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Was wäre, wenn ... Jeremiah Cotton und Philippa Decker schon im 19. Jahrhundert gelebt hätten? Dem Jahrhundert des Goldrausches, des amerikanischen Bürgerkriegs und des Eisenbahnbaus?
Cotton geht seinem Dienst als einfacher Streifenpolizist in New York nach. Die Stadt wird von einer Mordserie an jungen Mädchen erschüttert. Ausgerechnet an seinem freien Tag wird Cotton Zeuge eines Mordes an einer jungen Chinesin - eine weitere Tat des sogenannten Engelsmörders? Doch wer war die mysteriöse blonde Frau am Tatort? Cotton forscht auf eigene Faust nach und entdeckt eine geheime Welt verdeckter Ermittlungen ...
COTTON RELOADED SERIENSPECIAL: Jeremiah Cotton und Philippa Decker mal ganz anders. Hochspannung pur!
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Seitenzahl: 145
Cover
Was ist COTTON RELOADED?
Über diese Folge
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Ein neuer Anfang …
Eine neue Zeit. Ein neuer Held. Eine neue Mission. COTTON RELOADED ist das Remake der erfolgreichsten deutschen Romanserie JERRY COTTON.
COTTON RELOADED SERIENSPECIALS erscheinen zu besonderen Anlässen. Alle COTTON-RELOADED-Folgen sind in sich abgeschlossen. COTTON RELOADED gibt es als E-Book und als Audio-Download (ungekürztes Hörbuch).
Was wäre, wenn … Jeremiah Cotton und Philippa Decker schon im 19. Jahrhundert gelebt hätten? Dem Jahrhundert des Goldrausches, des amerikanischen Bürgerkriegs und des Eisenbahnbaus?
Cotton geht seinem Dienst als einfacher Streifenpolizist in New York nach. Die Stadt wird von einer Mordserie an jungen Mädchen erschüttert. Ausgerechnet an seinem freien Tag wird Cotton Zeuge eines Mordes an einer jungen Chinesin – eine weitere Tat des sogenannten Engelsmörders? Doch wer war die mysteriöse blonde Frau am Tatort? Cotton forscht auf eigene Faust nach und entdeckt eine geheime Welt verdeckter Ermittlungen …
Linda Budinger ist freie Autorin und Übersetzerin. Sie schreibt seit mehr als 20 Jahren Romane und Kurzgeschichten, vor allem im Bereich Fantasy und Phantastik. Mehrfach wurden Geschichten von ihr für den Deutschen Phantastik Preis nominiert. Bekannt wurde sie durch Veröffentlichungen für das Rollenspiel »Das Schwarze Auge« und als Mitautorin der Bastei-Romanreihe »Schattenreich«.
Cotton Reloaded – 1881
Linda Budinger
beTHRILLED
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Uwe Voehl
Projektmanagement: Lukas Weidenbach
Covergestaltung: Thomas Krämerunter Verwendung von Motiven von © shutterstock: DmitryPrudnichenko | Pavel K | Stocksnapper | ostill | Kostyantyn Ivanyshen | Milje Ivan
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3882-9
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Dienstag, 5. Dezember 1876, 23:40 UhrBrooklyn
Jeremiah rannte.
Die Rauchwolke stand wie ein dunkles Segel im Nachthimmel von Brooklyn. Schon von Weitem dräute das unheilvolle Glühen über der Kreuzung Washington und Johnson.
Ringsum waren Menschen, die ihm den Weg versperrten. Auf der Straße scheuende Kutschpferde und ein Spritzenwagen, der mit hektischem Läuten durch die wimmelnde Menge raste, knapp an Jeremiah vorbei. Der Junge duckte sich unter dem funkenschlagenden Dampfkessel des Feuerwehrwagens. Er nutzte die Gasse, die der Wagen und die Feuerwehrleute dahinter bahnten, um schneller auf die Washington Street zu kommen. Dabei schlug er Haken und zwängte seine Gestalt in Lücken, in die nur ein Sechzehnjähriger hineinpasste.
