sie Welt- und Menschenbild verbindet, etwa, indem die Krise in einen Tun-Ergehens-Zusammenhang mit dem Handeln einzelner Personen gestellt wird (bspw. Kaiser Antiochos IV in der sog. Daniel-Apokalypse, Dan. 7). Darüber hinaus ist das persönliche Heil der individuelle soteriologische Bezugspunkt apokalyptischer Deutung. Der Erwählungsgedanke verbürgt den ethischen Anspruch der Krisenerzählung.

Apokalyptik und Utopie unterscheiden sich systematisch in ihrer Konzeption der Krise. Während in einer Apokalypse die Offenbarung der Krise im Vordergrund steht und das Szenario des globalen Umsturzes bildgewaltig in Szene gesetzt wird, ist die Krisenerfahrung in utopischen Szenarien in den*die Betrachter*in hineinverlagert. Apokalypsen beschreiben einen Prozess, sei es Übergang oder Untergang, der unmittelbar als krisenhaft erlebbar wird und seine Berücksichtigung in der Situationsbestimmung des*der deutenden Akteur*in vehement einklagt. Utopien hingegen entwerfen einen idealen Zustand, der zeitlich und/oder räumlich entrückt ist. Die Wahrnehmung der Krise entsteht sodann mittelbar aus der kognitiven Dissonanz zwischen dem idealen und dem aktuell wahrgenommenen Zustand. Komplementär zur Krise verhält sich die Darstellung des Heils. In der Offenbarung des Johannes spielt die Darstellung der Fülle in Gestalt des Himmlischen Jerusalems in der Textgestalt nur eine marginale Rolle, in klassischen Utopien wie Thomas Morus »Utopia« steht dagegen der Zustand des Heils im Mittelpunkt. Einen Grenzfall stellen die sog. »kupierten Apokalypsen« (Vondung 1988, 106) bzw. Dystopien dar. In beiden Fällen handelt es sich um reine Unheilsszenarien im Geiste einer antimodernistischen Aufklärungskritik. Während die kupierte Apokalypse gleichsam um den Heilszustand beschnitten wird, wird in der Dystopie ein finaler Zustand der Defizienz beschrieben. Nichtsdestotrotz steht im ersten Fall die Krise als Verfallsprozess im Vordergrund, während im zweiten Fall ein statisches Unheilsszenario in einen unverfügbaren Raum projiziert wird. Weiterhin unterscheiden sich Dystopien und kupierte Apokalypsen im Verhältnis der Betonung von defizienter Zwischenzeit (Apokalyptik) und Endzeit (Utopie). In diesem Verständnis wäre die Apokalyptik gewissermaßen eine Proto-Eschatologie, eine Lehre von den vorletzten Dingen. Tabelle 1 fasst die Unterschiede zusammen:

Tabelle 1: Apokalypse und Utopie – Inhaltliche Unterscheidungsmerkmale

Apokalypse

Utopie

Krise

explizit

äußerlich

unmittelbar

implizit

innerlich

mittelbar

Heil

marginal

zentral

Strukturierung

temporal-dynamisch

lokal-statisch

Motivation

Situationsbestimmung

kognitive Dissonanz

Quelle: Eigene Darstellung

Wenn sich die Apokalyptik von der Utopie durch ihren Krisenbezug unterscheiden lässt, so bedeutet dies nicht, dass jede Krise auch apokalyptisch wäre. Anders als im alltäglichen Sprachgebrauch ist die Apokalypse mehr als eine bloße quantitative Bestimmung des Ausmaßes oder der Tragweite einer Krisensituation. Sie verfügt vielmehr über eine qualitative gattungsgeschichtliche Kontinuität mit Blick auf ihr Motivinventar, ihre Dramatik und ihren polarisierenden rhetorischen Gestus. Im folgenden Abschnitt möchte ich den Wandel apokalyptischer Deutung im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung genauer betrachten.

2.3Endzeitbewusstsein und Moderne

Das Verhältnis von Endzeitbewusstsein und Moderne lässt sich in zwei Richtungen erschließen: Man kann fragen, ob und wie sich die Moderne aus religiösen Endzeitvorstellungen heraus entwickelt hat und welche Merkmale sie mit ihnen teilt.2 Und man kann nach der Modernisierung eschatologischer Ideen fragen, also danach, wie sich das Nachdenken über die Endzeit in modernen Gesellschaften verändert. Die erste Frage ist ein bedeutender Schauplatz der deutschen Geschichtsphilosophie der Zwischen- und Nachkriegszeit gewesen, die zweite Frage hat in jüngerer Zeit die literatur-, medien- und geschichtswissenschaftliche Debatte beschäftigt.

Zunächst zur ersten Frage: Ein Geschichtsphilosoph ist, zumindest von einer sozialwissenschaftlichen Warte aus gesehen, jemand, der sich über den Lauf der Zeiten Gedanken macht, um Aufschlüsse über das Woher (Ätiologie) und Wohin (Teleologie) und natürlich das Dazwischen zu erlangen (Zeitdiagnose). In diesem Punkt unterscheidet sich die Geschichtsphilosophie nicht wesentlich von religiösen Erzählungen vom Anfang oder vom Ende der Welt. Ein Unterschied besteht allerdings darin, durch Beobachtung historische Gesetzmäßigkeiten zu ermitteln und daraus Aussagen über die Zukunft abzuleiten. Bekannte Beispiele sind der Historische Materialismus von Karl Marx (1964) und Oswald Spenglers Analyse zum Untergang des Abendlandes (Spengler 1963), aber auch die universalgeschichtlichen Überlegungen des islamischen Gelehrten Ibn Haldun (1951).

Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen moderner Geschichtsphilosophie und (christlicher) Eschatologie ist im Rahmen der sogenannten Löwith-Blumenberg-Debatte vor allem als Säkularisierung der Apokalyptik diskutiert worden. Löwith hatte es sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem Band »Weltgeschichte und Heilsgeschehen« zur Aufgabe gemacht, die »theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie« zu ergründen (Löwith 1983). Pointiert ausgedrückt vertritt er die These, dass in zeitgenössischen Geschichtsphilosophien, etwa dem Historischen Materialismus, christliche Heilsgeschichte bzw. Eschatologie im säkularisierten Gewand daherkämen, kurzum: die Moderne wird zum Appendix der Religionsgeschichte. Demgegenüber macht sich Hans Blumenberg zum Advokaten der »Legitimität der Neuzeit« (Blumenberg 1966). Die Moderne und ihre Selbstdeutung in der Geschichte haben danach durchaus ein Eigenrecht gegenüber geschichtstheologischen Entwürfen eschatologischer, chiliastischer oder apokalyptischer Prägung.

Zur zweiten Frage: Inwieweit kann man von einer »Modernisierung« heilsgeschichtlicher Ideen sprechen? Der Literaturwissenschaftler Klaus Vondung hat diese Frage so gestellt: »Kann man die Apokalypse säkularisieren?« (Vondung 1988, 49). Er kommt zu dem Schluss, die »Trennungslinie nicht zwischen christlichem Chiliasmus einerseits und dessen Säkularisierungen andererseits« (ebd., 63) zu ziehen, sondern zwischen unterschiedlichen Arten, die menschliche Existenzspannung zwischen Defizienz und Fülle zu bewältigen, namentlich: ihre Projektion ins Transzendente oder ihre immanente Bearbeitung. Vondung geht davon aus, dass das menschliche Leben durch die Grunderfahrungen von Defizienz (Tod, Leiden, Mangel) und Fülle (Leben, Wohlgefühl) bestimmt ist, die unterschiedlich gedeutet werden können. Dabei sind klassische apokalyptische Erzählungen für ihn eine »Symbolik der Erfahrungsauslegung« (ebd., 82), die Defizienz mit Immanenz und Transzendenz mit Fülle verbindet, frei nach dem biblischen Motto: »In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.« (Joh. 16, 33) Im Unterschied dazu zeichnen sich moderne Apokalypsen dadurch aus, dass sie um das transzendente Heil beschnitten, oder in Vondungs Worten: »kupiert« werden. Eine »Säkularisierung« findet dabei insofern statt, als die Fülle gleichsam in die Welt hineingeholt werden kann: als diesseitige Verheißung auf die diesseitige Krise.