Lauras 21. Geburtstag sollte ein großer Tag werden, den die Familie mit einem Theaterbesuch feierte. Jeremiahs Schwester hatte aus Vorfreude tagelang alle mit den Bildern der Hauptdarstellerinnen, Kate Claxton und Maude Harrison, traktiert.
Ihm aber stand nicht der Sinn nach einer rührseligen Geschichte über zwei Waisenkinder. Er sparte den Dollar für die Theaterkarte lieber und blieb zu Hause. Doch dann läuteten die Feuerglocken, und Gerüchte, schneller als ein Lauffeuer, machten die Runde. Jeremiah war sofort losgeeilt.
Endlich geriet das brennende Brooklyn Theatre in Sicht. Ein Vorhang aus Funken wogte über dem Dach. Aber der Spritzenwagen kam nicht vor dem Theater zum Stehen. Er rollte weiter zu den Nebengebäuden, wo die Feuerwehrleute verhindern sollten, dass das Feuer übergriff. Polizisten aus dem benachbarten 1. Revier hielten die Leute in Schach.
Glutfontänen sprühten über die Zuschauer, doch das schreckte niemanden. Menschen, überall! Jeremiah musterte jeden Einzelnen – rußverschmierte Theaterbesucher in Abendgarderobe, Schaulustige, Zeitungsreporter und Angehörige, die nach ihren Liebsten suchten. Er sah weinende Frauen und verängstigte Schauspieler, sogar eine Nachbarin. Und seine Familie?
Der Puls jagte wie mit Hammerschlägen in Jeremiahs Ohren, übertönte Schreie, Pfeifen und das sausende Tosen der Flammen. Es gab kaum ein Durchkommen, doch er drängte sich bis vor den Eingang. Wenn die Eltern und Laura nicht hier waren, dann mussten sie im Theater sein! Saubere Luft strich an ihm vorbei und wurde in die offene Tür gesaugt.
Er fühlte den Hauch des Feuers. Die Gaslaterne am Ausgang flackerte nur schwach. Ringsum herrschte das Chaos. Er musste die Gelegenheit nutzen, um ins Innere zu gelangen!
Jeremiah pirschte sich an, machte zwei Schritte, wollte in den Eingang tauchen. Da spürte er eine schwere Hand auf der Schulter, die ihn mühelos herumwirbelte.
»Was denkst du eigentlich, was du hier tust, Junge?«, fragte ein untersetzter Polizist mit Backenbart.
Jeremiah zuckte die Achseln. »Meine Eltern sind mit meiner Schwester auf dem dritten Balkon. Im Family Circle.« Die Position der Plätze hatte Laura ein Dutzend Mal wiederholt. Sie lagen direkt unter dem Dach, das jetzt wie ein gespenstisches Schiff vor dem Nachthimmel gloste. »Ich will wissen, ob ihnen was passiert ist!«, sagte er trotzig.
Der Polizist schüttelte den Kopf. »Mr Nevin von der Feuerwehr hat das Gebäude räumen lassen, nachdem die Besucher raus sind. Ich habe selbst gehört, wie er und Fire Marshall Keady darüber sprachen, dass oben im Family Circle niemand mehr … ist.« Er wischte sich unbehaglich den Bart und hinterließ eine Rußspur auf der Wange. Sein schwerer, blauer Mantel mit den Messingknöpfen war grau von Asche.
Jeremiah erschauderte, als mit todesähnlichem Ächzen ein Teil des Gebäudes längs der Johnson Street wegbrach und eine wahre Flammensinfonie im sterbenden Theater entfachte. Glutatem fegte über sie hinweg. Angst flackerte in ihm auf.
Jeremiah nahm alle Kraft zusammen. Er hatte bereits zum Sprung angesetzt, aber ehe er sich losreißen konnte, packte der Polizist fester zu und zog ihn fort.