Aus Sicht der Religionsforschung geht es also weniger um die Frage einer religiösen Aushöhlung des modernen Endzeitbewusstseins als um die Kontinuität und Transformation apokalyptischer Bilder, Stilelemente und Rhetoriken. Einen Vorschlag zur Modernisierung apokalyptischer Deutung hat die Medienwissenschaftlerin Claudia Gerhards vorgelegt. Sie bedient sich systemtheoretischer Überlegungen, um Merkmale moderner Apokalypsen zu ermitteln und unterscheidet drei Prozesse, die das moderne Endzeitbewusstsein mitbestimmen: Systemdifferenzierung, Rationalisierung und Technisierung. Die Ausdifferenzierung eigenständiger sozialer Systeme führt dazu, dass die Gesellschaft nicht mehr in ihrer Ganzheit wahrgenommen werden kann. Moderne Apokalypsen antworten auf diese Erfahrung durch ihren räumlich und zeitlich ganzheitlichen Weltentwurf. Die Rationalisierung als »Zustand des Letztsinn- und Höchstwertverlusts provoziert zu Sinngebungsversuchen« (Gerhards 1999, 22). Moderne Apokalypsen können laut Gerhards sowohl als antirationalistische Gegenprogramme auftreten oder selbst einen rationalistischen Gestus aufweisen. Schließlich spricht Gerhards von »einer Technisierung und Mediatisierung des apokalyptischen Diskurses« (ebd., 25). Die Chancen und Risiken moderner Technologien (bspw. Kernenergie, Gentechnik oder künstliche Intelligenz) und Medien (etwa das Internet) prägen das Endzeitbewusstsein der Moderne maßgeblich und bereichern die (un-)heilsgeschichtliche Bilderwelt.

2.4Endzeitforschung in wissenssoziologischer Perspektive

Um die systematischen Überlegungen im vorangegangenen Abschnitt für die Analyse moderner Phänomene fruchtbar zu machen, bietet sich eine wissenssoziologische Perspektive an. Eine Grundfrage der Wissenssoziologie im Kontext der Religionsforschung lautet dabei: Wie können kulturgeschichtlich tradierte und eingeübte religiöse Denkweisen modernen Weltbildern Evidenz verleihen? Aus Sicht einer empirischen Endzeitforschung gilt es, diese Frage in drei Richtungen auszudifferenzieren und zu operationalisieren: (i) Inwieweit lässt sich die anhaltende Plausibilität apokalyptischer Deutung anthropologisch begründen, (ii) wie gelangen apokalyptische Vorstellungen in die Köpfe der Menschen und (iii) wie beeinflussen sie ihre Situationsdefinition und ihr Handeln?

2.4.1Zur Anthropologie apokalyptischer Krisenhermeneutik

Analog zur anthropologischen Fundierung der klassischen Wissenssoziologie in Gehlens Verständnis des Menschen als »Mängelwesen« hat auch der Literaturwissenschaftler Klaus Vondung seine Überlegungen zur Kontinuität apokalyptischer Deutung anthropologisch angebunden. Für ihn ist die Apokalypse nicht nur ein Muster der Geschichtsdeutung, eine sozial wirksame Kraft und ein ästhetisches Phänomen, sondern auch und vor allem

»ein existentielles Phänomen. Sie wird durch bestimmte Erfahrungen und Emotionen hervorgetrieben, z.B. durch Existenzangst, wie die apokalyptischen Deutungen unserer Zeit erkennen lassen; sie entsteht aus Fragen nach dem Sinn menschlicher Existenz und aus dem Verlangen nach einem neuen, ganz anderen Leben und gibt daher Anlaß zu philosophischen und psychologischen Überlegungen.« (Vondung 1988, 15; Hervorhebung AKN)

In einer symboltheoretischen Betrachtung verbindet Vondung eine geistesgeschichtliche mit einer philosophisch-psychologischen Analyse apokalyptischer Deutung. Im Anschluss an Cassirer wird das Verhältnis von allgemein-abstrakter Symbolik und individuell-konkreter Erfahrung wie folgt bestimmt:

»[D]a die Erfahrungen zu konkreten Personen und singulären Situationen gehören, können sie nicht miteinander identisch sein, ich kann jedoch schließen, dass sie äquivalent sind, insofern die auslegenden Symbole eine gleichartige Struktur aufweisen […]. Die Erklärung von Symbolen als Auslegungen von Erfahrungen führt zu der Feststellung, dass sich in der Symbolisierung psychische Prozesse artikulieren.« (Ebd., 75)

Indem apokalyptische Symbole als Ausdruck und Repräsentation einer bestimmten Erfahrungswelt aufgefasst werden, rückt eine vergleichende Symbolanalyse apokalyptischer Texte in greifbare Nähe. Die Sachdienlichkeit eines solchen Vergleichs liegt für Vondung in der existentiellen Funktion apokalyptischer Deutung begründet. Im Einzelnen geht es ihm darum, »Ausdrucksformen der Apokalypse als spezifische Auslegung von Erfahrungen zu begreifen, die zumindest teilweise in der conditio humana wurzeln, nämlich in der Grundspannung menschlicher Existenz zwischen Defizienz und Fülle« (ebd., 293; Hervorhebung im Original).

Aus Sicht einer wissenssoziologischen Deutungsmusteranalyse wird damit die Evidenz apokalyptischer Krisendeutung durch eine universelle menschliche Spannungserfahrung verbürgt, und es ist gerade diese Universalität, welche die historische, religiöse oder lokale Bindung apokalyptischer Rede nivelliert und vom genus proximum zur differentia specifica verkehrt.

Besteht das wissenssoziologische Naturverhältnis der Religion also in der anthropologischen Grundierung apokalyptischer, religiöser oder gar jeglicher Deutung? Vondung selbst ist in diesem Punkt äußerst zurückhaltend und warnt davor, unter Berufung auf die conditio humana »die Spannung zwischen Defizienz und Fülle zu verdinglichen« (ebd., 75) und apokalyptischer Symbolik pauschal eine »anthropologische Qualität« zuzuweisen (ebd., 293). Freilich ändert diese kulturanthropologische Zurückhaltung nichts an der Tragweite des Kernarguments, sondern unterstreicht im Gegenteil dessen Brisanz.

Sind Neurobiologie und Evolutionstheorie die neuen Weggefährten der Interpretativen Soziologie? In religions- und kulturwissenschaftlichen Beiträgen zur Ritualtheorie haben sich ethologische (Staal 1979) und neurobiologische Begründungen des Rituals (Michaels 1999) einen festen Platz erobert. Als stammesgeschichtliche und psychohygienische Funktion von Ritualen werden dabei »Erregungsabbau« sowie die »Abreaktion von Spannungen« genannt (ebd., 25). Die Ähnlichkeit zu den Gedanken Vondungs ist unverkennbar. Ein systematischer Vergleich von Ritualtheorien und Theorien apokalyptischer Deutung, etwa mit Blick auf Performanz und das Verhältnis von Deutung (Mythos) und Handlung (Ritus), erscheint für beide Gebiete vielversprechend und könnte zudem handlungstheoretische Aufschlüsse allgemeinerer Art erbringen, um die Soziologie in einer naturwissenschaftlich dominierten Debatte über Willensfreiheit neu zu profilieren. Mit Blick auf eine angewandte wissenssoziologische Perspektive stellt sich hingegen die Folgefrage nach der Internalisierung apokalyptischer Deutungsmuster.

2.4.2Zur Verinnerlichung apokalyptischer Deutungen

Die erste Frage wird in der Wissenssoziologie unter der Überschrift der Internalisierung verhandelt: Der zentrale Mechanismus der Verinnerlichung von Welt- und Geschichtsbildern ist natürlich die primäre Sozialisation (Berger/Luckmann 1989). Die soziale, kulturelle und religiöse Prägung des Elternhauses beeinflusst maßgeblich, wie über die Welt und den »Gang der Dinge« nachgedacht wird und welche Plausibilität endzeitliche Vorstellungen besitzen. Ein Beispiel aus der Wissenschaftsgeschichte liefert der Soziologe Norbert Elias: In der Einleitung zu seinem Hauptwerk »Über den Prozess der Zivilisation« erörtert er die Standortgebundenheit des sozialwissenschaftlichen Denkens und kontrastiert zwei Denkströmungen: Die fortschrittsgläubige »Prozesssoziologie« klassischer Autoren wie Comte und Durkheim und die konservative »Zustandssoziologie« der Nachkriegszeit bei Parsons und später Luhmann. Während die Prozesssoziologie getragen sei von der Euphorie der bürgerlichen Emanzipation, sieht Elias die Zustandssoziologie seiner Zeit als Ausdruck eines nunmehr saturierten, kleinbürgerlichen Beharrungswillens (Elias 1977).