»Drüben im Revier haben wir eine Sammelstelle für die Überlebenden eingerichtet. Da werden deine Leute sein. Komm am besten gleich mit, ich muss sowieso dorthin.«
Der Mann schob ihn schon weg von dem flackernden Gaslicht bei der Tür. »Ich bin Officer Brandenburg. Wie heißt du?«
Jeremiah schluckte. »Jeremiah Cotton.«
Der jähe Windstoß hatte ein geschwärztes Theaterplakat vor seine Füße geweht. Zwei Waisen stand in großen Buchstaben darauf, Worte wie eine böse Vorahnung.
Sonntag, 17. Juli 1881, 12:00 UhrConey Island, Brooklyn, Bundesstaat New York
Die Sonne schien. Aromen, eines verlockender als das andere, erfüllten die Luft. Auf dem Rummel von Coney Island konnte man heiße Maiskolben bekommen oder gleich Popcorn, Bratwürstchen oder Hotdogs, Eis oder Zuckerwatte, die süß nach dem Ahornsirup duftete, aus dem sie gesponnen war.
Die Meeresbrise hinterließ einen Hauch von Salz auf der Zunge. Von der Aussichtsplattform des dreihundert Fuß hohen Iron Tower hörte Cotton Entzückensrufe, außerdem Musik und Kinderlachen von einem Pferdekarussell. Drei Blaskapellen und unzählige Drehorgelspieler wetteiferten um Gehör.
Den Boden bedeckten zerrissene Wettscheine der Pferderennbahnen sowie Fahrkarten der Züge und der Raddampfer, die die Besuchermassen auf die Brooklyn vorgelagerte Halbinsel brachten.
Es war fast schon zu warm, die Spitzen seiner schwarzen Haare über den Ohren und im Nacken wurden feucht. Cotton lockerte den Hemdkragen und sog die heitere Atmosphäre in sich auf. Erinnerungen an Familienausflüge stiegen in ihm auf. Die Cottons hatten ihren Hochzeitstag jedes Jahr hier gefeiert – bis zu dem Unglück im Brooklyn Theatre. Um auszuspannen, zog es auch Cotton alljährlich in seinem Urlaub her, im Gedenken an glücklichere Tage. Liebespaare spazierten vorbei. Wohlhabende Flaneure und Badegäste von den nahe gelegenen Sommerfrische-Hotels am Brighton und Manhattan Beach mischten sich hier unters arbeitende Volk. Die Culver Plaza und ihr Umfeld waren den harmlosen Familienbelustigungen gewidmet, dem Sea Side Aquarium oder der Camera Obscura. An einem Erfrischungsstand produzierte eine nimmermüde künstliche Kuh neben Milch sogar Sarsaparilla-Limonade, Bier und Champagner. Cotton mied die Bordelle, Spielhöllen und Alkoholkaschemmen im anrüchigen westlichen Teil der Halbinsel. Schließlich sollte das hier Urlaub sein. Aber seine Beobachtungsgabe, geschult durch den Streifendienst, machte keine Ferien. Auf dem Iron Pier am West Brighton Beach fiel ihm prompt eine blonde Schönheit auf. Sie saß auf einer der Bänke mit Blick auf die Anlegestelle der Dampfer, die in halbstündlichem Abstand neue Besucher entließen. Zwei grundverschiedene Männer begleiteten die Dame. Ein Bursche mit weichen pockennarbigen Zügen trug einen schlecht gebürsteten Anzug und schien irgendwie deplatziert. Der andere, ein windiger Kerl in papageienroter Weste und mit Brillantine zurückgekämmtem Haar, sah sich suchend um.
Dann rannte ein Kind im Matrosenanzug vorbei und jagte einen Ball. Cotton wich aus und geriet prompt ins Gedränge des zentralen Platzes, wo sich der Anlegesteg bis auf 125 Fuß verbreiterte.
»Totes Kind in New York.« Der Zeitungsjunge wedelte mit der neusten Ausgabe des New York Express. »Engelsmörder schlägt erneut zu.« Die Zeitung fand reißenden Absatz.