Diese Überlegungen lassen sich auch auf das moderne Endzeitbewusstsein übertragen: Je mehr man auf dieser Welt an Status und Vermögen zu verlieren hat, desto geringer die Plausibilität eschatologischer Vorstellungen. Dieser Zusammenhang war auch den biblischen Autoren schon wohlbewusst, sie warnen nicht umsonst vor dem trügerischen Gefühl von »Friede und Sicherheit« und halten die endzeitliche Spannung wach: »Darum wachet, denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.« (Mt. 25, 13) Ist die Apokalypse im Umkehrschluss also eine Sache des »Prekariats«? Eine derart geradlinige Wendung hieße, das wissenssoziologische Programm unzulässig materialistisch zu verengen: Es geht nicht um die deterministische Zuschreibung eines wie auch immer gearteten apokalyptischen »Klassenstandpunktes«, sondern um die Wahlverwandtschaft sozialstruktureller Merkmale und religiöser Ideen als interpretative Aufgabe der empirischen Religionsforschung.

Neben der primären Sozialisation kommt dabei der sekundären Sozialisation besondere Bedeutung zu. Jenseits der sozialen Lage der Eltern und der religiösen Erziehung ist es vor allem die eschatologische Wort- und Bildsprache der Medien, die den Endzeitgeist moderner Gesellschaften nährt. Die thematische Bandbreite der apokalyptischen Bezüge ist denkbar breit: So titelte die »Mittelbayrische Zeitung« am 24. Februar 2018: »In Kapstadt droht die Wasser-Apokalypse« (Bätz 2018), um dann vor allem über die Auswirkungen der anhaltenden Dürre in Südafrika für die dortigen Weinbauern zu berichten. Eine besondere markige Überschrift findet am 26. Januar 2018 einmal mehr die »BILD Zeitung«: »Apokalypse-Uhr vorgestellt. Weltuntergang kommt näher.« (Roloff 2018) Der Beitrag bezieht sich auf die öffentlichkeitswirksame Umstellung der sogenannten »doomsday clock« des Bulletin of the Atomic Scientists, einer symbolischen Uhr, die das Risiko der globalen Auslöschung durch einen Atomkrieg anzeigt. Zur Begründung wird unter anderem auf das Säbelrasseln zwischen Donald Trump und Kim Jong-un verwiesen. Diese kursorische Auswahl aktueller Nachrichten illustriert die Faszination apokalyptischer Bezüge für manche Journalist*innen. Dabei finden sich Motive der klassischen Apokalyptik (Dürre und andere Naturkatastrophen, kriegerische Auseinandersetzungen) ebenso wie moderne Bilder des Untergangs (atomare Auslöschung, zunehmend auch die Selbstermächtigung künstlicher Intelligenz oder die Herrschaft der Maschinen).

Über die apokalyptische Anreicherung der Tagesnachrichten hinaus stellen bspw. Spielfilme und Romane wichtige Quellen des modernen Endzeitbewusstseins dar (Busse 2000; Neumaier 2008). Postapokalyptische Szenarien sind längst eine eigenständige ästhetische Gattung geworden und seit der Jahrtausendwende verging kaum ein Jahr, ohne mit mindestens einem Endzeitstreifen Kasse gemacht zu haben. Im Kielwasser der Erfolgsserie »The Walking Dead« hat sich zuletzt v.a. die sogenannte Zombie-Apokalypse als eigenständiger und neuartiger Topos durchgesetzt: Nachdem der Großteil der Menschheit, z.B. durch eine Infektion oder genetische Manipulation, zu Zombies mit einem unauslöschlichen Appetit auf alles Lebende geworden ist, muss sich eine kleine Schar Überlebender behaupten und der andauernden Bedrohung erwehren. Im Umfeld dieses Zombie-Hypes sind neben satirischen epidemiologischen Untersuchungen zur Ausbreitung der Zombie-Infektion auch mehr oder weniger augenzwinkernde Ratgeber wie »Der Zombie Survival Guide: Überleben unter Untoten« erschienen. In verschiedenen deutschen Städten finden seit einiger Zeit Zombie-Flashmobs (z.B. an Halloween) statt. Die Zombie-Apokalypse ist zum kollektiven Faszinosum geworden.