Cotton horchte auf, entschied sich aber dafür, keine Zeitung zu kaufen. Er hatte schließlich Urlaub und wollte sich ausnahmsweise mal nicht mit Verbrechen beschäftigen.
Dennoch ließ ihn die Meldung nicht los, während er weiterschlenderte. Die Engelsmorde machten die Stadt verrückt.
Dabei war nur ein einziges Mädchen aus gutem Hause dem Mörder in die Finger geraten: Elizabeth Crawley, die im Juni wegen Kopfschmerzen vorzeitig von der Mandolinenstunde heimgeschickt wurde, dort aber nie angekommen war. Die übrigen drei Opfer waren samt und sonders namenlose arme Kinder, deren ausgezehrte Haut oft nicht dunkler aussah als der weiße Baumwollstoff, in den man die Körper gehüllt hatte.
Ein Pavillon nebenan zeigte technische Errungenschaften von der letzten Weltausstellung in Philadelphia: Telefone und Schreibmaschinen. Man konnte eine neuartige Gewürzsoße aus Tomaten probieren: Ketchup. Es wurde Root Beer ausgeschenkt, und die Schaukelstühle von Thonet waren der Renner bei den Damen.
Cotton hatte all das bereits gesehen. Er wandte sich gerade ab, als eine dunkelhaarige Frau so unbeholfen gegen seine Brust prallte, dass ihr Strohhut zu Boden rutschte.
»Verzeihung Miss«, sagte er, und wollte sich nach ihrem Hut bücken, als er auch schon merkte, wie die junge Chinesin wegzugleiten drohte.
Das zierliche Geschöpf in dem bunt bedruckten Kalikokleid war federleicht, wurde aber von Sekunde zu Sekunde schwerer. Der Kopf kippte zur Seite, der Sonnenschirm landete auf dem Boden. Sie musste in der Mittagshitze einen Schwächeanfall erlitten haben.
Cotton fasste der Frau stützend unter die Arme, als er zwei Dinge registrierte. Zum einen die warme klebrige Feuchtigkeit auf seiner Brust, zum anderen ihr aschgraues Gesicht. Der rote Fleck auf ihrem Oberteil gehörte nicht zum Blumenmuster, und er wurde rasch größer. Bei der Menge an Blut, die sein Hemd nässte, musste die Verletzung tief sein.
»Ein Arzt!«, rief er und verschaffte sich Platz. Die junge Frau murmelte etwas Unverständliches. Er kniete sich hin und ließ ihren Leib sachte zu Boden gleiten, wobei er Kopf und Oberkörper mit dem linken Arm stützte und die Wunde mit rechts zuzuhalten versuchte.
Die Verletzte bewegte sich wie ein zitternder Vogel. Sie riss die schmalen Augen auf, ihr Mund formte ein ungläubiges O, brachte aber keine Silbe über die Lippen.
»Ich brauche sofort einen Arzt«, wiederholte Cotton laut, da erschlaffte der Körper auch schon. Der Blutstrom versiegte. Der linke Arm knickte ein, und aus der Frauenhand rollte eine Herrentaschenuhr, an deren Öse noch ein Kettenglied hing.
Cotton steckte die Uhr abwesend ein. Er wollte gerade wieder auf die Füße kommen, als ihm jemand einen groben Hieb gegen das Kinn versetzte.
Entgeistert kippte Cotton nach hinten.
»Mörder!«, rief ein Mann in Seekadettenuniform. Cotton balancierte sich mit einem Arm aus und nahm die Rechte zur Deckung hoch. Aber beim Anblick seiner blutigen Finger brach der Bann. Es gab noch mehr Aufregung und spitze Schreie ringsum. Sein Schädel dröhnte wie eine gesprungene Glocke.
»Verdammter Schuft.« Der Kadett ballte die Fäuste.
»Ruhe!«, blaffte ihn Cotton an, »ich bin Polizist«. Als Angehöriger der New Yorker Polizei hatte er hier keinerlei Befugnisse, doch er ratterte Dienstnummer und Revier herunter. »Der Angriff auf einen Polizisten kommt Sie teuer zu stehen. Wenn Sie mir nun ohne Aufsehen folgen würden …« Der Bluff verfing.
»Komm, Ritchie!«, murmelte die Begleiterin des Kadetten, dessen Mütze verriet, dass er vom Dampfschiff Calumet stammte. Er hob defensiv die Arme und trat rückwärts. Mit ihm wichen die Zuschauer nach hinten wie ein Mann.
Genau in diesem Moment schob sich jemand im grünen Kleid neben Cotton und das Opfer. Es war die blonde Frau von vorhin. »Machen Sie Platz«, befahl sie resolut. Sie fühlte gekonnt den Puls des Mädchens, als wäre sie eine Krankenschwester.
Ehe Cotton sich erheben konnte, blieb sein Blick an etwas Glänzendem hängen. Eine Sekunde lang sah er zwischen einem Wald von Hosenbeinen eine herabhängende Uhrenkette – und begriff. Er schnellte hoch und vergaß alles andere. Cotton machte ein paar Sätze dorthin, wo er das Aufblitzen gesehen hatte. Im Menschenstrom, der ihm entgegenbrandete, sah er jemanden Richtung Festland eilen. Sein Verdächtiger!
Cotton schaufelte die Menschen mit beiden Armen weg, aber es war, als arbeite er sich durch einen riesigen Heuhaufen. Brennend wünschte er die blaue Uniform und den Helm herbei, die ihm Respekt verschafften, und nicht zuletzt seinen Knüppel.
Der Pier, der sich mehr als tausend Fuß ins Meer hinausschob, verschmälerte sich vor ihm wieder auf fünfzig Fuß. Das Gewimmel hielt Cotton wertvolle Sekunden lang auf. Und dann bauten sich noch die beiden Begleiter der blonden Dame vor ihm auf und maßen ihn mit finsteren Blicken. Man konnte es ihnen kaum verübeln. In dem blutbefleckten Hemd sah er wirklich mehr wie ein Verbrecher als wie ein Gesetzeshüter aus.
Cotton drängte sich vorbei, geriet aus dem Tritt und merkte, dass der Flegel mit der roten Weste ihm ein Bein gestellt hatte.
Ein Stand mit Gipsfiguren, der Nachbildungen von John-Rogers-Kunstwerken verkaufte, wurde seine Rettung. Cotton stützte sich zwischen den wackelnden Figuren ab. Der Händler fing an zu zetern, doch seine Beschimpfungen verloschen wie abgeschnitten, als er die Blutflecke auf der Auslage bemerkte. Kurz herrschte Stille, dann rief der Verkäufer nach der Polizei!
»Aber ich bin …«, setzte Cotton an und stutzte. Der aufdringliche Mann versperrte ihm erneut den Weg. Unter seiner Kleidung zeichnete sich der Umriss einer Waffe ab. Sein Begleiter mit den Pockennarben beobachtete unschlüssig die Situation. Er war ganz klar das schwächere Glied.
Die Visagen würde Cotton schwerlich vergessen. Es war ein Kinderspiel, die Verbrecherkartei nach ihnen abzusuchen. Aber das Gesicht des Flüchtigen hatte er noch nicht gesehen. Und sobald der den Pier verließ und die Culver Plaza erreichte, konnte er im Trubel verschwinden.
Cotton täuschte an, der Mann in Schwarz reagierte und rempelte bei der Abwehrbewegung gegen den Kerl in der Weste.
Diesen Moment der Ablenkung nutzte Cotton und tauchte hinter den Stand mit den Gipsfiguren. Er flankte über das Geländer des Stegs und hangelte sich von außen am Pier entlang auf den Strand zu, die Füße fest an der Brüstung. Unter ihm schäumte der Atlantik. Möwen, auf der Jagd nach Essensresten, zogen dicht an ihm vorbei. Der eine oder andere Passant zeigte mit dem Finger auf ihn, doch schließlich hatte Cotton das schlimmste Knäuel überwunden und kehrte auf sicheren Boden zurück.