Im Anschluss an die systemtheoretischen Überlegungen von Gerhards liegt es nahe, zu vermuten, dass apokalyptische Deutungsmuster in der Moderne der Kontingenzbewältigung dienen, indem sie die Komplexität der unübersichtlichen, funktional bis ins Kleinste ausdifferenzierten Gesellschaft in einfache Dualismen übersetzen (s.o.). Ob der Erfolg apokalyptischer Inszenierungen in Spielfilmen und im journalistischen Bereich dieser Orientierungsleistung zu verdanken ist, muss hier offenbleiben. Ein alternatives Erklärungsangebot macht die Psychoanalyse: Die mediale Konjunktur der Endzeit könnte aus dieser Sicht als Ausdruck einer bestimmten kollektiven Gefühlslage verstanden werden, die der Psychoanalytiker Michael Balint als »Angstlust« beschrieben hat (Balint 2009). Gemeint ist das bewusste »Aufgeben und Wiedererlangen von Sicherheit« (ebd., 23), indem man sich willentlich und kontrolliert einer Gefahrensituation aussetzt. Der Kinosaal oder das heimische Wohnzimmer werden so zu therapeutischen Laboratorien, in denen Kontingenzängste und Ohnmachtsgefühle nicht kognitiv, sondern durch eine emotionale Katharsis abgebaut werden können.

Insgesamt kann man sich die Internalisierung eschatologischer Welt- und Geschichtsbilder sicher nicht als einen schlichten Copy-and-Paste-Vorgang vorstellen, in dem gesellschaftliche Mentalitäten ungefiltert in das individuelle Bewusstsein hineinkopiert werden, sondern als eine soziale (Aneignungs-) Praxis eigener Art, die es empirisch zu analysieren gilt. Wesentliche Faktoren (und damit prädestinierte Bezugspunkte der wissenssoziologisch-empirischen Analyse) sind dabei die Erziehung, in der Plausibilitätsstrukturen angelegt und soziokulturell ausgestaltet werden, und zum anderen endzeitliche Inszenierungen in den Medien, die den apokalyptischen Wissensvorrat moderner Gesellschaften zwischen Klimawandel und Völkerkampf verwalten. Als medienanalytischer Anknüpfungspunkt bietet sich daher das Prozessmodell von Stuart Hall an, das weniger auf den »Inhalt« einer Nachricht, als auf seine Artikulation im Rahmen eines fortlaufenden Vorganges des Kodierens und Dekodierens abstellt (Hall 2001).

Bezogen auf das eingangs eingeführte Beispiel der Prepper*innen als moderne endzeitliche Szene könnte das bedeuteten, einerseits biographische Analysen zu den soziokulturellen Hintergründen der Teilnehmer*innen anzustellen und andererseits das Diskursfeld im Hinblick auf charakteristische Leitsemantiken und -themen, Immunisierungsstrategien und autoritative Sprecherpositionen hin zu kartieren.

2.4.3Wie apokalyptische Deutungsmuster soziales Handeln gestalten

Neben der Frage, wie endzeitliche Vorstellungen in die Köpfe der Menschen hineinkommen, muss die interpretative Endzeitforschung sich auch damit auseinandersetzen, wie diese Ideen das konkrete Handeln beeinflussen und unsere Welt mitgestalten (Externalisierung). Den zentralen, sozialkonstruktivistischen Ausgangpunkt bildet hier das sogenannte Thomas-Theorem, welches die handlungsleitende Kraft von Vorstellungen und Weltbildern betont: »If men define situations as real, they are real in their consequences.« (Thomas/Thomas 1928, 572; Hervorhebung AKN) Die Interpretation und Definition der Situation durch die Akteur*innen ist demnach entscheidend für ihr Verhalten. Endzeitliche Weltbilder können dadurch, vermittelt über entsprechende Situationsdefinitionen, buchstäblich in die Tat umgesetzt werden.

Ein besonders drastisches Beispiel dafür, wie eine endzeitliche Naherwartung das Handeln beeinflussen kann, waren die Massenselbstmorde apokalyptischer Bewegungen wie dem Peoples Temple oder Heaven’s Gate. Ob einsames Dschungelcamp oder abgeschottete Villa in Kalifornien, beide Gruppen haben sich eigene Sinnenklaven erschaffen, in denen die Außenwelt als Bedrohung oder dem Untergang geweiht und der Tod als Ausweg oder Rettung angesehen wurde (Stolz 2000). Diese »letalen Apokalypsen« (Krech 2008) machen deutlich, dass apokalyptische Weltbilder nicht nur abstrakte Gedankengebilde darstellen, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit konkret und weitreichend prägen können. Sie illustrieren aber auch, dass bestimmte soziale Konstellationen (Rückzug, charismatische Führungsstruktur) die endzeitliche Situationsbestimmung maßgeblich mitgestalten.