Vielleicht steckte sein Verdächtiger noch in dem Menschenauflauf fest. »Haben Sie einen Mann weglaufen sehen?«, fragte er die Spaziergänger. Er beschrieb den Anzug und die hohe Melone. Die meisten Passanten eilten aber weiter, sobald sie seiner äußeren Erscheinung gewahr wurden.
Ein Brezelhändler und ein Jongleur erwähnten einen rennenden Mann. Beide gaben allerdings zwei entgegengesetzte Routen an. Ehe Cotton vollends in die Irre lief, kletterte er auf einen Gaslaternenmast und suchte die Umgebung ab.
Zu spät, der Mann war untergetaucht im Meer anderer dunkler Anzüge. Und wenn er nicht auf die Plaza geflüchtet war, dann vielleicht ins obere Stockwerk des Piers, das als Ladenzeile diente, die zudem ein Restaurant, ein Theater und einen Ballsaal beherbergte.
Cotton versuchte, die Enttäuschung zu verdauen. In seinem Bauch baute sich gerade mächtig Wut auf. Schuld war der Mann in der roten Weste, der ihn aufgehalten hatte. Er war jetzt mehr als bereit, die Sache mit ihm auf handfeste Art auszufechten.
Auf dem Rückweg legte sich sein Zorn ein wenig, und die Vernunft gewann. Vielleicht hatte das Opfer dem Mörder außer der Uhr noch weitere Dinge entrissen, etwa einen Knopf oder eine Krawattennadel.
Doch am Weltausstellungs-Pavillon erwartete ihn die nächste Überraschung. Die Chinesin war fort, nicht einmal Hut oder Sonnenschirm waren geblieben. Nur eine Blutlache erinnerte daran, dass vor wenigen Minuten jemand hier gestorben war. Fluchend versuchte Cotton, die Frau in Grün und ihre beiden Begleiter ausfindig zu machen. Vergebens.
Ein Losverkäufer beschrieb haarklein, wie das Trio die reglose Chinesin fortgebracht hatte. Cotton bemühte sich, mehr Einzelheiten aus ihm herauszuholen, aber der Zeuge wiederholte sich ständig. Er schwitzte und sah sich nervös immer wieder um.
Dann brummte jemand neben Cotton: »Da haben wir ihn ja. Sie sind festgenommen, mein Bester!«
»Warum?«, fragte Cotton ungläubig.
Der Blick des Uniformierten glitt über die blutige Kleidung. »Vorläufig wegen Ruhestörung und Erregung öffentlichen Ärgernisses.«
Cotton war so verdutzt, dass er erst merkte, was geschah, nachdem ihn der Officer in Position gebracht hatte. Klickend schlossen sich die Handschellen um seine Gelenke.
Montag, 18. Juli 1881, 24:00 UhrPolizeihauptquartier Mulberry Street, New York
Captain Joseph Brandenburg zwirbelte sich den Bart und wischte den Schnupftabak von der Oberlippe.
Bei ihm hatte Cotton vor Jahren nach dem Verlust seiner Familie ein Zuhause und eine Berufung gefunden. Er war sein Mentor, der ihn nach ihrem Umzug in die Nachbarstadt New York als Streifenpolizist untergebracht hatte. Cottons Vorsatz, Menschen zu helfen, trug ihn über bürokratische Hürden und so manchen Konflikt mit den Vorgesetzten hinweg. Auch weil er mehr wollte als Betrunkene einzusammeln, Ruhestörer zu ermahnen oder Diebe festzunehmen.
Cotton saß nicht das erste Mal hier. Aber dieses Gespräch war beruflich.
»Eine bemerkenswerte Posse, sogar für dich, mein Junge.« Joe schnäuzte sich ausgiebig. »Die Sache ging rauf bis zum Superintendent. Hätte er nicht wegen der Engelsmorde ganz andere Sorgen, wärst du kaum ungeschoren davongekommen.«