Weniger plakativ, aber dafür facettenreicher dürfte hier z.B. die Prepper*innen-Szene sein, deren Organisation und Tätigkeit ja als direkter Ausdruck eines endzeitlichen Bewusstseins bzw. einer modernen Naherwartung gelten können (siehe Kap. 8). In der Tat war es genau diese Verbindung aus apokalyptischer Weltdeutung und Handlungsbezug (etwa die Bewaffnung und Aneignung von Fähigkeiten zur Selbstverteidigung für den »Ernstfall« eines Bürgerkriegs), der den Prepper*innen die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden beschert hat. Damit bieten sich Prepper*innen geradezu exemplarisch für eine nuancierte Analyse des gegenwärtigen apokalyptischen Aktivismus an. Anders als anderen modernen Apokalyptikern geht es ihnen nicht darum, die Krise zu beschwören, um sie abzuwenden (s.o.), sondern um das Überleben. Der Schlüssel zum Überleben aber liegt in der Sicherung der Handlungsfähigkeit. Die apokalyptische Handlungslogik der Prepper*innen-Bewegung ist dabei eine zutiefst moderne: Anders als in der klassischen Apokalyptik geht es nicht um das Handeln Gottes in der Welt. Vielmehr wird der Mensch zum*zur Urheber*in und Bewältiger*in der Katastrophe.

2.5Religionswissenschaftliche Überlegungen zur angewandten Endzeitforschung

In der Prepper*innen-Szene verbinden sich auf exemplarische Weise endzeitliche Deutungsmuster und apokalyptischer Aktivismus. Allerdings gibt ihre radikal immanente Orientierung doch Anlass zu der Frage, die man mit Fug und Recht als Gretchenfrage der angewandten Religionsforschung bezeichnen kann: Hat das alles noch etwas mit Religion zu tun? Oder genauer: Steht die Apokalyptik der Prepper*innen noch hinlänglich in der Kontinuität der religiösen Deutungstradition, um sie sachgemäß in deren Lichte analysieren zu können?

Man kann die Frage auch positiv wenden: Was verstehen wir unter endzeitlicher Deutung und wie verhält sich der Endzeitgeist unserer Tage zu den anerkannt apokalyptischen religiösen Quellen? Diese Fragen reichen tief in das disziplinäre Selbstverständnis der deutschsprachigen Religionswissenschaft hinein. Wir haben gelernt, Religionswissenschaft »diskursiv« zu betreiben, also nicht von einem positiven Religionsbegriff auszugehen, sondern die jeweilige Zuschreibungspraxis zu untersuchen (Kippenberg 1983). Dieses Vorhaben ist ungefähr genauso schwierig, wie es klingt, und bringt für die angewandte Endzeitforschung einige Herausforderungen mit sich. Bis jetzt habe ich die Begriffe Endzeit, Eschatologie und Apokalypse quasi austauschbar gebraucht, der unausgesprochene gemeinsame Nenner war: Es handelt sich um Vorstellungen vom baldigen Ende oder Untergang der Welt, wie wir sie kennen. Ein solches pragmatisches Grundverständnis ist für die empirische Arbeit überaus hilfreich, es verschleiert allerdings den unterschiedlichen analytischen Status, den die drei Begriffe haben können. Während »Endzeit« ein Begriff aus der Alltagssprache ist (was nicht bedeuten muss, dass man ständig davon spricht), gilt das für »Apokalypse« und »Eschatologie« nur in eingeschränktem Maße: Das Wort Eschatologie ist vermutlich den wenigsten Bundesbürger*innen überhaupt geläufig, es handelt sich um einen theologischen Gattungsbegriff, mit dem bestimmte religiöse Erscheinungen bezeichnet werden sollen und der so im untersuchten Feld nicht vorkommt.

Noch komplizierter ist es mit der Apokalypse: Anders als bei der Eschatologie ist die alltagssprachliche Rede von der Apokalypse durchaus verbreitet, anders als bei der Endzeit handelt es sich aber auch um einen wissenschaftlichen Gattungsbegriff. Diese Gemengelage bringt die Schwierigkeit einer angewandten diskursiven Religionswissenschaft auf den Punkt: Für den sprichwörtlichen »Mann auf der Straße« (Berger/Luckmann 1989, 1) ist Apokalypse gleichbedeutend mit Weltuntergang oder Katastrophe, für den*die Theolog*in ist damit eine spezifische Gattung biblischer Texte gemeint, die in epischen Bildern den Untergang der Welt ausmalen, die vergehen muss, um »eine[m] neuen Himmel und eine[r] neuen Erde« (Offb. 21, 1) Raum zu geben, wie es in der namensgebenden Offenbarung des Johannes heißt (Schipper 2008). Das Dilemma ist offenkundig: Entweder man geht von dem strengen Gattungsbegriff aus, findet nichts und kommt zu dem Ergebnis, in »unserer säkularisierten Welt« würden religiöse Endzeitvorstellungen keine Rolle mehr spielen. Oder man geht vom Selbstverständnis der Befragten aus und findet eine Menge »apokalyptischer»› Ideen, die allerdings bis auf die Bezeichnung nichts mit religiösen Vorstellungen von Endzeit und Heil zu tun haben. Ein dritter Weg besteht darin, von dem Gattungsbegriff auszugehen, ihn aber generös auszulegen und sozusagen zu »modernisieren«. Dieser Mittelweg ruft naturgemäß die Purist*innen auf den Plan: Die Einen monieren eine unzulässige Ausweitung des Apokalypse-Begriffes zulasten seiner analytischen Tragkraft, die Anderen beklagen den imperialistischen Umgang mit dem Feld, das im schlimmsten Fall zur bloßen Projektionsfläche des Forschers wird.3

Wie ist also zu verfahren? So stichhaltig die o.a. Bedenken auf einer allgemein erkenntnistheoretischen Ebene auch sein mögen, für die angewandte Religionsforschung benötigen wir ein pragmatisches Arbeitsverständnis moderner Apokalyptik. In Anknüpfung an die symboltheoretische Herangehensweise von Klaus Vondung und ihre anthropologische Rahmung liegt es nahe, die angewandte Endzeitforschung mit einer apokalyptischen Semiotik zu verbinden, welche der Bedeutung apokalyptischer Zeichen (Semantik), ihrer Beziehung zueinander (Syntaktik) und der spezifischen Kommunikationssituation Rechnung trägt (Pragmatik). In Kapitel 3 erarbeite ich die Grundzüge eines solchen Modells vor dem Hintergrund des bestehenden Forschungsstandes zu moderner Apokalyptik. An dieser Stelle mag eine etwas hemdsärmelige Anwendung auf die Prepper*innen-Szene für eine erste Veranschaulichung der Forschungslogik genügen:

Die Prepper*innen greifen auf die Semantik klassischer Apokalypsen zurück, etwa Naturkatastrophen und das Bild des Völkerkampfes. Hinzu kommen moderne Varianten wie ein Chemieunfall oder ein flächendeckender Ausfall der Stromversorgung. Die Syntax der Prepper*innen folgt ebenfalls dem Schema der klassischen Apokalypse, wobei die Heilszeit durch einen dystopischen Zustand unbekannter Dauer ersetzt wird. Sie ist geprägt durch eine mehr oder weniger drängende Naherwartung und eine katastrophenorientierte Hermeneutik gesellschaftlicher Krisenerscheinungen. Die Parusieverzögerung des*der Prepper*in ist dabei, pointiert gesagt, das abgelaufene Haltbarkeitsdatum der Dosenravioli in seinem*ihrem Keller. Die Pragmatik der Prepper*innen-Apokalypse ist, typisch für moderne apokalyptische Erzählungen, durch einen klaren und planvollen Aktivismus gekennzeichnet, der allerdings nicht (konsultativ) auf die Abwendung des katastrophalen Szenarios zielt, sondern (resultativ) auf das Überleben danach.

2.6Fallstudien zur zeitgenössischen Apokalyptik

Ich möchte an dieser Stelle das lediglich illustrativ ausgewählte Beispiel der Prepper*innen-Szene verlassen und das Unterkapitel mit einigen empirischen Einblicken in die angewandte Endzeitforschung beschließen, um die Vielfalt denkbarer Fragestellungen und Operationalisierungen aufzuzeigen. Es handelt sich um studentische Fallstudien, die im Rahmen eines mehrsemestrigen Lehrforschungsprojekts zu modernen Endzeitvorstellungen an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt worden sind.4

Die meisten Fallstudien beschäftigten sich mit der Ausprägung und Internalisierung eschatologischer Vorstellungen in unterschiedlichen Kontexten. So untersuchte Albert Selmke